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In den Kinos läuft der allseits gelobte Film „Intrige“ von Roman Polanski über die Affäre Dreyfus.
Der Wurm lobt mit.
Die Affäre Dreyfus
Elke-Vera Kotowski: „Der Skandal um den zu Unrecht beschuldigten jüdischen Hauptmann Dreyfus löste eine Staatskrise in Frankreich aus. Die Affäre ist ein Lehrstück in Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung.
Einleitung
„Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - so untertitelte Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, seinen 1902 verfassten utopischen Roman Altneuland, in dem er das Ideal einer künftigen "Heimstatt für Juden" darlegte. Es war kein Märchen, was sich Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ereignete, jene Affäre um den französischen Hauptmann jüdischen Glaubens, Alfred Dreyfus, die Herzl dazu bewog, fortan sein Augenmerk auf die in Europa immer lauter artikulierte "Judenfrage" zu richten und diese durch einen "Judenstaat" (so auch der Titel seines politischen Hauptwerks, das er 1896 verfasste) zu lösen.
Herzl, als Korrespondent für die Wiener "Neue Freie Presse" seit 1891 in Paris tätig, war Augenzeuge und Berichterstatter jener folgenschweren Ereignisse, die einen Wendepunkt in Frankreich und in der Geschichte der Juden in Europa darstellte. L'Affaire, mit der nahezu jeder französische Bürger die nachhaltigste Gesellschaftskrise der Dritten Republik assoziiert, klingt bis heute nach und stellt einen Markstein im kollektiven Gedächtnis dar, der nicht allein in der Grande Nation, sondern in ganz Europa das gesellschaftliche wie politische Bewusstsein schärfte.
Der Fall Dreyfus
Beim Entleeren des Papierkorbs des Militärattachés Max von Schwartzkoppen in der deutschen Botschaft in Paris fischte eine Putzfrau, die für den französischen Geheimdienst tätig war, am 25. September 1894 ein Schriftstück heraus, das sie dem Nachrichtenbüro des Kriegsministeriums übergab. Dieses Dokument, das als bordereau (Ankündigungsschreiben, Lieferschein) in die Geschichte einging, listete geheime Informationen auf (beispielsweise "eine Aufzeichnung über die hydraulische Bremse des 120-mm-Geschützes und über die Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat"), die dem Adressaten in Aussicht gestellt wurden. Das bordereau war handschriftlich verfasst und wies keinen Verfasser auf. Allerdings konnte dieser nur im Generalstab in Paris zu finden sein, da die avisierten Informationen nur dort zugänglich waren.
Anhand einer fotografischen Kopie wurde im Büro des Generalstabs ein Handschriftenvergleich vorgenommen. Der Verdacht fiel schnell auf einen patriotischen und sehr ehrgeizigen jüdischen Artilleriehauptmann namens Alfred Dreyfus (1859 - 1935), der seit Januar 1893 eine zweijährige Schulung im Generalstab absolvierte und zurzeit in ein Pariser Infanterieregiment abkommandiert war. Er war verdächtig - so die einhellige Meinung im Generalstab -, weil er nicht nur Elsässer und somit quasi Deutscher, sondern auch Jude und damit als Verräter prädestiniert war. Am 14. Oktober 1894, einem Sonntag, liefen die Vorbereitungen für die Verhaftung Dreyfus' auf Hochtouren. Der Kriegsminister, Divisionsgeneral Auguste Mercier, ernannte Major Armand du Paty de Clam zum Officier de police judiciare und beauftragte ihn mit Voruntersuchungen, derweil bereits Dreyfus' Haftbefehl unterzeichnet wurde. Unter einem Vorwand wurde Dreyfus am 15. Oktober zum Generalstab zitiert und dort aufgefordert, ihm vorgetragene Sätze per Hand niederzuschreiben. Es handelte sich um Worte und Satzteile aus dem bordereau. Obwohl einige Tage zuvor ein Handschriftensachverständiger es abgelehnt hatte, Dreyfus als Verfasser des bordereau zu bestätigen, bot den Offizieren des Nachrichtenbüros eine oberflächliche Ähnlichkeit in der Handschrift den hinreichenden Beweis dafür, dass Dreyfus der Urheber des Schriftstücks und somit Vaterlandsverräter war. Dreyfus wurde abgeführt und noch am selben Tag für unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft genommen.
Du Paty de Clam schloss bereits nach 14 Tagen die Voruntersuchungen ab, wobei unterschiedlichste "Beweisstücke" zusammengestellt wurden, "um die einmal gelegte Fährte zu verstärken". Am 31. Oktober gab die Presseagentur Agence Havas bekannt, dass ein Offizier wegen Verdachts auf Hochverrat verhaftet worden sei. Einen Tag später benannte die antisemitische Zeitung "La Libre Parole" den "Juden" Dreyfus als Schuldigen. Am 3. November 1894 erhob die Militärjustiz Anklage gegen Dreyfus; der Prozess vor dem Kriegsgericht wurde am 19. Dezember eröffnet. Bereits nach drei Kalendertagen erfolgte der einstimmige Schuldspruch. Der damals 35-jährige Ehemann und Vater von zwei Kindern wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen und zu lebenslänglicher Verbannung auf der dem südamerikanischen Französisch-Guayana vorgelagerten Teufelsinsel (Ile du Diable) verurteilt.
Wenige Tage, bevor der Prozess vor dem Kriegsgericht begann, formulierte von Schwartzkoppen - in Unkenntnis der Tatsache, dass das bordereau aus seinem Papierkorb als einziges wirkliches Beweismaterial für Dreyfus' Schuld diente - seine Einschätzung über den "Fall Dreyfus" und schickte diese per Brief, datiert am 14. Dezember 1894, nach Berlin: "Ueber die Angelegenheit Dreyfuß herrscht fortgesetzt vollkommenes Dunkel. Es ist bisher noch nicht festgestellt, welches der Inhalt des Schriftstückes ist, von welchem behauptet wird, daß Dreyfuß es einem ausländischen Militär-Attaché oder Agenten gegeben habe. (...) Es gewinnt immer mehr den Anschein, als ob die ganze Angelegenheit schließlich mit einer Freisprechung von Dreyfuß endigen wird, wodurch natürlich die schon so sehr untergebene Stellung des Kriegsministers wie auch diejenigen d. Chefs des Generalstabes nicht nur sehr leiden würden, sondern diejenige des Ersteren absolut unhaltbar wird. (...) Diese Parteinahme seitens der niedrigsten Presse für den Kriegsminister kann nur dazu beitragen, den Sturz des Letzteren zu beschleunigen, der auch ohne die Dreyfuß Affaire längst beschlossene Sache war."
Die Folgen
Wie von Schwartzkoppen bereits andeutete, war das Kriegsministerium bemüht, den Fall möglichst schnell abzuschließen und wenig an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Und doch wurden gezielte (wenn auch fingierte, wie sich später herausstellen sollte) Informationen an die Presse gegeben, die sich sogleich auf den Fall stürzte. Ob liberale oder konservative Zeitungen, die verbalen Flammenwerfer richteten sich - ungeachtet des Wahrheitsgehaltes der Anschuldigungen - auf den "Juden Dreyfus". Mit Hilfe der neuen drucktechnischen Möglichkeiten prangten großformatige Karikaturen des vermeintlichen Agenten des Erbfeindes Deutschland auf den Titelseiten der Gazetten. Galt Kriegsminister Mercier gestern noch als Versager, dessen Rücktritt gefordert wurde, so war er nun der Volksheld und Heros der Armee, der mit dem Verräter kurzen Prozess machte.
Was die antisemitischen Attitüden der Berichterstattung anbelangte, so nahm die rechte wie auch die linke Presse kein Blatt vor den Mund. Der Spionagevorwurf gegenüber einem jüdischen Offizier, der zudem noch aus dem Elsass stammte, das nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg (1870/71) von Deutschland annektiert worden war, erhielt Katalysatorfunktion für alle Unzufriedenen und zu kurz Gekommenen in der französischen Gesellschaft. Dreyfus diente als klassischer Sündenbock. Für viele Katholiken galt er als Inkarnation des Christusmörders, für nicht wenige Sozialisten symbolisierte er das jüdische Großkapital à la Rothschild samt Weltverschwörungsambitionen. Für die Revisionisten war er der Inbegriff für die negativen Auswüchse der Republik samt ihrer falsch verstandenen Toleranz und ihres destruktiven demokratischen Gleichheitsideals. Im Militär, das in weiten Teilen noch immer vom verlorenen Krieg traumatisiert war und das sich auf Offiziersebene mehrheitlich aus der Aristokratie rekrutierte, klang zudem ein antisemitischer Grundton an: Vorbehalte, welche die militärische Führung bei der Besetzung höherer Offiziersposten durch Juden hegte.
Einer der schärfsten Anheizer antijüdischer Ressentiments war Edouard Drumont, der bereits mit seiner Schrift La France juive 1886 (die deutsche Ausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel Das verjudete Frankreich) eine Wende in der öffentlichen Meinung Frankreichs herbeigeführt hatte. La France juive wurde so etwas wie die Bibel der Antisemiten. Im Erscheinungsjahr wurden bereits 100.000 Exemplare des Pamphlets verkauft, und es erfuhr bis 1914 mehr als 200 Neuauflagen. Drumont, der 1889 die Antisemitenliga gegründet hatte, verstärkte die antijüdische Propaganda, als er ab 1892 seine eigene Zeitung "La Libre Parole" herausgab, in der er unter die Titel "Die freie Rede" mächtig vom antisemitischen Leder zog. Kurz nach Gründung der "La Libre Parole" berichtete Theodor Herzl in einem Artikel für die "Neue Freie Presse" aus Paris über den offenen Antisemitismus Drumonts. Unter der Überschrift "Französische Antisemiten" heißt es: "Die Juden eignen sich von alters her vortrefflich dazu, für Fehler und Mißbräuche der Regierung, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Misswachs, Hungersnot, öffentliche Korruption und Verarmung verantwortlich gemacht zu werden."
In seinem antisemitischen Propagandablatt war Drumont selbst in Karikaturen zu sehen, so auch in der Ausgabe vom 10. November 1894, in der sein übermächtiges Konterfei den Verräter Dreyfus - ausgestattet mit einer vermeintlich jüdischen Physiognomie und dem häufig wiederkehrenden Attribut der deutschen Pickelhaube - mit der Kneifzange zu entsorgen gedachte. Mit derartigen Karikaturen, die auch in vielen anderen, durchaus gemäßigteren Zeitungen erschienen, wurde die Volksseele angeheizt. Als am 5. Januar 1895 der verurteilte Dreyfus die erniedrigende Prozedur der öffentlichen Degradierung über sich ergehen lassen musste, säumten 20.000 Schaulustige den Zaun der École Militaire oder kletterten auf die umliegenden Bäume und skandierten: "Tod dem Verräter! - Tod dem Juden!"
Bei Herzl, der dieser Entwürdigung beiwohnte, hinterließ das Ereignis nachhaltigen Eindruck: "Um neun Uhr war der Riesenhof mit Truppenabteilungen, die ein Karree bildeten, gefüllt. Fünftausend Mann waren ausgerückt. In der Mitte hielt ein General zu Pferde. Einige Minuten nach neun wurde Dreyfus herausgeführt. (...) Vier Mann führten ihn vor den General. Dieser sagte: Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig, die Waffe zu tragen. Im Namen des französischen Volkes degradiere ich Sie. Man vollziehe das Urtheil. Da erhob Dreyfus die rechte Hand und rief: Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen Unschuldigen degradieren. Es lebe Frankreich!" Weiter heißt es: "Ich sehe den Angeklagten noch in seiner dunklen, verschnürten Artilleristenuniform (...). Und auch der Wutschrei der Menge auf der Straße gellt mir noch unvergesslich in den Ohren: à mort! À mort les juifs! Tod allen Juden..."
Herzl, der 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel einberufen hatte, erkannte spätestens nach dem Revisionsprozess 1899 und der erneuten Verurteilung Dreyfus', dass es hier nicht um die Verurteilung eines x-beliebigen Offiziers, sondern um die Schuldzuweisung gegenüber einem "Juden" ging. 1899 bekannte er in der "North American Review": "Zum Zionisten hat mich der Prozeß Dreyfus gemacht." Er sah ein Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Europa "auf der Basis gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Duldung" künftig als unmöglich an und beurteilte die bisherigen Versuche der Juden um Emanzipation und Integration als vergeblich. Denn wenn schon in Frankreich, dem Land der Menschenrechte und dem revolutionären Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Gleichstellung gescheitert war, wo sonst in Europa sollte sie glücken?
Zwischen 1895 und 1899 hatte die Familie Dreyfus nichts unversucht gelassen, die Unschuld des Gatten und Bruders, der auf der Teufelsinsel unter menschenunwürdigen Bedingungen in Arrest saß, zu beweisen. Seine Frau Lucie trat an die Öffentlichkeit, um ein Revisionsverfahren zu erwirken. Um ihrem Ersuchen Nachdruck zu verleihen, offenbarte sie das Kostbarste und zugleich Intimste, was ihr von ihrem Mann geblieben war: die sporadisch eintreffenden Briefe von der Teufelsinsel, wohin sie ihm sogar folgen wollte, was man ihr jedoch nicht gestattete. Diese nicht selten deprimierenden Briefe eines stets seine Unschuld beteuernden und dennoch dem Vaterland und dem Militär tief verbundenen Patrioten zeigten keinen Verräter, sondern einen verzweifelten Menschen, dem großes Unrecht widerfahren war. Sein älterer Bruder Mathieu setzte sich ebenso vehement für Dreyfus' Freilassung ein. Er erhielt Unterstützung von einflussreichen Sympathisanten, die ihm entlastendes Beweismaterial zuspielten. Um den Fall Dreyfus wieder ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, ließ er sogar eine fingierte Meldung über die Flucht seines Bruders von der Teufelsinsel in der Presse streuen.
Derweil regten sich auch innerhalb des Militärs Stimmen, die an der Schuld Dreyfus zweifelten, allen voran die des seit dem 1. Juli 1895 das Nachrichtenbüro leitende Majors Georges Picquart. Dessen Recherchen zeigten im August 1896, dass Marie-Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy, Major im 74. Infanterieregiment, eindeutig der Verfasser des bordereaus sein musste. Picquart unterrichtete den stellvertretenden Generalstabschef Charles-Arthur Gonse über seine Entdeckung, woraufhin er bald seines Amtes verlustig ging und Anklage gegen ihn erhoben wurde. Im Januar 1897 wurde Picquart in ein algerisches Schützenregiment abkommandiert, um ihn dort mundtot zu machen. Allerdings verfasste er eine Denkschrift über den Fall, der sich mittlerweile eher auf Esterhazy denn auf Dreyfus fokussierte, und ließ sie über seinen Anwalt an den Präsidenten der Republik, Félix Faure, und Senator Gustave Scheurer-Kestner übermitteln. Damit gewährleistete er - sich der Konsequenzen für die eigene Person gewiss -, dass seinen Anschuldigungen gegenüber Esterhazy und somit seine Überzeugung, dass Dreyfus unschuldig sei, in die Öffentlichkeit gelangten. Im Generalstab wurden Anstrengungen unternommen, den Nestbeschmutzer Picquart zu diskreditieren, wobei man auch hier gefälschtes Beweismaterial anfertigen ließ. Etwa zur selben Zeit identifizierte ein Pariser Bankier die Handschrift Esterhazys als identisch mit der des bordereau, woraufhin Mathieu Dreyfus Strafanzeige gegen ihn stellte. Am 4. Dezember 1897 begann der Prozess gegen Esterhazy. Drei Schriftsachverständige erklärten jedoch - nachdem ihnen ein sehr großzügiges Honorar in Aussicht gestellt wurde -, dass Esterhazy nicht der Verfasser des bordereau sei. Das Verfahren vor dem Kriegsgericht wurde am 11. Januar 1898 eingestellt.
J'Accuse!
Am 13. Januar 1898 veröffentlichte George Clemenceau, Herausgeber der Zeitung "L'Aurore", einen Offenen Brief an den Präsidenten der Republik, verfasst vom bekanntesten lebenden französischen Schriftsteller, Émile Zola. In großen Lettern war ihm die Überschrift "J'Accuse...!" ("Ich klage an...!) vorangestellt. Während Clemenceau 1894 noch die zu milde Strafe für den Hochverrat Dreyfus' beklagt hatte, stand er nunmehr an vorderster Front der Dreyfusards und hatte Zola davon überzeugen können, öffentlich für den Unschuldigen Partei zu ergreifen. Bereits zuvor war Zola durch viele Gespräche und die Überzeugungsversuche des Vizepräsidenten des französischen Senats, Scheurer-Kestner, dazu aufgefordert worden, Stellung zu beziehen. Der Freispruch Esterhazys zwei Tage zuvor gab den Ausschlag für seine über Nacht verfassten Zeilen. In seiner Anklageschrift stellte er - mit nicht minderer öffentlichen Wirkung als einst Luther mit seinen 95 Thesen - die Staatsräson samt des korrupten Militärapparats und deren Helfershelfer an den Pranger. Er nannte alle Beteiligten beim Namen, im Wissen darum, dass er nun selbst mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hatte. Die Reaktionen auf die Anklageschrift waren ebenso lautstark wie konträr. Einerseits setzte eine Flut von Solidaritätsbekundungen ein, andererseits formierte sich ein durch konservative Kreise und die Kirche aufgehetzter Mob.
Spätestens jetzt wurde offensichtlich, dass sich in Frankreich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstanden, das der Dreyfusards, die sich aus linken Intellektuellen, liberalen Journalisten und Juristen rekrutierten und von der Unschuld des jüdischen Hauptmanns überzeugt waren, sowie das der Anti-Dreyfusards, deren Wortführer aus dem konservativen Lager, dem Militär, dem Klerus und der Antisemitenliga stammten: "Die Ideologie der Anti-Drefusards bewegte sich schnell in Richtung Nationalismus, der oftmals mit Antisemitismus einhergeht. Diesem autoritären Nationalismus, der intellektuellenfeindlich, anti-individualistisch, antiprotestantisch, antiparlamentarisch, xenophob und militaristisch war, ging es darum, den Niedergang der Nation aufzuhalten, indem er sie an die Institutionen der Armee und der Kirche in einem starken Staat aufrichtete, die sich auf traditionelle Werte stützte. Ordnung, Autorität und Vaterlanäd waren zentrale Begriffe dieses Wertesystems, das seine Verfechter wiederherstellen wollten. Die Protestanten, Juden, Freimaurer und Fremden gefährdeten die nationale Gemeinschaft der rechtschaffenen Leute, dieser Verlierer des Fortschritts, aus denen die Mehrheit des Fußvolkes der Anti-Dreyfus-Bewegung bestand."
In den Archivalien des Auswärtigen Amtes findet sich eine Stellungnahme zu Zolas J'Accuse!, die seinen Adressaten jedoch nie erreichte. Es handelt sich um eine Notiz des deutschen Kaisers Wilhelm II., die er nach der Lektüre des Offenen Briefes verfasst hatte. Sie lautete: "Bravo Zola!" In der zeitgenössischen Presse des In- und Auslands finden sich zahlreiche Kommentare und auch Karikaturen, die Zola sowohl als Helden der Vernunft und der Gerechtigkeit als auch despektierlich als Nestbeschmutzer der Grande Nation darstellen. Wie von Zola erwartet, wurde kurz nach Erscheinen seines Offenen Briefes gegen ihn eine Verleumdungsklage erhoben, die mit der Höchststrafe (ein Jahr Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe) geahndet wurde. Obwohl das Gericht zu verhindern suchte, den Fall Dreyfus zum Gegenstand der Verhandlung zu machen, missglückt dies. Auf der Anklagebank wiederholt Zola seine Überzeugung: "Dreyfus ist unschuldig, das schwöre ich. Ich schwöre es bei meinem Leben, bei meiner Ehre (...)." Es folgten Tumulte und Straßenschlachten. In Algerien kam es zu pogromartigen Aufständen, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden. Max Régis, der Bürgermeister Algiers und Präsident der antijüdischen Liga, schickte unter Rufen wie "Es lebe die Armee! Nieder mit den Juden!" seine Anhänger in das Jüdische Viertel der Stadt. Auf Anraten seines Anwalts und seiner Freunde entzog sich Zola der Haftstrafe, indem er Frankreich noch am Abend der Urteilsverkündung verließ und in London und anschließend in einem Dorf in der Grafschaft Surrey Quartier nahm.
Dank Zolas Solidaritätserklärung und der sich wenige Wochen danach aus dem Lager der Dreyfusards gegründeten Liga für Menschenrechte (Ligue française pour la défense des droits de l'homme et du citoyen), die entschlossen für Dreyfus eintrat, wurde der Fall nun zu einer nationalen Affäre, die weltweit verfolgt wurde. Nach langjährigen Versuchen Lucie Dreyfus', ein Revisionsverfahren für ihren Mann zu erwirken, wurde diesem nun stattgegeben. Ende des gleichen Jahres gründete sich seitens der Anti-Dreyfusards die Ligue de la patrie française, die gegen die Revision mobil machte und in kürzester Zeit bereits 500.000 Mitglieder zählte. Derweil hatte Esterhazy öffentlich bekannt gegeben, Urheber des bordereau zu sein bzw. auf Befehl seines Vorgesetzten, Oberst Jean Sandherr, dieses verfasst zu haben.
Am 9. Juni 1899 verlies Dreyfus die Teufelsinsel an Bord der "Sfax" in Richtung Frankreich, wo er am 30. Juni 1899 in der Bretagne an Land ging und von dort ins Militärgefängnis in Rennes gebracht wurde. Eine Woche später begann der Revisionsprozess, der am 9. September mit der Urteilsverkündung endete. Es war das erste Mal, dass Journalisten aus allen Kontinenten nach Rennes reisten, um dort der Verhandlung beizuwohnen. Gespannt erwarteten alle das Urteil, das - so die einhellige Meinung - nur in einem Freispruch enden konnte. Die Fassungslosigkeit der Prozessbeobachter war grenzenlos, als sich von sieben Voten fünf für eine erneute Verurteilung aussprachen. Theodor Herzl, der dem Prozess in Rennes beiwohnte, schrieb: "Samstag, dem neunten September 1899, in den Abendstunden, wurde eine merkwürdige Entdeckung gemacht, die auch wirklich nicht verfehlt hat, allgemeines Aufsehen in sämtlichen mit Telegraphendrähten versehenen Weltteilen hervorgerufen. Es wurde nämlich entdeckt, dass einem Juden die Gerechtigkeit verweigert werden kann, aus keinem anderen Grunde, als weil er Jude ist. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden quälen kann, als ob er kein Mensch wäre. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden zu infamer Strafe verurteilen kann, obwohl er unschuldig ist."
Die internationale Presse reagierte entsetzt auf die erneute Verurteilung zu "10 Jahren Festungshaft unter Zubilligung mildernder Umstände". Viele Künstler und international bekannte Persönlichkeiten bekundeten ihre Solidarität gegenüber dem zu Unrecht Verurteilten. Edvard Grieg sagte sämtliche Konzertreisen nach Frankreich ab. Zahlreiche Staaten drohten mit dem Boykott der Weltausstellung 1900 in Paris. Der neue Staatspräsident Émile Loubet sah sich genötigt, Dreyfus am 19. September 1899, wenige Tage nach der Urteilsverkündung, zu begnadigen. Dieser akzeptierte die Begnadigung jedoch nur unter der Bedingung, weiter für den Beweis seiner Unschuld zu kämpfen, denn mit der Begnadigung wurde auch ein Amnestiegesetz für alle Beteiligten in der Affäre beschlossen.
Es dauerte noch sieben Jahre, bis Dreyfus' Ehre wiederhergestellt wurde. Seine Rehabilitation erfolgte am 12. Juli 1906, genau dort, wo er knapp zwölf Jahre zuvor vor den Augen tausender Schaulustiger degradiert worden war, auf dem Hof der École Militaire in Paris. Der bekennende Dreyfusard und spätere französische Ministerpräsident Léon Blum beschrieb das Ende der Affäre 1935 rückblickend: "So war also unsere eigentliche Aufgabe vollbracht, und der Dreyfusard wurde wieder ein gewöhnlicher Mensch. Wir begannen wieder wie alle Welt zu leben, so, wie wir früher gelebt hatten, stets für die Sache begeistert, wohl wahr, stets voller Überzeugung, aber nicht mehr völlig versunken, verwunschen - wir fanden in uns wieder Raum für die eigenen Interessen, die Sorgen, die Gewohnheitsgefühle der Alltagsexistenz."
Das Ende des Falls Dreyfus war fast ein Märchen. Die Guten wurden belohnt: Clemenceau wurde Premierminister, Picquart Kriegsminister, Dreyfus wurde zum Major befördert und als Ritter der Ehrenlegion geehrt. 1914, da war er bereits 55 Jahre alt, zog er als Patriot in den Krieg gegen Deutschland. Lediglich Zola erlebte die Rehabilitation Dreyfus' als vollständigen Sieg der Gerechtigkeit nicht mehr, er starb 1902 unter mysteriösen Umständen. Weil sich Märchen dadurch auszeichnen, dass sie eben nicht real sind, obsiegte die vollständige Gerechtigkeit am Ende lediglich im Märchen. Denn in der Realität hat das letzte Wort immer noch - ob Kaiser oder Präsident - der höchste Mann im Staate, und der sagte "non", als es 2006, 100 Jahre nach Dreyfus' Rehabilitation, um das Ansinnen ging, Dreyfus - neben Émile Zola - in den Pariser Pantheon zu überführen. Dieses Privileg ist in der realen Welt den Helden der Grande Nation vorbehalten, und Dreyfus war eben nur das Opfer, so die Argumentation. Eine derartige geste d'honneur, wie sie zu Dreyfus' Zeiten in zahlreichen allegorischen Abbildungen zu sehen war, gibt es eben wohl doch nur im Märchen.
Die Moral von der Geschichte
Eine derartige Affäre war bis dahin beispiellos. Sie ist bis heute ein politisches Lehrstück in Sachen Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung an gesellschaftlichen Prozessen, wie beispielsweise das Gesetz von 1905 beweist, das die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich festlegte. Es ist aber auch ein Lehrstück gegen militärischen Kadavergehorsam, das zeigt, dass es auch im Militär charakterstarke Persönlichkeiten wie Georges Picquart gegeben hat, der trotz der Gewissheit der eigenen Gefahr für einen Kameraden Partei ergriff, obwohl er weder persönlichen Kontakt pflegte noch dessen Überzeugungen teilte.
Die Macht der Medien zeigte sich während der Affäre auf erschreckende Weise. Ohne die zeitgenössische Berichterstattung wäre der Fall Dreyfus wohl nicht zur nationalen Affäre geworden, ebenso wenig, wenn nicht Intellektuelle wie Zola öffentlich Stellung bezogen hätten. Die Affäre gilt vielen daher als Geburtsstunde des "Intellektuellen", ein Begriff, der in jener Zeit durch nationale, rechtsradikale und klerikale Kreise geprägt und abfällig für jene Journalisten, Schriftsteller, Künstler und linke Politiker benutzt wurde, die sich für Dreyfus einsetzten. Aus diesem Kreis der Intellektuellen heraus hatte sich 1898 die Liga für Menschenrechte gegründet, die 1922 den ersten internationalen Dachverband der Menschenrechtsbewegung initiierte.
Die Dreyfus-Affäre war, um mit Heinrich Heine zu sprechen, nur ein Vorspiel. Zeitgenossen, die von Deutschland aus das Geschehen in Frankreich beobachteten, hätten es nicht für möglich gehalten, dass blindwütender Antisemitismus auch im eigenen Land auf breite Teile der Gesellschaft übergreifen könnte. Die Geschichte hat sie eines Besseren belehrt.“
https://www.bpb.de/apuz/30051/der-fall-dreyfus-und-die-folgen?p=all
Der Antisemitismus, der sich in der Affäre gezeigt hat, war zwar drastisch – allerdings ist der Wurm der Überzeugung, dass auch ohne diesen der juristische Fall ähnlich gelaufen wäre. Die Gründe liegen an anderer Stelle.
Das Buch „Intrige“ von Robert Harris
Das Buch „Intrige“ stammt aus dem Jahr 2013. Robert Harris und Roman Polanski kennen sich gut und haben schon vorher über das gemeinsame Projekt gesprochen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Buch und Film sich sehr ähneln. Beide konzentrieren sich sehr stark auf Georges Picquart. Das Geschehen um die Unterstützer von Alfred Dreyfus und deren Bemühungen wird nur am Rande gestreift.
Robert Harris geht es im Wesentlichen um zwei Dinge. Das Eine sind Dogmatismus und zweifelhafte Dinge zu tun ohne sie zu hinterfragen.
Das Andere ist der Drang nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Verdienst von Robert Harris (und im Film von Roman Polanski) ist es, Prinzipien vor Emotionen zu stellen: Georges Picquart ist kein Gutmensch, der sich von seinen Emotionen leiten lässt. Er mag Alfred Dreyfus nicht und er mag Juden nicht. Ihm geht es um Rationalität, um Wahrheit und Gerechtigkeit. Wg. dieser Prinzipien dieses einen Menschen (und der Hilfe vieler anderer), der ihn nicht mag, wird Alfred Dreyfus schließlich rehabilitiert.
Hier drei Auszüge aus dem Buch:
1) „Henry schüttelt fassungslos den Kopf. „Sie müssen tun, was die von Ihnen verlangen, Herr Oberstleutnant. Die sind die Chefs.“
„Auch wenn Dreyfus unschuldig ist?“
„Um Himmels willen, schon wieder!“ Er schaut sich um. Nun beugt er sich über den Tisch und senkt die Stimme. „Hören Sie, ich weiß nicht, ob er schuldig oder unschuldig ist, Herr Oberstleutnant, und offen gesagt ist mir das auch, Pardon, scheißegal. Und genau so sollten Sie das auch sehen. Ich habe getan, was man mir gesagt hat. Ich erhalte den Befehl, einen Mann zu erschießen, also erschieße ich ihn. Hinterher heißt es, dass man mir den falschen Namen genannt hat und ich einen anderen hätte erschießen sollen - schön, tut mir sehr leid, aber ist nicht meine Schuld.“ Er schenkt uns noch einen Kognak ein. „Sie wollen meinen Rat? Also, ich erzähle Ihnen jetzt mal eine Geschichte. Als ich mit meinem Regiment in Hanoi war, gab es in den Kasernen jede Menge Diebstähle. Also haben mein Major und ich dem Dieb eine Falle gestellt und ihn auf frischer Tat ertappt. Es stellte sich heraus, dass es der Sohn des Obersten war - weiß Gott, warum er es nötig hatte, Leute wie uns zu beklauen, aber er hat es getan. Und mein Major - er war ein bisschen wie Sie, sagen wir, er war der idealistische Typ -, also, er wollte den Mann bestrafen lassen. Die hohen Tiere waren anderer Meinung. Trotzdem, er hat nicht lockergelassen und den Fall vors Kriegsgericht gebracht. Und da haben sie meinem Major das Genick gebrochen. Der Dieb wurde freigesprochen. Eine wahre Geschichte.“ Henry hebt sein Glas. „Das ist die Armee, die wir so lieben.““
2) „So angestrengt ich auch nachdenke, ich kann mich nicht an unsere erste Begegnung erinnern. Von meinem Vorlesungspult schaute ich Woche für Woche in dieselben etwa achtzig Gesichter; und erst allmählich lernte ich das seine von den anderen unterscheiden: ein schmales, blasses, ernstes Gesicht mit kurzsichtigen Augen hinter einem Kneifer. Er war erst dreißig, aber mit seinem Lebensstil und Auftreten wirkte er viel älter als seine Altersgenossen. Er war ein Ehemann unter Junggesellen, ein Mann mit Vermögen unter Männern, die ständig knapp bei Kasse waren. Abends, wenn es seine Kommilitonen in die Bars zog, ging er nach Hause in seine elegante Wohnung zu seiner reichen Frau. Er war das, was meine Mutter einen „richtigen Juden“ nannte, womit sie Dinge wie neues Geld, Ellbogen, sozialen Aufstieg und eine Neigung zu kostspieligem Auftritt verband.
Zweimal lud Dreyfus mich zu Wohltätigkeitsveranstaltungen ein: einmal zum Abendessen in seine Wohnung in der Avenue du Trocadéro, dann zu einer, wie er es nannte, hochkarätigen Jagdgesellschaft in einem Revier, das er in der Nähe von Fontainebleau gepachtet hatte. Beide Male sagte ich ab. Ich machte mir nicht viel aus ihm, zumal als ich auch noch erfuhr, dass der Rest seiner Familie sich dafür entschieden hatte, im besetzten Elsass zu bleiben, und dass sein Geld aus Deutschland stammte. Blutgeld, dachte ich. Als ich ihm am Ende eines Semesters die seiner Meinung nach verdiente gute Note in Kartografie verweigerte, stellte er mich tatsächlich zur Rede.
„Gibt es etwas, womit ich Sie beleidigt habe?“ Seine Stimme war das Unangenehmste an ihm. Sie war nasal und mechanisch und hatte etwas von dem schrillen Klang des in Mülhausen gesprochenen Deutschs.
„Überhaupt nicht“, sagte ich. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen mein Notenschema zeigen.“
„Es ist nur so, dass Sie der einzige Lehrer sind, der mir eine schlechte Note gegeben hat.“
„Nun ja“, sagte ich. „Vielleicht weil ich die hohe Meinung, die Sie von Ihren Fähigkeiten haben, nicht teile.“
„Es hat also nichts damit zu tun, dass ich Jude bin?“
Die Plumpheit seiner Anschuldigung verblüffte mich. „Ich bin peinlichst darauf bedacht, keinerlei persönliche Vorbehalte in mein Urteil einfließen zu lassen.“
„‚Peinlichst darauf bedacht‘ - Ihre Wortwahl lässt darauf schließen, dass es möglicherweise doch ein Faktor sein könnte.“ Er war zäher, als er aussah. Er gab nicht klein bei.
„Wenn Sie fragen, Herr Hauptmann, ob ich Juden besonders zugetan bin, so würde die ehrliche Antwort wohl nein lauten“, erwiderte ich kühl. „Aber wenn Sie andeuten wollen, dass ich Sie aus diesem Grund in beruflicher Hinsicht benachteiligen könnte, dann kann ich Ihnen versichern - niemals!“
Damit war die Unterredung beendet. Danach gab es keine privaten Annäherungsversuche mehr, keine weiteren Einladungen zu Abendessen oder hochkärätigen Jagdgesellschaften oder Sonstigem.
Am Ende meiner dreijährigen Lehrtätigkeit zahlte sich mein Glücksspiel aus. Ich wurde von der École in den Generalstab versetzt. Und schon damals war ich für die Statistik-Abteilung im Gespräch: Kenntnisse in Topografie bilden ein nützliches Fundament für Geheimdienstarbeit. Aber ich wehrte mich hartnäckig dagegen, Spion zu werden. Stattdessen machte man mich zum stellvertretenden Leiter der Dritten Abteilung (Einsätze und Ausbildung). Und hier begegnete ich Dreyfus wieder.
Die jahrgangsbesten Absolventen der École Supérieure wurden zur Belohnung für zwei Jahre dem Generalstab zugeteilt, für jeweils sechs Monate in jede der vier Abteilungen. Zu meinen Aufgaben gehörte die Betreuung der sogenannten Anwärter. Dreyfus hatte als Neunter seines Jahrgangs abgeschlossen. Er hatte deshalb Ansprüche auf ein Praktikum im Kriegsministerium. Ich hatte zu entscheiden, in welcher Reihenfolge er die Abteilungen durchlief. Er würde der einzige Jude im Generalstab sein.
Es war eine Zeit der zunehmenden antisemitischen Hetze innerhalb der Armee. Die Stimmung wurde von dem üblen Schmierblatt La Libre Parole aufgepeitscht, das behauptete, man würde jüdische Offiziere bevorzugt behandeln. Auch wenn er mir nicht sympathisch war, so habe ich doch versucht, mich um Dreyfus zu kümmern und ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ich hatte einen alten Freund in der Vierten Abteilung (Transport), Major Armand Mercier-Milon, der keinerlei Vorurteile hegte. Ich bat ihn um Hilfe ...“
3) „Dreyfus wird am Mittwoch, dem 20. September 1899, entlassen, bekannt gegeben wird die Nachricht aber erst am nächsten Tag, um ihm zu ermöglichen, Paris zu verlassen, ohne von der Öffentlichkeit belästigt zu werden. Wie jeder andere erfahre ich von seiner Freilassung aus der Zeitung. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und einen weichen, schwarzen Hut, als er in der Abenddämmerung von Beamten der Sureté mit einem Automobil vom Gefängnis in Rennes abgeholt und zum Bahnhof in Nantes gefahren wird, wo Mathieu auf ihn wartet und die beiden einen Nachtzug nach Süden besteigen. In einem Haus der Familie in der Provence wird er von seiner Frau und seinen Kindern erwartet. Dann reist er weiter in die Schweiz. Aus Angst vor einem Attentat kehrt er nicht nach Paris zurück.
Was mich angeht, so schlage ich mich mehr schlecht als recht durch und versuche mit Laboris Unterstützung, verschiedene Zeitungen wegen übler Nachrede zu belangen. Obwohl man mir anbietet, mich wieder in die Armee aufzunehmen und mit einem Kommando zu betrauen, lehne ich im Dezember das Angebot einer Generalamnestie der Regierung für alle in die Affäre Verwickelten ab. Warum sollte ich wieder die gleiche Uniform anziehen wie diese Verbrecherbande um Mercier, du Paty, Gonse und Lauth?
Im Januar zieht Mercier als Nationalist für das Departement Loire-Inferieure in den Senat ein.
Von Dreyfus höre ich nichts. Doch dann, über ein Jahr nach seiner Freilassung, gehe ich an einem trüben Wintertag des Jahres 1900 die Treppe hinunter zu meinem Briefkasten, in dem sich ein in Paris abgestempelter Brief befindet. Die Adresse ist in einer Handschrift geschrieben, die mir nur aus Geheimakten und Beweismaterial aus dem Gerichtssaal bekannt ist.
Herr Oberstleutnant,
es ist mir eine Ehre, Sie um Festsetzung von Tag und Stunde für ein Treffen zu bitten, an dem ich Ihnen persönlich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann.
Hochachtungsvoll,
A. Dreyfus
Der Absender ist eine Adresse in der Rue de Chateaudun …
Am Vormittag schreibe ich auf die Rückseite einer meiner Visitenkarten: Monsieur, ich werde Sie wissen lassen, wann wir uns treffen können. Georges Picquart.
Weiter unternehme ich nichts. Er ist die Sorte Mensch, der es unangenehm ist, sich zu bedanken. Na gut, und ich bin die Sorte Mensch, der es unangenehm ist, wenn man sich bei ihr bedankt. Also erspare ich uns das lächerliche Pathos einer solchen Begegnung. Später werfen mir die Zeitungen vor, ich hätte es rundheraus abgelehnt, mich mit Dreyfus zu treffen. Anonym schreibt ein Freund der Familie - der sich später als Bernard Lazare entpuppt, ein Verfasser zionistischer Flugschriften - der rechtsgerichteten Zeitung L'Écho de Paris:
Wir verstehen Picquart und seine Haltung nicht ... wahrscheinlich ist Ihren Lesern und vielen anderen nicht bewusst, dass Picquart ein rigoroser Antisemit ist.
Wie soll ich darauf reagieren? Wenn man den wahren Charakter eines Menschen nur an seinen Taten messen könne, wie Aristoteles sagt, dann kann man mich wohl kaum als einen rigorosen Antisemiten bezeichnen. Trotzdem kann man die alten Vorurteile mit nichts besser befeuern als mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Verbittert schreibe ich an einen Freund: „Ich wusste, dass ich eines Tages von den Juden und insbesondere der Dreyfus-Familie aufs Korn genommen werden würde ...“
Und so versinkt unsere wunderbare Sache in Trotz, Enttäuschung, Vorwürfen und Bitterkeit.“
Der Film „Intrige“ von Roman Polanski
Alex Lantier: „„Intrige“ ist ein eindrucksvoller Film, der von der Dreyfus-Affäre erzählt, dem zwölf Jahre langen historischen Kampf um die Freilassung des französischen jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus (1859-1935), der 1894 zu Unrecht wegen Spionage für Deutschland verurteilt wurde. Die Enthüllung des kriminellen Verhaltens, an dem praktisch der gesamte französische Generalstab beteiligt war und das vom größten Teil des politischen Establishments unterstützt wurde, erschütterte den französischen Staat bis in die Grundfesten …
Zunächst war Dreyfus‘ Verurteilung, die auf schlampigen Ermittlungen und einer Beweisführung beruhte, die ausschließlich in den Händen antisemitischer Offiziere lag, praktisch unangefochten. Die Familie Dreyfus und ihre wenigen Unterstützer wurden mit dem heute allzu bekannten Argument abgespeist, man könne wegen des Schutzes geheimdienstlicher Quellen die Beweise nicht offenlegen.
Im Laufe der Jahre traten jedoch mehr und mehr Fakten zutage, die den Verdacht auf einen anderen, echten Spion lenkten und zeigten, dass die Verurteilung von Dreyfus und seine Isolationshaft auf der „Teufelsinsel“, der Strafkolonie vor der Küste von Französisch-Guayana, ein schreckliches Verbrechen und Betrug waren.
Die anhaltenden Auseinandersetzungen über den Fall mündeten in einen offenen Skandal, der die Spannungen in der französischen Gesellschaft explodieren ließ. Während und nach dem ersten Wiederaufnahmeverfahren gegen Dreyfus im Jahr 1899 standen die jeweiligen Regierungen vor dem Zusammenbruch, und Frankreich geriet an den Rand eines Bürgerkriegs.
Auf der einen Seite beriefen sich die Unterstützer von Dreyfus, die Dreyfusards, auf die von der Französischen Revolution verkündeten Ideale der Gleichheit und Gerechtigkeit. Émile Zola (1840-1902), der weltbekannte französische Schriftsteller und Autor des Romans „Germinal“ aus dem Jahr 1885 (inspiriert durch den Streik der Bergleute in Anzin), veröffentlichte 1898 in der Zeitschrift L'Aurore den berühmten offenen Brief „J’accuse“ („Ich klage an“), der an den damaligen französischen Präsidenten Félix Faure gerichtet war. Zola beschuldigte darin namentlich leitende Generalstabsoffiziere und Staatsbeamte, auf kriminelle Weise zur fälschlichen Verurteilung von Dreyfus beigetragen und das Fehlverhalten der Armee vertuscht zu haben.
Zolas Arbeit half dem französischen Sozialistenführer Jean Jaurès, den Widerstand der Syndikalisten in der sozialistischen Bewegung zu überwinden. Deren führender Kopf Jules Guesde behandelte die Dreyfus-Affäre als Auseinandersetzung innerhalb des Offizierskorps und ignorierte die damit verbundenen politischen Fragen. Jaurès leitete schließlich eine Kampagne der französischen sozialistischen Bewegung zur Entlastung von Dreyfus.
Ihnen gegenüber standen Armee, Kirche und die meisten politischen Parteien Frankreichs, die sich hinter das ungerechte Urteil gegen Dreyfus stellten. Diese Anti-Dreyfusards fanden ihre radikalsten politischen und journalistischen Befürworter in nationalistischen und monarchistischen Kreisen, die von Antisemitismus, Militarismus und Hass auf den Sozialismus geprägt waren. Typisch war die 1898 gegründete präfaschistische „Action française“ unter Leitung von Charles Maurras.
In der Dreyfus-Affäre, schrieb Leo Trotzki 1915, konzentrierte sich „der Kampf gegen Klerikalismus, gegen Reaktion, gegen parlamentarische Vetternwirtschaft, gegen Rassenhass und militaristische Hysterie, gegen hinterhältige Intrigen im Generalstab, gegen die Unterwürfigkeit der Gerichte – gegen alle abscheulichen Kräfte, die die mächtige Partei der Reaktion zur Erreichung ihrer Ziele in Bewegung setzte“.
Der Fall Dreyfus inspirierte bereits früher eine Reihe wichtiger Filme, darunter „Das Leben des Emile Zola“ (1937, William Dieterle) mit Paul Muni, und „I Accuse!“ (1958) von und mit José Ferrer. Das nun erschienene Filmdrama von Polanski verleiht dem großen Kampf um den Dreyfus-Skandal am Ende des 19. Jahrhunderts eine besondere Kraft und Lebendigkeit. Es erhielt in diesem Jahr zurecht den Großen Preis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. Die Schauspieler des Films wurden für eine Reihe weiterer Preise nominiert. Bei den Nominierungen für die diesjährigen Césars, die französische Entsprechung der amerikanischen Oscars, liegt „J’accuse“ mit zwölf Nominierungen, darunter für die beste Regie und für den besten Film, an der Spitze.
Wie das Drehbuch bereits in der ersten erschütternden Szene, der öffentlichen Degradierung von Dreyfus (Louis Garrel), zeigt, basiert der Film vollständig auf realen Ereignissen. Doch Polanskis Film beschreibt diese nicht nur. Er bringt das Frankreich der 1890er Jahre und die Menschen, die mutig und prinzipiell gegen den Staat für die Wahrheit kämpften, in bewegender Weise dem heutigen Publikum nahe.
Im Mittelpunkt des Films stehen die Ermittlungen von Oberstleutnant Georges Picquart (Jean Dujardin), der nach dem Fehlurteil gegen Dreyfus Leiter der militärischen Spionageabwehr wurde. Über mehrere Monate hinweg sammelte Picquart Dokumente, die die Unschuld von Dreyfus eindeutig belegten.
Im Zentrum der Verurteilung von Dreyfus stand der Vorwurf, er sei der Verfasser eines Bordereau, einer Liste von Militärgeheimnissen, die von einem Spion an deutsche Offiziere geschickt wurde, die aber in französische Hände fiel. Regierungsexperten gaben zu, dass Dreyfus' Handschrift nicht mit der auf der Liste übereinstimmte, wischten dies jedoch mit der Behauptung vom Tisch, Dreyfus habe seine Handschrift verstellt. Dies veranlasste Dreyfus im Prozess zur bitteren Bemerkung, er sei deshalb verurteilt worden, weil seine Handschrift nicht mit der des Spions übereinstimmte.
Nach der Verurteilung von Dreyfus entdeckte Picquart jedoch, dass die Handschrift auf dem Bordereau tatsächlich einem anderen Offizier gehörte, Captain Ferdinand W. Esterhazy (Laurent Natrella), der weiterhin für Deutschland spionierte, bis er schließlich in Schande nach England fliehen musste.
Entschlossen, Dreyfus auf der Teufelsinsel zu halten, weigerte sich der Generalstab, seinen Fehler zuzugeben, schützte den Spion Esterhazy und versuchte, Picquart davon abzuhalten, seine Ermittlungen fortzusetzen. Picquart weigerte sich und wurde daraufhin zum Ziel einer heftigen öffentlichen Hetzkampagne, mit der man versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen oder andernfalls in den Tod auf den kolonialen Schlachtfeldern zu schicken. Dies überzeugte letztlich Picquart, seine tiefen Bedenken als Offizier zu überwinden und außerhalb offizieller Kanäle zu arbeiten. Er stellte Zola (André Marcon) kritisches Material für „J'accuse“ zur Verfügung.
Indem er sich auf Picquarts Untersuchung konzentriert, gelingt Polanski eine erstaunliche Leistung: Er verdichtete die meisten Schlüsselereignisse des komplexen Skandals, der durch alle möglichen offiziellen Lügen, Provokationen und Morde verdeckt wurde, zu einer zusammenhängenden, zweistündigen Geschichte. Das Drehbuch ist bemerkenswert präzise und verwendet wirkungsvoll Texteinlagen, um dem Kinobesucher zu helfen, sich in den Ereignissen zurechtzufinden und den vielen Charakteren des Dramas zu folgen.
Die Filmemacher haben sich nicht nur große Mühe gegeben, das Aussehen, die Farbgebung und die Verhaltensweisen der Belle-Epoque-Ära genau nachzubilden, sondern auch aus diesen Elementen einen visuell atemberaubenden Film zu schaffen. Diese Realitätsnähe verstärkt die dramatische Spannung, die von der wachsenden Gefahr für die Hauptprotagonisten ausgeht, körperlich angegriffen, ins Gefängnis gesteckt oder ermordet zu werden.
Polanskis „J'accuse“ profitiert von großartigen Darstellern, die die zahlreichen Figuren dieses komplexen Dramas glaubwürdig zum Leben erwecken. Grégory Gadebois ist ausgezeichnet als Oberst Henry, der einen Spaßvogel mimt, aber zutiefst zynisch ist und Picquart gegenüber beinahe zugibt, dass er beim Fälschen von Beweisen gegen Dreyfus mitgeholfen hat; praktisch für die Armee begeht er im Gefängnis offenbar Selbstmord, nachdem seine Schuld festgestellt wurde.
Emmanuelle Seigner, Polanskis Frau, ist bemerkenswert als Pauline Monnier, deren außereheliche Affäre mit Picquart von der Armee am Ende ausgenutzt wird, um ihn zu vernichten. Nachdem ihr Mann (Luca Barbareschi) sie zur Rede gestellt und ihr die Scheidung angedroht hat, besucht sie in einer bewegenden Szene Picquart, dem die Verhaftung droht, und entscheidet sich, trotz der offensichtlichen Risiken zu ihm zu halten.
Vor allem Dujardin, normalerweise ein Komödien-Darsteller, stellt hervorragend den geradlinigen Picquart dar. Als gebildeter Mann, der klassische Konzerte besuchte und Kuriere, die ihm geheime Dokumente überreichten, vor den Statuen des Louvre traf, überwand Picquart die persönlichen antisemitischen Vorurteile, die er mit praktisch dem gesamten Offizierskorps teilte, und nahm einen mutigen und prinzipiellen Kampf auf. Als man ihn vor den Generalstab schleppte und beschuldigte, eine jüdische Verschwörung zur Vernichtung von Esterhazy gefördert zu haben, sagte er seinen Vorgesetzten, dass ihre Untersuchung eine Farce sei, ging hinaus und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.
Der Höhepunkt des Films ist vielleicht die Veröffentlichung von „J'accuse“, die Polanski eindrucksvoll als vernichtende Anklage inszeniert. Für jeden beschuldigten Offizier liest der entsprechende Schauspieler Zolas Anklage gegen ihn vor, während die Kamera die Wut und Bestürzung des Betroffenen anhand eines Artikels demonstriert, der in 300.000 Exemplaren, das heißt zehn Mal so viel wie die normale Druckauflage der L'Aurore, verbreitet wurde.
Der Film folgt den Ereignissen beim Verleumdungsprozess von 1898 gegen Zola und beim Wiederaufnahmeverfahren von 1899, in dem Picquart seine Zeugenaussage machte. Hier reagierte die Armeeführung auf die wachsende öffentliche Empörung, indem sie Dreyfus‘ Strafe reduzierte, ohne die eigenen Fehler zuzugeben. Am Ende verhängte sie gegen Dreyfus das absurde und schändliche Urteil, er sei „des Hochverrats schuldig mit mildernden Umständen“. Dreyfus wurde 1906 freigesprochen, doch die französische Armee wollte die Falschanklage bis 1995 nicht zugeben.
Die Entstehung eines solchen Films, der eines der großen Ereignisse der europäischen Geschichte ernsthaft künstlerisch beleuchtet, ist sehr bedeutsam. In einer Zeit des zunehmenden Einflusses rechtsextremer Parteien in ganz Europa, einschließlich der wiederbelebten Action française, die heute am Rand des rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen auftritt, erfordert dies nicht nur Integrität und Geschicklichkeit, sondern auch intellektuellen Mut. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass dieser Film ein Meisterwerk ist.
Wenn man einen kritischen Punkt erwähnen möchte, dann der, dass der Film zwar die gewalttätigen antisemitischen Mobs, die von den Anti-Dreyfusards organisiert wurden, eindrucksvoll darstellt, aber dem Filmpublikum nicht vermittelt, welch massive Unterstützung Zola und Jaurès für Dreyfus mobilisiert hatten. Dies ist zum Teil auf den Fokus des Films auf die Periode 1894-1899 zurückzuführen. Die sozialistische Arbeiterbewegung, die vor allem in den späteren Jahren der Dreyfus-Affäre eine große Bedeutung erlangte, spielt im Film keine Rolle. Daher wird nicht ganz klar, warum Zola, Picquart und ihre Verbündeten die Anhänger der Anti-Dreyfusards besiegen konnten und die Armee nicht einfach Picquarts Ungehorsam mit einer Gefängnisstrafe beantwortete.
Das schmälert jedoch nicht den Verdienst von Polanskis Film, dem es gelungen ist, die Affäre Dreyfus lebendig zu machen. Angesichts der Rückkehr neofaschistischer Politik und Parteien in Europa und weltweit und der Wiederbelebung des Militarismus sollte sich jeder den Film ansehen.
Eine Szene zu Beginn des Films, in der Picquart geheime Akten von seinem Vorgänger als Chef der militärischen Spionageabwehr, Colonel Sandherr (Eric Ruf), erhält, ist besonders erschreckend. Der an Syphilis sterbende Sandherr erzählt Picquart von einer brisanten Akte. Sie enthalte eine Liste mit Tausenden von politischen Gegnern, die im Kriegsfall zur „Säuberung“ der Nation zusammengetrieben und verhaftet werden sollen. Er fügt hinzu, dass auch Juden zusammengetrieben werden sollen.
Die faschistische Herrschaft und der Holocaust in Frankreich bedeuteten im Wesentlichen die Machtübernahme der Anti-Dreyfusards. Der rechtsextreme Charles Maurras, der seine journalistische Karriere damit begonnen hatte, dass er Henrys falschen Dokumente, die Dreyfus belasteten, als „absolute Wahrheit“ pries, stand letztlich Pate bei der Errichtung des Vichy-Regimes, das mit den Nationalsozialisten kollaborierte, nachdem die französische Armee im zweiten Kriegsjahr 1940 plötzlich vor den Nazis kapituliert hatte. Er wurde zu Recht als intellektueller Ziehvater der gesamten faschistischen Clique um Diktator Philippe Pétain angesehen.
Zu den Mitgliedern der Action française, die in der Kollaboration eine Schlüsselrolle spielten, gehörten Raphaël Alibert, Xavier Vallat und Louis Darquier, die die verschiedenen Etappen der Judenverfolgung und -deportation unter dem Vichy-Regime leiteten; ebenso gehörten dazu der berüchtigte Nazi-Propagandist Robert Brasillach, der Vichy-Finanzminister Pierre Bouthillier und unzählige untergeordnete Beamte, Schläger und Mörder.
Als Maurras am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Sturz des faschistischen Regimes wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, rief er: „Das ist die Rache von Dreyfus!“ ...
Die Geschichte der Dreyfus-Affäre ist gerade heute von großer politischer Bedeutung. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Diktator Pétain als „großen Soldaten“ gefeiert, während er gleichzeitig die Polizei gegen die sozialen Proteste der Gelbwesten und gegen streikende Arbeiter einsetzt. Im französischen Kultusministerium gibt es Bestrebungen, die Werke des Rechtsextremen Maurras neu zu veröffentlichen. Auch in Deutschland trifft Polanskis Film den Nerv der Zeit. Polanskis Film über den Sieg der Wahrheit gegen Nationalismus und Militarismus ist ein bedeutender Beitrag und verdient ein breites Publikum.“
https://www.wsws.org/de/articles/2020/02/01/pola-f01.html
Adam Soboczynski: „Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrem Klassiker Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf die fatale Modernität der sogenannten Dritten Republik in Frankreich während der Dreyfus-Affäre hingewiesen. Das Rechtsbewusstsein war Ende des 19. Jahrhunderts noch so tief verankert, dass der berühmte französische Justizskandal damals sowohl in Europa als auch in den USA sogleich als Ungeheuerlichkeit begriffen wurde. Nur die "französische öffentliche Meinung", so Arendt, "war bereits modern genug, sich nur nach politischen Erwägungen zu richten". Die Gleichheit vor dem Gesetz war noch der Maßstab, den die meisten an eine funktionierende Staatlichkeit legten. Dass die französischen Gerichte 1894 den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus wider besseres Wissen, aber vor dem Hintergrund einer antisemitischen Öffentlichkeit, wegen Spionage verurteilten, wies daher auf eine heillose Zukunft. Die massive Politisierung des Mobs wie die Intrigenwirtschaft von Militärs und Politikern hatten damals die Rechtsstaatlichkeit ausgehebelt und damit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts vorgearbeitet. Nicht der Antisemitismus der Gesellschaft war neuartig. Neuartig war, dass die auf weltanschauliche und religiöse Neutralität verpflichteten Institutionen der Republik die Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr gewährleisten wollten oder konnten, dass sie einer Stimmung aufsaßen und einen offenkundig Unschuldigen in den Knast setzten und auf die Teufelsinsel in Französisch-Guayana verbannten.
Nun hat der 86-jährige Roman Polanski sich in seinem neuen Film Intrige der Dreyfus-Affäre angenommen. Sie ist aus der Perspektive eines der maßgeblichen Protagonisten verfilmt worden, des neu eingesetzten Leiters der militärischen Spionageabwehreinheit Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin). Picquart, ein Antisemit, stellt schnell fest, dass auch nach der Verurteilung von Dreyfus französische Militärgeheimnisse an die Deutschen weitergegeben werden. Der Verdacht keimt, dass mit Dreyfus der falsche Mann ins Visier geraten war. Picquart recherchiert und ermittelt und kommt schließlich irrsinnigen Machenschaften auf die Spur. Dokumente waren in seiner Behörde gefälscht worden, vor Gericht waren Dossiers eigenwillig ergänzt und war die Verteidigung umgangen worden, hanebüchene Handschriftengutachten und unplausible Zeugenaussagen galten den Richtern als unumstößliche Beweise. Bald schon ist sich Picquart sicher, wer der Maulwurf ist: der hoch verschuldete Abenteurer und Major Ferdinand Walsin-Esterházy. Revisionen werden angestrengt, Pamphlete geschrieben, unter anderem der berühmte Essay von Émile Zola J’accuse erscheint 1898, und nach einigen unwahrscheinlichen Wendungen wird Dreyfus 1899 schließlich begnadigt und 1906 rehabilitiert.
Man sollte sparsam mit Superlativen hantieren, aber dieser Film ist ein Meisterwerk. Den Plot hat bereits die Geschichte geliefert, Polanski orientiert sich mit seinem Drehbuchschreiber, dem Bestsellerautor Robert Harris, der 2013 einen Roman zum Thema verfasste, daher recht weitgehend am historischen Stoff. Er konzentriert sich auf die Charaktere, deren Innenleben sich durch ein Minimum an Gesten und Mimik offenbart. Hier wird nichts aktualisiert, hier wird die Vergangenheit fast dokumentarisch wiedererweckt. Die Gesichter, vor allem die der von politischen Manövern, Taktik und Strategie deformierten Politiker, sind wie aus Gemälden herausgeschnitten. All die jesuitisch kargen Intriganten, all die feisten, versoffenen, verfressenen Männer, an denen die Uniform so erstaunlich spannt, sind nicht aus unserer Zeit. Mitunter fängt die Kamera regelrechte Genrebilder ein. Es ist manische Präzision am Werk, wenn es um Interieurs und Gesellschaftsszenen geht: ein Picknick im Park, als habe es Monet gemalt, und Cafés, als seien alte Fotos wie durch ein Wunder animiert worden. Man wird mit diesem Film durch die Details, die er unauffällig einpflanzt, nicht so schnell fertig. Erst beim zweiten Schauen erblickt man im so laizistischen Gerichtssaal des Militärs ein Gemälde, das den gekreuzigten Jesus zeigt. Einfach unvergesslich ist schon die Eingangsszene: wie Dreyfus im Hof der École Militaire die Epauletten von der Uniform gerissen werden und der Säbel zerbrochen wird. Während dieses perfiden Rituals wechseln Nah- und Fernaufnahmen, das individuelle Leid wird zum Leid aller, die noch an die Republik glauben.
Mit sparsam eingesetzter Musik und zum Teil ungewohnt langsamer Kameraführung wird die Eiseskälte der Bürokratie und der Bürokraten eingefangen und das Netz aus Lügen und Irrtümern sichtbar gemacht, in das sich die Geheimnisträger verfangen haben. Überlaut das Rascheln von Papier, die Schritte auf den Parketts, das Quietschen von Türen. Den Schauspielern beim hypergenauen Spielen zuzuschauen ist hier ein Fest: Louis Garrel als Alfred Dreyfus, der mit seinen stolzen, nervösen Augen nicht glauben kann, was ihm widerfährt; Mathieu Amalric, der den verrückten Kriminalisten und Grafologen Alphonse Bertillon mit seinen Voodoo-Theorien spielt; Emmanuelle Seigner als die Geliebte Picquarts in der einzigen halbwegs relevanten Frauenrolle des Films. Natürlich schert sich Polanski nicht um die gängigen Quoten-Erwartungen. Es ist eine Männerwelt, die er abbildet, weil es eben eine Männerwelt war.
Es wurde in vielen Besprechungen hervorgehoben, Polanskis Film habe mit dem historischen Stoff ein aktuelles Sujet bearbeitet, da ja auch heute der Antisemitismus anschwelle. Das ist eine verwegene Interpretation. Der Film handelt, wie jedes Werk aus der Gegenwart, natürlich irgendwie von der Gegenwart, aber deutlich komplizierter und abgründiger, als es die mit erstaunlicher Kurzsichtigkeit behaupteten Analogien nahelegen. Polanskis Film handelt nicht in erster Linie vom Antisemitismus in der Gesellschaft, sondern von den maroden Institutionen und Behörden, die dem Mob nicht mehr standhalten können und daher politische Urteile fällen. Wenn der Film eine Lehre transportiert, dann die, dass es nicht auf eine bestimmte Gesinnung ankommt, sondern auf die Würde des Rechtsstaats und auf republikanischen Purismus, der sich von den aufgestachelten Stimmungen der Massen nicht anstecken lassen darf. Für Picquart, der Juden verachtet, ist es eine Selbstverständlichkeit, einen unschuldig verurteilten Juden unter größten Gefahren zu verteidigen. Er tut dies nicht, weil ihm dieser ans Herz gewachsen ist, sondern weil er als hoher Militär nicht mitansehen kann, wie die Missachtung republikanischer Prinzipien den Staat zersetzt.“
https://www.zeit.de/2020/07/roman-polanski-intrige-film-metoo-vorwuerfe
Menschen in ihrer Zeit
Bertrand Russell: „Es waren Christen, die Dreyfus unrechtmäßig anklagten, und Freidenker, die letztlich für seine Rehabilitierung sorgten.“
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/424-bertrand-russell-denken.html
Jean Jaurès
Einer dieser Freidenker war der große Humanst Jean Jaurès, den der Wurm in einem früheren Beitrag würdigte.
„Heinz Abosch: „In drei kritischen Phasen ihrer Existenz wird Jaurès die Republik an vorderster Front verteidigen: Er unterstützt die Trennung von Staat und Kirche, die Verweltlichung des Unterrichts. Er bekämpft die zu einer Volksbewegung angeschwollene nationalistische und antiparlamentarische Agitation des Generals Georges Boulanger. Und er spielt in der entscheidenden Krise, die die Dreyfus-Affäre heraufbeschwört, eine maßgebliche Rolle.“
1898 eröffnet er in der Dreyfus-Affäre eine Offensive, die die Wende bringt. Hier einige Auszüge:
„Welche Institution bleibt denn noch intakt? Es ist erwiesen, dass die Kriegsgerichte mit der kläglichsten Parteilichkeit geurteilt haben; es ist erwiesen, dass der Generalstab abscheuliche Fälschungen begangen hat, um den Verräter Esterházy zu retten, und dass die Armeeführung mit Hilfe von Fälschungen den Verrat gedeckt hat. Es ist erwiesen, dass die Behörden, aus Unwissenheit oder Feigheit, seit drei Jahren im Schlepptau der Lüge sind.“
„Wenn Dreyfus ungesetzlich verurteilt wurde und wenn er, wie ich beweisen werde, unschuldig ist, dann ist er weder Offizier noch Bourgeois. Durch das Ausmaß des Unglücks jedes Menschenrechtes beraubt, ist er nichts anderes als die Menschheit selbst im äußersten Grad des Elends und der Verzweiflung. Der Angriff gegen diesen Menschen ist ein Angriff gegen alle Menschen. Das Attentat auf Wahrheit und Recht ist ein Attentat auf die Republik. Aber es kann keinen Sozialismus ohne Republik geben.““
http://de.wikipedia.org/wiki/Dreyfus-Aff%C3%A4re
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/108-humanitaet.html
Theodor Herzl
Die Affäre Dreyfus hatte Folgen für die Weltpolitik, die heute noch deutlich spürbar sind.
Stefan Zweig in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern - Erinnerungen eines Europäers“:
„Der Feuilletonredakteur der ›Neuen Freien Presse‹ hieß Theodor Herzl, und es war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand – freilich ohne selbst zu wissen, welch ungeheure Wendung seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer Zeit zu erschaffen berufen war. Seine Stellung war damals noch zwiespältig und unübersehbar. Er hatte mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine blendende journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser Korrespondent, dann als Feuilletonist der ›Neuen Freien Presse‹ der Liebling des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze, heute noch bezaubernd durch ihren Reichtum an scharfen und oft weisen Beobachtungen, ihre stilistische Anmut, ihren edlen Charme, der selbst im Heiteren wie Kritischen nie die eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man sich im Journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken einer Stadt, die für Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch im Burgtheater hatte er mit einem Stück Erfolg gehabt, und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von der Jugend, geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete geschah. Das Schicksal weiß immer sich einen Weg zu finden, um den Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke, heranzuholen, auch wenn er sich verbergen will.
Theodor Herzl hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz verändern: er hatte als Korrespondent der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus' beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriß, während er laut ausrief: »Ich bin unschuldig.« Und er hatte bis ins innerste Herz gewußt in dieser Sekunde, daß Dreyfus unschuldig war und daß er diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen dadurch, daß er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in seinem aufrechten männlichen Stolz schon als Student unter dem jüdischen Schicksal gelitten – vielmehr, er hatte es in seiner ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen Instinkts der Ahnung. Mit dem Gefühl, zum Führer geboren zu sein, wozu ihn seine prachtvoll imposante äußere Erscheinung nicht minder als die Großzügigkeit seines Denkens und seine Weltkenntnis berechtigte, hatte er damals den phantastischen Plan gefaßt, dem jüdischen Problem ein für allemal ein Ende zu bereiten, und zwar durch Vereinigung des Judentums mit dem Christentum auf dem Wege freiwilliger Massentaufe. Immer dramatisch denkend, hatte er sich ausgemalt, wie er in langem Zuge die Tausende und Abertausende der Juden Österreichs zur Stefanskirche führen würde, um dort in einem vorbildlich symbolischen Akt das gejagte, heimatlose Volk für immer vom Fluch der Absonderung und des Hasses zu erlösen. Bald hatte er das Unausführbare dieses Plans erkannt, Jahre eigener Arbeit hatten ihn vom Urproblem seines Lebens, das zu ›lösen‹ er als seine wahre Aufgabe erkannte, abgelenkt; jetzt aber, in dieser Sekunde der Degradierung Dreyfus', fuhr der Gedanke der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die Brust. Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder wird, dann ihm begegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen! So veröffentlichte er seine Broschüre ›Der Judenstaat‹, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.
Ich saß, als diese knappe, aber mit der Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens versehene Broschüre erschien, noch im Gymnasium, kann mich aber der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wien? Und leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen. Der Thersites der Wiener Literatur, der Meister des giftigen Spotts, Karl Kraus, schrieb eine Broschüre ›Eine Krone für Zion‹, und wenn Theodor Herzl das Theater betrat, murmelte man spöttelnd durch alle Reihen: »Seine Majestät ist erschienen!«
Im ersten Augenblick konnte Herzl sich mißverstanden fühlen; Wien, wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, daß er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht, den tausendjährigen messianischen Traum der in den heiligen Büchern bekräftigten Verheißung der Rückkehr ins Gelobte Land – diese Hoffnung und zugleich religiöse Gewißheit, welche einzig jenen getretenen und geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte. Immer, wenn einer – Prophet oder Betrüger – in den zweitausend Jahren des Golus an diese Saite gerührt, war die ganze Seele des Volkes in Schwingung gekommen, nie aber so gewaltig wie diesmal, nie mit solchem brausenden, rauschenden Widerhall. Mit ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt.
Dieser erste Augenblick, solange die Idee noch traumhaft ungewisse Formen hatte, war bestimmt, der glücklichste in Herzls kurzem Leben zu sein. Sobald er begann, die Ziele im realen Raum zu fixieren, die Kräfte zu binden, mußte er erkennen, wie disparat dieses sein Volk geworden war unter den verschiedenen Völkern und Schicksalen, hier die religiösen, dort die freigeistigen, hier die sozialistischen, dort die kapitalistischen Juden, in allen Sprachen gegeneinander eifernd und alle unwillig, sich einer einheitlichen Autorität zu fügen. In jenem Jahr 1901, da ich ihn zum ersten Male sah, stand er mitten im Kampf und war vielleicht auch mit sich selbst im Kampf; noch glaubte er dem Gelingen nicht genug, um die Stellung, die ihn und seine Familie ernährte, aufzugeben. Noch mußte er sich teilen in den kleinen journalistischen Dienst und die Aufgabe, die sein wahres Leben war. Noch war es der Feuilletonredakteur Theodor Herzl, der mich damals empfing …
Die Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt, und nur zum Friedhof mehr konnte ich ihn begleiten. Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus allen Reichen und Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche, russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, daß es der Führer einer großen Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, daß hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarg, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stoßhaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen.“
https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/weltgest/chap005.html
Dogmatismus
Im Privaten
Kaum ein Mensch kommt mit sich und seinen Problemen oder den Problemen der gesamten Menschheit zurecht. Um aus dem Elend rauszukommen, gibt es verschiedene Bewältigungs-Strategien. Sehr beliebt ist Lüge, auch sich selbst gegenüber.
Probleme werden schlichtweg geleugnet: „das gibt es gar nicht“.
Mensch macht immer alles richtig, ist der Größte, befindet sich im Besitz der alleinigen Wahrheit. Da das bei solchen Menschen alles andere als richtig ist, haben sie sich eine grandiose Lebenslüge zurecht geschustert, die so gut wie gar nicht zu erschüttern ist.
Das ist der Zustand, wie mensch mit sich selbst zurecht kommt. Es gibt genügend Menschen, die dieses Verhalten zusätzlich ihren Mitmenschen gegenüber kommunizieren: sie machen immer alles richtig, sind die Größten, befinden sich im Besitz der alleinigen Wahrheit. Egal, um was es geht. Zu dieser Sorte gehören selbst Menschen dazu, die völlig weltfremd sind, eine schauderhafte Allgemein-Bildung haben und nicht das geringste Gespür für ihre Mitmenschen haben. Auch, wenn sie noch so häufig und noch so derb widerlegt worden sind: sie sind und bleiben die Größten und haben immer Recht.
Wenn sie öffentlich tätig sind und es für ihre Karriere von Vorteil ist, haben sie überhaupt kein Problem, das genaue Gegenteil von dem zu verbreiten, was sie vorher behauptet haben. Hauptsache, sie sind und bleiben die Größten. In einem früheren Beitrag hatte der Wurm einige Extrem-Beispiele dazu gebracht: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/286-extrem.html
Mag der Blödsinn, den sie von sich lassen, noch so blöd sein – sie glauben es selbst.
Im Fall Dreyfus
Im Fall Dreyfus sieht es nicht anders aus. Im juristischen Teil der Affäre hat Antisemitismus kaum eine Rolle gespielt. Alfred Dreyfus geriet ins Visier, weil einige Indizien gegen ihn sprachen. Indizien sind keine Beweise. Da mensch nun mal schnell einen Schuldigen haben will, zumal dieser sich „anders“ verhält oder „anders ist“ als die Anderen, möchte mensch, dass der Verdächtige auch der Schuldige ist. Es wird „nachgeholfen“, damit das gewünschte Urteil gesprochen wird.
Wenn nun später behauptet wird, dass es sich um Lügen, Fehleinschätzungen, Fehlurteile handelt, kommt keine Freude auf und es wird nicht der Fall vorbehaltlos neu untersucht. Mensch war im Recht und wird immer im Recht bleiben. Mensch hat nicht gelogen, mensch hat keine Fehleinschätzungen begangen, mensch hat keine Fehlurteile gefällt.
Wird auf der anderen Seite zweifelsfrei bewiesen, dass der Verurteilte völlig unschuldig ist und der tatsächliche Landesverräter eindeutig identifiziert, ist das für diese Leute völlig uninteressant. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Um ihre Position nicht überdenken oder gar aufgeben zu müssen, verrennen sie sich immer mehr, lügen immer mehr, gehen immer mehr gegen Recht und Gesetz vor.
Diese Menschen haben einen Todfeind: einen Menschen, der Wahrheit, Recht und Gesetz liebt, nicht bestechlich ist, dafür seine Karriere opfert und bereit ist, sein Leben für die Sache zu riskieren.
Exakt dies war die Konstellation im Fall Dreyfus. Auch, wenn Alfred Dreyfus kein Jude gewesen wäre, wäre der Kern der Affäre nicht viel anders abgelaufen.
Normalerweise geht es den Idealisten an den Kragen. Um ein Zitat aus dem Buch zu wiederholen: „Und mein Major - er war ein bisschen wie Sie, sagen wir, er war der idealistische Typ -, also, er wollte den Mann bestrafen lassen. Die hohen Tiere waren anderer Meinung. Trotzdem, er hat nicht lockergelassen und den Fall vors Kriegsgericht gebracht. Und da haben sie meinem Major das Genick gebrochen. Der Dieb wurde freigesprochen.“
Sehr selten nehmen solche Fälle einen anderen Ausgang. Der Fall Dreyfus war einer davon.
Sehr häufig allerdings sind diese Konstellationen da, wo Menschen zusammen sind: in Familien, in Vereinen, in Unternehmen oder sonstwo. Den Idealisten, denen es um die Sache geht, wird sehr schnell klar gemacht, dass sie durch ihr Verhalten nur Nachteile hätten und ernten vor allem Unverständnis von den „Unbeteiligten“, die nicht verstehen können, dass es Menschen gibt, die Ideale und Prinzipien haben, denen es um die Sache geht und die bereit sind, sich dafür einzusetzen.
Wie ergeht es den Idealisten? Einige können das nicht akzeptieren und meinen, immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand rennen zu müssen. Andere entfernen sich von ihrer Gruppe, ob durch äußere oder innere Kündigung. Wieder andere ziehen sich erst mal zurück und warten auf eine günstige Gelegenheit, um dann vortreten zu können. Und es gibt solche, die die Menschen verachten und mehr oder weniger ihr eigenes Ding machen.
Zum Schluss
So schlimm die Affäre Dreyfus auch gewesen sein mag – das obige Kapitel sollte deutlich gemacht haben, dass in kleinerem Maßstab solche Affären Tag für Tag in hoher Anzahl vorkommen.
Auch in der hohen Politik hat sich in den letzten 100 Jahren nicht viel getan:
„Man ersetze nur das Jahr 1894 durch das Jahr 2013, die Republik Frankreich durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die Statistik-Abteilung durch die NSA, den Oberleutenant Piquart durch Edward Snowden – und aus dem Geschichtsdrama wird eine erschreckende ... Ja, was eigentlich?“
https://www.krimi-couch.de/titel/12435-intrige/
Zuschlechterletzt sei noch angefügt, dass es gegen den Film massive Beschimpfungen und Boykott-Aufrufe von finsteren Gestalten gegeben hat.
Darüber wird der Wurm in seinem nächsten Beitrag berichten.
Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm