Butterwegge

So schön kann nur ein Priester reden: „Wir denken eben nicht gerne daran, dass es heute in unserer Mitte wieder Kriegsversehrte geben kann. Menschen, die ihren Einsatz für Deutschland mit ihrer seelischen oder körperlichen Gesundheit gezahlt haben. Und noch viel weniger gerne denken wir daran, dass es wieder deutsche Gefallene gibt. Das ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“

Ab der 23. Minute:

 

 

Für einen Wurm schwer zu ertragen ist, dass unsere Gesellschaft so glückssüchtig ist, dass sie Joachim Gauck für diese Worte nicht verprügelt hat.

Positiv wiederum ist, dass Joachim Gauck in seiner Funktion als Bundespräsident nicht länger zu ertragen ist. Neuer Präsident wird Frank-Walter Steinmeier. Der hat zwar etwas mehr Kreide gefressen, steht aber im Grunde für die gleichen Inhalte: weiterer Sozialabbau, weitere Kriegshetze.

Die Partei Die Linke hat als Bundespräsidenten-Kandidat Christoph Butterwegge aufgestellt. Auch, wenn er keine Chance hat, tatsächlich gewählt zu werden, ist er eine sehr gute Wahl: wie kaum ein anderer steht Christoph Butterwegge für soziale Gerechtigkeit in diesem Lande.

 

Hier ein Interview mit „Kontext“ mit Vorstellung von Christoph Butterwegge:

„Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln gelehrt. Zuletzt sind seine Bücher "Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?" (2015), "Kritik des Neoliberalismus" (2016) und "Armut" (2016) erschienen. Am 12. Februar bewirbt er sich als Kandidat der Partei Die Linke um das Amt des Bundespräsidenten. Damit habe er, sagt der 66-Jährige, zumindest mehr Aufmerksamkeit für sein Thema bekommen als als Wissenschaftler.

Herr Butterwegge, wenn Sie nicht gerade fürs höchste Staatsamt antreten, arbeiten Sie als Armutsforscher. Bekommen Sie mit, wie's den Betroffenen geht?

Zuletzt war ich auf der Weihnachtsfeier des Düsseldorfer Straßenmagazins "fifty-fifty" zu Gast. Dort habe ich Suppe ausgeteilt und mich mit den Obdachlosen unterhalten. Obwohl sie zum Teil sehr verbittert sind, sind viele von ihnen politisch reflektiert. Da wurde mir berichtet, dass sie heute viel stärker unter Repression leiden als vor Hartz IV oder zu jener Zeit, als der Sozialstaat noch intakt und das gesellschaftliche Klima noch nicht so sehr von Konkurrenzdenken und Eiseskälte geprägt war.

Laut der Bundesregierung geht es den Menschen in Deutschland so gut wie noch nie.

Diese Aussage wird dadurch nicht richtiger, dass die Kanzlerin sie ständig wiederholt. Zwar stimmt es, dass sich das Privatvermögen vermehrt. Aber es konzentriert sich in wenigen Händen und die hohen Gewinne für wenige sind nur wegen niedriger Löhne für viele möglich. Jeder vierte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor, also für weniger als 9,30 Euro brutto die Stunde. Dort landen nicht bloß Menschen, die nichts gelernt haben, die faul waren oder die sich in der Schule nicht genug angestrengt haben. Fast drei Viertel haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, mehr als jeder zehnte sogar einen Hochschulabschluss. Ich muss das so deutlich sagen: Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe. Und die Angst vor dem sozialen Abstieg führt dazu, dass Menschen in der Mittelschicht und dem Kleinbürgertum sich politisch nach rechts wenden.

Jetzt profitiert davon mit der AfD ausgerechnet eine Partei, die mit ihrer Steuerpolitik und Streichungen von Sozialleistungen Reiche begünstigen und Arme noch ärmer machen will. Das können Letztere doch nicht wollen.

Ja, gewiss. Trotzdem erweckt die Partei den Eindruck, das Sprachrohr der sogenannten kleinen Leute zu sein. Nicht nur bei sozial Benachteiligten oder Unterprivilegierten gibt es verstärkt das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Jetzt wird von der extremen Rechten ein vermeintlicher Innen-außen-Gegensatz konstruiert, besonders bei dem, was fälschlicherweise Flüchtlingskrise genannt wird. Der verquere Vorwurf lautet: Für uns werden keine Wohnungen gebaut, aber für Flüchtlinge. Wir haben keine Arbeitsplätze, aber die Flüchtlinge will man möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren. So scheint es wenigstens. In Wirklichkeit ist es der extreme Gegensatz von Arm und Reich, der die Probleme verursacht, und nicht die vermehrte Fluchtmigration, auch wenn sie Kosten verursacht und Ressourcen beansprucht. Geld gäbe es genug für alle – nur konzentriert es sich viel zu stark auf wenige Reiche und Hyperreiche.

Wie kommt es denn, dass die ungleiche Vermögensverteilung zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit führt?

Ein Punkt ist sicher, dass eine große Mehrheit die Bundesrepublik immer noch für das Land der Sozialen Marktwirtschaft hält. Das ist zwar bloß ein Kosename für den Finanzmarktkapitalismus, und der frühere Sozialversicherungsstaat wird immer mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat. Aber wer selbst nicht am Abgrund lebt, denkt sich, dass es so schlimm hier eigentlich gar nicht ist. Dann nimmt man das Problem der Spaltung in Arm und Reich oft überhaupt nicht wahr. Falls doch, gilt der Reichtum oft als Belohnung für Anstrengung, Fleiß und Leistung, Armut hingegen als gerechte Strafe für Drückebergerei und Faulenzertum leistungsunwilliger Sozialschmarotzer, die an ihrer Misere selbst schuld sind.

Gab es diese Denke nicht schon immer?

Der verstärkte Einfluss des Neoliberalismus seit der Jahrtausendwende und die Einführung von Hartz IV haben ihm noch mehr Wirkungsmacht beschert. Typisch ist die Art, wie die Armen heute verachtet und verächtlich gemacht werden. Das zeigt sich schon daran, wie würdelos "Hartzer" – diese Bezeichnung allein ist schon eine Beleidigung – im Nachmittagsprogramm der Privatsender dargestellt werden. Und leider hat diese Form des Fernsehens große Auswirkungen auf breite Schichten der Bevölkerung und ihr Weltbild. Übrigens ist die Agenda 2010 medial vorbereitet worden. Bevor sie entstand, gab Gerhard Schröder der "Bild" im April 2001 ein Interview, das die Zeitung mit den fetten Balken "Es gibt kein Recht auf Faulheit" betitelt hat. So wurden die später durch Hartz IV geschurigelten Langzeiterwerbslosen so dargestellt, als hätten sie nichts anderes verdient, als die Daumenschrauben angelegt zu bekommen.

Und kriegt man das wieder raus aus den Köpfen?

Das ist ein riesiges Problem. Dafür müsste schon in den Schulen, besonders in der politischen Bildung vermittelt werden, dass Armut und Reichtum nicht das Ergebnis individueller, persönlicher Leistungen oder Fehlleistungen sind. Man dürfte den Betroffenen nicht länger die Schuld für ihr Schicksal in die Schuhe schieben. Natürlich gibt es Fälle von Leuten, die nicht mit Geld umgehen können oder suchtkrank sind. Das ist aber nicht die Hauptursache für Armut in einer reichen Gesellschaft.

Woran liegt es dann?

Die Mehrheit dieser Menschen wird in Strukturen hineingeboren, aus denen man einfach nicht wieder herauskommt, weil es sich um einen Teufelskreis handelt. Das fängt schon damit an, dass die Bildungschancen sehr stark vom Einkommen des Elternhauses abhängen. Beispiel Hartz-IV-Bezug: Aus armen Kindern werden arme Erwachsene, die dann wiederum arme Kinder bekommen. Dann wachsen sie zwangsläufig in die Altersarmut hinein, besonders wenn das Rentenniveau per Gesetz sinkt und die Altersvorsorge privatisiert wird. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein Randphänomen, sondern um ein Phänomen, das heute Millionen von Menschen in Deutschland betrifft. 15,7 Prozent der Bevölkerung sind laut Daten des Statistischen Bundesamtes schon jetzt armutsgefährdet.

Hier in Stuttgart hat sich jüngst ein Bündnis Grundeinkommen gegründet. Sie halten davon wenig.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ändert nichts an der extrem ungleichen Vermögensverteilung, also der strukturellen Spaltung der Gesellschaft. Außerdem widerspricht es meinem Gerechtigkeitsempfinden, wenn ein Multimillionär genauso viel Unterstützung vom Staat bekommen soll wie ein Müllwerker oder die Bezieherin einer Minirente. 1000 Euro im Monat meinetwegen, wie Götz Werner fordert. Der dm-Gründer will das BGE über eine auf mindestens 50 Prozent angehobene Mehrwertsteuer finanzieren und alle Steuern abschaffen, die ein Unternehmer wie er zahlen muss. Das würde vor allem die Armen treffen, die ihr ganzes Einkommen für den Lebensunterhalt brauchen. Götz Werner hingegen würde nicht bloß sein Milliardenvermögen behalten, sondern müsste auch keine Einkommen-, Kapitalertrag-, Gewerbe- oder Körperschaftsteuer mehr zahlen.

Neben der Werner-Variante gibt es durchaus verschiedene Modelle, wie ein BGE aussehen könnte. Es geht doch um eine gesicherte Grundlage für ein würdevolles Leben.

Gut, das stimmt. Aber mein Vorwurf an die BGE-Befürworter ist auch nicht, dass sie alle wie Götz Werner ein ungerechtes System anstreben. Katja Kipping, die Vorsitzende der Linkspartei, und andere haben zweifellos ganz andere Vorstellungen. Die würden jedoch wohl kaum verwirklicht werden, sondern eher die von neoliberalen Ökonomen wie Thomas Straubhaar aus Hamburg. Der findet das BGE toll, weil man dann keinen Kündigungsschutz, keinen Flächentarifvertrag und keinen Mindestlohn mehr bräuchte. Und am Ende hätten wir einen noch größeren Niedriglohnsektor. Profitieren würden davon Großunternehmer und Spitzenmanager, die derzeit mit dem fadenscheinigen Argument die Werbetrommel für das Grundeinkommen rühren, der Digitalisierungsprozess führe zum Ende der Arbeitsgesellschaft.

Eine soziale Grundsicherung wollen Sie offensichtlich auch.

Ja, aber eine, die dem Namen wirklich gerecht wird. Sie muss bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein, also ohne die Betroffenen entwürdigende Sanktionen auskommen. Statt den Sozialversicherungsstaat, wie wir ihn kannten, mit Hilfe eines steuerfinanzierten Grundeinkommens zu zerschlagen, muss man ihn gezielt weiterentwickeln und durch die Einbeziehung solch finanzstarker Gruppen wie der Selbstständigen, Freiberufler, Beamten, Abgeordneten und Minister auf ein festes finanzielles Fundament stellen. Alle Einkommen sollten verbeitragt werden, also auch Kapitaleinkünfte, Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse. Und die Beitragsbemessungsgrenze muss auf- oder stark angehoben werden, damit die Solidarität nicht bei einem mittleren Einkommen aufhört. Außerdem sind Kapitaleigentümer, Vermögende und Spitzenverdiener wieder stärker zu besteuern.

Ist die aktuelle Steuerpolitik wirklich so schlimm, wie Sie sie darstellen?

Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel, wenn 36 Multimilliardäre in Deutschland so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, mehr als 40 Millionen Menschen. Und gerade die Hyperreichen wurden von den letzten Bundesregierungen systematisch begünstigt, um nicht zu sagen "überprivilegiert", wie sich die Karlsruher Verfassungsrichter bezüglich der Firmenerben ausdrückten. Wenn eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug in den Laden geht und Windeln für ihr Kind kauft, zahlt sie darauf 19 Prozent Steuern. Wenn sich ein Hyperreicher ein Aktienpaket für 30 Millionen Euro kauft, zahlt er darauf keinen Cent Steuern. Zu den Begünstigten gehören beispielsweise Susanne Klatten und Stefan Quandt, das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, mit einem Privatvermögen von 30 Milliarden Euro. Ihnen gehört fast die Hälfte von BMW und allein diese Aktien brachten ihnen letztes Jahr 994,7 Millionen Euro an Dividende ein.

Sehen Sie bei den aktuellen politischen Verhältnissen eine Chance, daran etwas zu ändern?

Ja. Ich hoffe, dass sich die von Martin Schulz entfachte Aufbruchstimmung in der SPD nicht als Strohfeuer erweist. Eine wirkliche, linke Alternative für Deutschland – der Name selbst ist ja genial – wäre eine "Mehrheit diesseits der Union", wie sie Willy Brandt vorschwebte. Und wenn Schulz bis drei zählen kann, weiß er, dass er nur mit der Linken und den Bündnisgrünen Kanzler werden kann. Wir brauchen eine Bundesregierung, die Themen wie die soziale Frage, Steuergerechtigkeit und die Bekämpfung von Armut in den Mittelpunkt rückt. Dann könnte ich mir gut vorstellen, dass hier eine ungeheure Dynamik, eine neue soziale Bewegung entsteht.

Und das klappt mit der Agenda-SPD und den Kretschmann-Grünen?

Leider sieht es so aus, als ob Schulz um die Mitte werben will. Aber fast alle Parteien drängen in die Mitte. Das ist der falsche Ansatz, um Wahlen zu gewinnen. Brandt hat das seinerzeit anders gemacht. Er hat versucht, das politische Spektrum insgesamt nach links zu verschieben. Das hat die Leute begeistert und mitgerissen, weshalb die SPD nach dem "Willy-Wahlkampf" 1972 mit 45,8 Prozent auch ihr bestes Wahlergebnis aller Zeiten eingefahren hat. Das müsste sie jetzt wieder tun: Mut beweisen und Rot-Rot-Grün wagen.

Wenn Sie jetzt am Sonntag die Gelegenheit haben, vor einem großen Publikum zu sprechen...

Die habe ich leider nicht. Die Bundesversammlung wählt den Präsidenten ohne Aussprache. Norbert Lammert hält eine Rede als Hausherr und Versammlungsleiter, danach wird gewählt und schließlich die Nationalhymne gesungen. Da hätte ich gerne eine Ruck-Rede gehalten.

Dann machen Sie es doch an dieser Stelle.

Ich halte es mit Antonio Gramsci, dem Begründer der Kommunistischen Partei Italiens. Der hat sich als Pessimist des Verstandes und als Optimist des Herzens bezeichnet. Wenn ich mir die Weltlage, Krisen, Kriege und Bürgerkriege angucke, befürchte ich, dass wir auf einen neuen Kalten Krieg zusteuern und dass Not und Elend auf der Welt zunehmen. Aber wenn man sich ins Private zurückzieht, weil man glaubt, chancenlos zu sein, wird man auch nichts verändern. Ich hege aber die Hoffnung, dass wir das Schlüsselproblem der sozialen Ungerechtigkeit lösen. Da bekenne ich mich als Weltverbesserer und Gutmensch. Soll ich meinen Kindern eine schlechtere Welt hinterlassen? Nein, ich will sie im Kleinen gerechter, sozialer, solidarischer und friedlicher machen. Vielleicht gelingt das den Kindern später im globalen Maßstab.“

http://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/306/die-ungerechtigkeit-schreit-zum-himmel-4183.html

 

Hier geht’s zur Homepage von Christoph Butterwegge mit zahlreichen Links, Texten und Videos:

http://www.christophbutterwegge.de/index.php

 

Sehr schön ist eine Sendung von „alpha-Forum“ vom Januar 2016, wo er im Gespräch mit Rigobert Kaiser zu sehen ist. Es bietet einen exzellenten Eindruck von Gesellschaft und Politik der letzten 60, vor allem der letzten 20 Jahre:

http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/christoph-butterwegge-sendung-100.html

Dankenswerterweise bietet „alpha-Forum“ das Gespräch zum Nachlesen an. Hier ist es:

Kaiser: Herzlich willkommen zum alpha-Forum. Die deutsche Arbeitswelt und wohl auch die deutsche Gesellschaft haben sich in den letzten gut zehn Jahren grundlegend verändert. Auslöser dafür war die Agenda 2010, die damals von Bundeskanzler Schröder angeregt wurde, und die damit verbundenen Hartz-Gesetze, die vielen verkürzt als Hartz IV bekannt sind, was aber die Wirklichkeit nicht ganz trifft. Dieses Thema ist nach wie vor umstritten und dies nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft. Wir haben heute einen Studiogast, der sich mit diesem Thema bestens auskennt, nämlich den Politikwissenschaftler Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln. Schön, dass Sie den Weg zu uns nach München gefunden haben.

Butterwegge: Gern.

Kaiser: Herr Professor Butterwegge, die meisten Menschen sagen nur "Hartz IV", obwohl mit den Hartz-Gesetzen insgesamt vier Gesetze gemeint sind, die damals verabschiedet wurden. Würden Sie zehn Jahre danach sagen, dass wir deswegen einen Grund zum Feiern haben, dass das ein Fortschritt in unserer Gesellschaft war? Oder würden Sie eher sagen, dass das ein Rückschritt gewesen ist?

Butterwegge: Es war insofern ein Rückschritt, als einerseits sehr viel mehr Druck auf die von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen ausgeübt wird, und als andererseits dieses Gesetzespaket, das im Volksmund "Hartz IV" heißt, eigentlich aber "Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", eben auch die gesamte Gesellschaft verändert hat. Vor allem wurde Druck ausgeübt auf die Belegschaften, auf die Betriebsräte, auf die Gewerkschaften, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne in Kauf zu nehmen, weil nämlich immer das Damoklesschwert von Hartz IV über den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schwebt. Dieses Damoklesschwert bedeutet, dass meistens bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die Höhe der Sozialhilfe unmittelbar auf Fürsorgeniveau herabsinkt. Und das ist für jemanden, der lange Jahre gearbeitet hat, der z. T. sogar jahrzehntelang eingezahlt hat in die Arbeitslosenversicherung, ein tiefer Fall, der da zu verkraften ist. Diese Vorstellung des sozialen Abstiegs hat sich durch Hartz IV bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet. Und Hartz IV hatte natürlich auch massive Auswirkungen auf die Armut in Deutschland. Denn es ist ja ganz klar, wenn man auf diese Weise einen breiten Niedriglohnsektor schafft – und das war für mich die Absicht der Agenda 2010 und auch der Sinn der Hartz-Gesetze: durch Lohndumping die Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger zu machen –, wenn man also durch diese Maßnahmen die Löhne drückt, dann bedeutet das natürlich einerseits hohe Gewinne für die Unternehmen und es bedeutet andererseits für viele Familien, dass sie sich massiv einschränken müssen. 1,46 Millionen Kinder unter 15 Jahren leben heute in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die man landläufig "Hartz IV-Haushalte" nennt. Das heißt, sie bekommen einen Regelsatz, der gerade mal ausreicht, um nicht zu verhungern, der ihnen aber nicht ermöglicht, auch mal ins Kino oder ins Theater oder in den Zirkus zu gehen oder die Kirmes zu besuchen, denn all das kostet ja in unserer Konsumgesellschaft sehr viel Geld. Dieses Geld haben aber die von Hartz IV Betroffenen nicht. Das bedeutet für mich, dass da eine große Zahl von Menschen sozial abgehängt worden ist. Wir haben heute mehr und mehr eine Gesellschaft, die sich spaltet in Armut auf der einen Seite und in Reichtum auf der anderen Seite, der sich ständig vermehrt und sich zusehends auf immer weniger Hände konzentriert.

Kaiser: Die Befürworter der Agenda 2010, also die Befürworter dieses Gesetzespaketes sagen aber, dass dieses Gesetz mutig und notwendig gewesen ist und feiern dieses Gesetz. Es gab ja jetzt doch wirtschaftlich schwierige Jahre, also die Jahre 2007, 2008 der Wirtschaftskrise. Deutschland hat es in dieser Zeit, als in anderen europäischen Ländern die Arbeitslosenquoten nach oben gegangen sind, tatsächlich geschafft, die Arbeitslosenquote zu drücken und auf unter drei Millionen Arbeitslose senken zu können. Würden Sie sagen, dass das nur ein Scheinerfolg ist?

Butterwegge: Das ist insofern ein Scheinerfolg, als das nichts mit Hartz IV zu tun hat und mit der Agenda 2010. Wissen Sie, wenn in Brandenburg oder in Schleswig-Holstein gleichzeitig die Zahl der gesichteten Störche und die Anzahl der neugeborenen Kinder steigt, dann zieht doch auch kein Mensch daraus den Schluss, dass der Klapperstorch die Babys bringt. Hier aber ziehen alle diesen Schluss, da die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen zurückging. Das war ja in den letzten Jahren zweifellos der Fall, aber das waren eben auch z. T. statistische Taschenspielertricks, die der Regierung gedient haben, denn man hat z. B. schnell mal 100.000 Arbeitslose aus der Statistik entfernt, indem man gesagt hat: "Jeder Arbeitslose, der zu einem privaten Arbeitsvermittler geht, fällt aus der Arbeitslosenstatistik heraus." Und das, obwohl so jemand natürlich nach wie vor arbeitslos ist. Dass die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen gesunken ist, leugne ich gar nicht. Was ich aber leugne, ist, dass Hartz IV der Verursacher dieser Tendenz ist. Stattdessen sind das eben einmal bestimmte statistische Maßnahmen, die man ergriffen hat. Zum anderen sind gerade in dieser Weltwirtschafts- und Finanzkrise Maßnahmen ergriffen worden – denken Sie nur einmal an die beiden Konjunkturpakete, daran, dass z.B. das Kurzarbeitergeld verlängert worden ist, dass es diese Abwrackprämie gab usw. –, die ganz im Unterschied zu Hartz IV bedeutet haben, dass der Staat viel Geld in die Hand genommen hat, um z. B. auch die öffentlichen Investitionen zu beleben, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dadurch ist die Krise in der Bundesrepublik Deutschland nicht so stark zum Ausdruck gekommen wie in vielen Nachbarländern – aber doch nicht durch Hartz IV oder die Agenda 2010. Diese Konjunkturpakete waren neokeynesianische Maßnahmen: Der Staat hat investiert und Geld in die Hand genommen. Bei Hartz IV ist genau das Gegenteil passiert: Man hat, um willige und billige Arbeitskräfte zu bekommen, Druck ausgeübt und vor allem die Leistungen gekürzt. Ich bezeichne die Tendenz, die sich hier abzeichnet, als den Wandel vom Sozialstaat zum Minimalstaat. Die Leistungen sind gekürzt worden durch Hartz IV und man hat das bemäntelt, indem Gerhard Schröder von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gesprochen hat. In Wirklichkeit ist da aber gar nichts zusammengelegt worden, sondern die Arbeitslosenhilfe ist schlichtweg abgeschafft worden. Die Arbeitslosenhilfe war jedoch eine Lohnersatzleistung gewesen, durch die die Langzeitarbeitslosen ihren Lebensstandard noch halbwegs sichern konnten. Das, was mit Hartz IV geschaffen und neu eingeführt worden ist, nämlich das Arbeitslosengeld II, ist eben keine Lohnersatzleistung mehr, die den Lebensstandard sichert, sondern nur mehr eine die Existenz sichernde Lohnergänzungsleistung. Und 1,3 Millionen Menschen sind gar nicht arbeitslos, beziehen aber als sogenannte Aufstocker trotzdem das Arbeitslosengeld II, das ihren zu niedrigen Lohn ergänzt. Seit 2005 hat der Staat 75 Milliarden Euro für diese Aufstocker ausgegeben. Man könnte aber auch kritisch einwenden – und ich mache das selbstverständlich so –, dass diese 75 Milliarden nichts als eine Subvention für Unternehmen waren, die Lohndumping betrieben haben. So etwas macht eine Gesellschaft natürlich unfriedlicher. Deswegen bin ich der Auffassung, wir leben heute in einer anderen Republik, als wir sie vor 2005, vor den Hartz-Gesetzen und vor allem vor Hartz IV hatten.

Kaiser: "Fördern und Fordern", das ist ja eine der Thesen, der Schlagzeilen, die mit Hartz IV verbunden wird. Ist das tatsächlich so eingetreten? Kann man wirklich sagen, dass jemand, der nach einem Jobverlust oder auch durch private Fehlschläge in diese Lage geraten ist, vom Staat tatsächlich noch gefördert wird? Oder gibt man sich damit zufrieden und speist diese Menschen damit ab? Denn solange die Menschen ruhig bleiben, ist dann auch vermeintlich alles in Ordnung.

Butterwegge: Dieses "Fördern und Fordern" war ein wohlklingender Werbeslogan von Gerhard Schröder, um seine Gesetze der Öffentlichkeit verkaufen zu können. Fakt ist: Gefördert wird seit der Einführung der Hartz-Gesetze immer weniger. Die Hartz-Kommission ist im Februar 2002 eingesetzt worden und das Gesetz Hartz IV ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. In diesen drei Jahren ist die Zahl derjenigen Arbeitslosen, die im Sinne einer beruflichen Weiterbildung, einer Umschulungsmaßnahme gefördert wurden, um zwei Drittel gesunken. Man hat also das schiere Gegenteil dessen gemacht, was man gegenüber der Öffentlichkeit mit Hartz IV in Verbindung gebracht hat. Man hat nicht gefördert, sondern man hat den Druck auf die Betroffenen erhöht, denn sie müssen nun jede Stelle annehmen. Übrigens ist es auch ganz typisch, dass wir heute nur noch von Jobs sprechen: Auch das war eben mit Hartz IV verbunden. Früher hat man von Stellen gesprochen oder von einem Arbeitsplatz oder von einem Beruf. Davon spricht heute niemand mehr, sondern es geht darum, dass die Betroffenen jeden Job annehmen müssen, und zwar auch dann, wenn er weder ortsüblich noch tariflich entgolten wird. Natürlich ist es ein enormer Druck, dass das Jobcenter Sanktionen ergreifen kann, wenn man so einen Job nicht annimmt oder eine Maßnahme wie z. B. ein Bewerbungstraining. Da gibt es dann Sanktionen. Wer solchen Druck macht auf die Betroffenen, erreicht natürlich den Effekt – und das war meiner Meinung nach auch der Sinne der ganzen Sache –, dass für den Niedriglohnsektor ständig für neuen Nachschub gesorgt wird. Inzwischen haben wir 24,3 aller Beschäftigten in diesem Niedriglohnsektor!

Kaiser: Das hier ist Ihr neuestes Buch zu diesem Themenkomplex, es trägt den Titel "Hartz IV und die Folgen". Ich glaube, der Untertitel: "Auf dem Weg in eine andere Republik?", ist eigentlich der wichtigere Titel. Inwieweit hat sich also die Republik verändert? Sie haben es ja schon angedeutet: Der Niedriglohnsektor ist größer geworden. Glauben Sie, dass in Zukunft noch stärker der Weg in eine andere Republik eingeschlagen wird, dass dieser Weg noch extremer werden wird?

Butterwegge: Mit "andere Republik" meine ich nicht nur, dass sich unser Land stärker sozial spaltet. Nicht nur durch Hartz IV hat sich ja der Reichtum einiger Weniger vermehrt, wobei natürlich niedrigere Löhne auf der anderen Seite erst recht hohe Gewinne bedeuten. Auch das hat also dazu beigetragen, dass sich auf der einen Seite der Reichtum vermehrt und auf der anderen Seite die Armut bis in die Mittelschicht hinein vordringt und sich dort verfestigt. Nein, mit "andere Republik" meine ich natürlich darüber hinaus, dass sich das Land nicht nur im Hinblick auf die materielle Situation vieler Familien verändert hat, sondern ich meine damit, dass sich das Land auch mental verändert hat. Die Verachtung gegenüber den Arbeitslosen ist enorm gewachsen.

Kaiser: Das sind die "Hartzer".

Butterwegge: Genau, im Volksmund werden die Arbeitslosen heute abwertend "Hartzer" genannt. Ein Kapitel des Buches behandelt auch die Medien und das Thema, wie diese die Betroffenen und eben auch Hartz IV darstellen. Arbeitslose werden heute in den Medien häufig als Drückeberger, als Faulenzer, als Sozialschmarotzer dargestellt. Und so werden diese Menschen ja auch behandelt, nämlich wie Aussätzige. Man könnte hier wirklich von einer sozialen Apartheid sprechen. Das meine ich mit dem Ausdruck "andere Republik": dass wir heute sehr viel stärker, als das früher der Fall war, in unserem Land diese Spaltung haben, durch die diese Menschen abgehängt, abgewertet und im Grunde auch gedemütigt und erniedrigt werden. Wenn z. B. ein Diplomingenieur, der jahrzehntelang gearbeitet hat und eines Tages seinen Arbeitsplatz verliert, dann auf Druck des Jobcenters auch einen Ein-Euro-Job annehmen und einen Parkplatz fegen oder in einer Schule Essen austeilen muss, dann ist das zwar eigentlich nichts Ehrenrühriges, denn es ist ja eine sinnvolle Tätigkeit, an einer Schule Essen auszuteilen, aber für ihn als Betroffenen ist das demütigend, denn er hatte ja studiert, hatte sich qualifiziert. Das meine ich mit dem Ausdruck "andere Republik". Heute werden die sozialen Leistungen runtergeschraubt, aber dieses Land spaltet sich eben nicht nur sozial, sondern es spaltet sich auch politisch. Ich sehe nämlich durch die Agenda 2010 und durch die Hartz-Gesetze auch unsere Demokratie in Gefahr, und zwar deswegen, weil die von Hartz IV Betroffenen kaum noch wählen gehen. In fast allen deutschen Großstädten gibt es nämlich das Phänomen, dass die Wahlbeteiligung in den Nobelvierteln, in den Villenvierteln um über 40 Prozentpunkte höher liegt als in den Hochhausgebieten, in denen die Hartz IV-Betroffenen und die Armen wohnen. Das heißt, die Menschen, die von diesen Gesetzen betroffen sind, sehen sich durch die etablierten Parteien politisch nicht mehr repräsentiert. Das ist also kein Ausdruck von Politikverdrossenheit oder Wahlmüdigkeit, denn das sind nur die Begriffe, die in den Medien, die in der Öffentlichkeit benutzt werden, um den Betroffenen auch noch die Schuld zuschieben zu können nach dem Motto: "Du bist verdrossen, du bist müde!" Aber diese Menschen sind gar nicht "müde", sondern sie sind enttäuscht, sind frustriert – und zwar meiner Meinung nach nicht völlig zu Unrecht. Denn diese Menschen haben das Gefühl, dass von den etablierten Parteien für die Wohlhabenden und Reichen sehr viel gemacht wird. Man muss ja nur einmal an die Erbschaftssteuerreform für Firmenerben denken: Da werden die Erben selbst von großen Konzernen so weit entlastet, dass sie so gut wie überhaupt keine Erbschaftssteuer mehr zahlen müssen. Aber auf der anderen Seite werden die von Hartz IV Betroffenen in den Jobcentern drangsaliert und z. T. auch schikaniert. Deswegen denken diese Menschen dann auch: "Diese Demokratie, so wie sie sich mir darstellt, verdient es nicht, dass ich, dass wir noch wählen gehen! Wir wissen ja auch gar nicht, wen wir wählen sollen." Und es ist ja in der Tat so: Alle etablierten Parteien machen eine Politik im Sinne der Agenda 2010, eine Politik der Hartz- Gesetze, des Sozialabbaus, der sozialen Demontage und der Deregulierung des Arbeitsmarktes, auf dem die Betroffenen eben kaum noch Chancen haben, aus einem prekären Beschäftigungsverhältnis herauszukommen. Denn seit Hartz II gibt es ja diese Mini- und Midijobs. Und mit den ersten Hartz-Gesetzen ist auch der Leiharbeitssektor dereguliert worden, liberalisiert worden.

Kaiser: Denn früher war die Leiharbeit sehr stark begrenzt, zunächst auf drei Monate, dann auf ein Jahr; heute ist sie wohl unbegrenzt.

Butterwegge: Sie war zunächst auf drei Monate begrenzt, heute ist sie unbegrenzt möglich. Wer einmal in dem Bereich der Leiharbeit landet, egal wie qualifiziert diese Person ist, kommt da nie wieder raus. Viele Menschen bei uns im Land meinen völlig zu Unrecht: Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, ist schlecht qualifiziert, hat nichts gelernt, hat sich nicht angestrengt, war nicht fleißig. Aber in Wirklichkeit ist es so, dass drei Viertel derjenigen, die in diesem Sektor arbeiten, einen Berufsabschluss haben, elf Prozent haben sogar einen Hochschulabschluss. Das zeigt doch, dass im Niedriglohnsektor inzwischen auch Menschen landen, die durchaus gut gebildet und ausgebildet sind. Von dort aus haben sie aber kaum mehr eine Chance, sozial aufzusteigen. Das macht die Gesellschaft kälter und ich spreche da in Bezug auf Hartz IV von einer sozialen Eiseskälte, die sich im Land ausgebreitet hat. Das verändert dieses Land natürlich auch im Hinblick z. B. auf mehr Kriminalität, mehr Gewalttätigkeit, mehr Brutalität, was sich in vielen Lebensbereichen ja leider zeigt. Konkurrenz, Leistung, Markt usw.: Diese betriebswirtschaftliche Rationalität wird inzwischen in fast allen Lebensbereichen gefordert. Das erhöht den Druck in der Arbeitswelt, das erhöht das Ellenbogendenken, den Leistungsdruck usw.. Die Menschen stehen heute auch häufig unter einem enormen Zeitdruck, wenn ich z. B. an die Familien denke. All das macht das Leben doch im Grunde genommen weniger lebenswert. Wir müssten daher umgekehrt gerade in einem so reichen Land wie dem unseren alle mitnehmen, wir müssten eine soziale Republik entwickeln. Wir dürfen doch nicht eine Politik fahren, bei der immer nur der Stärkere gewinnt und bei der dann auch noch diese sozialdarwinistische Lehre verbreitet wird, dass der Stärkere auch gewinnen soll.

Kaiser: Aber gehen wir noch einmal kurz in die Vergangenheit zurück: Es ist interessant, dass diese Reform von einer rot-grünen Regierung angeschoben wurde. Denn das, was Sie jetzt geschildert haben, würde man doch ansonsten unter der Bezeichnung "neoliberal" zusammenfassen und eher einer schwarz-gelben Regierung zutrauen. Aber genau das war ja nicht der Fall. Warum war das eine rot-grüne Regierung? War das Gerhard Schröder alleine? Die SPD hat ja nach wie vor ihre Probleme mit diesen Reformen und würde das alles ganz gerne alleine auf die Figur Schröder abwälzen. Aber es war halt schon so, dass die SPD als Partei da mitgestimmt hat.

Butterwegge: Ich bin gegen eine solche Personalisierung, auch wenn ich der Ansicht bin, dass Gerhard Schröder dabei schon sehr wichtig gewesen ist. Ich habe vor 40 Jahren mal mit ihm zusammen Juso-Arbeit gemacht: Damals hatten wir sicherlich einen Grundkonsens, der dann, wie ich es empfunden habe, von seiner Seite aufgekündigt worden ist. Auch die SPD insgesamt hat sich in eine Richtung entwickelt, die mit ihrer Parteitradition, mit ihren Werten der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität meines Erachtens unvereinbar ist.

Kaiser: Seitdem gibt es ja auch Die Linke.

Butterwegge: Ja, das war sicherlich eine Folge davon: die Abspaltung einer Partei, die links von der SPD steht. Weil eben die Modernisierer in der SPD, wie sie sich selbst bezeichnet haben, und die Reformer á la Gerhard Schröder und Wolfgang Clement Leute gewesen sind, die in der SPD einen Kurs durchgesetzt haben, den auch ich als neoliberal bezeichnen würde. Ich spreche daher von einer neoliberalen Hegemonie, also von einer öffentlichen Meinungsführerschaft des Marktradikalismus in dieser Zeit kurz nach der Jahrtausendwende. In dieser Zeit damals wollte übrigens Angela Merkel auch sehr neoliberal eine Kopfprämie einführen in der Krankenversicherung und Friedrich Merz, der damalige Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, wollte eine "Steuererklärung auf dem Bierdeckel", bei der möglichst alle denselben Steuersatz zahlen. Es privilegiert natürlich die Reichen und Superreichen immer weiter, wenn man die Steuern angleicht und keinen so progressiven Steuertarif hat, bei dem die hohen Einkommen und die Vermögen stark besteuert werden. Das war diese Zeit, in der alles auf die Stärkung des Wirtschaftsstandorts ausgerichtet war. Ich nenne das übrigens einen neoliberalen Wettbewerbswahn. Diese Ideologie breitete sich in der gesamten Gesellschaft aus. Ich habe das auch an der Hochschule erlebt: Von da an spielte z.B. das Einwerben von Drittmitteln von Firmen oder von Stiftungen eine immer stärkere Rolle dabei, wie man als Hochschullehrer bewertet wird. Da geht es also nicht mehr um das Engagement für die Studierenden, nicht mehr darum, dass man an der Universität kritisches Denken fördert …

Kaiser: Es ist mehr Wettbewerb eingetreten.

Butterwegge: Ja, es ging immer mehr um Wettbewerb und letztlich nur noch darum, möglichst viel Fördergelder zu bekommen, Anträge zu schreiben dafür usw.. Aus meiner Sicht hat sich da vieles zum Schlechten verändert, denn unter diesem Konkurrenzdruck verhärtet sich eine Gesellschaft: Sie wird nicht humaner, solidarischer und sozialer, wie ich es mir wünschen würde. Das haben damals sehr wesentlich Gerhard Schröder und seine rot-grüne Koalition mit bewirkt, indem sie im Grunde eine Politik gemacht haben, die man vorher wahrscheinlich bei der FDP verortet hätte.

Kaiser: Ihre Ansichten sind politisch ganz klar links einzustufen, auch links von der SPD. Sie haben auch eine Nähe zur Linkspartei. Sie waren mal in der SPD, sind aber nie in die Linkspartei eingetreten. Und Sie schreiben, wie ich in der Vorbereitung gelesen habe, schon auch hin und wieder für marxistische Zeitungen. Ihr persönliches Weltbild ist …

Butterwegge: Ich war nicht nur einmal in der SPD, sondern ich war zweimal in der SPD: Einmal wurde ich ausgeschlossen und einmal bin ich selbst ausgetreten. Ausgeschlossen wurde ich damals als 21-jähriger Juso, der die Gesellschaft natürlich grundlegend verändern wollte. Das war in der SPD damals aber nicht angesagt. In der SPD hat man Leute wie Thilo Sarrazin und Wolfgang Clement, der Wahlkampf für die FDP gemacht hat, nicht hinausgeworfen, aber einen Juso, der damals zugegebenermaßen ganz lange Haare hatte und sicherlich sehr aufmüpfig gewesen ist, hat man …

Kaiser: Sie haben damals Helmut Schmidt und dessen Politik lautstark kritisiert.

Butterwegge: Als er 1974 Kanzler wurde, habe ich ihn kurz danach kritisiert. Ich habe damals in einem Artikel in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" vorausgesagt, dass Helmut Schmidt als Kanzler im Grunde das Bett vorbereiten würde, in das sich dann die Union legen könnte. Und in der Tat, 1982, als Helmut Kohl Kanzler wurde, demonstrierten sogar die Gewerkschaften gegen die Regierung von Helmut Schmidt. Das war etwas, was ich vorausgesagt habe. Denn auch Helmut Schmidt war ja schon ein Kanzler, der im Grunde nicht in dieser sozialdemokratischen Tradition stand, wie ich sie vorhin beschrieben habe, sondern eben auch eher wirtschaftsfreundlich agierte. Er hat z. B. auch die Raketenaufstellung in der Bundesrepublik betrieben, d. h. er hat damit etwas gemacht, was damals viele Teile der SPD bekämpft haben. Ich jedenfalls wurde ausgeschlossen. Nach einigen Jahren bin ich aber wieder eingetreten in die SPD, um dann im Jahr 2005 nach den Hartz-Gesetzen und der Bildung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD wieder auszutreten. Ich bin nicht in Die Linke eingetreten, weil ich mich eigentlich nach wie vor als linker Sozialdemokrat fühle. Aber eher als bei Sigmar Gabriel habe ich dann doch bei Gregor Gysi Elemente von dem gefunden, was die SPD über 150 Jahre an Programmatik mit sich herumgetragen hat und was mich in jungen Jahren politisch geprägt hat. Kurz nach der 68er-Zeit bin ich natürlich von der Reformpolitik von Willy Brandt begeistert gewesen, und 1972 im "Willy wählen"-Wahlkampf habe natürlich auch ich begeistert Wahlkampf für Willy Brand gemacht. Die SPD hat übrigens damals mit einem Programm der inneren Reform und dem Versprechen, mehr soziale Gerechtigkeit walten zu lassen, über 45 Prozent der Stimmen bekommen. Die Wahlbeteiligung lag 1972 bei weit über 90 Prozent! Heute dümpelt die SPD aber nur mehr dahin und ich fürchte, sie wird in ihrer gegenwärtigen Verfassung mit denjenigen, die Schröder nachgefolgt sind, also mit den Steinmeiers, Steinbrücks, Gabriels usw., die ja im Grunde eine Fortsetzung der Agenda 2010 und der Hartz-Politik betreiben, auch nicht herausfinden aus diesem 20- bis 25-Prozent-Getto. Sie müsste sich, um das zu ändern, wieder besinnen auf ihre ursprünglichen Werte, sie müsste wieder deutlich erkennbar die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch der Erwerbslosen vertreten, sie müsste die sozial Benachteiligten stärker in die Politik hineinbringen und deren Interessen repräsentieren. Das tut sie aber nicht und sie ist daher immer weniger unterscheidbar von der Union. Ich glaube, dass diese Alternativlosigkeit, dass sich also die etablierten Parteien, die großen Volksparteien immer weniger unterscheiden lassen, mit dazu beiträgt, dass die Menschen nicht mehr wählen gehen, dass sie nicht mehr wissen, welche Orientierung da vorherrscht, und dass sie unschlüssig sind, für wen sie sich entscheiden sollen. Das alles ist wesentlich mitbedingt dadurch, dass die großen Parteien eine programmatische Profillosigkeit und auch Prinzipienlosigkeit an den Tag legen. Das ist etwas, was ich über die Jahrzehnte hinweg kritisiert habe.

Kaiser: Als Sie 1987 zum zweiten Mal in die SPD eingetreten sind, hatten Sie einen Fürsprecher, den Sie heute heftig kritisieren. Denn es war, wenn ich das richtig weiß, Gerhard Schröder, der sich damals für Sie eingesetzt hat, damit Sie wieder in die SPD eintreten konnten. Wie würden Sie denn Ihr Verhältnis zu ihm heute beschreiben? Sie kennen sich ja nun auch schon über 40 Jahre.

Butterwegge: Wir haben natürlich schon seit Langem kein Verhältnis mehr zueinander. Das hat einfach mit Folgendem zu tun: Als er 1998 zum Bundeskanzler gewählt wurde, wurde ich gerade an die Universität zu Köln berufen und hatte eine riesengroße Lehrveranstaltung zur Einführung in die Politikwissenschaft, in der ich die kommende Bundestagswahl zum Thema gemacht habe. Ich habe unter den circa 700 Studierenden in dieser Veranstaltung eine anonyme Abstimmung abgehalten: Die Studentinnen und Studenten sollten ihre Parteipräferenz für die Bundestagswahl aufschreiben. Rot-Grün hatte da eine riesige Mehrheit von über 80 Prozent. Diese jungen Menschen hatten die Hoffnung, dass diese rot-grüne Koalition nach 16 Jahren Regierung unter Helmut Kohl dafür sorgen würde, dass es wieder Reformen im eigentlichen Sinne geben würde, also mehr Mitbestimmung, mehr soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit, dass also nicht weiter eine Steuerentlastung der Reichen und der Unternehmen stattfindet, sondern dass es eine steuerliche Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Geringverdiener geben wird. Diese Hoffnungen, die damals in die rotgrüne Koalition gesetzt wurden, wurden dann jedoch mit Füßen getreten. Ich habe daraufhin einen Brief geschrieben und Gerhard Schröder diese Enttäuschung der Studierenden mitgeteilt. Er hat gar nicht geantwortet bzw. antworten lassen. Ich glaube, das ist ganz typisch. Er ist nicht erst, nachdem er Kanzler geworden ist, sondern schon vorher als niedersächsischer Ministerpräsident unter den Einfluss der Lobbyisten geraten, unter den Einfluss derjenigen, die im Land aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz und finanziellen Stärke natürlich einen enormen Einfluss auf die Politik ausüben. Er ist mit den Herren der Wirtschaft speisen gegangen und vielleicht auch Golf spielen und hat dann deren Sorgen, dass die Rendite nicht hoch genug ist, ernster genommen als die Sorgen der sogenannten kleinen Leute. Er ist der Brioni-Kanzler geworden, der sich auch in seinem Habitus so ein bisschen dieser wirtschaftlichen Elite angeglichen hat. Er war, obwohl Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, am Ende eben nicht mehr der Repräsentant der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Geringverdiener und der Erwerbslosen. Genau das aber hatte ich gehofft und vor allem die Studierenden hatten das gehofft, die an eine solche rot-grüne Koalition vielleicht sogar mit noch mehr Illusionen  herangegangen waren. Nachdem dann Oskar Lafontaine zurückgetreten war, war klar, dass es in Richtung einer Riester-Reform geht, einer kapitalgedeckten Teilprivatisierung der Altersvorsorge. Es weitete sich damit im Grunde genommen dieses neoliberale Dogma immer weiter aus und es hieß: "Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht!" Und genau das ist ja eigentlich die Logik der Riester-Rente: Jeder soll selbst mit einem Riester-Vertrag für das Alter Kapital ansparen. Das machen aber nur diejenigen und können auch nur diejenigen machen, die ein hohes Einkommen haben: Sie können sich Kapitallebensversicherungen kaufen, sie können einen Riester-Vertrag abschließen usw. Aber fragen Sie mal einen Taxifahrer, ob er einen Riester-Vertrag hat. Gerade diejenigen, die es eigentlich benötigt hätten, wurden also von dieser rotgrünen Koalition im Stich gelassen. Die Finanzdienstleister, die Banken, die großen Versicherungskonzerne: Das waren die großen Profiteure dieser Riester-Reform, die kurz nach der Jahrtausendwende als erste große Reform der rot-grünen Koalition Gesetz wurde. Die Hartz-Gesetze, die Gesundheitsreform mit der Praxisgebühr, die damals eingeführt wurde, mit größeren Zuzahlungen, die natürlich die Armen im Land belastet hat, weil sie es sich nicht leisten konnten, im Krankheitsfall beim Arzt auch noch zuzahlen zu müssen: Diese Reformen haben vielleicht den Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt und die Gewinne der Unternehmen gesteigert. Aber das waren keine Reformen im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung. Und genau das war doch die Hoffnung gewesen, die man an diese Koalition geknüpft hatte. Und die Große Koalition unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel hat dann natürlich diese Politik fortgesetzt und die CDU/CSU-FDP-Koalition, die 2009 kam, hat z.T. genau das gemacht, was ich eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip nenne. Denn im Evangelium des Matthäus heißt es: "Wer hat, dem wird gegeben." Und weiter heißt es, wer wenig hat, dem wird das Wenige auch noch genommen. Da wurde also eine Steuerpolitik gemacht, die den Spitzensteuersatz senkt, die den Körperschaftssteuersatz senkt, der unter Helmut Kohl noch 53 Prozent betrug und heute nur mehr 15 Prozent. Die Körperschaftssteuer ist ja die Einkommenssteuer der großen Kapitalgesellschaften: Das ist also das an Steuern, was solche Unternehmen wie Daimler und BMW und die Deutsche Bank usw. zahlen – wenn sie denn überhaupt Steuern zahlen. Diese Steuer wurde drastisch gesenkt. Und auf der anderen Seite wurde die Mehrwertsteuer erhöht am 1. Januar 2007 von 16 auf 19 Prozent. Die alleinerziehende Mutter mit Hartz-IV-Bezug muss seitdem 19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen, wenn sie in den Laden geht und Windeln kauft.

Kaiser: Aber sie zahlt wahrscheinlich …

Butterwegge: Der Reiche, der sich ein Reitpferd kauft, muss hingegen nur sieben Prozent Mehrwertsteuer bezahlen. Und der ganz Reiche, der sich für 3 Millionen Euro Aktien kauft, muss überhaupt keine Börsenumsatzsteuer mehr zahlen, weil die Regierung Kohl diese bereits 1991 abgeschafft hat. So ist über Jahrzehnte ganz bewusst eine Politik der sozialen Spaltung betrieben worden, und zwar von allen Koalitionen, die es auf Bundesebene gegeben hat. Es sind die Reichen reicher gemacht worden und die Armen sind noch zahlreicher geworden. Das ist das Ergebnis einer von mir, wie Sie merken, immer vehement kritisierten Politik.

Kaiser: Sie haben in der Tat ein unglaublich kämpferisches Engagement. Woher kommt das? Hat das vielleicht auch mit Ihren familiären Erlebnissen zu tun? Sie sind der Sohn einer alleinerziehenden Mutter, was ja in den 50er Jahren – wenn es sich nicht um eine Kriegswitwe gehandelt hat, die ihre Kinder allein aufgezogen hat – doch eher selten der Fall gewesen ist. Haben Sie denn da in Ihrem persönlichen Erleben die Nöte und die Probleme so hautnah mitbekommen, dass sie Ihnen quasi in Fleisch und Blut übergangen sind?

Butterwegge: So ein tiefes Gespür für soziale Gerechtigkeit und auch dieses Leitbild, in der Gesellschaft mehr Solidarität zu üben, ist damals ganz sicher entstanden. Ich kann mich z. B. gut an meine Schulzeit erinnern, als in der ersten Stunde am Gymnasium der Klassenlehrer das Klassenbuch aufschlug und uns Kinder nacheinander aufgefordert hat, den Beruf des Vaters anzugeben. Ich wusste aber gar nicht, was mein Vater von Beruf war, weil ich als nichteheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter mit meinem Vater über viele, viele Jahre hinweg überhaupt nichts zu tun gehabt habe. Ich errötete natürlich …

Kaiser: Sie empfanden das als Bloßstellung?

Butterwegge: Der Klassenlehrer hingegen war begeistert, dass der Sohn des größten Teppichhauses der Stadt in seiner Klasse war. Sie können sich vorstellen, wer dann da die guten Noten bekam: der Sohn einer alleinerziehenden Mutter oder der Sohn der Familie des größten Teppichhauses der Stadt. Das war also von Anfang an klar: Es gibt soziale Unterschiede. Diese sozialen Unterschiede waren damals vielleicht noch deutlicher als heute. In den 50er Jahren, in dieser doch sehr verkrusteten und sehr formalistischen Adenauer-Republik, wurden die Statusunterschiede noch sehr, sehr hoch gehalten. Darunter habe ich z.T. gelitten und das habe ich dann biografisch sicherlich so verarbeitet, dass ich dann in meiner Juso-Zeit für "systemüberwindende Reformen", wie wir das damals nannten, war: Es galt, den Kapitalismus auf reformerischem Weg, nicht auf revolutionärem Weg, zu überwinden. Als Ergebnis sollte auf jeden Fall eine völlige Systemveränderung geschehen. Das war das, was ich da natürlich auch in die SPD hineingetragen habe. Mein SPD-Ortsverein in Dortmund war entsetzt und stellte sofort den ersten Antrag an den Unterbezirksvorstand, mich auszuschließen. Ich kann mich noch genau an die Begründung dafür erinnern. Sie lautete wörtlich: "Er trägt immer Unruhe in die Versammlung." In der Tat war es so, dass Ortsvereinsversammlungen der SPD wie auch anderer Parteien damals folgendermaßen abliefen: Begrüßung durch den Vorsitzenden, Bericht des Vorsitzenden, Schlusswort des Vorsitzenden – und hinterher ging man ein Bier trinken.

Kaiser: Zwischendurch musste der Vorsitzende aber auch noch beklatscht werden.

Butterwegge: Genau. So lief das ab: Wiederwahl per Akklamation. Und da kamen auf einmal Jusos und stellten Anträge an Parteitage! Die Jusos wollten die Banken verstaatlichen, wollten die Mineralölindustrie, die damals wegen der erhöhten Benzinpreise in der Kritik stand, vergesellschaften usw.. Diese Anträge, diese Diskussionen und vor allem auch diese Konflikte in der Partei war man nicht gewohnt, weswegen man dann mit Repressionen auf diese jungen Leute reagierte. Aus heutiger Sicht finde ich das schon eher kurios, weil man halt stattdessen in die Diskussion hätte eintreten müssen. Aber das hat mich damals bestärkt darin, dass ich im Grunde nur durch Engagement und durch Kampf in dieser Gesellschaft erreichen kann, dass mehr Gerechtigkeit herrscht. Wobei es natürlich schon so ist, dass ich in meiner Position als C4-Professor oder Ordinarius, wie man, glaube ich, in Bayern sagt, nicht zu den Unterprivilegierten in dieser Gesellschaft gehöre. Aber ich bin immer noch bereit zu streiten für diejenigen, die sozial benachteiligt sind, egal ob das Flüchtlinge sind, ob das Geringverdiener sind, ob das alleinerziehende Mütter sind. Dieses Engagement hat sich bei mir bis heute erhalten und damit unterscheide ich mich sicherlich auch von vielen Mitstreitern aus der damaligen Zeit, die sich eher angepasst haben und z. B. doch eher konformistisch reagiert haben auf ihren sozialen Aufstieg.

Kaiser: Sie sind C4-Professor und haben damit diesen sozialen Aufstieg geschafft. Aber wenn man Ihre akademische Laufbahn anschaut, dann stellt man fest, dass dieser Weg lange Zeit doch sehr, sehr holprig gewesen ist. Ich glaube, Sie sind mit Mitte 40 zum ersten Mal in ein festes Anstellungsverhältnis gekommen, denn davor haben Sie das erlebt, was heute Studenten und Promovierende sicherlich auch erleben: Sie sind in diesem akademischen Betrieb von einer finanziellen Notlösung, von einem Stipendium zum nächsten weitergereicht worden.

Butterwegge: Ja, absolut. Viele Menschen in diesem Land denken ja, im öffentlichen Dienst und vor allem im Hochschulbereich sind nur Menschen tätig, die festangestellt sind, die privilegiert sind. In Wirklichkeit sind jedoch an den Hochschulen weit über 80 Prozent des Lehr- und Forschungspersonals befristet beschäftigt, d. h. außer den Professoren fast alle. Sie haben alle nur Stellen mit Zeitverträgen, sodass sie ständig strampeln müssen um einen neuen Vertrag. Sie können es sich selbstverständlich auch nicht leisten, eine eigene Meinung zu äußern, denn wenn man gegen diejenigen, die an der Hochschule etwas zu sagen haben, opponiert, wird man wahrscheinlich schlechte Chancen haben, einen Vertrag verlängert zu bekommen. Diese Situation habe ich also sehr wohl auch gekannt. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften war man – aber das ging natürlich nicht nur mir so, sondern sehr vielen – arbeitslos. Man hat sich dann mit ABM-Stellen, also mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Arbeitsamts, durchgeschlagen, mit Lehraufträgen, mit befristeten Verträgen usw.. Ich habe eigentlich das gemacht, was in unserer Gesellschaft ja verlangt wird: "Bildet euch, bildet euch, bildet euch! Denn dann kommt Ihr aus der Armut bzw. aus der Arbeitslosigkeit, aus der Not heraus!" Individuell kann man das ja auch in der Tat schaffen: Man kann durch Bildung aufsteigen aus prekären Verhältnissen. Ich habe dann nämlich nicht nur viele Bücher gelesen, sondern auch viele geschrieben, habe promoviert, also den Doktor gemacht, habe mich habilitiert. Und schließlich bin ich dann doch noch Professor geworden. Aber ich ziehe daraus nicht, wie viele Aufsteiger das tun, den Schluss, dass ich ein besonders toller Hecht wäre, weil ich mit so viel Fleiß diesen Aufstieg geschafft habe. Stattdessen ziehe ich daraus den Schluss: Ich hatte einfach auch Glück! Heute ist es noch viel schwerer als damals, durch Bildung aufzusteigen. Und Bildung ist auch kein Allheilmittel und auch kein Königsweg aus der Armut, denn wenn alle besser gebildet sind, dann werden am Ende möglicherweise auf einem höheren intellektuellen Niveau mehr Menschen vorhanden sein, die um die immer noch fehlenden Arbeitsplätze und Lehrstellen miteinander konkurrieren.

Kaiser: Und genau das verdirbt dann ja auch die Preise.

Butterwegge: Genau, dann haben wir am Ende mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluss und mehr Reinigungskräfte mit Abitur. Aber die Armut haben wir dann nicht besiegt. Deshalb bin ich nicht der Auffassung, dass man den Armen predigen kann: "Bildet euch, bildet euch, bildet euch!" Im Einzelfall kann das ja klappen wie bei mir, aber letztlich müssten da gesellschaftliche Lösungen her, es müssten da strukturelle Veränderungen her, damit Menschen nicht abgehängt werden und im Niedriglohnsektor landen und dort bleiben.

Kaiser: Wie aber sollen diese Lösungen ausschauen? Haben Sie da ein paar ganz konkrete Vorstellungen?

Butterwegge: Eines meiner Hauptarbeitsgebiete ist ja die Entwicklung des Sozialstaates: Ich finde, wir müssen von dieser Demontage des Sozialstaates wegkommen, wir müssen von einem Um- und Abbau eher zu einem Um- und Ausbau des Sozialstaates kommen. Ich nenne das einen inklusiven Sozialstaat: Das ist ein Sozialstaat, der alle mitnimmt, der inkludiert, der nicht exkludiert, der also nicht Menschen ausgrenzt. Ich stelle mir da z.B. eine solidarische Bürgerversicherung vor. Das heißt, mir geht es darum, den seit Bismarck in Deutschland bestehenden und geschaffenen Sozialstaat in seinen Strukturen zu erhalten und auszubauen, ihn aber auch gleichzeitig für alle zu öffnen, d. h. ihn dadurch auf ein festes finanzielles Fundament zu stellen, dass man auch Selbständige, Freiberufler, Abgeordnete, Beamte und Minister, dass man alle mit einbezieht. Deswegen nenne ich das ja auch eine Bürgerversicherung: Alle müssen Beiträge zahlen, und dies nicht nur wie bisher auf Löhne und Gehälter, sondern auch auf Dividenden, auf Kapitaleinkünfte, auf Zinsen, auf Miet- und Pachteinkünfte. Auch die Beitragsbemessungsgrenze müsste meiner Meinung nach wegfallen: Warum soll man denn bei 5.000 oder 6.000 Euro im Monat eine Grenze der Solidarität einziehen, bei der derjenige, der mehr verdient, und auch dessen Arbeitgeber keine Beiträge mehr bezahlen müssen? Gerade die, die mehr verdienen, können sich das doch leisten! Alle sollten also einbezogen sein und sollten dazu beitragen, dass auch Mini- und Midijobber, dass also auch Menschen, die weniger verdienen wie z.B. Verkäuferinnen und Lagerarbeiter, im Alter ein auskömmliches Leben führen können. Das wäre für mich gesellschaftliche Solidarität. Das könnte man verwirklichen, indem in diese solidarische Bürgerversicherung eine soziale Grundsicherung eingefügt wird, die im Unterschied zu Hartz IV den Namen auch wirklich verdient: Sie müsste armutsfest sein, sie müsste bedarfsgerecht sein, sie müsste repressionsfrei sein, d.h., sie darf nicht mit Sanktionen und Drohungen des Jobcenters versehen sein. Diese Grundsicherung müsste und könnte dafür sorgen, dass in diesem reichen Land alle Menschen ihr Auskommen finden. Das würde die Gesellschaft selbstverständlich auch sehr viel friedlicher machen. Es gibt ja gute Untersuchungen darüber, dass Gesellschaften, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich nicht so tief ist wie bei uns, friedlicher sind. Viele bei uns haben ja die Vorstellung, dass mit sozial zerklüfteten Gesellschaften solche Gesellschaften wie in Brasilien oder in den USA gemeint sind. Nein, die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten so stark angewachsen, dass selbst die OECD, also der Zusammenschluss der hoch entwickelten Industrieländer, die Bundesrepublik dafür kritisiert hat, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Das müsste verändert werden. In so einem inklusiven Sozialstaat muss und kann dafür gesorgt werden, dass die zunehmenden sozialen Nöte in unserem Land gemildert werden. Ich fürchte aber, dass genau das Gegenteil passieren wird. Gerade auch die hohen Flüchtlingszahlen werden dazu führen, dass man eher wieder eine Diskussion führen wird, in der es darum geht, dass noch mehr Leistungen gekürzt werden müssen, dass man uns den Gürtel noch enger schnallt, weil wir uns das alles angeblich nicht mehr leisten können. In Wirklichkeit ist die Verteilung schlicht ungerecht, aber nicht zwischen denjenigen, die als Migranten von außen kommen, und denjenigen, die in unserer Gesellschaft sind, sondern die Verteilung zwischen oben und unten ist das Übel. Es müsste daher eine Umverteilung und eine ganz andere Steuerpolitik gemacht werden.

Kaiser: Man hofft ja immer darauf, dass durch Migration die Stabilität unserer ganzen Sozialsysteme in Zukunft besser werden könnte. Teilen Sie denn diese Hoffnung?

Butterwegge: Wenn im Zuge des demografischen Wandels immer wieder gesagt wird, dass wir Deutsche immer weniger werden, dass wir Deutsche aussterben, dann ist Zuwanderung natürlich zuerst einmal etwas Positives. Ich bin aber der Meinung, dass da die Demografie z.T. als Mittel der politischen Demagogie benutzt wird und man Kürzungen z.B. bei den Renten mit dem demografischen Wandel begründet. Ich bin auch nicht sicher, ob der Fachkräftemangel, den man heute auf den demografischen Wandel zurückführt, wirklich vorhanden ist und nicht eher ein Phantom ist. Mir scheint, man klagt hier wirklich auf hohem Niveau, denn es gibt natürlich viele Erwerbslose, die man qualifizieren könnte. Aber ich bin darüber hinaus der Meinung, dass das Land reich genug ist, um auch eine Zuwanderung zu verkraften, selbst dann, wenn es eine wäre, die sich nicht in Mark und Pfennig rechnet. Das heißt, ich bin der Meinung, dass auch dann die Zuwanderung bezahlbar wäre. Aber natürlich sind auch viele Flüchtlinge hoch qualifiziert. In anderen Ländern wie in Schweden können sie z.B. sofort mit dem Arbeiten beginnen und werden in den Arbeitsmarkt integriert. Bei uns gibt es hingegen aufgrund der Tradition, dass alle etablierten Parteien und da vor allem die Union gesagt haben, Deutschland sei kein Einwanderungsland, so hohe Schwellen gegenüber der Zuwanderung. Es gibt bei uns deswegen auch die starke Bereitschaft, Flüchtlinge abzuwerten. Das reicht ja bis zu rechtspopulistischen Bestrebungen und zu Rechtsextremen, die dann gleich zur Gewalt gegen Zuwanderer greifen. Das müsste man natürlich verändern – auch im Sinne einer Solidarität. Ich bin nicht der Auffassung, dass man alle Grenzen öffnen könnte und dass ein Land wie Deutschland die Verpflichtung habe, jeden aufzunehmen. Aber ich bin auch nicht der Auffassung, dass Deutschland diesbezüglich an seine Grenzen geraten ist. Man hat aber manchmal den Eindruck, dass sich die Diskussion in diese Richtung entwickelt und es heißt: "Wir haben inzwischen so viele Flüchtlinge aufgenommen, dass wir keine weitere Zuwanderung vertragen können." Ich hingegen glaube, dass die Zuwanderung eine große Chance ist.

Kaiser: Herr Butterwegge, eine kurze Frage mit der Bitte um eine ganz kurze Antwort zum Schluss unseres Gesprächs: Wird Ihnen angst und bange, wenn Sie an die Bundesrepublik im Jahr 2050 denken? Oder sehen Sie dem mit einem gewissen Optimismus entgegen?

Butterwegge: Es gibt beide Tendenzen. Ich hoffe natürlich, dass eine grundlegende Kurskorrektur der Regierungspolitik stattfindet, dass mehr Druck in Richtung von sozialer Gerechtigkeit gemacht wird. Das hoffe ich sehr. Aber auch ich kann die Zukunft leider nicht voraussagen.

Kaiser: Vielen Dank, Herr Professor Butterwegge, für dieses engagierte Gespräch. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und auch weiter so viel Engagement beim Kampf um Ihre Themen und Thesen. Das war Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler an der Universität Köln. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.“

http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/christoph-butterwegge-sendung-100.html

 

 

Dada

 

Dadaistischer Beginn, aber wahrer Kern: hier der Anfang eines Beitrages von Lutz Hausstein:

 

„Öffentliche Daseinsvorsorge – Schtonk!

Gewerkschaften – Schtonk!

Arbeitnehmerrechte – Schtonk!

Zukunftssicherheit – Schtonk!

Existenzminimum – Schtonk!

Mitmenschlichkeit – Schtonk!

Bürgerrechte – Schtonk!

Friedenspolitik – Schtonk!

Demokratie – Schtonk!

(frei nach „Der große Diktator“ (1940), Rede des Diktators Adenoid Hynkel)

Während die deutschen Politiker wegen der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten noch hyperventilieren und partout nicht begreifen können (und wollen), worin die Ursachen für dessen Wahl liegen und die kommentierenden Medien sich stattdessen in den wüstesten Wählerbeleidigungen übertreffen, geht das gesellschaftspolitische Leben in Deutschland weiterhin seinen „geregelten Gang“. Die politischen Entscheidungen verlaufen weiterhin exakt an genau der Linie entlang, die bisher schon verfolgt wurde. Doch dieses „Weiter so“ ist höchst fatal, denn es schlägt einen der letzten Sargnägel in die ohnehin schon bedenklich beschädigte Demokratie ein.“

http://www.nachdenkseiten.de/?p=36535

 

 

 

Gerne haben es die Dadaisten mit Ungeheuern und widmen ihnen sogar Denkmäler!

 

 

In der Nähe von Avignon liegt die Stadt Tarascon, die die Erinnerung an ihren Namensgeber, das Ungeheuer Tarasque, mit einem jährlich stattfindenden Fest, mehreren Abbildungen in der Kirche Ste. Marthe und einem Denkmal zwischen Kirche und Schloss, lebendig hält.

 

 

Tarasque pflegte aus der Rhone aufzutauchen, um Schiffe zum Kentern zu bringen und Menschen und Tiere zu verschlingen. Martha, die zusammen mit ihrem Bruder Lazarus, Maria Magdalena und weiteren in der Camargue gestrandet sein soll, kam hierher, zähmte das Ungeheuer mit dem Kreuz und führte es am Strick um die Stadt herum. Dann befahl es ihm, wieder in die Fluten der Rhone zurückzukehren, wo es für immer blieb.