Ansichten eines Regenwurms

Mit dem Regenwurm ist es so eine Sache. Meist nimmt ihn keiner wahr und ernst nehmen tut ihn kaum jemand. Und doch: meist ist er da und oft auch wichtig. Ein eigenes Leben hat er allemal, wenn auch überwiegend unter der Erde - da wühlt und gräbt er sich durch alles durch und kommt mit allem in Kontakt, was es da so gibt im Wurzelbereich und drunterhinaus. Was dahin gerät - und das meiste kommt früher oder später mal da an - betrifft ihn und seine Freunde. Ab und zu kommt Rupert (so der Name des Regenwurms) an die Erdoberfläche, um zu sehen, was die da oben schon wieder alles treiben. Und gibt Kunde davon seinen staunenden Kumpels im Erdreich und jenen über der Erde, die sich für ihn interessieren.

Die Wiedergeburt des Bassam Tibi

„Liebe Leserinnen und Leser

Mich als ein in Deutschland lebender muslimischer Migrant, der einen Aufklärungsislam vertritt, irritiert der durch die Kombination aus Irrsinn und Unwissenheit gekennzeichnete Islamstreit in der deutschen Öffentlichkeit. Die Bundeskanzlerin und die AfD haben die Gemeinsamkeit, kein Sachwissen über den Islam zu haben. Stattdessen streiten sie ideologisch darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. Im Englischen fragt man in Fällen, bei denen die Debattierenden ohne Wissen streiten: „What are we talking about?“. Den Islam gibt es nicht, und so kann es keine nützliche Debatte über einen unterstellten „Eintopf-Islam“ geben.

In dieser misslichen Situation gebührt der Monatszeitschrift Cicero ein großer Dank dafür, ab Juni 2016 eine Artikelserie mit der Frage „Gehört der Islam zu Deutschland?“ gestartet zu haben. Cicero gab mir die Ehre, diese Serie mit einem Artikel im Juni-Heft unter der Überschrift „Ich kapituliere. Der Kopftuch-Islam hat den Euro-Islam besiegt.“ einzuleiten. Ich bin Urheber der Vision eines europäischen Reform-Islam, genannt Euro-Islam. Im vergangenen Vierteljahrhundert bin ich bei diesem Unternehmen sowohl von einer deutschen Kombination aus deutschem Staat und deutscher Staatskirche als auch von Islamisten und schriftgläubigen Muslimen angefeindet und bekämpft worden. Diese unheilige Koalition marginalisiert alle reformorientierten Euro-Muslime.

In dem fünf Seiten langen Cicero-Essay erkläre ich, worum es in der Debatte wirklich geht. Ich lade die offenen und vernunftgeleiteten Besucher meiner Webseite ein, meinen Cicero-Artikel zu lesen, um über den Irrsinn der Merkel-AfD-Islam-Debatte hinauszugehen und mit solidem Wissen zu erfahren, worum es geht.“

http://www.bassamtibi.de/?page_id=1099

So lautet der Beginn der Homepage von Bassam Tibi, der medial eine Wiedergeburt erlebt. Und diese Wiedergeburt spült ihn in der breiten Öffentlichkeit sehr viel weiter nach oben, als er jemals war.

Die Frage lautet: warum ist das so? Seit spätestens Anfang des Jahres ist Bassam Tibi immer präsenter in den Medien. Durch seinen oben erwähnten „Cicero“-Artikel im Juni und ein Interview in der „Welt“ Anfang Juli schlägt er immer höhere Wellen – obwohl er da absolut nichts Neues sagt.

„… und der zweite Grund ist, dass Sie mir ein Forum geben, weil man mich in Deutschland totschweigt.“

https://www.youtube.com/watch?v=-RlyW5TDUN8

Das Gespräch, das im Januar 2011 auf YouTube veröffentlicht wurde, zeigt deutlich, dass sich da etwas geändert hat: vor ein paar Jahren noch totgeschwiegen, jetzt lebendig geredet. Sehr zum Ärger derjenigen, die ihn (zumindest medial) lieber tot als lebendig sähen.

Hier ein Beispiel aus „Telepolis“:

„Die deutschen Islamophobiker haben einen neuen Shooting Star. Ganz jung ist er mit seinen 72 Jahren nicht mehr, aber das ist in einer Szene, die Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder als Idole feiert, gerade guter Durchschnitt. Dafür hat es seine Person aber in sich: Der Mann ist selbst Syrer, dazu noch Professor, er kannte Adorno und Horkheimer. Und er sagt Sachen wie: "Die Syrer von heute sind Antisemiten". Wenn es einer wissen muss, dann doch wohl Bassam Tibi, der Professor aus Göttingen.

Bassam Tibi hat sich mit einem Interview in der "Welt" zum Liebling der deutschen Rechten katapultiert. Was er liefert, sind die üblichen Produkte, die ein gut sortierter rechtspopulistischer Gemischtwarenladen eben so führt: Merkel überflutet das Land mit Flüchtlingen, kriminelle Banden junger Männer treiben ihr Unwesen, der Islam verträgt sich nicht mit dem Grundgesetz. Garniert mit Beispielen von sozialschmarotzenden, kriminellen Ausländern, die Tibi getroffen haben will.

Auf der Rechten schlägt das Interview aber vor allem wegen der Person ein wie eine Bombe. Einer, der selbst aus Syrien kommt, sagt genau das, was sie schon immer dachten - das konnten sich deutsche Rechte nicht entgehen lassen.“

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48773/1.html

Dass das politische Gutmenschentum eins auf „Rumpelstilzchen“ macht, ist zumindest nachvollziehbar. Der aktuelle Hype um Bassam Tibi zeigt zumindest eines: die Politik gegenüber dem Islam bzw. islamischen Menschen in Deutschland ändert sich. Zumindest ist die Bereitschaft da, über dieses Thema nachzudenken. Zumindest jenseits spinnerischer Kreise. Und die darüber nachdenken sind nicht nur „deutsche Rechte“.

Massen-Mörder

„Am Mittwoch wurde der Bericht der Chilcot-Untersuchung zur Rolle der britischen Regierung bei der US-Invasion im Irak vorgelegt. Er zeigt klar, dass der Krieg illegal war und fällt ein vernichtendes Urteil über die britischen und amerikanischen Kriegsverbrecher, die ihn organisiert und geführt haben …

Die Invasion begann am 20. März 2003, bevor „alle friedlichen Mittel zur Entwaffnung“ ausgeschöpft waren, stellt Chilcot fest. Sein vernichtendes Verdikt dazu lautet: „Militärisches Vorgehen war damals nicht das letzte Mittel.“

Saddam Husseins Irak stellte damals keine „unmittelbare“ Gefahr dar, und die Behauptungen, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, „trafen nicht zu“. Die Invasion wurde aufgrund „fehlerhafter“ geheimdienstlicher Erkenntnisse begonnen und niemand stellte sie in Frage, obwohl das angebracht gewesen wäre, erklärt Chilcot.

Diese Tatsachen belegen an sich schon, dass die Invasion eine dreiste Verletzung internationalen Rechts war. Aber die Realität ist noch viel belastender.

Auswirkungen der am wenigsten schlechten Regierungsform

Ein einmaliger Vorgang: das österreichische Verfassungsgericht erklärt die Bundespräsidentschaftswahl wg. Formfehlern für ungültig. Die Anhörung der Zeugen offenbart eine Schlamperei ohnegleichen. Nicht erst bei dieser Wahl.

Ermöglicht wurde dieses Urteil durch die Klage der nur sehr knapp unterlegenen FPÖ. Ohne dieses knappe Ergebnis und überhaupt ohne eine starke Opposition wäre dieses Urteil erst gar nicht denkbar gewesen.

Es bestand nicht der Verdacht, dass nach der Abstimmung manipuliert worden sei, aber die Anzahl der Formfehler ließ dem Verfassungsgericht keine andere Wahl. Eine Blamage für Österreich, aber ein Sieg des Rechtsstaats.

Es bleibt die Frage, ob es in Deutschland bei gleichen Vorkommnissen ebenfalls zur Wahlwiederholung gekommen wäre. Der Wurm geht eher davon aus, dass nicht.

Unvorhergesehener Ausgang der Wahl

Großbritannien hat abgestimmt: 52% der Wähler wollen raus aus der EU und stürzen diese damit in noch größere Turbulenzen, als sie vorher schon war.

Was erlauben Briten!

Wie geht es mit Großbritannien weiter, wie mit der EU, wie mit Deutschland in der EU? Möglicherweise geht es in die eine Richtung, möglicherweise in die andere, vielleicht auch in eine ganz andere. Der Wurm traut sich nicht, eine Prognose abzugeben. – Alles ist möglich.

Eines haben die Reaktionen auf den Ausgang der Wahl deutlich gezeigt: die Verachtung der Demokratie seitens der deutschen Eliten.

Dem Wurm stellt sich folgende Frage: Wäre die Entscheidung vor 10 oder vor 2 Jahren genauso gefallen? Definitiv nicht. Die Entwicklungen der letzten Zeit haben den Ausschlag gegeben.

Ob mensch mit allem übereinstimmt, mag dahin gestellt sein. Zumindest hat (als einer von sehr wenigen in den Staatsmedien) Dirk Schümer in der „Welt“ keine Briten-Beschimpfung betrieben, sondern versucht, den Brexit rational zu erklären und die Probleme aufzuzeigen:

„Der Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union bedeutet eine Zeitenwende, vielleicht gar nicht so sehr für Großbritannien, das in der EU nie wirklich heimisch wurde, sondern für das restliche Europa.

Letztlich haben die Bürger zwischen Schottland und den Klippen von Dover nicht nur David Cameron abgewählt, sondern auch die zögerlichen und bornierten Leader der EU, deren Argumente keine Mehrheit hinter sich brachten. Auch ihre Politik des sturen Aussitzens ist jetzt gescheitert.

Denn der bislang größte demokratische Freilandversuch über die Mitgliedschaft im einstmals exklusiven Klub der EU hat dreierlei gezeigt: Erstens ist die EU trotz aller unleugbarer Meriten in ihrem gegenwärtigen Zustand einfach nicht mehr mehrheitsfähig. Darum können die Institutionen nun zweitens nicht so realitätsblind weitermachen wie bisher.

Und drittens hat sich das gegenwärtige Führungspersonal als unfähig erwiesen, der offenkundigen Erosion des größten politischen Projekts der Gegenwart Einhalt zu gebieten. Ihre Strukturprobleme und Krisen sind den professionellen Problemlösern in der Kompromissfabrik EU schlicht über den Kopf gewachsen.

Das Monster im Menschen

Vor 200 Jahren wurde das berühmteste Monster der Literatur gezeugt. Wohl jedem fällt etwas ein, wenn er den Namen „Frankenstein“ hört. Wahrscheinlich dies: 

- Mensch (bzw. Wissenschaftler) schafft aus eigener Kraft ein neues Lebewesen

- dieses neue Lebewesen gerät außer Kontrolle und richtet großen Schaden an

- die Moral von der Geschicht‘: es gibt Dinge, aus denen mensch sich raus halten sollte, vor allem aus jenen, die er potentiell nicht kontrollieren kann

So oder so ähnlich wird diese Geschichte vor allem in Filmen erzählt; so oder so ähnlich wird diese Geschichte von den Menschen wiedergegeben.

Allerdings – in der Original-Version wird eine ganz andere Geschichte erzählt. Mit einem Inhalt, der in der Literatur kaum erzählt wird, der allerdings zeitlos und doch immer aktuell ist. Und sehr unangenehm für das menschliche Selbstverständnis: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ schildert wie kaum ein anderer Roman das Monster im Menschen.