100 Jahre ungarische Einsamkeit

In Budapest wurde das „Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit“ eingeweiht – ein neuer Höhepunkt des ungarischen Revisionismus, der nicht nur Folklore ist, sondern massiv für Unruhe in den Nachbarländern gesorgt hat und noch sorgen wird.

 

Das Denkmal und Trianon

 

Keno Verseck: „Eine hundert Meter lange Rampe, die abwärts führt, links und rechts Granitmauern, darin eingemeißelt die Namen von 12.537 Ortschaften, am Ende, in der Tiefe, ein riesiger Granitblock aus sieben Teilen, die durch schmale Spalten getrennt sind, in ihrer Mitte brennt eine ewige Flamme - so sieht es aus: Ungarns gewaltiges neues Nationaldenkmal im Herzen von Budapest, genau gegenüber dem riesigen neogotischen Parlamentsgebäude.

Es trägt den Namen: "Denkmal der nationalen Zusammengehörigkeit". Denn es erinnert an das einstige Groß-Ungarn, an sämtliche seiner Ortschaften und an die "Tragödie des Friedensdiktates von Trianon" - jenen Vertrag aus dem Jahr 1920, durch den Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Territoriums und sechzig Prozent seiner Bevölkerung verlor.

Am 20. August, in Ungarn der Tag des Staatsgründers Stephan des Heiligen, weihte Ungarns Staatsführung das Denkmal im Rahmen einer militärischen Zeremonie feierlich ein. Ministerpräsident Viktor Orbán hielt dazu eine ebenso pathetische wie doppeldeutige Rede, in der er das Ende des "Jahrhunderts ungarischer Einsamkeit nach Trianon" ausrief und sagte, Ungarn werde "neue Größe und neuen Ruhm" erleben.

Ungarn sei, so Orbán, das "bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land im Karpatenbecken" und werde sich "nie wieder den Luxus der Schwäche leisten". Der Premier verkündete die "sieben Gesetze der Erhaltung Ungarns", darunter: "Grenzen hat nur das Land, nicht die Nation!", "Wahrheit ohne Stärke taugt wenig!" und "Jeder Wettbewerb dauert so lange, bis wir ihn gewinnen!"

Zugleich machte Orbán auch eine offene Kampfansage an den Westen, der mit "einem gottlosen Kosmos, Regenbogenfamilien, Migration und offenen Gesellschaften" experimentiere. Dagegen müsse sich Mitteleuropa verbünden, die Region müsse "angestammten Lebensinstinkten" und "Nationalstolz" wieder Geltung verschaffen.

Es ist eine für Orbán typische Rede. Man kann in sie einen beispiellosen Affront an die Adresse der Nachbarländer und großungarischen Revisionismus hineininterpretieren. Fest steht: Die Rede und die Einweihung des neuen ungarischen Nationaldenkmals sind der vorläufige Höhepunkt von einem Jahrzehnt Politik, in dem Ungarns Premier die "nationale Zusammengehörigkeit" und den Trianon-Trauerkult zu einem ideologischen Schlüsselelement seiner Ordnung gemacht hat. Denn das Thema besitzt eine erhebliche Mobilisierungskraft und großen politischen Nutzen."

https://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orbans-denkmal-der-nationalen-zusammengehoerigkeit-gross-ungarn-in-granit-a-033426c9-d60c-4191-aa4c-97a40b4bb87c

Peter Münch und Tobias Zick: „100 Meter ist das Mahnmal lang und vier Meter breit – eine tiefergelegte Rampe aus Granit, in deren Mauern die Namen von 12’537 Dörfern und Städten eingraviert sind, die einstmals Teil des Königreichs Ungarn waren. Mit diesem begehbaren «Denkmal der nationalen Einheit» stellt die Regierung den Verlust zur Schau, den Ungarn erlitten hat an jenem 4. Juni 1920 durch die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs erzwungene Unterzeichnung des Vertrags von Trianon.

Es war der letzte der Pariser Vorortverträge, benannt nach einem einstigen Lustschloss der französischen Könige, und das Abkommen forderte viel von Ungarn: Zwei Drittel seines Territoriums gingen verloren, die Slowakei und die Karpato-Ukraine mussten an die neue Tschechoslowakei abgetreten werden, Siebenbürgen und ein Grossteil des Banats an Rumänien, die Vojvodina an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das Burgenland ging an Österreich.

Ungarn schrumpfte von 18 auf nur noch 7,6 Millionen Einwohner. Mehr als drei Millionen Magyaren lebten fortan jenseits der Grenzen. Trianon wurde in Ungarn zum Synonym für Verlust und eine nationale Demütigung.

Für Premier Orbán ist das Trauma von Trianon ein zentraler Baustein seiner Geschichtspolitik, die immer auch Machtpolitik ist. «Was einmal ungerecht ist, wird auf ewig ungerecht bleiben», lautet sein Trianon-Mantra: «Die Zeit heilt keine Amputation.» Um den Opfermythos gebührend zu pflegen, hat er nach seiner Amtsübernahme 2010 per Gesetz den 4. Juni zum «Tag der nationalen Zusammengehörigkeit» erklärt.“

https://www.bazonline.ch/das-wird-auf-ewig-ungerecht-bleiben-725151109340

 

Geschichts-Politik

 

Thyra Veyder-Malberg: „Die Regierung Orbán führte direkt nach ihrem Amtsantritt 2010 einen Trianon-Gedenktag ein und schrieb die Verantwortung des ungarischen Staates für die ethnischen Ungarn im Ausland in der Verfassung fest. Das "Denkmal der nationalen Einheit" wird sich damit in eine Vielzahl von Trianon-Denkmälern einreihen, die bereits in den vergangenen Jahren in Ungarn entstanden sind. Kritiker sehen das als übertriebenen Nationalismus: Die ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky sieht das als einen Ausdruck einer völkisch-rassistischen Vorstellung von Nation.“

https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/trianon-ungarn-orban-100.html

Thyra Veyder-Malberg: „Bereits in seiner ersten Legislaturperiode als Ministerpräsident (1998-2002) ließ Viktor Orbán die Stephanskrone vom Nationalmuseum ins Parlament bringen, wo sie bis heute ausgestellt wird. Diese "heilige" Krone gilt vielen Ungarn nicht nur als Symbol nationaler Einheit und Unabhängigkeit, sondern auch legitimer Herrschaft und Kontinuität. Gleichzeitig brachte Orbán auch den Bau eines hoch umstrittenen Museums auf den Weg: Das Haus des Terrors, das seit seiner Eröffnung scharfer Kritik von Historikern aus dem In- und Ausland ausgesetzt ist. Die Ausstellung setzt nicht nur faschistische und kommunistische Diktatur gleich, sondern stellt diese auch so dar, als wären sie den Ungarn ohne aktives Zutun widerfahren. Die Leiterin des Hauses, Mária Schmidt, ist eine enge Vertraute Orbáns und berät ihn bis heute in historischen Fragen.

Speziell die Aufarbeitung der ungarischen Verantwortung für den Holocaust hat in Ungarn nie die Aufmerksamkeit erfahren, die die Opfer – insgesamt kamen etwa 565.000 Juden aus Ungarn ums Leben – verdient hätten. Stattdessen ließ die ungarische Regierung mitten im Holocaust-Gedenkjahr 2014 ein Denkmal auf dem Budapester Freiheitsplatz errichten, das den ungarischen Opfermythos fortschreibt: Ein Adler (Deutschland), der im Angriffsmodus auf den Erzengel Gabriel (Ungarn) herunterstößt. Es ist längst nicht das einzige Denkmal im öffentlichen Raum, das errichtet wurde, um das Geschichtsverständnis der Regierung zu verbreiten …

Der Opfermythos, demzufolge die Ungarn im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Opfer finsterer Mächte von außen wurden – seien es nun die Mongolen, die Türken, die Habsburger, die Deutschen, die Alliierten oder die Sowjetunion – ist ein Narrativ, das für Orbáns Geschichtspolitik zentral ist. "Es gibt Bedarf an einer selbst-viktimisierenden Sichtweise, das heißt, wir sind die Opfer, die anderen sind die Täter", sagt der ungarische Historiker Krisztián Ungváry mit Blick auf die eigenwillige Geschichtsinterpretation der Regierung und verweist auf das Mobilisierungspotential solcher Erzählungen gerade vor Wahlen.“

https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/ungarn-geschichte-orban-opfermythos-100.html

 

Ärger mit Nachbar-Staaten

 

Keno Verseck: „Die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern wiederum unterstützt Orbáns Regierung jedes Jahr mit Summen, die umgerechnet im dreistelligen Millionenbereich liegen. Das zahlt sich für Orbáns Partei aus, weil viele Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft und ein damit verbundenes Listenwahlrecht besitzen.

Noch in den Neunzigerjahren führten weitaus harmlosere Manifestationen einer angeblichen ungarischen Grenzrevisionspolitik zu permanenten diplomatischen Krisen zwischen Ungarn und seinen Nachbarländern. Heute sorgt Orbáns "Politik der nationalen Zusammengehörigkeit" zwar immer wieder für Empörung unter Nationalisten der Region. Doch die meisten Regierungen der Region schweigen dazu oder äußern sich allenfalls beschwichtigend …

Dennoch bleibt Orbáns Politik langfristig für die Region ein Spiel mit dem Feuer. Seine Absagen an Grenzveränderungen und an eine mögliche Revision von Trianon sind nicht klar, sondern diffus und lassen viel Raum für Interpretationen.“

https://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orbans-denkmal-der-nationalen-zusammengehoerigkeit-gross-ungarn-in-granit-a-033426c9-d60c-4191-aa4c-97a40b4bb87c

Ivo Mijnssen: „Dass Orban 2011 einen Teppich mit einer Karte Grossungarns nach Brüssel mitbrachte, als sein Land den EU-Vorsitz übernahm, führte zu nachhaltigen Verstimmungen mit den Nachbarländern, zumal die Regierung in Budapest in der gleichen Zeit auch die doppelte Staatsbürgerschaft für Angehörige der ungarischen Minderheit einführte. 1,1 Millionen von ihnen haben sich seither einbürgern lassen, und sie stellen eine wichtige Wählergruppe für die Regierungspartei Fidesz dar. Über regierungsnahe Investoren, staatliche Medien, Parteien und Schulprogramme hat Ungarn seinen Einfluss in den Nachbarländern stark ausgebaut.“

https://www.nzz.ch/international/vertrag-von-trianon-ungarns-trauma-und-nationaler-mythos-ld.1558309

Peter Münch und Tobias Zick: „Viktor Orbán wiederum profitierte vom Ausfall des rumänischen Präsidenten: Er bekam einen weiteren Anlass, sich zum Jahrestag des Traumas von Trianon als Beschützer der im Nachbarland bedrängten Ungarn zu präsentieren – die obendrein ja auch, so sie sein Angebot der Doppelstaatsbürgerschaft angenommen haben, in Ungarn wählen dürfen.

Als habe ihn der Streit mit dem rumänischen Präsidenten beschwingt, schickte Orbán kurz darauf den ungarischen Geschichtsstudenten per Facebook einen Gruss ins Examen: das Foto eines Globus, auf dem sein Land noch in den Grenzen vor 1920 dargestellt ist – jenes «Gross-Ungarn» umfasste auch wesentliche Teile des heutigen Kroatien.

Der kroatische Präsident Zoran Milanović allerdings liess sich nicht provozieren. Er richtete, ebenfalls per Facebook, einen Wunsch an die Studenten seines eigenen Landes: Sie möchten bitte keine alten Landkarten posten, die Kroatien grösser erscheinen lassen, als es heute ist. «In unseren Schränken und Archiven» gebe es zwar solche Landkarten, erklärte der Präsident. Aber: «Teilt sie nicht, und nehmt sie nicht in eure Profile auf. Sie sind nicht zeitgemäss und nicht mehr relevant – und, noch wichtiger: Sie irritieren unsere Nachbarn über alle Massen.»

https://www.bazonline.ch/das-wird-auf-ewig-ungerecht-bleiben-725151109340

 

Beispiel Ukraine

 

Thyra Veyder-Malberg: „2010 wurde nach Orbáns Amtseintritt auch das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert. Und das hat für ganz konkreten Ärger mit den Nachbarstaaten gesorgt. Denn die Gesetzesnovelle erleichtert es den ungarischen Minderheiten in diesen Ländern, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne ihre bisherige aufzugeben. Das führte mit manchen Nachbarn zu massiven diplomatischen Verstimmungen – etwa in der Ukraine, wo in der Region Transkarpatien etwa 150.000 ethnische Ungarn leben. Denn die Ukraine lässt keine doppelten Staatsbürgerschaften zu, was die ungarischen Behörden aber nicht daran hinderte, ungarische Pässe auszugeben. Kiew reagierte ungehalten und unterstellte Budapest, es würde sich in der Region benehmen "als sei das ungarisches Staatsgebiet".

Als dann auch noch herauskam, dass die frisch gebackenen Ungarn von den Mitarbeitern eines Konsulats in der Westukraine angewiesen wurden, ihre ungarische Staatsbürgerschaft vor den ukrainischen Behörden geheim zu halten, eskalierte der Konflikt. Die Ukraine wies den zuständigen ungarischen Konsul aus, Ungarn reagierte seinerseits mit der Ausweisung eines ukrainischen Konsuls. Kurz zuvor war außerdem im Internet eine von ukrainischen Rechtsextremisten erstellte "Todesliste" aufgetaucht, die hunderte Ungarn mit doppelter Staatsbürgerschaft auflistet.

Der Umgang mit der ungarischen Minderheit, ist immer wieder Gegenstand von Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern. So hatte ein Bildungsgesetz von 2017 für diplomatische Spannungen gesorgt. Darin schreibt Kiew Ukrainisch als verpflichtende Unterrichtssprache fest, Budapest sieht dies als Einschränkung der ungarischen Minderheitenrechte. Was die Regierungen in der Ukraine oder den anderen Nachbarstaaten von den Plänen für das neue Trianon-Denkmal halten, ist derweil noch nicht bekannt.“

https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/trianon-ungarn-orban-100.html

 

Sonderfall Rumänien

 

Regime-Wechsel 1989

 

Zusammen mit westlichen Geheimdiensten hat die ungarische Regierung für den Regime-Wechsel 1989/90 in Rumänien gesorgt.

Dokumentiert hatte das der Wurm in folgendem Beitrag: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/129-sir-ceausescu.html

Unter anderem mit folgenden Sätzen: „Ausgangspunkt war der Geistliche Laszlo Tökes, ein ungarischer Nationalist der übelsten Sorte. Auch heute noch … Außerhalb seiner eigenen Gemeinde war er in Temesvar so gut wie unbekannt.“

Wem die Art und Weise bekannt vorkommen sollte: nach einem sehr ähnlichen Muster wurden seitdem die vom westlichen Ausland initiierten „Farbrevolutionen“ bzw. Regime-Wechsel durchgezogen. Zurück zum Helden der Revolution, dem nationalistischen Geistlichen.

Nina May: „Dass dem FIDESZ-Europaabgeordneten und ungarisch-reformierten Geistlichen László Tökés die höchste Auszeichnung Rumäniens, der Orden „Stern Rumäniens“, aberkannt wurde, löste hitzige politische Diskussionen und kontroverse Medienberichterstattung aus. Der Orden war Tökés 2009 anlässlich der 20-Jahr-Feier seit der Revolution von 1989 für dessen „Einsatz gegen die kommunistische Diktatur“ vom damaligen Präsidenten Traian Băsescu verliehen worden. Der Ruf nach Aberkennung wurde laut, nachdem Tökés 2013 mit einer Forderung über ein Budapester „Protektorat“ für Siebenbürgen wiederholt für einen Eklat gesorgt hatte. Sie war vom Ehrenrat der Ordensträger beschlossen, durch ein rechtskräftiges Urteil des Obersten Gerichts bestätigt und auf dieser Basis jüngst von Staatschef Klaus Johannis umgesetzt worden.“

https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/rumaenien/16470-hitzige-fronten-im-fall-laszlo-toekes.html

 

Geschichte auf einen Blick

 

Aus einem Reisebericht über die siebenbürgische Stadt Cluj, der den ungarisch-rumänischen Konflikt recht gut zusammenfasst:

Neben Temesvar und der Hauptstadt Bukarest zählt Cluj (ungarisch: Kolozsvar, deutsch: Klausenburg) zu den „In“-Städten Rumäniens und ist für die Ungarisch sprechende Bevölkerung der kulturelle Mittelpunkt. Von 1790 bis 1848 war Cluj die Hauptstadt des habsburgischen Siebenbürgen und kam 1867 zum ungarischen Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Nach Ende des 1. Weltkriegs erfolgte das ungarische Trauma schlechthin, in dem unter anderem Siebenbürgen mit Cluj an Rumänien abgetreten werden musste. Auf deutschen Druck hin musste Rumänien 1940 das nördliche Siebenbürgen mit Cluj an Ungarn abtreten, das nach dem 2. Weltkrieg wieder zu Rumänien kam.

Seit 1974 heisst die Stadt offiziell Cluj-Napoca. Und damit sind wir mitten drin in den rumänisch-ungarischen Streitigkeiten. Napoca war eine Siedlung aus der Dakerzeit. Der neue Name hat nichts mit Geschichte zu tun, sondern ist eine politische Aussage, die sich auf die „dako-rumänische Kontinuitätstheorie“ bezieht. Die besagt nämlich, dass sich Daker und Römer vermischt hätten und daraus die Rumänen entstanden. So sehen sich die Rumänen und bislang ist das auch kein Problem. Nach dem Einfall der Hunnen im 4. Jahrhundert hat sich diese Bevölkerung aus den Städten in die Wälder und Gebirge zurückgezogen und haben als Bauern und Wanderhirten überlebt. Anders ausgedrückt: Die Rumänen waren schon immer da. Dies ist die offizielle rumänische Position, die auch in den Schulen gelehrt wird. Dem gegenüber steht die ungarische Position, die besagt, als sie in das Gebiet kamen (hauptsächlich nach Siebenbürgen), haben sie verwaiste Städte und ein menschenleeres Land vorgefunden. Anders ausgedrückt: dies ist ungarisches Land. Für einen Außenstehenden hört sich die ungarische Position um einiges rationaler an. Allerdings sind das „alte Geschichten“ – Ungarn war im 1. Weltkrieg auf der Seite der Verlierer und die Mehrheit der Bevölkerung in Siebenbürgen stellten, wenn auch knapp, die Rumänen. Anbei habe ich noch den Link zu Wikipedia mit der etwas hanebüchenen Kontinuitätstheorie: http://de.wikipedia.org/wiki/Dako-romanische_Kontinuit%C3%A4tstheorie

Wenn es darum geht, zu demonstrieren, dass Siebenbürgen ein Teil Rumäniens ist, darf einer nicht fehlen: Mihai Viteazul.

Seit Jahrzehnten wird der Film „Mihai Viteazul“ am rumänischen Nationalfeiertag im rumänischen Fernsehen gezeigt. Für das Verständnis Rumäniens ist es ganz gut, diesen Film zu kennen.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Mit türkischer Hilfe wird Mihai Viteazul (1558-1601) Fürst der Walachei, wendet sich aber schnell gegen die Türken. Die versprochene Hilfe vom ungarischen Fürstentum Siebenbürgen und vom Kaiser in Prag bleiben aus und so müssen die Walachen allein gegen die viel stärkeren Türken kämpfen und besiegen sie sogar. Danach kommt es im westlichen Lager zu wechselnden Koalitionen: mal miteinander, mal gegeneinander, mal mit Mihai, mal mit den Türken. Bis zum Schluss, als Mihai von den eigentlich verbündeten Habsburgern umgebracht wird.

Es gibt zwei Konstanten: Mihai und den ehrlichen türkischen Feind. Die Türken werden nicht als unsympathisch dargestellt. Sehr wohl aber der Kaiser und die ungarische Führungsschicht Siebenbürgens. Das wird historisch in dem Fall sogar stimmen. Der Film schafft nichts Neues, verstärkt aber die rumänische Sicht der Dinge: Einerseits wird Europa vor den Türken verteidigt, andererseits ist auf Europa kein Verlass. Und wenn man Pech hat, wird man auch noch verraten. Die außenpolitischen Alleingänge in der kommunistischen Zeit sowie der Wunsch nach Unabhängigkeit von ausländischen Kreditgebern lassen sich dadurch erklären.

Der historische Mihai Viteazul gilt deshalb als so bedeutend, weil er es geschafft hat (wenn auch nur für kurze Zeit), die Fürstentümer Walachei, Moldau und Siebenbürgen zu vereinigen. Nachdem Siebenbürgen (und noch einiges mehr) nach dem 1. Weltkrieg tatsächlich zu Rumänien kam, galt Mihai Viteazul dafür als historische Legitimation. Wer in die rumänischen Städte geht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein Denkmal von Mihai Viteazul sehen. An seiner eigentümlichen Kopfbedeckung erkennt man ihn sofort …

Zur gleichen Zeit, als die Umbenennung der Stadt in Cluj-Napoca erfolgte, wurde auch das Denkmal von Mihai Viteazul aufgestellt, das wir uns mal etwas näher ansehen wollen. Hier das Siegel von Mihai Viteazul. In die heutige Umgangssprache übersetzt heisst das „Herrscher der Walachei, Siebenbürgens und des ganzen Landes der Moldau“. Was daran interessant ist, ist „das ganze Land der Moldau“ – also auch die nördliche Bukowina und Moldawien, in den 1970ern zur Sowjetunion zugehörig und heute zur Ukraine (die nördliche Bukowina, siehe mein Bericht über Czernowitz) bzw. als Republik Moldau. Mit diesem Denkmal untermauert Rumänien nicht nur seinen Anspruch auf Siebenbürgen, sondern auch auf die „ganze“ Moldau.

Weiter geht es mit den folgenden Darstellungen: Mit dem Wappen der Walachei (Adler) wird der Kampf gegen die Türken dargestellt. Die Heerführer der Moldau (Wappen mit dem Auerochsen) übergeben Mihai Viteazul das Szepter des Landes. Die Szene mit dem dakischen Wappen (Löwen) ist wohl so zu interpretieren, dass Mihai Viteazul die Herrschaft über Dakien angeboten wird – also über die drei Fürstentümer Walachei, Moldau, Siebenbürgen und sogar noch etwas mehr.

In die gleiche Zeit fällt das Denkmal von Starina Novak, einem serbischen Haudegen, der in Rumänien als Baba Novac bekannt ist. Das Denkmal steht bei der Schneiderbastei, einer mittelalterlichen Verteidigungsanlage, vor der die Leichen der zum Tode Verurteilten nach der Exekution zur Schau gestellt wurden. Auf dem Denkmal steht: "Baba Novac, Heerführer Michaels des Tapferen, der von den Ungarn unter grausamen Qualen am 6. Februar 1601 ermordet wurde." Man beachte das „von den Ungarn“. Drunter steht: "Dieses Denkmal wurde 1975 zur Ehrung seines Andenkens errichtet"

Die Kommunisten haben schon ordentlich auf der nationalistischen Klaviatur gespielt. Eines muss man ihnen aber zugute halten: Auswüchse gegenüber anderen in Rumänien lebenden Völkern wurden sofort im Keim erstickt. Nach deren Ende ging’s dann aber so richtig los: Zwischen 1992 und 2004 hatte Cluj mit Gheorghe Funar einen nationalistischen Bürgermeister, der Bänke, Mülleimer und Laternenmasten in den rumänischen Farben anstreichen ließ. Selbst die Weihnachtsbeleuchtung bestand ausschließlich aus diesen Farben (rot, gelb, blau). Und wir bekommen jetzt ein neues Denkmal, das Avram Iancu ehrt. Avram Iancu war einer der Anführer der rumänischen Bewegung während der Revolution von 1848/49 in Siebenbürgen. Er kämpfte mit österreichischer Unterstützung gegen den ungarischen antihabsburgischen Aufstand. Es handelt sich hier also nicht nur um ein pro-rumänisches, sondern auch um ein anti-ungarisches Denkmal.

Streit gab es auch um das Denkmal von Matthias Corvinus, das seit 1902 mit ungarischem Wappen und ungarischer Inschrift „Mátyás Király“ vor der Michaels-Kirche stand. 1945 wurde das ungarische Wappen entfernt und das lateinische „Mathias Rex“ angebracht. Und Anfang der 1990er ließ unser nationalistischer Bürgermeister die lateinische Inschrift durch die rumänische „Matei Corvin“ ersetzen. Nach der Restaurierung des Denkmals steht seit 2011 wieder die lateinische Inschrift.

Dauerhafteren Erfolg hatte der Bürgermeister bei der Tafel am Geburtshaus von Matthias Corvinus. Hier die Übersetzung: „Dies ist das Geburtshaus von Matthias Corvinus, der Sohn des großen Fürsten Siebenbürgens und Herrscher Ungarns, Iancu von Hunedoara. Der Rumäne Matthias Corvinus wird als größter aller ungarischen Könige angesehen auf Grund der Erfolge während seiner Herrschaft 1458 -1490“ Wer glaubt, "der Rumäne Matthias Corvinus" sei als Provokation gedacht, wird sehr wahrscheinlich richtig liegen. (wem das bekannt vorkommt: diese Passage hatte ich schon am Ende vom Bericht über Hunedoara erwähnt)

Und was sagen die Ungarn dazu? Interessant ist, was Dagobert Lindlau zum „Systematisierungsprogramm“ sagt, das 7.000 Dörfer platt machen sollte und die Bewohner in 500 „agroindustrielle Zentren“ ziehen sollten. Was davon zu halten ist – nämlich gar nichts, beschreibt sehr schön Dagobert Lindlau ausführlich in seinem Buch „Reporter“ und kurz auf seiner Homepage http://www.dagobert-lindlau.com/

Lindlau, ehemaliger Chefreporter des Bayerischen Rundfunks und Moderator des „Weltspiegels“, besucht tatsächlich die angeblich betroffenen Dörfer. Und da war nichts, gar nichts. Die Meldung, die monatelang um die Welt ging, war reine Propaganda. Lindlau vermutet dahinter die ungarische Regierung und die rumänischen Dissidenten.“ Und Lindlau wird sogar noch deutlicher: „Ungarn hatte eine Chance für seine Begehrlichkeiten in Bezug auf Siebenbürgen gewittert, das Gesetz über die „Systematisierung“ aber erst 14 Jahre nach dessen Inkrafttreten hochgespielt und ausgebeutet. Und die gesamte westliche Presse fiel darauf herein.“ Es geht hier übrigens um das Jahr 1988 und die entscheidenden Worte waren „Begehrlichkeiten in Bezug auf Siebenbürgen“. Die ungarische Regierung mischt sich massiv in rumänische Angelegenheiten ein wie beim Referendum zur Absetzung des rumänischen Staatspräsidenten Traian Basescu im Sommer 2012. Das scheiterte, nachdem die notwendige Wahlbeteiligung von 50% knapp verfehlt wurde. Ausschlag gebend war der Aufruf des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán, die in Rumänien lebenden Ungarn sollten dem Referendum fern bleiben. Hier verweise ich gerne auf den entsprechenden Artikel im „Pester Lloyd“, in dem auch die Rolle der ungarischen Parteien in Rumänien aufgeführt wird: http://www.pesterlloyd.net/html/1231basescurohu.html

Mittlerweile ist auch klar, dass die ungarische Regierung seit den 1970ern den Sturz von Nicolae Ceausescu voran getrieben hat und zu einem Großteil der rumänischen Wirtschaftskrise in den 1980ern zeichnet

Deutlich wird das in der Dokumentation zu Ceausescu-Sturz „Schachmatt - Strategie einer Revolution oder Fallstudie amerikanischer Politik“ von Susanne Brandstätter, indem unter anderem der damalige ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth auftritt.

https://www.youtube.com/watch?v=m7BEenUr6ZQ

Und was sagt das „normale Volk“ dazu? Da, wo gegenseitige Kontakte da sind, ist das Verhältnis meistens sogar recht gut. Ansonsten eher nicht. Wenn man auf rumänische Foren oder Communities geht, wird man schnell feststellen, dass sich Rumänen untereinander oft und gern streiten. Da geht es schon mal recht hitzig zu und so ziemlich die übelste Beschimpfung lautet „Du bist ein Ungar!“, meistens noch mit einem unschönen Adjektiv ergänzt.“

http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/europa/rumaenien/siebenbuergen/cluj.html

 

2020

 

Peter Münch und Tobias Zick: „Genau diese Befürchtung, nämlich dass Siebenbürgen verloren gehen könnte, allerdings in die andere Richtung, hat Ende April einen Eklat an der Staatsspitze ausgelöst. Rumäniens Präsident Klaus Iohannis, seinerseits Angehöriger einer ethnischen Minderheit, und zwar der deutschstämmigen, wetterte in einer Medienkonferenz: Während er gegen die Corona-Pandemie und somit um das «Leben von Rumänen» kämpfe, sei die Opposition damit beschäftigt, «hinter den Kulissen darum zu kämpfen, Siebenbürgen den Ungarn zu geben».

Was ihnen denn Viktor Orbán als Gegenleistung dafür in Aussicht gestellt habe, fragte er in Richtung der vermeintlichen Vaterlandsverräter im Parlament. Anlass war ein von einer kleinen Partei eingebrachtes Gesetz, das der ungarischen Minderheit in einem Teil Siebenbürgens Autonomierechte verleihen sollte. Das Gesetz scheiterte erwartungsgemäss im Senat, genügte aber als Zündfunke.

Kritiker im eigenen Land hielten Iohannis vor, ausgerechnet er, der Träger des Karlspreises für herausragende Verdienste um die europäische Einigung, schüre Ressentiments gegen die ohnehin benachteiligte ungarische Minderheit. Ungarns Regierung bestellte den rumänischen Botschafter in Budapest ein: Der dortige Aussenminister warf dem rumänischen Präsidenten das «Schüren von Hass» vor.“

https://www.bazonline.ch/das-wird-auf-ewig-ungerecht-bleiben-725151109340

Geschichte ist oft langfristig angelegt. Auch dann, wenn momentan etwas recht harmlos aussehen mag – die ungarische Regierung ist mit dem jetzigen nationalen Zustand nicht zufrieden, tut alles, was sie momentan kann, um zu nationaler Größe zurückzukehren bzw. legt jetzt die Grundlagen für spätere Großtaten.

Das mag sympathisch oder unsympathisch sein – aber mensch sollte es wissen.

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm