Kultur-Relativismus

https://www.youtube.com/watch?v=k9nVWv0EW5E

 

Zur Zeit läuft in den Kinos der Film „Midsommar“, der den Kultur-Relativismus bloßstellt und eine Warnung darstellt, wohin dieser letztendlich führt.

 

Der Film

 

Einladung

 

Ein schwedischer Student in den USA lädt drei seiner Mitstudenten ein, die Mittsommer-Feierlichkeiten in Schweden zu erleben. Der eine Student nimmt seine Freundin mit. In Schweden angekommen treffen sie auf ein englisches Studenten-Paar, das ebenfalls eingeladen wurde.

 

Die Sekte

 

In einem abgeschiedenen Gebiet Schwedens treten sie in die Welt einer Sekte ein. Und dort geht es zu, wie es in den meisten Sekten halt so zugeht.

Die Aufnahme ist sehr freundlich und liebevoll, sie sind gleich Teil der Gemeinschaft. Niemand wird alleine gelassen; eventuelle emotionale Probleme werden von der Gemeinschaft quasi gespiegelt. Wenn etwa ein Mensch leidet und weint, weinen die ihn Umgebenden gleich mit – geteiltes Leid ist halbes Leid.

Es gibt einen blödsinnigen Glauben – in diesem Falle tatsächlich dargestellt durch einen Blödsinnigen, der das „Orakel“ ist und dessen Schmierereien in derem heiligen Buch „gedeutet“ werden.

Und es gibt ungewöhnliche Rituale.

 

Auflehnung und Nicht-Auflehnung

 

Nach dem ersten richtig derben Ritual (2 Menschen, die ihr Alter – 72 Jahre – erreicht haben, stürzen sich von den Klippen; die Frau ist sofort tot, der Mann nicht und wird von einem Sekten-Mitglied mit einem großen Holz-Hammer erschlagen) gucken die Studenten verstört drein, finden sich aber damit ab, dass das deren Kultur ist. Außer den beiden Engländern, die empört sind.

Am nächsten Morgen ist der englische Mann nicht mehr da und seiner Freundin wird erzählt, dass er weg wollte und man ihn in die nächste Stadt gefahren habe. Was unglaubwürdig ist, da er ohne seine Freundin nicht weggefahren wäre.

Bald darauf ist die Freundin auch nicht mehr zu sehen.

Auf einmal ist der völlig desinteressierte Student weg, der sich vorher den Zorn zumindest einiger der Sekten-Mitglieder zugezogen hatte.

Dann der neugierige Student, der Fotos von den Schmierereien des „Orakels“ machen wollte.

Die Sekten-Welt wird immer bizarrer – macht nichts, ist ja Kultur. Immer mehr Leute verschwinden – merkwürdig, aber ist halt so.

 

Die Studentin

 

Ganz am Anfang des Films bringt sich die depressive Schwester um und reisst ihre Eltern mit in den Tod. Verständlicherweise geht es der Studentin nicht gut. Ihr Freund ist ihr keine große Hilfe. Er und seine Mitstudenten wollen nicht, können ihr aber den Wunsch nicht abschlagen, mit nach Schweden zu kommen.

Zumindest in ihrer jetzigen Situation kann sie nicht alleine sein, ihre Beziehung zu ihrem Freund ist aktuell nicht glücklich und wird es auch in Zukunft nicht sein.

Hier in der Sekte blüht sie richtig auf: hier wird sie ernst genommen, hier leiden die anderen mit ihr, hier wird sie die „Mittsommernachts-Königin“, die bestimmen darf, wer das Hauptopfer bei der Verbrennung sein darf. - Sie wählt ihren Freund, den sie in drogiertem Zustand bei einer Fruchtbarkeits-Zeremonie mit einer Sekten-Jungfrau erleben musste und der sie fürderhin in ihrer neu gewonnenen Zufriedenheit in der Gemeinschaft nicht stören und keine Zweifel säen wird.

 

Haltungs- und Positionslosigkeit und Kritik-Unfähigkeit

 

Wolfgang M. Schmitt: „Wir sehen hier Überdruss, Zivilisations-Müdigkeit und Menschen, die keinen Standpunkt mehr einnehmen ...

Was hier in Flammen aufgeht, sind Universalismus und sind Aufklärung …

Aber es ist ein Film über Haltungs- und Positionslosigkeit und Kritik-Unfähigkeit. Und das liegt auch daran, dass alle dort so freundlich begrüßt werden …

Was wir hier erleben, ist eine neue Herrschafts-Form, nämlich eine, die Freundlichkeit säuselt, die umarmend ist, die sagt „ach, kommt doch zu uns“. Gut möglich also, dass der Faschismus, wenn er zurückkehrt, gar nicht brüllt und marschiert; vielleicht wird er unglaublich freundlich „hallihallo“ sagen.“

 

https://www.youtube.com/watch?v=l6wSiEYQKzk&t=8s

 

Über das Innenleben von Sekten

 

Überraschend ist, dass in den meisten Kritiken und Äußerungen zum Film das Wort „Sekte“ nicht vorkommt – obwohl es sich um genau eine solche handelt.

Für den Wurm hat das zwei Gründe. Während in den 1990ern dem Westen das Feindbild des Kommunismus abhanden kam, schien das Wort „Sekte“, auch „Polit-Sekte“ die Feindbild-Nachfolge anzutreten. Da es für den ganz großen Wurf dann doch nicht stark genug war, wurde es abgelöst durch „Islam“, „Terror“ und personalisierte Bösewichter wie „Saddam“ oder „Putin“.

Vor allem hat sich der Kultur-Relativismus des Gutmenschentums durchgesetzt, siehe weiter unten.

Was diese Sekten so anziehend für viele Menschen macht, hat der Wurm in früheren Beiträgen über evangelikale Christen und die japanische Weltuntergangs-Sekte Aum beschrieben:

Unabhängig von der Erziehung haben die Evangelikalen gerade bei Erwachsenen großen Zulauf, während sie den großen Kirchen in Scharen davon laufen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe.

Zum Einen haben sich die großen Kirchen in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr von ihren eigenen Wurzeln entfernt und gehen mehr in Richtung Wissenschaft und Humanität, indem sie etwa die „Hölle“ als körperlichen Ort praktisch abgeschafft haben. Aus säkularer Sicht ist dies zwar zu begrüßen, aber wenn ein gläubiger Mensch das Glaubens-Fundament, die Bibel, liest und mit den heutigen Lehren vergleicht, wird er immer größere Unterschiede feststellen. Und sich fragen, was die aktuelle Lehre mit dem eigentlichen Glauben noch zu tun hat. Da ist es nahe liegend, sich solchen Gruppen zuzuwenden, die sich an das halten, was da geschrieben steht. Dazu zählt auch die Prügelstrafe.

Zum Andern hat das damit zu tun, was die Menschen „menschliche Wärme“ nennen. Mensch gehe etwa in einen katholischen oder protestantischen Gottesdienst. Mensch geht rein, mensch geht raus – und gut ist. Dagegen ist ein evangelikaler Gottesdienst sehr viel persönlicher. Mensch wird wahrscheinlich persönlich begrüßt, erlebt einen lebendigen Gottesdienst, bei dem sich die Laien bei der Gestaltung abwechseln, wird danach zu einem „gemütlichen Beisammensein“ mit sympathischen Menschen eingeladen, die neugierig auf Einem sind und die sich freuen würden, mensch wieder zu sehen.

Dort gibt es auch mehr oder weniger häufig Veranstaltungen, bei denen mensch sich wohl fühlen kann. Erreicht die Gruppe eine bestimmte Größe, wird sie in zwei Gruppen geteilt, damit der halbwegs private Charakter erhalten bleibt. Und mensch wird innerhalb der Gruppe eine sehr große Solidarität erleben.

Wehe, wenn mensch mit etwas nicht einverstanden ist. Dann wird er so lange bearbeitet, bis er es ist oder er wird nicht mehr lange bei der Gruppe bleiben. Dann ist es sehr schnell aus mit der Solidarität. Allein ohne ihr bisheriges heimeliges Umfeld zu leben, schaffen nur sehr wenige Menschen und tragisch wird es dann, wenn der Partner sich nicht von der Gruppe lösen will und Kinder im Spiel sind.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/49-fest-der-familie.html

 

Der Wurm zitierte Colin Goldner und Robert Lifton, die beschrieben, was die japanische Aum-Sekte so anziehend für ihre Anhänger machte – tendenziell dürfte das bei anderen Sekten und Religions-Gemeinschaften nicht viel anders zugehen.

 

Die Anhängerschaft

 

Durch die offizielle Anerkennung vor jeder Kontrolle geschützt, war Aum nicht mehr aufzuhalten. Der Zustrom neuer Mitglieder nahm immer gigantischere Ausmaße an: tausende, fast ausnahmslos junge Menschen zwischen Anfang und Mitte Zwanzig brachen ihre Ausbildungen ab, kündigten ihre teils hochdotierten Karriereposten und Jobs, verließen ihre Familien und Freunde, um sich Asahara anzuschließen. Viele Neuzugänge der Sekte waren StudentInnen der Naturwissenschaften und Technik und zählten zu den Otaku, den Computerfreaks Japans, die ihre gesamte Freizeit damit verbringen, sich in Computernetzwerke einzuloggen und wahllos irgendwelche Daten anzusammeln. Asahara konnte sich perfekt einklinken in einer lebensunerfahrenen Generation, die innerhalb des japanischen Schulsystems nichts anderes gelernt hatte, als reibungslos zu funktionieren. Wie die Autoren Kaplan und Marshall es formulieren: ‚Talentierte junge Menschen werden in dieser Ausbildungsmaschinerie zerrieben. Was in dieser Welt zählt, sind Anpassung, Gehorsam und reines Auswendiglernen. Japanische Schüler sollen nicht analysieren oder hinterfragen, sie sollen nur Fakten anhäufen und diese in endlosen Prüfungen wie Computer voller Gigabytes an Daten wieder abspulen. In Japan kann man das Gymnasium absolvieren, ohne jemals Ethik-, Philosophie- oder Religionsunterricht besucht zu haben‘. Asahara bot beides, den gewohnten Drill und zugleich das Versprechen, das paralysierende Sinnvakuum zu füllen. Keineswegs strömten der Sekte irgendwelche Gestrandete zu, vielmehr waren es in erster Linie Angehörige der akademischen Intelligenz, Chemiker, Biologen, Ärzte, Computerspezialisten mit teils brillanten Karriereaussichten, die sich zu seinen Füßen einfanden: Die Hightech-Generation des postindustriellen Japan war fasziniert von Asaharas geschickt inszenierten Prophezeiungen der herandämmernden Apokalypse und der elitären Zusage des eigenen Überlebens in einer neuen, besseren, lebenswerteren Welt. Und sie war fasziniert von seinem absolut irrationalen esoterischen Firlefanz.“

 

Strafe muss sein

 

Um seine AnhängerInnen an sich zu binden, bediente Asahara sich einer Vielzahl an Methoden der Bewußtseinskontrolle, wie sie in sämtlichen Sekten überall auf der Welt praktiziert werden. Sie durften höchstens drei Stunden pro Tag schlafen und bekamen nur wenig zu essen. Ihr Identitätsgefühl wurde unterlaufen durch die Zuweisung eines neuen Namens sowie strikte Verunmöglichung jedes Kontaktes zu Angehörigen. Tag und Nacht prasselten Asaharas Lehren und Mantrengesänge per Video und/oder Tonband auf seine Gefolgschaft hernieder. Unermüdlich und bis zur totalen Erschöpfung wurde gearbeitet. Selbst der kleinste Ungehorsam wurde vom Meister persönlich oder von seinen Meisterschülern mit Stockschlägen geahndet. Die Strafaktionen wurden als „Entsorgung des Karmas“ bezeichnet, als Abwerfen spirituellen Ballasts, der dem Gläubigen in diesem oder dem nächsten Leben nur hinderlich sei. Asahara bekannte sich ganz offen dazu, daß er seine Schüler häufig züchtige, da er sie „von ihrem schlechten Karma befreien“ müsse. „Üble Missetäter“, AnhängerInnen beispielsweise, die beim Onanieren ertappt worden waren, wurden auf Anweisung des Gurus tagelang in winzige Zellen gesperrt. Diese enthielten lediglich einen Toilettenkübel und ein Videogerät, das vierundzwanzig Stunden am Tag in ohrenbetäubender Lautstärke Asahara-Lehren abspielte. Einmal am Tag erhielten die DelinquentInnen eine karge Mahlzeit. Regelmäßig gab Asahara an alle Zweigstellen Rundschreiben heraus, die das Strafmaß für verschiedene Vergehen festsetzten. Eine Woche Zellenarrest erwartete etwa auch den, der während eines Kurses sprach oder einnickte. Darüberhinaus gehörten stundenlange „Meditationen“ und psychophysische „Reinigungsübungen“ zum Pflichtprogramm, bei denen die Anhänger angetrieben wurden, bis zum Blackout zu hyperventilieren; sie mußten immense Mengen Wasser trinken und dies dann wieder erbrechen; über extrem heiße Bäder und Megadosen irgendwelcher „Vitamincocktails“ – später auch über Verabfolgung selbsthergestellter Drogen wie LSD – wurden fieberhafte Wahnzustände erzeugt, die der Meister zu „mystischen Erfahrungen“ umdeutete. Gelang einem Jünger die Flucht, schwärmten spezielle Rollkommandos aus und schafften ihn mit Gewalt zurück; er wurde stundenlang verhört und brutal gefoltert. Eine bis heute nicht bekannte Anzahl abtrünniger Aum-Mitglieder wurde von der Sekte ermordet; ihre Leichen wurden im Wald verscharrt oder in einem Hochleistungs-Mikrowellenofen verbrannt. Bei der Stürmung der Sektenzentrale in Kamikuishiki im Mai 1995 fand die Polizei ein Verlies mit etwa fünfzig Anhängern, die dort im Dämmerzustand vor sich hinvegitierten: Opfer von Strafaktionen oder Gehirnwäscheexperimenten; viele waren ohne Bewußtsein oder zu schwach, um zu stehen.

Sex untereinander war den Aum-Anhängern streng untersagt. Der Guru selbst behielt es sich vor, attraktive weibliche Neuzugänge mittels seiner wundertätigen Körpersäfte zu „initiieren“; daneben hielt er sich einen Harem Dutzender von Gespielinnen. Zwei Gläubige, die beim Sex erwischt worden waren, ließ Asahara an den Füßen aufhängen“ …

 

Der Wurm hat bereits Colin Goldner zur Anhängerschaft zitiert. Robert Lifton ist etwas detaillierter.

 

Problematische Gesellschaft

 

Nachdem ihre Eltern, mittlerweile in den Siebzigern, das Scheitern aller Versuche eines konstruktiven gesellschaftlichen Wandels in den sechziger Jahren erlebt hatten, orientierten sie sich nur noch an materiellen Dingen und wirtschaftlichem Erfolg und zogen sich ins Privatleben zurück. Iwais eigene Generation war unzufrieden mit rein wirtschaftlichen Privilegien, und zu einer Zeit, da die Familie und andere Institutionen zu zerfallen schienen, „sehnte ich mich nach dem idealen Vater oder der idealen Mutter“. Sie sprach von der „Kluft zwischen der Art und Weise, wie die Gesellschaft tatsächlich funktioniert, und der Weise, wie sie von einem unreifen Bewußtsein wahrgenommen wird“, die wesentlich zum Aufstieg einer Sekte wie Aum beigetragen habe. Sie zählte eine lange Reihe aktueller sozialer Probleme Japans auf, von denen die meisten in den Medien thematisiert worden waren: das Mobbing unter Kindern (das in Japan gewalttätig sein und verheerende psychische Folgen haben kann und als gravierendes Problem gilt), Morde, die von höheren Schülern begangen werden, unvermittelte Weigerung von Männern über vierzig, zur Arbeit zu gehen, und Ausbrüche von Gewalt in Familien, zum Beispiel das Totprügeln eines Kindes durch die Stiefmutter oder Kindesmißhandlung durch die Eltern. Angesichts dieser gesellschaftlichen Probleme sollten sich die Japaner lieber fragen, „warum wir in Aum eingetreten sind, und nicht, wie in Aum Gehirnwäsche betrieben wurde“.“

Er (Isoda) paßte gut in das allgemeine Profil, dem ich bei ehemaligen Aum-Anhängern begegnet bin. Dieses entsprach nicht etwa den Dimensionen eines rigiden Persönlichkeitstypus, sondern einem mehr oder weniger gemeinsamen Ensemble von Tendenzen, in deren Zentrum das Gefühl einer Entfremdung von der etablierten Gesellschaft und der Abneigung ihr gegenüber stand. Als ein Mensch mit künstlerischen Neigungen sah er sich als „nutzlos“ für diese Gesellschaft und widersetzte sich ihren unnachgiebigen Anpassungsforderungen und ihrem extremen Konformismus.“

Da er selbst in seinem Leben viele Zurückweisungen erfahren hatte, gelangte Isoda zu dem Eindruck, daß es wohl nicht nur die phantasierte Vollkommenheit des Gurus in der Gegenwart war, was ihn zu diesem hingezogen hatte, sondern auch der Umstand, daß auch der Guru in der Vergangenheit die Erfahrung eines fortwährenden Scheiterns gemacht hatte … In diesem Punkt brachte Isoda die besondere Anziehungskraft des Gurus auf junge Menschen zum Ausdruck, die sich in der einen oder anderen Weise als Versager oder Außenseiter fühlten.“

Es überrascht kaum, daß junge Leute, die sich zu Aum hingezogen fühlten, bereits eine starke Orientierungslosigkeit – einschließlich der Identifikation von individuellem mit globalem Sterben – erlebt hatten, noch ehe sie dem Guru je begegnet waren.“

 

Schwaches Selbstbewusstsein

 

Viele äußerten sich zu den Charaktereigenschaften der Menschen, die sich wie sie selbst von Aum angezogen fühlten. Isoda betonte beispielsweise eine Weichheit und Abhängigkeit bei sich und anderen Aum-Mitgliedern, die er mit einer zu großen elterlichen Nachsicht und Fürsorge erklärte und die es ihnen erschwert hätten, sich von der Familie zu lösen und eigenverantwortlich zu handeln. Wie er sagte, sei er auch auf eine Weise „von Idealen besessen“ gewesen, der jeder Bezug zur Wirklichkeit gefehlt habe.

Iwai äußerte sich ähnlich: „Mein schwaches Selbstbewußtsein führte dazu, daß ich mich mit anderen identifizierte und ständig ihre Bestätigung und Zuneigung suchte“. Nach ihren Worten „trat das Problem Japans in mir, einem schwachen Wesen, zutage“. Ein Teil des Problems war ihrer Ansicht nach der Konflikt zwischen einem oberflächlichen Anspruch auf Individualität und dem „Ballast alter (japanischer kultureller) Erwartungen“ … „Wir haben uns dem Einfluß und den Methoden Aums unterworfen, die in gewisser Weise wie die der Nazis waren. In meinem Fall“, fügte sie hinzu, „ging es nicht um Gehirnwäsche. Ich schloß mich Aum aufgrund meiner Bedürfnisse an“.“

 

Verzückung

 

Die Macht eines solchen Gurutums hat auch ein ehemaliger Jünger des indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh beschrieben … Nach einer Schilderung des Zustands der „wahren Seligkeit und überströmenden Freude“, die er in Rajneeshs Gruppe erlebt hatte, bemerkt der ehemalige Bhagwani: „Alle, die sich verächtlich über die ‚schlimmen Sekten‘ auslassen, haben überhaupt keine Ahnung, wie verzückt dieser Zustand sein kann, an den keine andere Lustempfindung heranreicht.“ Die Erfahrung von Aum-Mitgliedern läßt vermuten, daß es tatsächlich ein Zustand ist, der süchtig machen kann. Der ehemalige Bhagwani hat dazu bemerkt: „Die meisten Menschen, die eine Zeitlang in einer Sekte verbracht haben, werden diese Seligkeit gekostet haben, und deshalb kommen sie auch immer wieder zurück.“ Und es ist das, was der Philosoph William James als jene „freudige Stimmung“ bezeichnet hat, „die … durch absolute Unterwerfung erzeugt werden kann“. Und an einer anderen Stelle schreibt er: „Die Wonne einiger dieser Zustände scheint jedes sonstige Glücksgefühl zu übersteigen“. An dieser Erfahrung einer glückseligen Transzendenz müssen beide Parteien teilhaben, damit es zu einer „ekstatischen Verschmelzung von Führer und Anhänger“ kommt, wie der Sozialwissenschaftler Charles Lindholm geschrieben hat.

In früheren Studien habe ich diesen Zustand einer sinnlich erfahrenen Transzendenz als so intensiv und allumfassend beschrieben, daß in ihr Zeit und Tod aufgehoben sind. Menschen haben schon immer solche Zustände angestrebt, durch religiöse oder weltliche Mystik, häufig in Verbindung mit kulturellen Riten, Drogen, Sauerstoffmangel (durch schnelles Atmen), Schlafentzug oder andere Formen der Selbstkasteiung. Aber sie sind auch in vertrauteren Aktivitäten erfahrbar wie beim Singen, Tanzen, im Krieg, in der Sexualität, bei der Geburt eines Kindes, nach sportlichen Anstrengungen, beim Fliegen und bei künstlerischer oder intellektueller Tätigkeit. Alle diese Aktivitäten gehen einher mit der Empfindung außergewöhnlicher psychischer Einheit und einer unbeschreiblichen Erleuchtung und Offenbarung. Das Ich fühlt sich außerordentlich lebendig – verbunden, aktiv, integriert – und in Kontakt mit umfassenderen, kosmischen Kräften. Alle traditionellen Kulturen haben Möglichkeiten eröffnet und Spielräume geschaffen für die Erfahrung der Transzendenz, doch in der postmodernen Welt erscheinen solche Möglichkeiten geschmälert oder marginalisiert. Die Sehnsucht danach ist jedoch geblieben und geht ein in unsere zahllosen Verwirrungen. Gurus und Jünger können sich auf moderne und jahrtausendealte Kulturelemente stützen, um Rituale für inszenierte Transzendenzerfahrungen zu schaffen, und dadurch eine Bindung herstellen, die ein von der Gruppe sanktioniertes Handeln einschließlich Gewalttaten bis hin zum Mord ermöglicht.“

Seiichi Endo …erhielt ein eigenes Laboratorium zur Herstellung von Sarin und anderen Nervengasen sowie von illegalen Drogen … Vor Gericht erklärte er: „Ich möchte gern, daß die Aum-Anhänger sich der Tatsache stellen, daß das, was sie für „religiöse Erfahrungen“ gehalten haben, lediglich die Folge von eingenommenen Drogen war“.“

 

Die Lehre steht über der Person

 

Ich gewann den Eindruck, daß er sehr viel Verdrängungsarbeit geleistet haben mußte, um sich die zerstörerische Natur der Geheimarbeit, die in seiner Umgebung vor sich ging, nicht eingestehen zu müssen.

Die Erlebnisse Yanos vermitteln etwas von der starken heilenden Komponente eines extremen Gurutums sowie von der Komplexität und Tiefe der Beziehung zwischen Guru und Jünger. Yano erinnerte sich an Augenblicke des Mißtrauens gegenüber Asahara sowie eine frühe „Eingebung, daß etwas nicht in Ordnung war, daß seine Augen merkwürdig wirkten“. Doch angesichts der Zwänge und der für ihn befriedigenden Aspekte der Welt von Aum „habe ich solche Eingebungen als Zeichen meiner Beflecktheit angesehen“. Man könnte hier von einer Tabu-Ambivalenz sprechen: es treten kritische Empfindungen auf, die entweder sogleich unterdrückt oder der eigenen Schlechtigkeit oder „Beflecktheit“ zugeschrieben werden. In diesem absolutistischen Muster („die Lehre steht über der Person“) fühlt sich der Jünger genötigt, aus Gründen einer Demonstration nach außen und einer Reinigung nach innen seine Bemühungen um eine absolute Hingabe zu verstärken.“

 

Gespaltene Persönlichkeiten

 

Besonders auffällig war für mich die extreme innere Gespaltenheit der ehemaligen Mitglieder – ein Teil ihres Ichs verurteilte Aum und den Guru wütend, während ein anderer Teil sich ihm und der Gruppe noch immer tief verbunden fühlte. Diese Existenz zweier mehr oder weniger getrennter, einander sogar widersprechender Ichs innerhalb derselben Psyche war eine Spaltung, die bereits zum Sektenleben gehört hatte.

Jetzt gab es das Ich des verbitterten Überlebenden und Gegners von Asahara, Aum und dem Guruismus im allgemeinen und das Ich des Jüngers, das noch immer eins mit dem Guru war und in der Erinnerung noch immer die vom Guru gespendete Ekstase erlebte. Das noch an Asahara gebundene Aum-Ich stand in schmerzlichem Widerspruch zum Post-Aum-Ich, das darum kämpfte, sich vom Guru, seinen Verbrechen und dem Sektenleben loszusagen. Die größte Schwierigkeit für meine Gesprächspartner bestand jedoch darin, die transzendenten Erfahrungen hinter sich zu lassen, an denen das Aum-Ich noch festhielt (während gleichzeitig das Post-Aum-Ich extreme Verlustgefühle, Verwirrung oder ein Gefühl der Auflösung durchlebte). Auch wenn die beiden Ichs selbstverständlich nie völlig autonom waren, erwies es sich als eine beängstigende Aufgabe für alle ehemaligen Jünger, sie in einer einzigen Psyche zu integrieren.“

 

Danach

 

Ehemalige Aum-Mitglieder hatten es schwerer, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, als Angehörige anderer japanischer Sekten. Beispielsweise fanden sie nur schwer Arbeit und damit die Mittel, sich in der Welt außerhalb von Aum zurechtzufinden. Manche schlossen sich buddhistischen Vereinigungen oder einem buddhistischen Lehrer an, während einige wenige christlichen Organisationen beitraten. Andere suchten Beistand bei christlichen oder buddhistischen Beratungsstellen sowie Psychologen und Psychiatern. Auch amerikanische Therapeuten boten ihre Hilfe an. Manchmal verfolgten die Helfer eigene religiöse oder psychologische Absichten, und die (ohnehin zum Argwohn neigenden) ehemaligen Aum-Mitglieder beklagten sich gelegentlich, von ihnen ausgebeutet worden zu sein. Ebenso beschwerten sie sich darüber, raschen Vorverurteilungen ausgesetzt zu sein, ohne daß die Komplexität ihrer Erfahrungen adäquat berücksichtigt worden sei.“

Die meisten meiner Interviewpartner bemühten sich, familiäre Brüche zu kitten, doch in vielen Fällen erwies sich der Konflikt zwischen den Generationen als unlösbar. Zwar leisteten die Eltern loyale Unterstützung in unterschiedlichster Form, doch gleichzeitig blieben sie die Urheber psychischer Konflikte und die Repräsentanten der Gesellschaft, aus der sich viele Aum-Mitglieder noch immer ausgeschlossen fühlten. Häufig gaben diese sogar der tiefen Verderbtheit und Heuchelei dieser Gesellschaft die Schuld am Phänomen „Aum“. Sie verglichen Aum mit verschiedenen sozialen und kulturellen Institutionen und Verhaltensmustern wie dem Tenno-System und dessen Prinzipien des blinden Gehorsams oder dem gewalttätigen Linksextremismus der sechziger und siebziger Jahre oder den bestehenden Firmenpraktiken, deren intensive Gruppenschulungen Loyalität und Begeisterung für die Firma fördern sollen.““

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/151-weltenende.html

 

Kultur-Relativismus

 

Aus einem früheren Beitrag zur männlichen Beschneidung: „Dass Menschen brutal sein können, wissen wir im Erdreich nur zu gut. Was uns aber immer wieder erstaunt, ist, wie sie ihre Brutalität begründen. Im Falle der Beschneidung nämlich mit hygienischen und medizinischen Gründen. Wie uns Menschen versichert haben, ist Hygiene kein Problem, wenn mann sich regelmäßig wäscht. Und Beschneidungen können problemlos dann ausgeführt werden, wenn es medizinisch geboten ist. Die Vorhaut zu entfernen, weil sie ja mal Probleme machen könnte, ist Unfug. Schließlich wird Kindern auch nicht automatisch der Blinddarm entfernt, sondern erst dann, wenn er tatsächlich Probleme macht. Da es beim Eingriff nun öfter zu Komplikationen bis hin zu Todesfällen kommt, ist das medizinische Argument aus Wurm-Sicht völlig daneben.

Es gibt weitere Argumente: Gründe der Kultur bzw. Tradition und der Religion. Die kulturellen Traditionen Europas zeugen von Kastrationen für schöne Stimmen, zeugen vom Pranger, von Inquisition, von Hexenverbrennungen, von grausamsten Folter- und Tötungsmethoden. Andere Länder, andere Sitten: In China war es mal üblich, aus Schönheitsgründen Mädchen die Füße zu verkrümmen. Heute sind all diese Sachen abgeschafft oder zumindest verpönt.

Stellen wir uns mal vor, wir reisen in die betreffenden Zeiten und Orte zurück. Wurm kann da jetzt schon das Geschwafel hören: „Ja, das ist deren Kultur und Tradition, das muss mensch verstehen, da muss mensch Rücksicht drauf nehmen, Tradition ist immer etwas Gutes“. Nein – ein Wurm versteht das nicht! Gut, Moden ändern sich. Aber Bestialitäten sind Bestialitäten. Zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und durch nichts zu rechtfertigen. Wenn sich ein Mensch das nicht zu sagen traut – ein Wurm tut das.

Ist eine Bestialität aber aus religiösen Gründen erlaubt? Für Menschen offensichtlich ja. Doch auch hier sagt der Wurm: Bestialitäten sind Bestialitäten. Zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und durch nichts zu rechtfertigen.

Machen wir einmal ein Gedanken-Experiment: Wäre es denkbar, „aus religiösen Gründen“ einem Kind ein oder zwei Ohrläppchen abzuschneiden? Ein Auge auszustechen (ein Auge reicht ja zum Sehen, das andere ist für „Gott“)? Wenn demnächst jemand eine neue Religion gründet und erklärt, es sei "Gottes Wille", Kinder zu verstümmeln – wo wäre für jeden Einzelnen der Punkt erreicht, an dem er sagen würde „es reicht!“? Gibt es den überhaupt? Schließlich handelt es sich ja um Religion.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/25-tiefer-schnitt-ins-leben.html

 

Wenn das Treiben einer Gruppe für gut geheissen wird, auch wenn es noch so sehr daneben sein mag, ist das gleichbedeutend mit Verrat an denjenigen aus der Gruppe, die an diesem Treiben leiden und aus dieser Gruppe ausbrechen wollen. Ein eher harmloses Beispiel ist das „Irische Tagebuch“ von Heinrich Böll:

„„Leider ist das Buch nie hier angekommen. Also, es wurde fast als Beleidigung angenommen hier. Ich glaube, das Buch erinnerte die Iren an erstmal die Armut, die Auswanderung, dieses kleine provinzielle Niveau hier. Die Iren wollten das eigentlich loswerden, die wollten sich eher an Amerika anknüpfen und an London und ich glaube, dass die warme romantische Beschreibung, die passte denen gar nicht. Und die Rezeption, die in Deutschland wahrgenommen wurde, das ist was ganz anderes …

Im Zentrum des Dubliner Altstadtviertels lebt Tony MacMahon, einer der profundesten Kenner der irischen Musiktradition und selbst ein begnadeter Meister des Akkordeons. Er ist aufgewachsen in einer Kleinstadt im Westen Irlands.

Seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren sind alles andere als fröhlich. "Den Stiefel der Kirche im Nacken", den habe er verspürt damals. Der Westen Irlands? Ein grauer Erinnerungscocktail aus Nonnen und Priestern, klammen, regnerischen Tagen, Düsternis und Angst.

Dass Böll beeindruckt und schier überwältigt war von dem, was er in der irischen Kirche als eine Atmosphäre aus Wärme und Gemeinschaftlichkeit zu beobachten glaubte – ja, das habe es gelegentlich gegeben – aber die Regel sei das nicht gewesen. Angst habe geherrscht. Angst vor der Sünde …

Der Dubliner Poet Pearse Hutchinson (1927-2012) zählt zu den bedeutendsten irischen Schriftstellern der Gegenwart und war einer der besten Kenner der bewegten Literaturszene der fünfziger Jahre. Die fünfziger Jahre, das waren – wie die vierziger Jahre zuvor – düstere und beengende Zeiten, erinnerte er sich und zitierte damit seinen Freund und Kollegen John Jordan. Schriftsteller, Theaterleute, Künstler und Journalisten mussten kämpfen um ihr Terrain geistiger Freiheit im Lande der Priester, Mönche und Nonnen. Und sie taten es – mit ihren Mitteln. Ob der in Deutschland immer bekannter werdende Schriftsteller Heinrich Böll während seines ersten Aufenthaltes in Dublin den einen oder anderen seiner irischen Kollegen persönlich kennen gelernt hat, ist nicht bezeugt.“

Anders ausgedrückt: Heinrich Böll hat das gesehen, was er sehen wollte. Wie alle anderen Armuts-Touristen auch.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/257-armuts-tourismus.html

 

Über die zunehmende Wertelosigkeit in Europa kann Bassam Tibi ein Lied singen: „Vor allem in den letzten Jahrzehnten gibt es zumindest im westlichen Europa die Tendenz, dass so ziemlich alles egal ist. Das hat den Vorteil, dass es extreme Positionen nicht mehr so einfach haben wie zu früheren Zeiten und mehr und mehr Menschen die Möglichkeit haben, nach ihrer eigenen Art und Weise leben zu können. Mehr oder weniger.

Im religiösen Bereich hat das die Folge, dass selbst gläubige Menschen entweder nicht wissen, was ihr Glauben beinhaltet oder sie sich schön reden. Hölle oder Teufel? Abgeschafft. „Frau hat in der Gemeinde zu schweigen“? In einigen christlichen Kirchen dürfen Frauen Priester werden und diejenigen, die das nicht erlauben, müssen sich scharfe Kritik anhören. Sex vor der Ehe, „wilde Ehe“, Scheidung, Homosexualität – gang und gäbe, kaum Kritik.

Einerseits ist das aus humanistischer Sicht ja erfreulich – andererseits hat das Treiben mit dem ursprünglichen Glauben nichts mehr zu tun und sie könnten’s dann gleich bleiben lassen.

Einige lassen’s tatsächlich bleiben und basteln sich ihre eigene Religion zusammen. Ein bisschen von hier, ein bisschen von da, ein bisschen von dort, wie es Einem halt so in den Kram passt. Esoterischer Blödsinn kommt dann auch noch dazu. Alles Irre.

Im säkularen Bereich gibt es die Aufklärung, zu deren Verteidigung Bassam Tibi aufruft. Jetzt frage mensch mal andere Menschen, etwa bei der Arbeit, was „Aufklärung“ bedeutet. Er kann sich sicher sein, dass das Wissen darüber erschreckend ist, nämlich kaum vorhanden.

Hier mal etwas Nachhilfe:

"Als wichtige Kennzeichen der Aufklärung gelten die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, der Kampf gegen Vorurteile, die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht. Viele Vordenker der Aufklärung waren optimistisch, eine vernunftorientierte Gesellschaft werde die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens schrittweise lösen. Dazu vertrauten sie auf eine kritische Öffentlichkeit.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Aufkl%C3%A4rung

Wichtigster Aspekt der Aufklärung sind wohl die Menschenrechte. Um es einfach zu formulieren: jeder Mensch soll die gleichen Rechte haben. Unabhängig von dessen Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Glaube, Staatsangehörigkeit. Unter anderem.

Aus „Wikipedia“:

"Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermaßen zustehen. Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und dass diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind. Die Idee der Menschenrechte ist eng verbunden mit dem Humanismus und der im Zeitalter der Aufklärung entwickelten Idee des Naturrechtes. "

http://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte

"Gewisse unveräußerliche und schützenswerte Rechte der menschlichen Individuen im staatlichen Rahmen haben Vordenker aufklärerischen staatstheoretischen Denkens wie Grotius, Locke oder Montesquieu mit je unterschiedlichem Akzent in ihren Gesellschafts- und Herrschaftsmodellen bereits berücksichtigt. Als allgemeine Menschenrechte sind solche Vorstellungen in erweiterter Form eingegangen in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776, in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Nationalversammlung 1789 und schließlich in die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen 1948.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Aufkl%C3%A4rung#Menschenrechte_und_Volkssouver.C3.A4nit.C3.A4t

http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

Alle Religionen haben etwas gegen Aufklärung und Menschenrechte: zumindest Frauen und Nichtgläubige werden bei denen immer untergebuttert. Und nicht nur die. Selbst in angeblich „aufgeklärten“ Ländern der heutigen Zeit: da reicht es in Deutschland schon, einen Menschen zu heiraten, der geschieden ist. Wer in der Situation einen christlichen Arbeitgeber hat, kann, wenn er Pech hat und in der falschen Region lebt, mit lebenslangem Berufsverbot rechnen.

Für die Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben sollten, waren lange Kämpfe erforderlich und viele sind dafür gestorben. Jetzt gibt es kaum noch welche, die sich dafür interessieren, alles relativieren und für alles andere Verständnis haben. Wo ist da der Widerstand gegen solche Kräfte, die die Errungenschaften der Aufklärung abschaffen wollen?

Wenn Bassam Tibi sich beklagt, dass er in Deutschland „totgeschwiegen“ wird und sich wie ein kleines Kind freut, wenn er mal ein „Forum“ bekommt, spricht das Bände.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/235-die-wiedergeburt-des-bassam-tibi.html

 

Bassam Tibi im Original (zuerst der Wurm): „Mit einer umfangreichen Einführung versehen, ist sein zuerst 1998 erschienenes Buch „Europa ohne Identität? – Europäisierung oder Islamisierung“ (mit früher unterschiedlichen Untertiteln) jetzt neu erschienen.

Wie Horkheimer als Europäer weiß, was Kommunismus und Faschismus sind, weiß ich als Syrer, was orientalischer Patriarchalismus und totalitäre Herrschaft sind. Ich wuchs auf in einer orientalischen Despotie. In den Studienjahren in Frankfurt genoss ich die Freiheit der kulturellen Moderne, die ich in der Tradition Horkheimers kennenlernte und heute gegen vormoderne Kulturen verteidige. Ich habe keinen „Respekt“ für vormoderne Kulturen der Kollektive, die meine Freiheit als ein Individuum verneinen!

Im westlichen Europa gilt der Mensch als vernunftbegabtes Individuum und nicht als Angehöriger eines religiösen oder ethnischen Kollektivs. Die europäische Zivilisation beruht auf dem Prinzip der Individuation (principium individuationis), nicht auf dem Christentum, wie unbelehrbare christliche Kirchenväter unermüdlich in den ihnen zu Füßen liegenden Medien behaupten. Es ist ein Faktum und keine Ideologie zu behaupten, dass die europäische Identität auf der säkularen Moderne und nicht auf irgendwelchen christlichen Glaubenssätzen fußt.“

Ich fasse zusammen: Ja zur Werte-Verbindlichkeit. Ich spezifiziere aber: Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft …

Es müsse also allgemeine, für die gesamte Menschheit gültige Maßstäbe geben, nach denen über jede einzelne Kultur auch kritisch geurteilt werden könne. Wenn man Werte relativiert, dann müsste Völkermord folgerichtig ebenso relativiert werden. Das ist schlicht inakzeptabel …

Es ist wichtig, zu wiederholen und erneut daran zu erinnern, dass die Forderung nach einer Leitkultur von einem semitischen Araber und Angehörigen der islamischen Zivilisation kommt, der zugleich Migrant ist und Europa angehören will, d. h. als ein Fremder um Anerkennung und Einbeziehung kämpft. In dieser Eigenschaft bin ich der Auffassung, dass Europa mit seiner kulturellen Moderne die soeben erläuterte Leitkultur bietet. Ich fasse sie mit wenigen Worten zusammen: Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vor der Geltung absoluter religiöser Wahrheiten, individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie, allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig zu geltende säkulare Toleranz. Die Geltung dieser Werte macht allein die Substanz einer Zivilgesellschaft aus.“

Ethnische Kulturen kennen den Menschen nicht als ein Individuum, sondern als Angehörigen eines Kollektivs; sie sind in einem doppelten Sinne vormodern, eben weil sie

- keine Reflexivität in dem oben erläuterten Sinne zulassen. Das Reflexiv-Machen, das heißt die Unterordnung unter die menschliche Vernunft, kennt keine Grenzen und auch keine Denkverbote, wie auch immer sie heißen mögen - Zensur oder Political Correctness. Das Reflexiv-Machen entromantisiert die Selbstbilder und hinterfragt die eigenen Feindbilder. Als ein muslimischer Araber, der sich nach einer islamisch-arabischen Primärsozialisation im Orient im Rahmen seiner europäischen sekundären Sozialisation, das heißt der Ausbildung an deutschen und auch an amerikanischen Universitäten, die Denkweise der kulturellen Moderne angeeignet hat, und damit als Grenzgänger, weiß ich, wovon ich rede. Die so erworbene Fähigkeit zur Reflexivität verhalf mir in meinem Denken zur Entromantisierung meiner Kultur und der auf ihr basierenden arabo-islamischen Identität. Somit war ich nicht mehr bereit, Fehlentwicklungen in meinem Kulturkreis als Folge einer unterstellten „Verschwörung von Kreuzzüglern und Zionisten“ zu deuten. Hierüber schrieb ich ein Buch, worin ich dieses Denken reflexiv mache, mit dem Titel Die Verschwörung. Mancher Angehörige meiner ethnischen vormodernen Kultur versteht dies nicht und bezichtigt mich seitdem des „Verrates“, weil ich durch diese Entromantisierung meinem Kollektiv untreu geworden sein soll. Europäische Gesinnungsethiker begeben sich bei der Kritik an meiner Arbeit auf dasselbe Niveau ethnischer Nationalisten und religiöser Fundamentalisten, weil sie sich im Rahmen der romantischen Verherrlichung des Fremden ähnlicher Argumente, etwa des kulturellen Verrats, bedienen;

- keine Individuation kennen. Individuation heißt die Bestimmung der Menschen als Individuen und damit als freie Subjekte unabhängig vom Kollektiv. Für ethnische Kulturen ist der Mensch dagegen ein von seinem Kollektiv nicht zu trennendes Glied. Jedes Kollektiv hat seine eigene Romantik und eigene Selbstbilder, die alle Angehörigen unhinterfragt zu akzeptieren haben … Ethnische Kollektive pflegen im Rahmen ihrer Zweiteilung der Welt die Selbstverherrlichung sowie die Dämonisierung der Anderen.“

Vertreter ethnischer und religiöser Zuwandererkulturen, das heißt ethnische Nationalisten und religiöse Fundamentalisten, fordern im Namen der Toleranz von Europa etwas, was sie in ihrem eigenen Kreis ächten: Toleranz für ihre vormodemen Kulturen. In dem Kapitel über Toleranz in diesem Buch werde ich argumentieren, dass Toleranz keine Selbstaufgabe bedeutet. Kapitulation gegenüber den Ansprüchen des Neo-Absolutismus kommt jedoch einer Selbstaufgabe gleich und ist weder eine Entromantisierung noch eine Überwindung des Eurozentrismus. Der im Motto oben zitierte französische linke Philosoph Alain Finkielkraut hat in seiner Verteidigung der europäischen Moderne gegenüber ethnisch-vormodernen Migrantenkulturen die angesprochene Selbstverleugnung La defaite de la pensée/ Niederlage des Denkens genannt.

Euro-Arroganz ist noch kein Rassismus, enthält aber doch den Keim des Euro-Rassismus. Dagegen kann die Verteidigung der Vernunft gegenüber Fundamentalismus und Ethno-Nationalismus nur von den von allen vernünftigen Geistern Verlassenen zum Rassismus-Vorwurf erhoben werden.“

Gutmenschen sind Bessermenschen, die eine moralische Überlegenheit beanspruchen, dermaßen, dass es nicht möglich ist, mit ihnen rational zu reden. Anders formuliert, ist der Gutmensch einer, der die Probleme nicht sieht. Nach Max Weber ist ein solcher Mensch „in der Tat politisch ein Kind geblieben“. Mit „politischen Kindern“ macht es keinen Sinn, die Frage „Europa ohne Identität?“ zu diskutieren.“

Zweifelsohne befindet sich Europa mitten in einer Sinn-und Werte-Krise, einer Krise also, die die Europäer noch zu verarbeiten haben. Multikulti-Illusionen zerplatzen angesichts echter Probleme wie eine Seifenblase und erweisen sich als ein Anzeichen dafür, dass die Bewältigung dieser Krise noch aussteht.

Bei meiner Suche nach Antworten auf die gestellten Fragen gehe ich zunächst von der Vermutung aus, dass hinter dem angesprochenen Krisenphänomen eine Mischung von Luxus und Verfall steckt. Im welthistorischen Kontext scheint sich der Westen als Zivilisation in einem Niedergang zu befinden. Ich möchte diese Beobachtung nicht als Polemik formulieren, will jedoch dieses Phänomen offen ansprechen. Es drückt sich unter anderem darin aus, dass Europäer - vor allem die Deutschen - in einem unverständlichen Selbsthass ihre eigenen Werte selbstverleugnerisch vor anderen in den Schmutz ziehen; sie merken dabei nicht, dass ihnen diese „Büßerhemd-Mentalität“ bei den potentiellen Adressaten wie zum Beispiel den Asiaten - dies habe ich anhand einer Anekdote in der Vorrede veranschaulicht - nur Geringschätzung einbringt. Ich argumentiere für den Dialog und mache hierbei meine deutschen Mitbürger auf die Tatsache aufmerksam, dass Selbstrespekt und Selbstwertbewusstsein unerlässliche Voraussetzungen hierfür sind; denn sie sind wichtig, um vom Anderen akzeptiert werden zu können. Bei der Öffnung gegenüber anderen Kulturen empfiehlt es sich in dieser Krisensituation für Europäer, die ohne Scheuklappen über den eigenen Tellerrand hinausschauen, die Prolegomena/al-Muqaddima des islamischen Philosophen aus dem 14. Jahrhundert, Ibn Khaldun, zu lesen, in denen er die Symptome des Niedergangs von Zivilisationen, etwa durch Verfall der Asabiyya/des Wertebewusstseins, geschichtsphilosophisch beschreibt.“

Zum Multikulti-Vokabular der Kulturrelativisten gehört die neue Sprachschöpfung „Kultur-Rassismus“. Hiernach wird das kritische Ansprechen kultureller Unterschiede (z. B. die Höherstellung des Mannes gegenüber der Frau im Islam) in einer sehr besorgniserregenden Weise als „Kultur-Rassismus“ eingestuft. Gegen die Kulturrelativisten argumentiere ich, dass es durchaus allgemeingültige Maßstäbe gibt, mit deren Hilfe Unterschiede erkannt und bewertet werden können. So können wir zwischen einer Kultur, die Glaubensfreiheit, die Gleichstellung von Mann und Frau und individuelle Menschenrechte zulässt, und einer anderen, die diese Werte verleugnet, qualitativ unterscheiden. Kulturrelativismus mündet in Werte-Gleichgültigkeit, die mit Werte-Beliebigkeit gleichgesetzt werden muss. Diese moralische Indifferenz führt soweit, dass sie auch vor einem Verwischen des Kontrasts von Freiheit und Unfreiheit nicht haltmacht. Im Gegensatz zu dieser Werte-Beliebigkeit begründen universell gültige Werte eine internationale, d. h. für alle Kulturen gültige Moralität. Die kulturübergreifende Begründung für diese Moralität ist die Alternative zu jedwedem ideologischen Universalismus.“

Generell führt die vergleichende Studie des religiösen Fundamentalismus zu dem Ergebnis, dass alle Spielarten dieses Phänomens in Wirklichkeit eine Variante des Absolutismus sind. Europäische und amerikanische Postmodernisten relativieren jede Kultur und übersehen dabei, dass viele vormoderne Kulturen selbst einen absoluten Anspruch haben. Ein Kulturrelativist, der ohne Differenzierung die Ansprüche aller - auch vormoderner - Kulturen anerkennt, übersieht dabei, dass diese nicht dieselbe Werte-beliebige Weltsicht teilen. Somit endet der Kulturrelativist in der - gegen den eigenen Anspruch gerichteten - Anerkennung der Absolutheit anderer Kulturen. Der Kulturrelativist nimmt also die Absolutheit anderer Kulturen hin, die seinen eigenen Anspruch nicht gelten lassen wollen, und räumt darüber hinaus die Relativität der eigenen Position ein. Kulturrelativisten sind hierbei die Verlierer, die Neo-Absolutisten die Gewinner.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/296-kassandra-tibi.html

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm