Unangreifbare, klare Einheit von Sein und Denken

Ihre Unsicherheit paarte sich mit einem Anspruch, den ihr der Sozialdemokrat Hermann Wendel, im Konflikt mit seiner Partei seit Beginn des Ersten Weltkrieges, vorgelebt und den sie sich zu eigen gemacht hatte: Auch sie wollte Sein und Schaffen miteinander verbinden, keinen Zwiespalt dulden zwischen Leben und Arbeit. Sie, wünschte, zu einer „unangreifbaren, klaren Einheit von Sein und Denken“ zu gelangen. Dieses Streben prägte ihr Leben, ihm fühlte sie sich verpflichtet – bis zu ihrem Tode.“

Die Rede ist von Anna Seghers, die vor 120 Jahren geboren wurde; das Zitat stammt aus dem Buch „Der Weg führt nach St. Barbara – Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers“ von Sigrid Bock.

 

Es gibt ein Wort, das die Literatur von Anna Seghers beschreiben kann. Das Wort heisst „unaufgeregt“. Da können die größten Dramen passieren – Anna Seghers erzählt es eher nebenbei, ohne große Emotionen.

Bevor der Wurm auf die Biographie von Anna Seghers eingeht, möchte er erst 4 Werke von ihr vorstellen.

 

Das siebte Kreuz

 

"Das siebte Kreuz, dieses große literarische Kunstwerk, ist ein Roman gegen die Diktatur schlechthin." Marcel Reich-Ranicki

https://www.aufbau-verlag.de/index.php/das-siebte-kreuz-296.html

Aus „Wikipedia“: „1937 bricht Georg Heisler mit sechs Mitgefangenen aus dem Konzentrationslager Westhofen bei Worms aus. Der KZ-Kommandant Fahrenberg befiehlt, die Entflohenen innerhalb von sieben Tagen zurückzubringen. Er lässt die Kronen von sieben Bäumen kappen und an den Stämmen in Schulterhöhe je einen Querbalken anbringen, so dass sieben Kreuze entstehen, eines für jeden Flüchtigen. Sechs der Entflohenen werden entweder gefasst oder kommen auf der Flucht um, doch das siebte Kreuz bleibt frei. Georg Heisler gelingt schließlich die Flucht in Richtung der Niederlande.

Jeder der sieben Flüchtigen mit ihren unterschiedlichen Berufen und Biografien steht für eine soziale Schicht. Auch die Vertreter des Nationalsozialismus, allen voran der Lagerkommandant SA-Scharführer Fahrenberg, verkörpern politische Haltungen in Nazi-Deutschland. Zusammen mit den Randfiguren des Romans entsteht ein Querschnitt durch die Gesellschaft dieser Zeit.

Der Roman schildert in sieben Kapiteln die siebentägige Flucht Heislers, die nur gelingen konnte, weil Heisler bei all seinem Mut kein Individualist ist wie die anderen Flüchtigen, sondern als Kommunist Rückhalt bei seinen Genossen im Untergrund findet. Aber auch gutwillige Deutsche, politisch nicht organisiert, helfen ihm auf seiner Flucht.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_siebte_Kreuz

Das Ende ist sehr überraschend. Erwartet werden ein großes Drama und die Zusammenkunft mit seiner früheren Frau. Stattdessen hilft ihm ein ehemaliger Widerständler, der seit Jahren „inaktiv“ war, ihn nicht kennt und nicht kennen wird, mit einem gefälschten Pass und einer Fluchtmöglichkeit mit dem Schiff. Was auch klappt.

Wikipedia: „Paul organisiert mit Hilfe des alten Arbeitskollegen und Kommunisten Fiedler für Georg eine Unterkunft bei einem gewissen Doktor Kreß in der Riederwaldsiedlung. Am nächsten Morgen kommt Fiedlers Ehefrau mit einem Umschlag, in dem sich ein Zettel mit dem Ort, ein gefälschter Pass und etwas Geld befinden. Georg soll am nächsten Tag um 5:30 Uhr an der Anlegestelle an der Kasteler Brücke in Mainz am Schiff „Wilhelmine“ sein. Georg wird von Kreß in Kostheim abgesetzt und geht zur Kasteler Brücke. Dort zeigt er dem Wachposten seinen Pass und gelangt auf den Kahn.“

 

Der Ausflug der toten Mädchen

 

Aus Wikipedia: „Ihre Klasse, ein „Mädchenschwarm [..] piepsig und elfig“, unternimmt mit den Lehrerinnen Mees und Sichel einen Ausflug von Mainz aus ein Stück den Rhein abwärts. Der Rückblick beginnt in der Ausflugswirtschaft und endet nach der zwanzigminütigen Rückfahrt stromaufwärts auf dem Dampfer mit dem Weg durch die Stadt zur Wohnung der Erzählerin. Diese ist verwundert über die nicht zerstörten Kirchen, Häuser und Brunnen, gleichsam in einem rückwärts laufenden Film in eine heile Welt, und so hofft sie, auch ihre Mutter anzutreffen.

Zu Beginn des Rückblicks werden bei Kaffee und Kuchen die Kameradinnen der Erzählerin in ihrem Verhalten und ihrer Persönlichkeit beschrieben. Damit erfüllt die Erzählerin – allerdings drei Jahrzehnte später – doch noch den Auftrag ihrer Lehrerin, Fräulein Sichel, den Schulausflug für die nächste Deutschstunde sorgfältig zu beschreiben. Fräulein Sichel hat Netty angesprochen, weil das Mädchen gerne Aufsätze schreibt. Es entsteht ein heiteres Gruppenbild der dreizehn unbeschwerten Mädchen in einer lieblichen Flusslandschaft mit Ausblick auf die vorbeifahrenden Dampfer und die Weinberge. Die Erzählerin ist erstaunt, dass sich in den glatten und blanken Gesichtern „keine Spur von den grimmigen Vorfällen“ findet, die das Schicksal der Jugendlichen und ihrer Familien bestimmen werden, denn ihre Erinnerung an den Ausflug überlagert sich mit dem Wissen von ihren tragischen Lebensläufen. Die Erzählerin ist die einzige Überlebende.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Ausflug_der_toten_M%C3%A4dchen

Wer etwas über die Gesellschaft der Nazizeit in Deutschland erfahren möchte, über die einfache Bevölkerung, dem sei neben dem „siebten Kreuz“ auch „Der Ausflug der toten Mädchen“ empfohlen.

 

Transit

 

Tausende Menschen warten in Marseille auf ihre Papiere, um endlich ausreisen zu können. Sie sind vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geflüchtet, vor den Verbrechen der Nazis, doch ihre Flucht hat in Marseille vorerst ein Ende gefunden. Hier verwandelt sich ihr Leben in eine ganz andere Hölle: Das endlose Warten auf den Fluren der Konsulate, die immer gleichen Berichte in den Cafés und Restaurants am Hafen zehren an den Nerven. Das ständige Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, aber auch die Langeweile sind in Anna Seghers’ Roman immer greifbar. Damit beleuchtet sie eine der bemerkenswertesten menschlichen Eigenschaften: dass man sich an jeden Schrecken irgendwann gewöhnt. Inmitten der Flüchtenden und ihrer vielgestaltigen Geschichten findet der namenlose Protagonist seine große Liebe und entdeckt seine verloren geglaubte Fähigkeit zum Mitleiden wieder. Mit starken Bildern und klarer Sprache führt Anna Seghers den Leser in die zähe Zwischenwelt der Visa, Bescheinigungen und Transits und appelliert ohne erhobenen Zeigefinger an Menschlichkeit und Solidarität – ein Aufruf, der heute so wichtig ist wie vor 75 Jahren.“

https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/transit/7576

 

Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe

 

Aus „Wikipedia“: „Die Vorgeschichte

Robespierre hatte am Anfang des Jahres 1794 die Sklaverei auch auf Guadeloupe abgeschafft. Sklavenaufseher wie Cantal, ehemals Verwalter auf dem Gut Rohan, waren von der Insel geflüchtet. Kommissar Hugues hatte die englischen Besatzer aus der französischen Kolonie vertrieben, war um 1798 nach Paris vor den Konvent gerufen worden und wird Kommissar von Guayana.

Die Geschichte

Drei erklärte Gegner der Sklaverei treffen sich bei der schwarzen Familienmutter Manon. Da ist der Mulatte Berenger. In Paris militärisch ausgebildet, wurde er im Jahr vor Handlungsbeginn Kommandant des Forts von Guadeloupe. Der Weiße Beauvais ist ein Offizier aus Paris und der Schwarze Paul Rohan ist ein ehemaliger Feldsklave. Diese Männer lassen die Zeit bis zur Ankunft des Nachfolgers von Kommissar Hugues nicht ungenutzt verstreichen. Alle diese Kämpfer gegen die Sklavenhalter, wie auch der schwarze Schmied Jean Rohan, werden von den nicht ganz zehntausend Schwarzen auf Guadeloupe gehasst. Denn diese wenigen neuen Antreiber mahnen die Inselbewohner zur täglichen, regelmäßigen Arbeit auf den Plantagen. Der andauernd zäh geführte Überredungsversuch misslingt. Die von Robespierre Befreiten wissen mit ihrer Freiheit nichts anzufangen; wollen nicht freiwillig schuften. Nach 1799 macht Napoleon ein Ende mit dem Geschwätz. Kommissar Vigneron, Nachfolger von Hugues auf Guadeloupe, wird durch Kommissar Boisseret ersetzt. Sechs Jahre nach ihrer Befreiung werden die Schwarzen auf Guadeloupe von dem Korsen erneut versklavt. Frankreich erwartet von der Insel Schiffe, beladen mit Kaffee. Auch Zucker wird benötigt. Der Feind England muss besiegt werden.

Schwarze werden aus der neuen Inselverwaltung entfernt. Auf Befehl sollen alle ehemaligen Arbeiter samt Familie an ihren ehemaligen Arbeitsplätzen erscheinen.

Widerstand regt sich. Berenger sprengt sein Fort in die Luft. Auf Cantal, der sich wieder auf die Insel gewagt hat, wird geschossen. Über Paul Rohans Ende redet keiner der Sklaven. Auch die Erzählerin schweigt sich aus. Die Andeutungen über Manons Ende werden hin und her gewendet. Es muss ein Schlimmes gewesen sein. Darüber spricht man besser nicht. Manon hatte einen zudringlichen weißen Offizier mit dem Messer angegriffen und war dafür zusammen mit ihrer Familie auf der Stelle bestialisch umgebracht worden. Beauvais fällt im bewaffneten Kampf gemeinsam mit schwarzen Kämpfern gegen die Sklaverei. Zwar widersetzt sich Jean Rohan dem Gestellungsbefehl, doch er rafft sich nicht zum Widerstand auf. Der schwarze Schmied wird auf der Flucht durch den Wald von Hunden gehetzt und von einer weißen Patrouille erschossen. Schwarze hatten den Soldaten einen Pfad mit der Machete freigeschlagen.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedereinf%C3%BChrung_der_Sklaverei_in_Guadeloupe

Von den heutigen Pseudo-Linken würde Anna Seghers als Rassistin bezeichnet, da sie des Öfteren das Wort „Neger“ benutzt.

Bei den befreiten Sklaven geht es um zwei Diskussions-Punkte:

1. Ist die Befreiung von Vorteil? War der Zustand der Sklaverei nicht doch besser als die Freiheit?

2. Wozu und wie lange sollen sie arbeiten? Je mehr sie arbeiten, umso mehr Geld bekommen sie. Die meisten entschließen sich dazu, nur so viel zu arbeiten, wie unbedingt nötig ist.

Die Folge ist, dass wesentlich weniger gearbeitet und produziert wird als in den Zeiten der Sklaverei. Sehr zum Ärger der französischen Regierung, die deshalb beschließt, die Sklaverei wieder einzuführen.

Zum Schluss des Buches: „„… Das Beispiel war nötig, um ein für allemal Schluß zu machen. Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn man solche Gedanken wie Freiheit und Gleichheit in solche Köpfe pflanzt“. ….

Das Sonderbarste an dieser Geschichte. Sie hätten damals die toten Neger auf einen Haufen geworfen. Da hätte plötzlich jemand geschrien, der ist ja weiß! Man soll sich nur ihr Erstaunen vorstellen. Ein einzelner weißer Mann in der ganzen schwarzen Masse. Soll man ihn herausziehen, ihn gesondert begraben? Ach, Unsinn, hatte sein Freund gesagt, soll er die Auferstehung mit ihnen feiern …

An Beauvais hätte sich nie mehr ein Mensch erinnert, wenn unter den Zuhörern nicht dieser Knabe gesessen hätte. Was er eben gehört hatte, regte ihn auf bis ins tiefe Herz. Ein Kommandant, der sein eigenes Fort in die Luft sprengt. Warum? Der Oberst hatte es selbst nicht gewußt. Er sprengt es ohne Befehl in die Luft, und selbst der Oberst weiß nicht warum. Es platzt und es dröhnt, und es hört nicht zu dröhnen auf, bis man den Grund versteht. Was aber den größten Eindruck auf den Knaben machte, das waren die letzten paar Sätze: der weiße Mann in dem Haufen von toten Negern. Der Knabe hörte nicht weiter zu. Er grübelte. Die Ahnung von einer ihm unbekannten Welt machte ihn frösteln. Das war eine Welt, die von seiner eigenen vertrauten wie durch einen Vorhang getrennt war. Es gab also noch eine andere Welt. Dort wurde nach anderen Gesetzen gehandelt. Der fremde Mann hatte sein Leben für etwas geopfert, was nichts mit dem Ruhm zu tun hatte, von dem man hier las und sprach. Der Ruhm, der rundherum die jungen Leute berauschte. Der Ruhm aus Triumphbögen und aus Orden, der Ruhm aus Trommelwirbel und über den grabgesenkten Fahnen. Der Ruhm des fremden Mannes bestand nur aus einem Frösteln, das über den Rücken des Knaben rieselte.“

 

Biographie

 

Hans Berkessel in „Blätter zum Land“ der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz:

„„Bastian kam als letzter vom Feld, klappte die Zauntür zu, kratzte den Schmutz von der Hacke, legte sie an ihren Platz im Schuppen, wusch sich Gesicht und Hände an der Pumpe. Sein Kopf blieb gesenkt, seine Schultern vorgezogen, weil ihm der Rücken vom vielen Bücken spannte. Vor der Haustür bückte er sich tief zum letztenmal. Er wollte zwei Kartoffeln aufheben, die Dora aus dem Korb gefallen waren. Dabei wurde ihm schwindlig. Einen Augenblick stand er vierbeinig da, die Hände auf der Erde, um nicht umzukippen. Diesen Augenblick lang trug er eine unermeßliche Last auf seinem waagrechten Rücken. Dicht hinter ihm stand der Tod, die Hand erhoben, um noch einen kleinen Brocken zu der Last zu legen: dann war es um den Mann geschafft.

Er drückte sich noch rechtzeitig vom Boden ab und richtete sich stöhnend auf. In der linken Hand die beiden Kartoffeln, faßte er mit der rechten die Türklinke. Der Tür gegenüber hinter dem gedeckten Tisch saß die Frau, neben ihr auf der Bank der Größe nach vier Kinder. Das fünfte Kind hielt sie auf einem Knie. Die unbewegten Gesichter waren verschleiert durch den leichten Dampf, der aus der Schüssel hochstieg. Beim Geruch des Dampfes wurde dem Bauer zum zweitenmal schwindlig, wenn auch nicht so stark. Sein Inneres zog sich zusammen vor Gier. Er hatte nur den einen Wunsch, sich über die volle Schüssel zu werfen, den Kopf im Essen. Er trat neben seinen Stuhl, den einzigen auf der zweiten Breitseite des Tisches.

Sein Herz klopfte, als sein Kopf tiefer in den Dampf geriet. Er richtete sich aber zurecht, wie er sich vorhin gerichtet hatte. Er zwirbelte sein Bärtchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Kinder sahen gespannt mit zu, ihre Nasenflügel zuckten. Über die Teller fügten sich die kleinen Dächer aus gefalteten Händen. Endlich erhoben sich in der Stille die ersten Worte des Gebetes, das Bollwerk um die Schüssel.“

Mit diesem eindringlichen Bild beginnt die Autorin ihren Roman Der Kopflohn. Roman aus einem Dorf im Spätsommer 1932. Der erste der Exil-Romane von Anna Seghers – noch in Deutschland entstanden und im Verlag Querido in Amsterdam 1933 erstveröffentlicht - behandelt die Geschichte des jungen Leipziger Arbeiters Johann Schulz, der bei einer Straßenschlacht einen Polizisten getötet hat. Er flieht zu entfernten Verwandten in ein rheinhessisches Dorf und fühlt sich dort zunächst sicher. In der nahen Kreisstadt hängt bereits sein Steckbrief mit dem Kopflohn von 500,- Mark. Armut und Not herrschen im Dorf, besonders bei den Kleinbauern wie der Familie des Andreas Bastian, der seine Tochter als Magd verdingen muss. Der eine kann sich die Wasserpumpe nicht mehr leisten, dem anderen wird die Zentrifuge abgeholt, weil er die Raten nicht bezahlen kann. Arbeit bis zum Umfallen und Hunger machen die Leute hart und mitleidlos. Mehrere Dorfmitglieder entdecken den Steckbrief und müssen sich entscheiden, ob sie Johann Schulz verraten und den „Judas-Lohn“ dafür einstreichen wollen. Schon hier entfaltet Anna Seghers, wie später im Roman Das siebte Kreuz, durch die geschilderten Entscheidungssituationen bei ganz verschiedenen Menschen einen Querschnitt der ländlichen Gesellschaft, ihrer Interessen und Handlungsmotive. Im Handlungsverlauf wird deutlich, wie es den Nazis gelingt, zunächst mit Hilfe einiger Honoratioren des Dorfes, dann vor allem durch die erfolgreiche Rekrutierung der Jugend für die SA und schließlich im Sog der Verhältnisse zunehmend auch bei den einfachen Bauern mit ihrer Ideologie und ihren Versprechungen in die „Köpfe und Herzen“ der Landbevölkerung einzudringen.

Zugleich verdeutlichen schon die wenigen Zeilen des Romananfangs grundlegende Motive des Schreibens der Autorin. Schon hier zeigen sich Elemente moderner Erzählverfahren wie „Innerer Monolog“ und der Gebrauch einer Montage- und Simultantechnik, die später in ihrem Roman Das siebte Kreuz zur Meisterschaft gelangen. Wegen seiner beklemmenden Aktualität, aber wohl auch aufgrund dieser dramaturgisch günstigen Struktur entschied sich das Mainzer Staatstheater 2015 den Roman (Bühnenfassung: Dirk Laucke; Inszenierung: K.D. Schmidt) in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen als Theaterstück herauszubringen und mit großem Erfolg aufzuführen. Deutlich wird – in der Tradition jüdischen sozialen Engagements der Familie Reiling – die Fähigkeit zur genauen Beobachtung und empathischen Beschreibung von Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen oder Milieus, die aber nicht im naturalistischen Mitleidsduktus verharrt, sondern über die Erfahrung von kollektiver Solidarität und eines humanistisch-ethischen Wertehorizonts (Das siebte Kreuz: „Tief im Innern gab es etwas, das unangreifbar war und unverletzbar.“) die „Kraft der Schwachen“ als Perspektive reklamiert. „Schreiben um zu verändern“ wird – besonders für die Jahre des Exils – zum Schreibkonzept der Autorin.

Schon früh aus der Enge des bürgerlichen jüdischen Elternhauses ins weltoffene, geistig anregende Heidelberg ihrer Studienjahre entflohen, über viele Jahre hinweg heimatlos, als Jüdin und Kommunistin von den Nazis aus Deutschland und Europa vertrieben und nach der Rückkehr in Berlin lebend, blieb sie dennoch dieser Landschaft und ihrer Geburtsheimat zeitlebens verbunden.

Der „Originaleindruck“: Kindheit und Jugend in Mainz (1900 –1920)

Ich bin in Mainz geboren, November 1900. Aus bürgerlicher Familie. Mein Vater war orthodoxer Jude. Aus Überzeugung, aus Tradition, aus Stolz. Er liebte seine Stadt über alles. In dieser Stadt, in der ich meine Kindheit verbrachte, empfing ich, was Goethe den Originaleindruck nennt: den ersten Eindruck, den ein Mensch von einem Teil der Wirklichkeit in sich aufnimmt, ob es der Fluss ist, oder der Wald, die Sterne, die Menschen. Ich habe versucht in vielen meiner Bücher festzuhalten, was ich hier erfuhr und erlebte.“

Netty Reiling wurde am 19. November 1900 als einziges Kind einer wohlhabenden jüdischen Mainzer Familie geboren. Ihr Vater, Isidor Reiling (1868–1940), betrieb zusammen mit seinem Bruder Hermann eine auch international erfolgreiche Kunst- und Antiquitätenhandlung am Flachsmarkt 2. Ihre Mutter Hedwig (1880–1942), stammte aus der angesehenen und weit verzweigten jüdischen Frankfurter Kaufmannsfamilie Fuld. Schon bald nach der Geburt Nettys zog die Familie Reiling aus der Parcusstraße in die vornehme Wohngegend der Kaiserstraße um.

In diesem groß- und bildungsbürgerlichen Milieu eines religiös jüdisch-orthodoxen, gesellschaftlich assimilierten, politisch liberaldemokratischen Elternhauses wuchs Netty auf – ein stilles, fantasievolles, häufig kränkelndes Kind, das eine behütete, von Sorgen freie Kindheit erlebte, deren Höhepunkte die jährlichen Urlaubsreisen an die Nordsee und in die Berge sowie die Aufenthalte mit dem Vater in Paris waren. Das hübsche und intelligente Mädchen, das von seinen Mitschülerinnen als träumerisch und zurückhaltend beschrieben wurde, erhielt zunächst Privatunterricht, besuchte dann die Höhere Töchterschule und legte 1920 das Abitur ab. In der reichhaltigen Bibliothek der Familie kam Netty früh in Berührung mit Literatur und bildender Kunst, las eifrig: Märchen, Sagen, christliche und chassidische Legenden, dann Schiller, Büchner, Heine, Dostojewski und Tolstoi und begann schon früh mit dem Schreiben. Auf der Grundlage der religiösen Wurzeln und angestoßen durch sozial engagierte Literatur entwickelte Netty früh ein Interesse für soziale und ethische Fragen. Sie erlebte den Ersten Weltkrieg, die Wirren der Revolution und die Besetzung des linken Rheinufers durch die Franzosen.

Studienjahre und literarisches Debüt (1920–1924)

Mein Studium interessierte mich so sehr, dass es mich ganz absorbierte. Aber meine Phantasie arbeitete und arbeitete, produzierte jedoch nichts. Als ich dann eines Tages zu schreiben anfing, brach’s wie ein Sturzbach aus mir heraus: Ich schrieb, studierte, schrieb, studierte – wie eine Verrückte, das ging bis zur Erschöpfung.“

In die Universitätsstadt Heidelberg, in der sie Philologie, Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie studierte, kamen in den zwanziger Jahren eine Vielzahl junger Emigranten, die nach den gescheiterten Revolutionen aus ihren Heimatländern geflohen waren. Netty lernte den jüdischen Ungar Laszlo Radvanyi, einen Revolutionär und Kommunisten, kennen – es wurde eine Liebe fürs Leben. Zu ihrem Freundeskreis gehörte auch der Kommilitone Philipp Schaeffer; er gehörte in der NS-Zeit zum politischen Widerstand, wurde 1935 verhaftet und hingerichtet. Auch zu Kreisen sozialistischer Studenten hatte Netty Reiling Kontakt; in Vorlesungen fortschrittlicher Professoren setzte sie sich mit marxistischem Gedankengut und sozialpolitischen Fragen auseinander. 1924 schloss sie ihr Studium mit einer kunsthistorischen Dissertation über Jude und Judentum im Werke Rembrandts erfolgreich ab. Zur gleichen Zeit erschien in der Frankfurter Zeitung ihre erste Erzählung Die Toten auf der Insel Djal, „nacherzählt von Antje Seghers“ – hier wurde – vielleicht in Anlehnung an Hercules Seghers, den Maler der Rembrandt-Zeit – das Pseudonym einer werdenden Schriftstellerin geboren. Weitere literarische Arbeiten entstanden, die zum Teil nicht veröffentlicht wurden. Netty Reiling kehrte für ein Jahr nach Mainz zurück. Ihr Tagebuch (1924/25) vermittelt einen Eindruck von den quälenden Prozessen, in denen sie sich vom Elternhaus und ihrer jüdischen Religion löste und sich für ihren zuhause nicht akzeptierten Lebensgefährten Laszlo Radvanyi und eine freie Existenz als Schriftstellerin entschied.

Leben als Schriftstellerin und Sozialistin in Berlin (1925–1933)

Es gab zwei Linien: Erzählen, was mich heute erregt, und die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint und wusste nicht wie.“

1925 heiratete das Paar und zog in die Metropole Berlin, schon damals Treffpunkt der Intellektuellen und Künstler aus ganz Europa. 1926 wurde der Sohn Peter, zwei Jahre später die Tochter Ruth geboren. Laszlo Radvanyi wurde Leiter der Marxistischen Arbeiterschule, Netty versorgte die Kinder und schrieb an weiteren Erzählungen: u. a. an Jans muß sterben (noch in Mainz begonnen, aber erst posthum 2000 veröffentlicht); 1927 erschien Grubetsch, 1928 Aufstand der Fischer von St. Barbara. Hierfür erhielt sie im selben Jahr den renommierten Kleist-Preis und gehörte jetzt unter dem Schriftstellernamen Anna Seghers zur Avantgarde der deutschen Literatur. 1928 trat sie in die KPD und in den Bund proletarischrevolutionärer Schriftsteller ein – politische Entscheidungen, an denen sie trotz aller Enttäuschungen und Verletzungen ihr ganzes Leben festhielt. Es folgten die Erzählungen Die Ziegler, Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft (1930) und der Episodenroman Die Gefährten (1932). Als Autorin hatte sie ihr Thema gefunden: „[…] die Unzerstörbarkeit der Hoffnung, die Utopie der Befreiung, das Elend der Unterdrückten“ (Wilhelm von Sternburg).

Jahre des Exils in Frankreich und Mexiko (1933–1947)

Wir haben die Kinder von der Grenze abgeholt. Wie Verrückte haben sie sich in unsere Arme geworfen, dort verharrten sie dann unbeweglich. Völlige, unendliche Sicherheit bei diesen unsteten Wesen, ihren Eltern, die doch selbst zu den Obdachlosesten dieser Welt zählten, selbst von allen Stürmen hin- und hergeworfen wurden.“

Der 30. Januar 1933, die „Machtergreifung“ Hitlers und seiner NSDAP, bedeutete die entscheidende Zäsur im Leben der Familie Seghers-Radvanyi. Die nach dem Reichstagsbrand im Februar beginnende Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten und deutschen Juden zwang die als Jüdin, Kommunistin und links engagierte Schriftstellerin gleich mehrfach bedrohte Anna Seghers zur Flucht. Über die Schweiz gelangte die Familie nach Frankreich, fand eine Wohnung in Bellevue, einem kleinen Vorort von Paris. Unterstützt von den Mainzer Großeltern gelang es, die Kinder nachzuholen. Ihre Sorgen um die Sicherheit und die weitere Entwicklung ihrer Kinder formulierte die Schriftstellerin immer wieder in Briefen und in einem über die persönliche Ebene hinausgehenden grundlegenden Essay Kinder und Frauen in der Emigration (entstanden 1936–1939, gedruckt 1985).

Die Kinder konnten jetzt wieder zur Schule gehen, die Eltern arbeiteten, schrieben und nahmen am politisch-kulturellen Leben der deutschen Exilanten teil. Trotz der auch finanziell schwierigen Bedingungen des Exils war Anna Seghers ungeheuer produktiv. Sie veröffentlichte in Exilverlagen drei Romane, die sich mit der Endphase der Weimarer Republik und dem Aufkommen des Faschismus in Deutschland und Österreich befassen: Der Kopflohn (1933), Der Weg durch den Februar (1935), Die Rettung (1937); daneben entstanden die Erzählungen Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok (1938), Sagen von Artemis (1938) und Reise ins Elfte Reich (1939). In Paris arbeitete sie 1938/39 am Siebten Kreuz, dessen Manuskript trotz der mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris (1940) verbundenen Flucht gerettet werden konnte.

Laszlo Radvanyi wurde bei Kriegsbeginn in Le Vernet, im unbesetzten Süden Frankreichs interniert; die Familie fand im Städtchen Pamiers am Rande der Pyrenäen Unterschlupf. Nun begann der Kampf ums Überleben und, von Marseille aus, um den Erhalt eines Visums, das die Ausreise in ein geeignetes Exilland ermöglichen sollte. Von diesem Überlebenskampf erzählte sie später in Transit (1944/1948), einem ihrer wichtigsten Romane. Er bot gleich mehrfach den Stoff für dokumentarische und literarische Verfilmungen, so 1991 durch den französischen Regisseur René Allio (im ZDF) und 2018 (als Kinofilm auf der Berlinale) durch den deutschen Regisseur Christian Petzold.

Freunde in den USA halfen den Radvanyis finanziell und besorgten die notwendigen Papiere. Im März 1941 konnte die Familie mit einem Frachtdampfer den Hafen von Marseille verlassen. Nach einer wochenlangen Odyssee und der Einreiseverweigerung in die USA, kamen sie schließlich nach Mexiko City. Anna Seghers lebte sich in der neuen Umgebung schnell ein, wurde Mitbegründerin des Verlags El Libro libre, des Heinrich Heine Clubs und der Zeitschrift Freies Deutschland. Als sich allmählich die Niederlage des Hitler-Regimes abzuzeichnen und die Exilanten über eine Heimkehr nach Deutschland nachzudenken begannen, veröffentlichte sie hierin gleich mehrere Aufsätze unter Titeln wie Freies Deutschland 1792, Deutschland und wir und andere mehr, in denen sie sich mit der jüngeren Geschichte demokratisch-republikanischer Traditionen und mit Fragen von Schuld und Verantwortung kritisch auseinandersetzte. Dabei lehnte sie eine kollektive Schuld aller Deutschen ab und hielt an der Existenz eines „anderen“ Deutschlands fest.

Sie schrieb an neuen literarischen Veröffentlichungen u. a. am Roman Transit und am Epochenroman Die Toten bleiben jung. Im Juni 1943 verlor sie nach einem schweren Verkehrsunfall ihr Gedächtnis. Heimweh und die schlimmen Nachrichten von der Ermordung der Mutter, die mit dem Transport 1.000 rheinhessischer Juden im März 1942 aus Mainz in das Ghetto Piaski in Polen deportiert worden war, und der Zerstörung der Heimatstadt am Ende des Zweiten Weltkrieges überschatten die Kindheitserinnerungen in ihrer vielleicht schönsten und einzigen autobiografischen Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (1946):

Mich zog es zuerst dichter ans Ufer, damit ich die unbegrenzte sonnige Weite des Landes in mich einatmen konnte. Ich riss die zwei anderen, Leni und Marianne, zum Gartenzaun, wo wir in den Fluss sahen, der graublau und flimmrig an der Wirtschaft vorbeiströmte. Die Dörfer und Hügel auf dem gegenüberlegenden Ufer mit ihren Äckern und Wäldern spiegelten sich in einem Netz von Sonnenkringeln. Je mehr und je länger ich um mich sah, desto freier konnte ich atmen, desto rascher füllte sich mein Herz mit Heiterkeit. Denn fast unmerklich verflüchtigte sich der schwere Druck von Trübsinn, der auf jedem Atemzug gelegen hatte. Bei dem bloßen Anblick des weichen, hügeligen Landes gedieh die Lebensfreude und Heiterkeit statt der Schwermut aus dem Blut selbst, wie ein bestimmtes Korn aus einer bestimmten Luft und Erde.“

Mit dem Schicksal der europäischen Juden beschäftigte sich Anna Seghers zur selben Zeit in der Erzählung Post ins gelobte Land (1946). Am Beispiel der aus dem polnischen Schtetl über Wien nach Paris eingewanderten Familie Grünbaum-Levi wird erzählt, wie an deren Ende die Auswanderung und das Lebensende des orthodoxen Familienpatriarchen Nathan in Jerusalem, im „gelobten Land“, und die Ermordung der Familie seines assimilierten und als Augenarzt erfolgreichen Sohnes Jakob durch die Nazis in Paris stehen. In dieser einfühlsam über zwei Jahrhunderte geschilderten Familiengeschichte, in diesem „Requiem“ (Erika Haas, 1995), erscheint der Holocaust, der sich in die lange Geschichte von Vertreibungen, Pogromen und Ermordungen einreiht, als eine endgültige Vernichtung jüdischer Existenz:

Das Land ihrer Väter war genau so wie alle Länder der Welt von Unruhe aufgewühlt und von den düsteren Nachrichten, die wie Schwärme von Todesvögeln dem Krieg vorauszogen. Was Hitler beging, war nur ein Nachspiel von alten berühmten Untaten, die ihnen geläufiger waren als alles, was heute geschah, und ihnen traumhaft und zeitlos vorkam. […] Wenn ihre eigene Erinnerung versagte, fanden sie immer noch in der Bibel Vergleiche mit ungeheurem Gemetzel, mit Einkerkerungen und Hinrichtungen und auch mit unwahrscheinlichen Heldentaten.“

Ich bin in die Eiszeit geraten“ – Rückkehr nachDeutschland (1947–1983)

Nach langem Warten und der Überwindung zahlreicher organisatorischer Schwierigkeiten konnte Anna Seghers über New York, Schweden und Paris schließlich nach Deutschland zurückkehren und kam im April 1947 nach vierzehnjährigem Exil in Berlin an. Schon bald nach der Rückkehr, im Juli 1947, erhielt sie für ihr international erfolgreiches Buch Das siebte Kreuz (Hollywood-Verfilmung 1944) den Büchner-Preis. In Briefen aus dem Jahre 1947 beklagt sie sich bei Freunden über die äußeren und inneren Zerstörungen:

Berlin ist außen und innen ganz und gar kaputt, das heißt, die Menschen sind es auch. Die meisten Menschen sind so stumpf, so verdummt, wie man sich das vorgestellt hat, manchmal eher schlimmer. Wir haben hier im Volke der kalten Herzen […] Sehnsucht nach eurer Wärme.“ 

Obwohl sie in Ostberlin mit offenen Armen empfangen wurde, wohnte sie zunächst im Westteil der Stadt und behielt ihren mexikanischen Pass. Doch schon bald wurde sie mit Preisen geehrt, öffentlich gefeiert und auch zur Legitimation des DDR-Regimes benutzt, zur geachteten und verehrten und zugleich ungemein populären Schriftstellerin, deren Bücher hohe Auflagen erreichten. Sie bekannte sich aus Überzeugung auch öffentlich zur DDR. Sie engagierte sich in der Weltfriedensbewegung und blieb ihren gesellschaftlichen Utopien treu, immer in der Hoffnung, dass die unübersehbaren Fehlentwicklungen des DDR-Sozialismus überwunden werden könnten. Auf Missstände ging sie nicht öffentlich, sondern nur in internen Zirkeln ein, bedrängten Schriftstellerkollegen versuchte sie unauffällig zu helfen, ohne mit der DDR brechen zu müssen.

Die Flucht in eine westliche Öffentlichkeit hätte den Bruch mit ihrer Vergangenheit, ihrer Partei, ihrer Philosophie, ihrer Erfahrung und allen ihren Freunden, mit ihren Büchern und – immer noch – Hoffnungen bedeutet. Sie war nicht blind und taub über die Stalin‘schen Hexenprozesse hinweggegangen, sie litt im Zwiespalt wie alle ihre Gefährten.“ (Erich Loest, 1990)

Ihr literarisches Werk dieser Zeit erscheint ambivalent. Da stehen wunderschöne Erzählungen, etwa die karibischen Novellen, geprägt von den Eindrücken des mexikanischen Exils wie Crisanta (1951) und Das wirkliche Blau (1967) oder die Auseinandersetzung mit Kafka in der Erzählung Die Reisebegegnung (1973) neben den beiden Romanen Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968), in denen sie die Entwicklung und das Leben in der frühen DDR zu gestalten versucht und dabei – wie viele Kritiker meinten – literarisch scheiterte. So war es unvermeidlich, dass sie zwischen die Fronten des „Kalten Krieges“ geriet, im Westen verfemt, bis in die 1970er Jahre nahezu ungelesen, im Osten auf ein Podest gestellt und häufig ideologisch einengend interpretiert. In Mainz war sie von Walter Heist, Pressereferent der Stadt Mainz, promovierter Romanist und Homme de Lettres, durch Artikel in seiner Zeitschrift Das neue Mainz bereits in den 1960er Jahren bekannt gemacht worden. Mit den Bänden der ebenfalls von ihm herausgegebenen Kleinen Mainzer Bücherei trug er maßgeblich zur Aussöhnung der unter der NS-Herrschaft vertriebenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Intellektuellen, den „internationalen Mainzern“, mit ihrer Vaterstadt bei. Hier veröffentlichte er 1973 den Band Anna Seghers aus Mainz; darin heißt es:

Unsere Sammlung würde ihren Sinn verlieren, hätte die Dichterin von ‚Das siebte Kreuz‘ und ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘ nicht ihren Platz darin. Sie hat einen neuen, zugleich exakten und beseelten sozialen Roman geschaffen und uns in ihrer neuen Form die beiden großartigsten Erzählwerke geschenkt, in denen Mainz und das Land um Mainz lebendig werden [...]. Mainz wäre eine arme Stadt, wenn es diesen Beitrag zu seinem Bild nicht annehmen würde. Dazu gehört auch, daß es die Entscheidung des Menschen, der es schuf, anerkennt: Anna Seghers aus Mainz.“

Nach den schwierigen Versuchen einer Annäherung mit den politisch umstrittenen Verleihungen der Ehrensenatorenwürde der Johannes Gutenberg-Universität (1977) und der Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz (1981) gelang eine echte Versöhnung mit ihrer Heimat erst nach ihrem Tod (1983) und nach dem Ende der DDR. Im Jahr ihres 100. Geburtstages wurde in ganz Deutschland mit hunderten von Veranstaltungen und Publikationen der Schriftstellerin gedacht. Und sie wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung mit einer Lesung im vollbesetzten Mainzer Dom geehrt, dem sie im Siebten Kreuz eines der schönsten literarischen Denkmäler gesetzt hat:

Als der Küster fortgegangen und die Haupttür verschlossen und auch der letzte Schall in einem Gewölbe zersplittert war, da begriff Georg, dass er jetzt eine Gnadenfrist hatte, einen so gewaltigen Aufschub, dass er ihn fast mit Rettung verwechselte. Ein heißes Gefühl von Sicherheit erfüllte ihn zum ersten Mal seit seiner Flucht, ja seit seiner Gefangenschaft. So heftig dieses Gefühl war, so kurz war es. In diesem Loch, sagte er sich, ist es aber verdammt kalt. […] Die Dämmerung drang nicht von außen ein wie an gewöhnlichen Abenden. Der Dom selbst schien sich aufzulösen und zu entsteinern. Die paar Weinranken an den Pfeilern und die Fratzengesichter und dort ein zerstochener nackter Fuß waren Einbildungen und Rauch, alles Steinerne war am Verdunsten, und nur Georg war vor Schreck versteinert. Er schloss die Augen. Er tat ein paar Atemzüge, dann war es vorbei, oder die Dämmerung war noch ein wenig dichter geworden und dadurch beruhigender. Er suchte sich ein Versteck. Er sprang von einem Pfeiler zum andern. Er duckte sich, als sei er noch immer beobachtet. An dem Pfeiler, vor dem er jetzt hockte, lehnte, gleichmütig aus seiner Grabplatte über ihn hinwegsehend, ein runder gesunder Mann, auf seinem vollen Gesicht das dreiste Lächeln der Macht.“

In Mainz tragen eine Schule, die Öffentliche Bücherei und ein Platz, ebenso Straßen und Plätze in der Umgebung, so in Mainz-Kostheim, Ginsheim-Gustavsburg, in Gau-Odernheim, Nierstein, Oppenheim und Stadecken-Elsheim ihren Namen.

Nachdem man sich bei der seit 2010 etablierten Reihe „Frankfurt liest ein Buch“ dafür entschieden hatte, für 2018 den Roman Das siebte Kreuz auszuwählen, entwickelte sich daraus – in Kooperation mit vielen Initiativen in Mainz und Rheinhessen – ein großes außerordentliches Lese-Festival, bei dem an mehr als 120 Orten und in über 100 Veranstaltungen Tausende begeisterter Menschen bei Lesungen, Film- und Theateraufführungen, Ausstellungen, Vorträgen und Gesprächen in Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen, Vereinslokalen, großen öffentlichen Orten wie dem Mainzer Dom (rund 800 Zuhörer, darunter 2/3 Schülerinnen und Schüler), bei einer literarischen Schifffahrt auf dem Main, aber auch in privaten Salons zusammen kamen. Und im April 2018 wurde im Frankfurter Nordend im Beisein des Sohnes Dr. Pierre Radvanyi mit der Benennung eines Weges als „Anna-Seghers-Pfad“ ein neuer Erinnerungsort für die Schriftstellerin geschaffen.

An den Theatern in Frankfurt am Main und in Oberhausen wurden im Herbst 2017 und im Frühjahr 2018 in kurzer Folge zwei sehr unterschiedliche und an beiden Orten höchst erfolgreiche Theaterinszenierungen des Romans aufgeführt. Neuausgaben des Romans, Hörbücher und die Neuausgabe des Comics Das siebte Kreuz mit Originalillustrationen von William Sharp ergänzten das Angebot und verdeutlichen die große öffentliche Aufmerksamkeit, die Leben und Werk der Autorin genießen.

Auch im Jahr ihres 120. Geburtstages am 19. November 2020 sind viele Veranstaltungen mit Lesungen und Vorträgen und einer Inszenierung ihres Romans Transit im Mainzer Staatstheater geplant und eine Reihe von Neuerscheinungen zu verzeichnen, darunter das große Anna Seghers Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, das herausgegeben von Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt im J. B. Metzler Verlag erscheint und knapp 60 Beiträge von über 40 Autorinnen und Autoren umfasst."

http://www.anna-seghers.de/aktuelles/wp-content/uploads/2020/11/BRZ_BzL-84_Seghers_end.pdf

 

Weitere Zitate

 

Aus dem Buch „Anna Seghers – Ein Porträt“ von Wilhelm von Sternburg

 

„„… mein Vater wollte Jeanette wie seine Mutter, aber zu dieser Zeit akzeptierte man in seiner Heimatstadt keinen französischen Namen““

Ihre Zurückhaltung gegenüber Organisationen war schon bei den „Wandervögeln“ spürbar geworden. Sie ließ sich anregen – nicht aber binden. Das schloß eine Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen nicht aus.“

„„Ich bin oft gefragt worden, woher ich, da ich doch aus sogenanntem guten bürgerlichen Milieu stamme, das Leben der Armen so genau kannte. Die Antwort ist ganz einfach: Ich konnte doch überall hingehen und sehen, was ich sehen wollte. Man muß doch nicht, um etwas beschreiben zu können, es erst selbst erlebt haben. Man muß nur richtig hinsehen und intensiv mitempfinden.““

„„Schlechte und Teuflische gibt es ueberall“, wird sie im Dezember 1947 in einem Brief mit Blick auf Deutschland und die Deutschen schreiben, „aber eine so gleichmaessige Senkung nicht nur des moralischen, des politischen usw. Niveaus, sondern des gesamten Intellekts, ist wirklich ein Phaenomen.““

Der Westen spielt in den Jahren des Kalten Krieges keineswegs nur die Rolle des Guten und Wahren, wie es die Bonner Ideologen in den Presse- und Radiokommentaren oder auf den politischen Rednertribünen den Menschen suggerieren. Anna Seghers kann nicht übersehen, dass in den Ämtern, in den Parteien, in den Zeitungsredaktionen, an den Gerichten oder in den Industrie- und Bankenvorständen der Bundesrepublik immer noch viele alte Nazis das Sagen haben, die hohen Offiziere der Hitler-Wehrmacht und die Richter des Volksgerichtshofs ihren Lebensabend mit attraktiven Staatspensionen verbringen können. Die Wiedergutmachungsprozesse der Hitler-Opfer stoßen dagegen bei den Gerichten und in der Öffentlichkeit auf Desinteresse und Ablehnung, Mitglieder der verbotenen westdeutschen KPD landen im Gefängnis. Das alles ist nicht nur politische Antipropaganda Ostberlins, sondern bis in die Siebzigerjahre hinein Bonner Wirklichkeit.“

Anna Seghers ist in diesen Jahren keine Opportunistin, und sie hat – jedenfalls gibt es dafür keinerlei Belege – niemandem durch Denunziation oder Schnüffeldienste für die Staatssicherheit geschadet. Im Gegenteil …

Generell gilt, dass Anna Seghers nur sehr selten laut protestiert. Ein Grund dafür ist wohl, dass sie dem „Klassenfeind“ im Westen keine Gelegenheit geben will, Äußerungen von ihr gegen die DDR zu verwenden. Wer sich nicht einäugig an die Jahre des Kalten Krieges zurückerinnert, weiß, wie sehr auch Politik und Medien in der Bundesrepublik die Wirklichkeit überaus einseitig interpretierten und jede Anmerkung aus dem Munde von DDR-Intellektuellen sofort für die eigene Sache reklamierten. Die Lebenserfahrung hat Anna Seghers zudem gelehrt, dass interne Einmischung, die der anderen Seite die Chance gibt, nicht das Gesicht zu verlieren, unter Umständen erfolgreicher sein kann als der laute Protest. So hat sie bei Ulbricht und Honecker oder bei den verschiedenen Ministerien interveniert, sich gegen ideologische Verfolgungen und Verurteilungen von Schriftstellerkollegen, Lektoren oder Verlagsleitern gewehrt. Als Präsidentin des Schriftstellerverbandes hat sie die schwierige Gratwanderung zwischen den ideologischen Anmaßungen des Staates und der Forderung nach künstlerischer Unabhängigkeit der Verbandsmitglieder immer wieder mit klugem Pragmatismus zu bestehen versucht. Jedenfalls ist sie in diesem Amt nie eine kalte Erfüllungsgehilfin des Staates und seiner Sicherheitsorgane gewesen, wie es dann ihr Nachfolger Hermann Kant sein wird.“

Die Mainzerin Anna Seghers hat Weltliteratur geschrieben. Sie hat der Geburtsstadt und der rheinhessischen Region in ihrem Werk ein Denkmal gesetzt. In vielen ihrer Romane und Erzählungen lässt die Schriftstellerin die Menschen ihrer Heimat das Drama der Geschichte und ihre privaten Verwerfungen erleben … Die Mainzer Stadtoberen haben das lange nur mit Zähneknirschen zur Kenntnis genommen. Im Kalten Krieg versteinern nicht nur die Herzen, sondern häufig verlassen auch Vernunft und Nachdenklichkeit die Menschen. Im Stadtrat kommt es immer wieder zu peinlichen Szenen, wenn die Volksvertreter über Ehrungen für die große Tochter ihrer Stadt debattieren …“

 

Aus dem Buch „Der Weg führt nach St. Barbara – Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers“ von Sigrid Bock

 

Auf das Besondere dieser Begegnungen machte Anna Seghers selbst aufmerksam. Auch wenn sie persönlich im Hintergrund bleiben musste, so war doch auch sie in das Geschehen verwickelt. Im Auftrag ihres Mannes suchte sie 1930 Albert Einstein auf, um ihn für einen Vortrag zu gewinnen, überzeugt davon, dass er ihre Bitte erfüllen werde. 1974 erinnerte sie sich: „Mit dem Schwung, den einem diese Gewissheit gibt, vor allem einem jungen Menschen, der noch nicht viel Widersprüche erlebt hat, erzählte ich ihm von der MASCH (Marxistische Arbeiterschule) … Einstein hörte sehr aufmerksam zu. Eine Schule, in der den Leuten aus den Betrieben und den Arbeitslosen und allen, die sonst keine Gelegenheit gehabt haben, Wichtiges zu erfahren, die Gesetze des Lebens, das Wesentliche in Kunst und Wissenschaft erklärt wurde! Er dachte nach, er nickte. Seine Frau fuhr dazwischen, besorgt wie jede Frau: ‚Du musst absagen! Du hast Dir selbst vorgenommen, keine Vorträge mehr anzunehmen.‘ Einstein sagte: ‚Das ist eine ganz andre Art Vortrag. Das interessiert mich.‘“ Am 14. November 1930 hielt er ein Referat über Relativitätstheorie – und Publikum und Gesprächspartner müssen ihn durch aufmerksames Zuhören und mit lebhaften Fragen überzeugt haben: Am 26. Oktober 1931 sprach er ein zweites Mal vor mehr als dreihundert Teilnehmern „aus allen Teilen der Stadt“ über sein Thema „Was muss der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen?“

Die Solidarität der Intellektuellen mit den Arbeitern bewährte sich auch praktisch: Als 1931 der Berliner Magistrat verbot, wie bisher Unterrichtsräume städtischer Schulen zu nutzen, bewiesen sie, wie sehr sie daran interessiert waren, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Künstler wie Brecht, Brentano, Eisler, Feuchtwanger, Heartfield, Weigel, Weill stellten ihre Privatwohnungen zur Verfügung, riefen zu einer Geldsammlung für Mieten und Unterrichtsmaterial auf, an der sich u.a. Kortner, Heinrich Mann, der S. Fischer- und der Kiepenheuer-Verlag beteiligten.“

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm

 

 

Das Böse verlachen

- Satire, Realsatire, ernst Gemeintes -

 

Sensation!! Ö1 Abendjournal vom 9.11.2021

https://www.youtube.com/watch?v=llzUXeZtnjo&feature=youtu.be

 

WINTERZEIT - Intermezzo des Tages 9 - Alien's Best Friend - Summertime Cover - 18.11.20

https://www.youtube.com/watch?v=524IHWw0krI

 

Das Wilde Schaf: Sendung #1

https://vimeo.com/480754720