Venedig in Öl

 

 

Nathalie Thanh Thuy Schwertner: „Ein Straßenverkäufer sitzt vor seinem Stand, den Kopf hinter einer Zeitung versteckt. Neben ihm aufgebaut sind neun Gemälde in unterschiedlichen Größen. Wie ein Mosaik ergeben sie zusammen eine Szenerie, die Touristen und Einheimischen in Venedig sehr bekannt ist: Ein gigantisches Kreuzfahrtschiff bahnt sich den Weg duch die Lagunenstadt – neben diesem wirken die Menschen unbedeutend klein.

Straßenmalerei in Venedig – was ist daran nun so besonders, fragst du dich? Nun: Es könnte sich bei dem Mann um keinen Geringeren als den berühmten Banksy handeln, der die Biennale crasht. Der Künstler hält seine Identität noch immer geheim. In der Vergangenheit sorgte er mit seinen Guerilla-Aktionen weltweit immer wieder für Aufsehen.

Anlass zu der Vermutung gibt der Künstler selbst auf Instagram. Er postete ein Video mit den Worten: „Ich stelle meinen Stand auf der Biennale in Venedig auf. Obwohl es das größte und prestigeträchtigste Kunstereignis der Welt ist, wurde ich aus irgendeinem Grund nie eingeladen.“

In dem Video ist zu sehen, wie der Stand von einem Unbekannten aufgebaut wird. Es endet passend mit einer Szene, die dem Motiv entspricht. Passanten bleiben stehen, unterhalten sich angeregt, auch eine Katze pausiert für eine Weile vor den Bildern. Von dem Künstler – keine Spur.

Tragen sie wirklich Banksys Handschrift? Der Titel „Venice in Oil“, also „Venedig in Öl“, gibt einen nächsten Hinweis darauf. Denn gerade wegen seiner gesellschaftskritischen und politisch gefärbten Werke polarisiert der Künstler weltweit und löste damit einen Hype um seine Person aus.

Offenbar spielt das jüngste Kunstwerk auf den boomenden Kreuzfahrt-Tourismus in Venedig an, der mitverantwortlich ist für den Overtourism in der Lagunenstadt. So sind es insbesondere Tagestouristen, die von den Kreuzfahrtschiffen in die schmalen Gassen der Lagunenstadt strömen und diese damit zum Platzen bringen. Der für diesen September geplante Eintrittspreis für Tagestouristen soll dem entgegensteuern.

Venedig in Öl“ könnte zudem auf die Verschmutzung der Luft und des Wassers hindeuten, was auf den herkömmlichen Schiffsantrieb mit Schweröl zurückzuführen ist. Bei der Verbrennung entstehen umweltbelastende Stickoxide, die auch in anderen Hafenstädten wie Kotor zu einem ernsthaften Problem für Natur und Mensch werden.

Und der Straßenkünstler scheint schon davor unerkannt in Venedig unterwegs gewesen zu sein. An einer Hausfassade wurde ein weiteres Kunstwerk entdeckt, das stark dem Stil Banksys ähnelt. Nachdem seit zwei Wochen über den Macher spekuliert wurde, lüftete der Brite das Geheimnis am Samstagmorgen bei Instagram.“

https://www.reisereporter.de/artikel/8324-kritik-an-kreuzfahrt-aktion-von-banksy-in-venedig

Banksy, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/372-banksy.html hat mal wieder auf ein drängendes Menschheits-Problem hingewiesen: den Massentourismus, der massiv zu Lasten der Einheimischen geht. Gerade seit den letzten Jahren ist die Situation nicht mehr aushaltbar.

 

Vorteile des Tourismus

 

Fremdenverkehr kann eine recht schöne Sache sein.

Ein Beispiel für einen nicht gewachsenen touristischen Ort, der kaum gelebte Traditionen aufweist, bietet die Gemeinde Bad Schönborn zwischen Heidelberg und Karlsruhe. Für kulturell und naturell Interessierte gibt es im Umkreis sehr viel sehr Hochkarätiges zu sehen und zu erleben, aber die Brennpunkte touristischen Interesses in Deutschland liegen an anderen Stellen. Anders ausgedrückt: normalerweise käme kein Tourist hierher.

In den 1970er Jahren wurde jedoch eine Thermal- und Heilquelle erschlossen mit der Folge, dass sich hier Bäder, Kliniken und Ärztepraxen ansiedelten mit dem entsprechenden Fachpersonal. Pro Jahr gibt es in Bad Schönborn mittlerweile über 300.000 Übernachtungen in überwiegend kleinen Hotels, Gasthäusern oder Pensionen. Ein großer Teil der seit den 1970er Jahren erbauten Häuser ist deutlich größer als sonst üblich, da niveauvolle Zimmer an Gäste vermietet werden. Sollte vermehrt Eigenbedarf bestehen, können die Zimmer dann problemlos selbst benutzt werden.

Eine hochrangige Gastronomie hat sich dort etabliert, von der auch die Einheimischen als Konsumenten profitieren; lokale Bäcker, Metzger, Landwirte profitieren von den Aufträgen aus Hotellerie und Gastronomie.

Die Steuereinnahmen von den Gästen führen zu Investitionen in Infrastruktur, Naturschutz und Kultur, so dass Bad Schönborn eine sehr schmucke Gemeinde ist und zahlreiche Geschäftsleute und deren Angestellte profitieren von den Gästen. Die Gäste sind keine Last, da sie tagsüber „in Behandlung“ sind und abends sich auf alle möglichen Arten verstreuen.

Zwar sind Mieten und Grundstückspreise gestiegen, aber die Profiteure sind die Einwohner der Gemeinde selbst.

Eine längere touristische Entwicklung haben früher bitterarme Gegenden wie etwa der alpine Raum, der es zu nennenswertem Wohlstand gebracht hat.

Die meisten Länder der Welt nehmen große Anstrengungen auf sich, damit Touristen zu ihnen kommen. Kuba hat sich seit den 1990er Jahren dem Tourismus überhaupt erst geöffnet und hätte ohne diesen massive Probleme. Siehe die Reiseberichte

http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/havanna-vinales-havanna/kuba/havanna-vinales-havanna.html und http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/havanna-vinales-havanna/kuba/cienfuegos-santiago-baracoa.html .

Bei aller Tourismus-Förderung sollte mensch aber auch vorsichtig sein, dass es keine negativen Auswirkungen gibt – die gibt es nämlich immer häufiger.

 

Beispiel Venedig

 

Kirstin Hausen hat 2017 eine kleine Serie über die Zustände in Venedig geschrieben, die der Wurm hier wiedergibt. In anderen geplagten Städten und Regionen sieht es nicht viel anders aus.

Venedig sehen und sterben: 30 Millionen Menschen pro Jahr besuchen eine Lagunenstadt, die für Massentourismus nicht geschaffen ist. Sie fuchteln mit Selfiesticks in der Luft herum, treiben die Preise in die Höhe und stehen überall im Weg herum. Wie leben die Venezianer damit?

Es reicht, finden immer mehr Einheimische. Wie kommt ein Angestellter pünktlich zur Arbeit, wenn die Boote auf dem Canal Grande mit Besuchern überfüllt sind? Wo geht eine venezianische Familie essen, ohne sich finanziell zu verausgaben?

Marco Rugliancich, Massimo Brunzin und weitere Einwohner führen Kirstin Hausen durch eine Stadt, die immer weniger sich selbst zu gehören scheint.“

https://www.deutschlandfunk.de/unterwegs-in-venedig-feindbild-tourist.922.de.html?dram:article_id=396885

 

Wem gehört die Insel Poveglia?

Rückzugsorte für Venezianer sind rar geworden. Die Insel Poveglia sollte an einen großen Investor verkauft werden, wie viele andere Inseln der Lagune, die zu einem Luxusresort umgewandelt wurden. Doch eine Bürgerinitiative hat sich gegen den Verkauf Poveglias gewehrt.

Strahlender Sonnenschein, kein Wind und kaum Boote auf dem breiten Kanal, der die Insel Giudecca von Venedig trennt. Ideale Bedingungen für einen Ausflug in die Lagune. Marco Rugliancich stellt sich gerne als Bootsführer zur Verfügung, wenn ihn der Verein „Poveglia per tutti“, „Poveglia für alle“ darum bittet.

Durch den Verein habe ich eine Zivilgesellschaft wiederentdeckt, die sich engagiert, das fehlte mir in Venedig. Dieses Schutzprojekt für die Insel Poveglia hat mich in Kontakt gebracht mit vielen Menschen, die Lust haben, sich einzusetzen und aktiv zu werden.“

Einer davon ist Lorenzo Pesola, der Vereinspräsident. Mitte 40, raspelkurzes Haar, durchdringender Blick, Architekt von Beruf.

Mit Tramezzini, dick belegten Weißbrotdreiecken, und einer großen Flasche Wasser im Rucksack legen die beiden Männer ab. Lorenzo hat kein eigenes Boot, er sei auch kein richtiger Venezianer, sagt er:

Ich bin ein Adoptiv-Venezianer. Seit 1993 lebe ich hier, aber das reicht natürlich nicht, um als echter Venezianer durchzugehen. Dafür müssen deine Vorfahren auf der Friedhofsinsel San Michele begraben sein.“

Vor dem Boot tauchen rechts und links kleine Inseln auf.

Diese Insel hier heißt Le Grazie. Sie soll ein Luxusresort werden so wie die Insel dort drüben, San Clemente. Auf San Clemente wurden früher psychisch Kranke untergebracht. Heute ist sie eine reine Hotelinsel, fünf Sterne natürlich. Und auf der Insel Sacca Sessola, die in Insel der Rosen umgetauft wurde, hat sich die Hotelkette Marriott eingerichtet. Dort hinten sieht man Santo Spirito. Die Insel wurde vor einigen Jahren für einen Spottpreis verkauft und es entstand eine Siedlung mit Luxus-Wohnungen, die von Ausländern wenige Monate im Jahr bewohnt werden.“

Lorenzo hat die Hände zu Fäusten geballt. Was er von dieser Entwicklung hält, ist klar:

Als Poveglia, die Insel, zu der wir jetzt fahren, zum Verkauf angeboten wurde, drohte ihr dasselbe Schicksal und das war auch der Grund warum sich so viele darüber empört haben.“

Auch Marco. Poveglia liegt ihm am Herzen. Als Kind verbrachte er unbeschwerte Sonntage auf dem Eiland, das im 18. Jahrhundert als Quarantänestation und Lazarett für Pestkranke gedient hatte. Später kamen Cholera-, noch später Tuberkulosepatienten. 1968 wurde das Krankenheim geschlossen und die Insel verwilderte. Für die Venezianer wurde Poveglia zu einem Rückzugsort in der Lagune, wo man noch unter sich war, weil sich keine Touristen dorthin verirrten.

Das Boot nähert sich der achteckigen Festungsinsel, die Poveglia vorgelagert ist.

Lorenzo sagt, die Festung sei aus dem 16. Jahrhundert, Marco hält sie für älter. Zumindest den Grundriss. Er steuert auf einen Anlegepfahl zu, den er selbst in den Lagunengrund gerammt hat.

Wir vom Verein haben diese Pfähle angebracht, damit hier Boote anlegen können. So um die 50 Pfähle sind es.“

Lorenzo springt vom Boot und folgt einem Saumpfad ins Innere der Insel.

Den Pfad hat der Verein angelegt. Dazu Schilder über die Flora und Fauna aufgestellt. Bäume gepflanzt. So als gehöre die Insel dem Verein. Ganz so ist es aber nicht.

Im März 2014 verbreitete sich die Nachricht, dass Poveglia versteigert werden sollte. Um mitzubieten, reichten 10.000 Euro. Die Idee der Staatsbeamten war, dass der Markt den Wert der Insel bestimmt. In nur 40 Tagen hat sich unser Verein gegründet und wir haben eine halbe Million Euro gesammelt.“

Ein sensationelles Ergebnis für ein lokales Crowdfunding-Projekt und eine tolle Geschichte für die Medien. Plötzlich wurde der Kampf der Venezianer um ihre Insel weit über Italien hinaus bekannt. Internationale Hotelketten zogen es vor, sich nicht an der Versteigerung zu beteiligen, sie fürchteten schlechte Presse.

Schliesslich hat nur ein Unternehmer aus Venedig ein Gebot eingereicht. 513.000 Euro hat er geboten. Unser Verein hat ihn nicht überboten, weil er sonst sein Gebot hätte steigern können und dann wäre die Insel an ihn gegangen. So aber konnte er nicht noch mehr bieten, und der italienische Staat hat entschieden, dass 513.000 Euro zu wenig sind.“

Der Unternehmer wurde also nicht Inselbesitzer. Dafür aber Bürgermeister von Venedig. Italienische Widersprüche. Poveglia ist nach wie vor im Besitz des Staates. Der Bürgerverein kämpft um eine Art Sorgerecht für die Insel und ist bereit, das gesammelte Geld in die Restaurierung des Krankenhauses zu investieren, das auf der Insel langsam verrottet.

Lorenzo will sich mit Marco heute den Zustand des Hauptgebäudes ansehen. Der Pfad ist von Brombeerbüschen gesäumt.

Die Brombeeren schmecken hervorragend, wir machen aus ihnen Marmelade. Aber die Sträucher wachsen sehr schnell und müssen regelmäßig geschnitten werden, sonst ist bald wieder alles überwuchert, was wir freigelegt haben.

Als das Krankenhaus noch aktiv war, wurde hier Obst und Gemüse angebaut. Wir wollen das wiederaufleben lassen, indem wir auf der ganzen Insel Obstbäume anpflanzen. So können die Venezianer hierherkommen und das Obst ernten und essen. Wer Poveglia besucht, um Kirschen zu pflücken und zu essen, empfindet diese Insel als seine Insel.“

Das ist der erste Schritt. Der zweite ist eine Nutzung der Insel, ihrer Gebäude. Vielleicht sogar eine Wiederbesiedlung. Lorenzo beschleunigt seinen Schritt, dann steht er vor einem mit Efeu bewachsenen Haus mitten im Grünen. Marco inspiziert kritisch das Mauerwerk.

Wie früher üblich bestand das Krankenhaus aus einzelnen Gebäuden, die sich über einen Park verteilen. Einige sind eher klein, wie dieses, vor dem wir stehen. Oder auch das des Hausmeisters, das vollständig zerstört ist, das Dach ist eingestürzt.“

Die Fensterscheiben sind zerbrochen, die Bodenfliesen haben Sprünge und Risse. Viel Arbeit wartet hier. Aber das schreckt Marco und Lorenzo nicht ab.

Die beiden Männer steigen über die aus den Angeln gefallene Tür, schmieden Pläne. Der Verein hat Geld und viele Mitglieder, die sich ehrenamtlich engagieren. Darunter Handwerker, Gärtner, Architekten wie Lorenzo. Poveglia soll wieder leben, und zwar nicht vom Tourismus, das ist das Ziel.“

https://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-die-touristen-1-5-wem-gehoert-die-insel-poveglia.922.de.html?dram:article_id=399762

 

Im Berufsverkehr mit Touristen

Will man in Venedig irgendwohin, nimmt man den Wasserbus. Das gilt für Einheimische und für Touristen gleichermaßen. Doch auf den heillos unterdimensionierten Vaporetti kommt es zwischen Selfiesticks und beweglichen Kofferbergen immer wieder zu nervenaufreibenden Szenen.

Sieben Uhr abends auf der Piazzale Roma in Venedig. Großes Hasten an der Vaporetto-Anlegestelle. Touristen aus aller Welt wollen schnellstmöglich von den Booten, sie müssen zum Bus, der sie zum Flughafen bringt. Viele sind in Zeitnot, zerren ihre Trolleys ungeduldig übers Pflaster, manchmal auch über die Füsse derjenigen, die anstehen, um auf das Boot zu kommen. Für Höflichkeit fehlt die Zeit oder die Sprache.

Tagesausflügler wollen noch den wartenden Bus kriegen, der sie zurück in ihr Hotel auf dem Festland bringt, wo man deutlich preisgünstiger logiert als in Venedig. Die Deutschen Stefanie und Fabio sind wie so viele nur einen Tag in Venedig.

Wir machen eine Interrailtour durch Italien, und Venedig musste halt mit dabei sein. Wir haben gestern erst gebucht und es war superteuer. Und nur noch sehr wenig zu finden.“

Mitten im Getümmel steht Marco Rugliancich, gebürtiger Venezianer. Langer, gepflegter Bart, grün-braune Augen, Cordjackett über kariertem Hemd. Er kommt von der Arbeit und nimmt wie immer die Linie Richtung Lido. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt nach Hause. Außer, das Vaporetto ist so voll, dass er aufs nächste warten muss.

Das passiert während des Filmfestivals und auf der Route, die den Canal Grande befährt, da sind immer sehr viele Touristen auf den Booten. Aber eigentlich sind die Touristen inzwischen überall. Nur unsere Lokalpolitiker behaupten, dass es nicht zu viele sind, sondern dass sie schlecht über die Stadt verteilt sind. Das heißt, sie versuchen, Venedig auch dort unbewohnbar zu machen, wo man im Moment noch leben kann.“

Marco wohnt auf der Giudecca-Insel, die dem historischen Zentrum mit dem Markusplatz gegenüberliegt.

Unser Bürgermeister ist ja der Meinung, dass die echten Venezianer heute in Mestre wohnen. Deshalb kümmert es ihn nicht, ob Venedig noch eine Stadt zum Leben ist oder nur noch ein Vergnügungspark für Touristen.“

Marco hält nach einem Sitzplatz Ausschau. Keine Chance. Eine Reisegruppe aus Japan hat den gesamten hinteren Teil des Vaporetto in Beschlag genommen, ihre Koffer türmen sich im Gang.

Es ist klar, dass Touristen ihre Koffer mitbringen, das kann man ihnen nicht verübeln. Aber die öffentlichen Wasserbusse haben nicht genug Stauraum für das viele Gepäck. Dieses Vaporetto hier hat eine Ecke für Gepäck ausserhalb der Schiffskabine, aber wie viele Koffer passen da rein? Zehn vielleicht.“

Nimmt das Boot Fahrt auf, kommen auch die Gepäckstücke in Bewegung. Pavel, der für das Vertauen des Vaporetto an den Haltestellen zuständig ist und das geordnete Ein- und Aussteigen regelt, schiebt sie immer wieder an ihren Platz zurück.

Geduldig, freundlich, hilfsbereit – der Mittdreissiger ist kein Venezianer, sondern in Warschau geboren. Seit zehn Jahren arbeitet er auf den öffentlichen Wasserbussen und geniesst das Panorama der altehrwürdigen Palazzi und Kirchen, das täglich an ihm vorbeigleitet. Wie dicht ist denn der Verkehr inzwischen?

Enorm viele Boote sind unterwegs, sagt, er und es werden ständig mehr. Dann greift er nach dem Tau, wir legen an.

Es steigen mehr Menschen zu als aus.

Entschuldigung, kann ich mal durch? Das sagt Pavel an die 100 Mal am Tag. Weil die meisten Touristen -kaum haben sie das Boot betreten- Handy und Selfiestick zücken statt zügig in die Kabine abzusteigen, um denen hinter ihnen Platz zu machen.

So wie das junge Paar mit Rucksäcken, das zugestiegen ist. Staunend betrachtet es das Panorama, der riesige Koffer steht mitten im Weg. Pavel versucht, ihn hochzunehmen, lässt es aber, scheint schwer zu sein. Er fragt, wohin sie fahren. Dann schüttelt er den Kopf:

It's wrong boat.“

Die beiden sind auf dem falschen Boot. Pavel erklärt ihnen, wo sie aussteigen und welche Linie sie nehmen müssen.

Oh no! Where do we get off?“

Ein älterer Herr beobachtet die Szene und verzieht das Gesicht.

Die Venezianer scheinen nur noch dafür da zu sein, den Touristen Auskunft zu geben. Touristen, die noch dazu kein Benehmen haben. Im Sommer springen sie in die Kanäle, um sich zu erfrischen. Manche pinkeln sogar in die Kanäle oder laufen in Badekleidung durch die Stadt. So ein Verhalten ist respektlos gegenüber dieser Stadt, die Respekt verdient.“

Marco Rugliancich schaut auf die Uhr. Das Boot ist pünktlich. Die Insel Sacca Fisola taucht auf – hier leuchten keine eleganten Palazzi im Dunkeln, das Licht der Straßenlaternen trifft grauen Beton. Niemand ist unterwegs. Etwa 1500 Menschen wohnen in Sozialbauten aus den 70er-Jahren.

Auch hier gibt es inzwischen BnBs. Diese beiden Boote, die dort vor Anker liegen, sind zum Beispiel für Touristen.“

Und die übernachten in den Booten?

Ja, die waren kurzfristig geschlossen, weil sie nicht regulär angemeldet waren, aber jetzt sehe ich immer wieder Licht und auch Leute dort. Das heißt, irgendwie haben sie das offiziell gemacht. Mit den Touristen werden eben überall Geschäfte gemacht.“

Auch Marco könnte sich am Geschäft mit den drei Millionen Venedig-Besuchern beteiligen und ein Zimmer seines Hauses tageweise vermieten. Er würde damit wahrscheinlich mehr verdienen als mit seiner Anstellung an der Universität.

Aber davon will der gebürtige Venezianer nichts wissen. Die Touristen nehmen bereits zu viel Raum ein, findet er. Marco geht Richtung Deck. Die Anlegestelle Giudecca Pallanza – er ist zuhause.“

https://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-die-touristen-2-5-im-berufsverkehr-mit-touristen.922.de.html?dram:article_id=399765

 

Der Protestchor singt

Riesige Kreuzfahrtschiffe bringen Ladungen von Tagestouristen nach Venedig. Den meisten Venezianern sind sie ein Dorn im Auge, denn die Besucher geben wenig Geld aus und hinterlassen viel Müll. Ein Bürgerkomitee ruft deshalb zu einem Aktionstag gegen Kreuzfahrtschiffe auf.

Es ist kühl und regnerisch – über die zattere, die breite Uferpromenade nahe des Markusplatzes weht ein herbstlicher Wind. Trotzdem haben sich einige hundert Demonstranten hier versammelt. Darunter Marco Rugliancich und Massimo Brunzin. Die beiden Venezianer tragen Regenjacken und Schal. In den Vorjahren haben hier Tausende demonstriert und die Promenade war komplett voll.

Die Familien mit Kindern werden bei dem Wetter nicht kommen, höchstens die Väter, mutmaßt Massimo:

Als Vater muss ich sagen, dass mich die Abgase dieser Schiffe beunruhigen. Jeder Ozeanriese, der hier in die Lagune fährt und 24 Stunden in unserem Hafen liegt, verbraucht so viel Treibstoff wie es 14.000 Autos entspricht. Zehn Schiffe sind also das Äquivalent zu 140.000 Autos, die durch das historische Zentrum fahren.“

Hinzu kommt der Wellenschlag, der den Fundamenten Venedigs zusetzt. Etwa 500 Millionen Euro Einnahmen im Jahr bringen die Kreuzfahrtschiffe. Die Kosten, die sie langfristig verursachen, sind wesentlich höher, glaubt Marco:

Ein großer Teil der Passagiere verlässt das Schiff gar nicht. Und diejenigen, die Venedig besuchen, lassen kaum Geld hier. Sie haben ja alles auf dem Schiff. Aber das Schlimmste ist die Erosion, die diese Schiffe verursachen.“

Auf der Suche nach bekannten Gesichtern nähern sich Massimo und Marco der schwimmenden Bühne, die 50 Meter vor der Promenade aus dem Wasser ragt. Fischer umfahren mit ihren Booten die Bühne, halten Spruchbänder hoch. „Grandi Navi – no!“ Große Schiffe – nein!

Marco winkt einer Frau in einem der Boote und lässt sich zur Bühne hinüberfahren. Annapaola leitet den „coro delle lamentele“ den Beschwerde-Chor von Venedig.

Es geht darum, Beschwerden zu sammeln und in Liedern zu verarbeiten. Wir wollen dem Schlechten mit Ironie begegnen und negative Energie kreativ verwandeln, das ist befreiend.“

Das Repertoire ist vielfältig. Es geht um Hundekot auf dem Bürgersteig, um Touristen, die immer dieselben Fragen stellen – und um die ungeliebten Kreuzfahrtschiffe.

Das Lied hat der Chor extra für den Aktionstag geschrieben. Nicht alle der 15 Chormitglieder sind textsicher. Marco hält Schilder mit den Textzeilen hoch – das Publikum lacht. Und ist begeistert.

Der Protest gegen die Kreuzfahrtschiffe geht durch alle Altersgruppen und Schichten – er vereint die Venezianer, die sich gegen den Massentourismus auflehnen.

Neben jungen Aktivisten aus der alternativen Szene klatschen auch distinguierte Damen in Wollkostümen Beifall. Warum? Weil sie sich um das Ökosystem der Lagune sorgen.

Die Reisegruppen, die natürlich auch heute über den Markusplatz und die Uferpromenade geführt werden, schauen neugierig auf die Menschenmasse und ihre Spruchbänder. Einige reagieren ängstlich, als sie verstehen, dass sich der Protest gegen sie richtet, gegen die Touristen. Ein Belgier, der mit seiner Frau regelmäßig nach Venedig kommt, ärgert sich über die Demonstration. Ohne Touristen würden auch die Einnahmen fehlen, um Venedig mit seinen historischen Bauten zu restaurieren und zu erhalten:

If they dont want tourists they won't have finances to restore all the buildings and all the staff, and in 15 years there is no Venice anymore. So you have to take the bad with the good, I think.“

Venedig sei schon immer voller Touristen gewesen und die Venezianer müssten sich allmählich daran gewöhnt haben, meint er.

It was always crowded. The peoole are now more annoied? They should have been used to it, I think.“

Ein belustigtes Kopfschütteln, dann geht er Richtung Bootsanleger. Um die Protestierenden macht er einen Bogen.

Marco Baravalle vom Komitee «Grandi navi no» eilt mit einer wichtigen Nachricht herbei. Seine Augen funkeln triumphierend:

Unsere Demonstration zeigt Wirkung, eben hat die Hafenbehörde beschlossen, das Auslaufen der großen Kreuzfahrtschiffe heute um einige Stunden zu verlegen.“

Es ist ein kleiner Triumph. Morgen werden die Schiffe wieder ihren Fahrplan einhalten. Solange es keine Alternativroute gibt, dürfen die schwimmenden Hotels weiter in die Lagune von Venedig einfahren – das wurde vor Gericht entschieden. Marco Baravalle:

Wer den Massentourismus in Venedig beibehalten will, tendiert dazu, nicht zu entscheiden. So bleibt alles beim Alten. Wir können nichts anderes machen als weiter zu protestieren.“

https://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-die-touristen-3-5-der-protestchor-singt.922.de.html?dram:article_id=399768

 

Souvenirs kann man nicht essen

55.000 Einwohner, aber 30 Millionen jährliche Besucher – in Venedigs Altstadt sind Venezianer eine Minderheit. Immer mehr Läden dort verkaufen deshalb lieber Souvenirs und Luxusessen als Brot und Fleisch. Die Einheimischen müssen bezahlbare Lebensmittel immer mehr suchen.

Eine Bäckerei im Stadtteil Castello, am östlichen Rand von Venedig. Die Brötchen und Buttercroissants sind bereits ausverkauft – es ist zehn Uhr morgens. Massimo Brunzin entscheidet sich für ein dunkles Kastenbrot mit Körnern und zwei Weißbrote. Er kauft für seine Familie ein, wie jeden Samstag. Aber die Touristen sind mal wieder schneller gewesen, sagt er:

Hier im Viertel gibt es viele Ferienwohnungen. Die Touristen bleiben zwei, drei Tage, haben eine Küche und versorgen sich also selbst. Wenn ich jetzt in den Lebensmittelladen von Betti gehe, dann kann ich dort zwischen 70 bis 80 verschiedenen Weinen auswählen, obwohl die Einheimischen hier mit zehn verschiedenen Etiketten zufrieden wären. Aber Betti hat genau die Produkte, die die Touristen für ihren Kurzaufenthalt suchen.“

Betti führt einen der letzten gut sortierten Lebensmittelläden, die noch in Castello geblieben sind. Viele Geschäfte für den täglichen Bedarf haben sich in Souvenirshops verwandelt. Plastikgondeln und Schneekugeln mit Markusplatz statt Lebensmittel, Zahnstocher oder Gartenscheren:

Leider gibt es in Venedig immer weniger Einwohner und immer mehr Touristen. Viele kommen nur, um sagen zu können, ich war in Venedig. Was sehr schade ist. Diese Stadt hat es verdient, verstanden und gelebt zu werden.“

Jetzt gehen wir Fisch kaufen, sagt Massimo zu seinem achtjährigen Sohn und biegt in die Via Garibaldi, die Hauptstrasse von Castello, ein. Ein Geschäft für Haushaltswaren verkauft jetzt Schmuck aus billigem, buntem Glas. „Made in Venice“ steht auf der Fensterscheibe. Massimo Brunzin staunt. Solche Dinge werden in Venedig überhaupt nicht hergestellt.

Die Ohrringe und Kettenanhänger sind schlechte Imitate von Schmuckstücken, die auf Venedigs Glasbläserinsel Murano in Handarbeit gefertigt und in kleiner Stückzahl verkauft werden. Sicher nicht für 8 oder 12 Euro wie die hier im Schaufenster.

Massimo ist stehen geblieben, um einen Freund aus Kindertagen zu begrüßen. Der Mittfünfziger wohnt schon lange nicht mehr in Venedig, besucht heute seine alte Mutter in Castello. Die erste Arbeitsstelle fand er in Mailand, dann eine in Treviso, 50 Kilometer nördlich von Venedig. Seitdem wohnt er auf dem „Festland“, der Terraferma, wie die Venezianer sagen.

Aber mein Wunsch war, wie der vieler Venezianer, die gegangen sind, früher oder später nach Venedig zurückzukehren. Aber wie das Leben so spielt: der Stützpunkt wurde mein wahres Zuhause. Und vielen meiner Freunde ist es ebenso ergangen. Nur wenige sind nach Venedig zurückgekommen. Vor allem wegen der Immobilienpreise. Ein Haus kostet hier so viel wie woanders ein Hotel.“

Ein Schulterklopfen, eine Umarmung – dann beschleunigt Massimo Brunzin seinen Schritt. Es ist fast Mittag, der Fischhändler wartet. Auf einem kleinen Platz, einem Campiello, hat er seinen Stand aufgebaut. Die Ware liegt in blauen Kästen auf Eis gebettet. Schillernder Schwertfisch, Goldbrassen, Meeräschen, Garnelen, herzförmige Venusmuscheln.

Die Venusmuscheln sind ja eine Spezialität der Lagune von Venedig. Sie waren das Essen der Armen. Die bürgerlichen Familien in Venedig haben früher vor allem Fleisch gegessen. Heute weiß man um die Vorzüge von Fisch und Meeresfrüchten, und jetzt wollen alle nur noch unsere traditionellen Nudeln mit Venusmuscheln essen. 30 Millionen Besucher pro Jahr und alle wollen Venusmuscheln. Wo holen wir all diese Muscheln her?“

Sicher nicht nur aus der Lagune. Aber die wenigsten Touristen fragen nach der Herkunft, wenn sie im Restaurant den piatto tipico, das typische Gericht Venedigs vorgesetzt bekommen.

Massimo fragt nach Makrelen. Fünf eher kleine und ein Kilo Krabben nimmt er. Die Edelfische, die mit geöffnetem Maul fast noch zu atmen scheinen, sind für die Touristen, sagt Massima Brunzin:

Ich kaufe Fisch, der gut schmeckt aber nicht zu teuer ist. Ich achte aufs Geld, während viele Touristen das nicht tun. Sie sind bereit, mehr auszugeben, schließlich sind sie im Urlaub und deshalb kaufen sie teureren Fisch.“

Noch hat der Fischhändler die günstigere Ware nicht aus dem Programm genommen. Aber das Café auf der Via Garibaldi, in dem Massimo nach dem Einkaufen gerne einen Aperitif trank, hat sich der kauffreudigen Kundschaft angepasst und ist jetzt eine Austernbar. Massimo geht rasch vorbei und steuert auf ein Geschäft zu, das seit 40 Jahren unverändert ist.

Hier kaufen wir unseren Wein. Mit der Betreiberin bin ich in die Grundschule gegangen. Sie verkauft Wein vom Fass. Ein Liter Prosecco kostet zwei Euro 50 und ist nicht schlecht.“

Anderthalb Liter kauft Massimo heute, der frische Perlwein passt gut zum Fisch. Hier fühlt er sich wohl. Hier ist noch etwas zu spüren vom Castello seiner Kindheit.“

https://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-die-touristen-4-5-souvenirs-kann-man-nicht-essen.922.de.html?dram:article_id=399770

 

Der Stadt fehlen die Kinder

Venedig ist enger geworden und teurer. Wer noch in der Stadt wohnt, lebt mitten unter Touristen. Manch einer zieht von der Lagune aufs Festland. Doch ohne junge Paare und Familien – wo bleiben da Venedigs Kinder?

Eine Gasse, ein Torbogen, dahinter ein Schulhof mit Bäumen und Bänken. Nur 300 Meter Luftlinie entfernt vom Markusplatz herrscht Alltag. Schulalltag, Elternalltag. In Grüppchen stehen Väter und Mütter herum, plaudern, warten auf Schulschluss. Massimo Brunzin holt seine beiden Söhne ab, der eine geht in die Vorschule, der andere in die Grundschule.

Einige Schulen wurden geschlossen, es gab hier noch eine zweite Grundschule, und ganz in der Nähe einen Kindergarten, der dieses Jahr geschlossen wurde, weil die Kinder fehlen.“

Venedigs Bevölkerung wird immer älter. Nur einer von 1.000 Einwohnern ist unter 18 Jahre alt. Massimo kennt das Problem, er sitzt im Elternrat der Schule.

Mit den Jahren sind die Venezianer mit geringerem Einkommen aus der Stadt vertrieben worden, geblieben ist die Mittelschicht und hinzugekommen sind Kinder aus ganz Europa und den USA. Wir haben auch Schüler aus weniger entwickelten Weltgegenden, aber nicht sehr viele. Das ist hier anders als auf dem Festland, wo beispielsweise der Anteil asiatisch stämmiger Kinder in den Schulen bedeutend ist. Hier nicht. Die Asiaten, die hier arbeiten, verdienen nicht genug, um auch in Venedig zu wohnen.“

Die Kinder dürfen den Schulhof nicht alleine verlassen.

Meine Generation ist auf den Plätzen der Stadt großgeworden. Ich bin allein zur Schule gegangen. Aber vor 30 Jahren gab es noch mehr Kinder hier, und diejenigen, die in der gleichen Straße wohnten, gingen zusammen. Darunter waren auch die Söhne und Töchter der Einzelhändler, die ihre Geschäfte hier hatten und die sahen, was auf der Straße passierte. Diese soziale Kontrolle fehlt inzwischen. In den Läden dieses Stadtteils arbeiten kaum noch Leute, die auch hier wohnen. Sie kommen vom Festland und haben keinen Bezug zu diesem Stadtteil.“

Massimos Sohn kommt mit seinem Freund Giovanni herbei, die beiden haben in einer Stunde Basketballtraining.

Massimo schlägt vor, vorher noch ein Eis zu essen. Auf dem Campo della Bragora, dem Hauptplatz des Stadtteils. Hier treffen sich Kinder und Eltern nach Schulschluss.

Hier lernst du das Fussballspielen, hier lernst Du die ersten Streiche. Und hier stehen die Mütter und Väter in Grüppchen zusammen. Je nach Sympathie.“

Sie stehen in der Mitte des Platzes. Unter den wenigen Bäumen. Versteckt. Und umzingelt. Denn die Straßencafés, die sich immer weiter über den Platz ausbreiten, sind voller Touristen. Der Kaffee kostet zwischen 3 und 4 Euro. Das ist drei Mal so teuer wie in Italien üblich. Die Einheimischen sind darüber empört und boykottieren die Cafés, die Touristen aber zahlen. Eddy und Maureen Brown aus Kansas City haben mit diesen Preisen gerechnet:

We were expecting that.“

Die schlichte Ziegelsteinfassade der Kirche San Giovanni Battista beherrscht eine Seite des Platzes. Es ist eine der ältesten Kirchen Venedigs, sie stammt aus dem 7. Jahrhundert. Massimo Brunzin ging hier zur Kommunion. Die Zahl der Gläubigen, die regelmäßig zur Messe gehen, hat mit den Jahren stetig abgenommen. Und so hat die Kurie vor allem kleinere Kirchen in Venedig geschlossen. In einem Fall wurde das angrenzende Pfarrhaus an ein Hotelkonsortium verkauft. Für Massimo und viele Venezianer ist das ein Skandal:

So etwas hat die Kirche bisher nicht getan, das kam gar nicht in Frage! Wir haben in Venedig um die 150 Kirchen, von denen sind nur noch 20 bis 30 in Betrieb. Jede Kirche hat nebenan das Pfarrhaus, in dem der Pastor wohnt. Wird die Kirche geschlossen, braucht man keinen Pfarrer mehr und auch kein Pfarrhaus. Wie es scheint, zeigt sich hier eine neue Tendenz. Die nicht mehr genutzten Pfarrhäuser kommen unter den Hammer und werden Unterkünfte für Touristen.“

Massimo ruft einen Freund herbei, dessen Tochter mit seinem älteren Sohn zusammen in eine Klasse geht. Sie schwelgen in Erinnerungen:

Als ich zwölf Jahre alt war, ging ich oft ins Zentrum und sah den Venezianern beim Bummeln zu. Das macht heute keiner mehr. Sporadisch trifft man sich mal, so wie hier auf dem Platz. Früher waren alle Plätze der Stadt voll mit Kindern und ihren Eltern, heute sieht man sie nur noch ganz vereinzelt.“

Matteos Großeltern gingen zum Spazieren noch auf den Markusplatz – unvorstellbar heute.

Eine Frau von Mitte 30 kommt hinzu. Sie ist keine Freundin des Massentourismus, gibt aber zu bedenken, dass halb Venedig von ihm lebt. Sie selbst käme nicht über die Runden, würde sie nicht eine kleine Ferien-Wohnung tageweise vermieten:

Für mich ist das ein Widerspruch. Auf der einen Seite ruinieren wir unsere Stadt, andererseits ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten, ich erlebe es ja am eigenen Leib und finde keinen Ausweg.“

Massimo Brunzin nickt und schaut den Kindern beim Spielen zu. Einen Ausweg aus der Spirale zu finden, in der Venedig steckt, gelingt vielleicht erst der nächsten Generation.“

https://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-die-touristen-5-5-der-stadt-fehlen-die-kinder.922.de.html?dram:article_id=399773

 

Entwicklungen der letzten Jahre

 

Teilweise war die Situation schon schlimm genug. Drastisch verschärft wurde sie durch Billigflieger, Billigreisen auf Kreuzfahrtschiffen und Möglichkeiten der Selbstvermarktung in den sozialen Medien und vor allem Home Sharing wie mit Airbnb.

Die „tz“ im Jahr 2017: „Gebucht wird über Online-Plattformen im Internet wie Airbnb. Deren Geschäft floriert. Etwa 9.000 Unterkünfte werden nach Angaben von Unternehmenssprecherin Isabelle von Witzleben derzeit in München angeboten. Im Jahr 2016 stieg die Zahl der Angebote um 35 Prozent. In Hamburg sind es zum Vergleich rund 7.000 Unterkünfte, in Berlin 22.000, in Paris mehr als 60.000. Wie rapide dieser Markt wächst, zeigt ein Blick in die Welt: Seit 2008 sind 160 Millionen Menschen über Airbnb verreist, davon allein 80 Millionen 2016. Im Vorjahr gab es in München 200.000 Gästeankünfte, die eine Unterkunft über Airbnb gebucht haben. Die Münchner selbst sind auch sehr reiselustig. 300.000 Buchungen von Münchnern gab es in anderen Städten über Airbnb.

Update vom 14. November 2018: Die Zahlen zeigen deutlich, dass Medizin-Touristen in München die Mieter stark verdrängen.

Das Vermietungsprinzip ist simpel: Über die Internet-Plattform des Anbieters können Reisende, die im Urlaub oder auf Geschäftsreise München besuchen, eine Unterkunft bei Privatleuten buchen. Die „Home Sharer“ stellen gelegentlich ihre selbst bewohnte Wohnung zur Verfügung, wenn sie auf Dienstreise oder im Urlaub sind. 97 Prozent des Übernachtungspreises, den der Gastgeber selbst festlegt, verbleiben beim Vermieter, drei Prozent Provision bei Airbnb.

Die meisten Personen vermieten einzelne Zimmer. Aus unterschiedlichen Motiven …

Von 4.000 Wohnungen in der Stadt, die dauerhaft und damit unerlaubterweise an Touristen untervermietet werden, geht das Sozialreferat aus.“

https://www.tz.de/muenchen/stadt/immer-mehr-airbnb-vermietungen-in-muenchen-sind-gruende-8202391.html

 

Ca. 4.000 Wohnungen wurden also auf diesem Weg dem Wohnungsmarkt allein in München entzogen. Diese Wohnungen fehlen und machen die Mieten für dauerhaft in München Lebende noch teurer.

Da es sich bei den Airbnb-Kunden meistens um jüngere Menschen handelt, interessiert es sie eher wenig, wo sie gerade sind. Hauptsache, sie können Party machen. Und da geht es nicht immer gesittet zu. Vor allem dann nicht, wenn Junggesellen-Abschied gefeiert wird.

Die Nachbarn der so vermieteten Wohnungen sind nicht zu beneiden, wenn über, unter oder neben ihnen jede 2. Nacht gefeiert, gegrölt und gekotzt wird.

Wenn es, je nach Stadt oder Region eine touristische „Saison“ gibt, heisst es für viele Mieter, dass sie sich für etwa ein halbes Jahr eine überteuerte Wohnung weit außerhalb suchen müssen, bis die Touristen wieder abgezogen sind – es ist für den Vermieter lukrativer, seine Wohnung kurzfristig an Touristen zu vermieten als dauerhaft an Einheimische.

Unabhängig von Alter oder Art des Touristen, hat der überdimensionierte Massentourismus zur Folge, dass die Geschäfte sich immer mehr dem touristischen Bedarf zuwenden und immer weniger für die Einheimischen da sind, die für oft banale Sachen außerhalb der Stadt fahren müssen. „Schnell“ mal einen Espresso trinken, ist auch nicht mehr möglich, da viel zu teuer und viel zu viele Touristen mit oft ungehobeltem Benehmen drum herum.

Die schmeissen auch rücksichtslos ihren Müll auf den Weg.

Für die Einheimischen werden Miete, Lebensmittel, Gastronomie immer teurer und die Lebens-Qualität leidet immer mehr.

 

Ganz oben

 

In seinem ersten Beitrag im Jahr 2013 ging der Wurm kurz auf die Situation am Mount Everest ein, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/17-der-berg-ruft.html . Mittlerweile hat sich die Situation deutlich verschärft.

Frederico Füllgraf: „„Ich kann immer noch nicht glauben, was ich dort oben gesehen habe”, erzählte der kanadische Abenteuer-Filmemacher Elia Saikaly Ende vergangenen Mai dem britischen The Guardian über die letzten Stunden seines Aufstiegs. „Tod. Gemetzel. Chaos. Warteschlangen. Leichen auf dem Weg und in Zelten, im Lager 4 Menschen, die ich zum Umkehren bewegte und die am Ende starben. Leute, die in die Tiefe gesaugt werden. Über Körper gehen. Alles, was Sie in den sensationellen Schlagzeilen lesen, spielte sich in unserer Gipfelnacht ab“, empörte sich Saikaly über Bergsteiger, die kaltblütig über Leichen stolperten. In einem Satz: über die Verrohung und Entmenschlichung auf der Bühne, auf der das Everest-Fieber seinen Preis fordert.

Niemals zuvor hatte der Everest den Medien ein Bild vermittelt wie bei Eröffnung der 2019er Saison: Ein Stau hunderter Bergsteigerinnen und Bergsteiger aus aller Welt versuchte auf dem schmalen letzten Aufstiegsgrat zum Gipfel die Balance zu halten; einen engen Zentimeter vom Absturz in den Abgrund entfernt. Ihnen auf der Spur folgten mindestens weitere 600 Gipfelanwärter.“

https://www.nachdenkseiten.de/?p=52649

Der „Freeman“ schreibt: „Alleine in diesem Jahr sind 10 Menschen beim Besteigen des Mount Everest gestorben. Fast alle vor wenigen Tagen, denn es herrscht Hochsaison am höchsten Berg der Welt. Das folgende Foto zeigt was auf dem Gipfel los ist, eine lange Schlange an Bergsteigern, die im Stau stehen, um ein Selfie auf 8'848 Meter zu machen und diesen Punkt von ihrer "Löffelliste" streichen zu können.

Eine Besteigung des Everest scheint für Jedermann der genug Geld zahlt möglich zu sein. Das perverse an diesem Statusymbol ist, zwei Menschen sind während sie im Stau standen gestorben und keiner hat etwas dagegen getan.

Was will man auch in der Todeszone über 8'000 Meter machen, wo man mit sich selber beschäftigt ist, da der Sauerstoffmangel einem die Besinnung nimmt und man langsam stirbt?

Was passiert mit den Toten? Sie werden liegen gelassen oder man wirft sie den Berg hinunter, wenn sie ein Hindernis darstellen.

Der Weg zum Gipfel ist links und rechts mit den Leichen von zahllosen Bergsteigern übersät, denn die bleiben meistens einfach unter Eis und Schnee begraben wo sie sterben.

Ein Abtransport ins Tal ist viel zu aufwändig und zu gefährlich und Rettungshelikopter zur Bergung können auf dieser Höhe nicht fliegen.

Das Foto zeigt die Leiche von "green boot" wie er genannt wird, von Tsewang Paljor, die ein Meilenstein auf der nordöstlichen Hauptroute geworden ist und man daran vorbeiläuft, durch die Kälte konserviert.

Ist schon schockierend was man am Mount Everest erlebt, den Tod ständig vor Augen. Für was? Nur um danach allen daheim ein Selfie zeigen zu können, man war dort oben?

Was auch schockiert ist der ganze Abfall der am Mount Everest liegt. Jede Besteigung benötigt Tonnen an Material, was zu den Basislagern hochgetragen wird.

Nach Gebrauch bleiben die Zelte, Schlafsäcke, Lebensmittel, Gas- und Sauerstoffflaschen, Kleidung und der menschliche Kot usw. als Müll einfach liegen.

Dabei rühmen sich die Bergsteiger doch, sie würden die Natur über alles lieben und deshalb die Anstrengung auf sich nehmen.

Die meisten sind halt auch nur Heuchler und Egoisten, die sich nicht um ihren Dreck den sie hinterlassen kümmern.

Deshalb haben die nepalesischen Behörden die Regel aufgestellt, jeder Bergsteiger muss mindestens 8 Kilo Müll wieder zurückbringen. Es gibt auch Aktionen der Tourorganisatoren, den Müll einzusammeln und herunter zu tragen.

Ganz schlimm ist der menschliche Kot und Urin, denn die Landschaft dient als Toilette. Dazu kommt, auf dieser Höhe verwest das Zeug nicht und verschwindet nicht.

Dadurch werden die Gletscher verunreinigt, welche die Gemeinden rund um den Berg mit Trinkwasser versorgen. Es macht auch Kletterer krank, wenn sie in den Lagern Schnee schmelzen, um Wasser zu trinken.

Was am Mount Everest passiert, spiegelt die ganze Perversion unserer westlichen Gesellschaft wieder, voller ICH, ICH und ICH!!!

Narzissmus ist eine Volkskrankheit geworden, eine Persönlichkeitsstörung, die sich durch einen Mangel an Empathie, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und gesteigertes Verlangen nach Anerkennung ausdrückt.

Dass es einen Stau am Gipfel gibt, um das ultimative Selfie zu schiessen, dass Menschen dabei sterben und links liegen gelassen werden, dass die Bergsteiger über die Leichen der toten "Kameraden" klettern, um zum Gipfel zu gelangen, und dann einen riesen Müllberg hinterlassen, wenn sie wieder herunter kommen.

Von den ca. 5'000 die bisher versucht haben, den höchsten Berg der Welt zu besteigen, sind 306 gestorben. Die letzten zwei gestern, den 24. Mai. Kevin Hynes aus Irland und Druba Bista aus Nepal, beide an Höhenkrankheit.

Einen Tag vorher starb der Österreicher Ernst Landgraf (65) an Überanstrengung auf 8'600 Meter, nachdem er den Gipfel erreicht hatte und im Abstieg begriffen war.

Um einen Punkt von ihrer "Löffelliste" streichen zu können geben sie dabei den Löffel ab.

Neben dem Leben, was kostet es auf den Mount Everest zu steigen? Mindestens 40'000 Euro und die Luxusvariante über 100'000 Euro.

UPDATE: Während ich diesen Artikel geschrieben habe ist der 11. Bergsteiger dieser Saison am Everest gestorben. Nachdem er den Gipfel erreicht hatte starb der Brite Robin Fisher (44) an Erschöpfung 150 Meter darunter.

Mit dem jüngsten Todesfall hat die Zahl der Todesopfer auf den Bergen über 8'000 Meter im Frühjahr 21 erreicht. In dieser Saison starben 11 Menschen am Mount Everest, 4 am Mount Makalu und 3 am Mount Kanchenjunga sowie je einer am Mount Lhotse, am Mount Annapurna und am Mount Cho Oyu bis heute.“

http://alles-schallundrauch.blogspot.com/2019/05/stau-am-everest-zeigt-perversion-der.html

Aber auch ganz unten geht‘s „heiss“ her: noch nicht mal die Tiere können sie in Ruhe lassen. Einerseits wurden viele Nationalparks überhaupt erst für die Touristen ins Leben gerufen, andererseits sind viele davon mit Touristen überschwemmt, so dass die Tiere oft nicht mehr ihr natürliches Verhalten zeigen können.

 

Der Tourist

 

Kultur- und Natur-Touristen, die sich mit ihren Reisezielen auseinandersetzen und Interesse daran haben, sind meistens überhaupt kein Problem. Neben den Einheimischen ärgern auch sie sich über jene Massen an Touristen, denen es im Grunde egal ist, wo sie gerade sind, Hauptsache, sie haben ihren Spass. Das ist im Grunde der gleiche Typ Mensch, der Kommunikation als Austausch von Emotionen versteht, dem der Inhalt des Gespräches aber zur Gänze egal ist. Hauptsache, mensch versteht sich und hat seinen Spass. Siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/313-missachtung-des-gesprochenen-wortes.html

Warum sind die dann überhaupt an diesem einen Ort, der sie überhaupt nicht interessiert? Warum in dieser einen Ausstellung, warum an diesem Sport-Ereignis, warum an diesem Show-Event, warum an diesem großen Fest?

Zum Einen, weil es ihnen von den entsprechenden Medien aufgeschwatzt wird, einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Ereignis gesehen haben zu müssen, zum Andern, weil sie mit sich selbst nicht zurechtkommen und gezwungen sind, etwas machen zu müssen, damit weder Langeweile noch Gedanken an den Alltag aufkommen. Und dann wird eben das gemacht, was alle anderen auch machen.

Den Ausdruck „von der Löffelliste streichen“, den der „Freeman“ gebraucht, gehört da auch dazu. Überhaupt kein Interesse am Ort, den mensch da besucht, aber mensch muss dort gewesen sein.

Halbwegs sympathisch sind da schon wieder jene Bade-Touristen, die weit weg von den Städten sich tagsüber an den Strand legen und nachts in den entsprechenden Clubs Party feiern – normalerweise sind jene Orte auf solche Touristen eingerichtet und daran gewöhnt.

Die Sendereihe „Die Story“ hat mehrere Reportagen mit der Bezeichnung „Kritisch reisen“ gedreht. Mensch sehe und schaudere. Hier der Link zur Mediathek:

https://www1.wdr.de/fernsehen/die-story/uebersicht-kritisch-reisen-100.html

https://www.youtube.com/results?search_query=kritisch+reisen

 

Wege aus dem Dilemma

 

Der Wurm will dem interessierten Touristen nicht sein Erlebnis vermiesen. Er sollte aber darauf vorbereitet sein, was auf ihn zukommt – und oft macht es überhaupt keinen Spass, sich in den unerträglichen Massen bewegen zu müssen. Eine Idee wäre, den gewünschten Ort zu einer bestimmten Jahres- oder sogar Tageszeit zu besuchen, an dem er nicht so überlaufen ist.

Eine der attraktivsten Reise-Regionen weltweit ist die Schweiz, um die der Party-Pöbel jedoch meist einen großen Bogen macht. Hier geht es über den Preis, der abschreckend wirkt. Und dadurch, dass die Schweiz relativ wenig touristische Werbung macht. Auffallend ist das vor allem beim Genfersee, der wg. seiner hohen Attraktivität Sitz vieler bedeutender internationaler Organisationen und auch ansonsten Wohnsitz vieler reicher In- und Ausländer ist. Dort sind Touristen mit unflätigem Benehmen weder notwendig noch erwünscht. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein Top-Ziel für den Interessierten: großer, sehr, sehr schöner See mit hohen Bergen drumherum, Palmen am Ufer (vor allem in Montreux) und kulturell sehr interessant. Siehe http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/europa/schweiz/genfersee/schweizer-teil.html

Über den Preis regelt es auch Botswana, das für Pauschal-Touristen ausschließlich hochpreisige Angebote anbietet.

Ansonsten werden nur eine bestimmte Anzahl von Touristen ins Land (etwa Kuba oder Saudi-Arabien) oder auch nur zu einem bestimmten Punkt (wie die Alhambra in Granada) gelassen oder Eintrittsgelder für das Betreten der Stadt verlangt (Venedig wird das wohl machen). Verbote, mit dem Auto oder dem Bus in die Stadt zu fahren bzw. überteuerte Parkplätze (etwa Monaco) sind ein weiteres Mittel.

Ein drastisches Mittel zu zeigen, dass Touristen im Land nicht willkommen sind, sind Anschläge mit tödlichem Ausgang. Etwa im Jemen 2008 oder auf der Insel Bali 2002.

Für Europa hat der Wurm diese Erwartungen nicht. Aber es wird verstärkt zu Protesten der betroffenen einheimischen Bewohner kommen.

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm