Der Geheimdienst, die Stadt und die Not

Ist es in diesem Lande möglich, eine Politik für das Volk zu machen? Bei einer demokratisch legitimierten rot-rot-grünen Regierung?

Wer sich noch Illusionen gemacht haben sollte, wurde durch den erzwungenen Rücktritt des Berliner Baustaatssekretärs Andrej Holm eines Besseren belehrt: nein, es ist nicht möglich.

Wer eine Politik für die Mehrheit des Volkes machen will, muss mit massivem Widerstand finsterer Kräfte rechnen. Es wird nach möglichen Schwachpunkten gesucht und in diesen gnadenlos rumgebohrt. Es ging nicht im Entferntesten um die „Stasi-Vergangenheit“ von Andrej Holm. Wenn es diesen Punkt nicht gegeben hätte, hätten diese finsteren Kräfte irgend etwas konstruiert, dies ausgeschlachtet und an die niederen Instinkte der dafür Empfänglichen appelliert.

Ulrike Steglich fasst den Vorgang in all seinen Teilaspekten folgendermaßen zusammen:

„Innerhalb von fünf Wochen kann aus einem integren, fähigen Menschen und Wissenschaftler, auf dem viele Hoffnungen ruhten, öffentlich-medial und politisch eine „Causa“ gemacht werden, ein „Fall Holm“, kann jemand medial an den Pranger gestellt werden – und verliert prompt seine berufliche Existenz.

Inzwischen ist Andrej Holm, nach fünf zermürbenden Wochen, in denen er nahezu täglich Medienthema war, zurückgetreten. Die Geschichte ist bekannt: Die Linke wollte den auch international renommierten, promovierten Stadtsoziologen, der jahrelang an der Humboldt-Uni zum Thema Gentrifizierung forschte und lehrte, zum Baustaatssekretär machen. Holm ist bekannt für linke Positionen, gerade in der Wohnungspolitik.

Akt Nr. 1: Kaum war die Nachricht heraus, warteten diverse Medien – allen voran der Berliner Tagesspiegel – mit der Nachricht auf, dass Holm von Ende 1989 bis Anfang 1990 als 19-Jähriger bei der Stasi gewesen sei. Nun war das überhaupt nichts Neues, denn bereits 2007 hatte Holm in einem taz-Interview diese Geschichte selbst erzählt, vor dem Hintergrund der Herkunft aus einem kommunistischen Elternhaus.

Ohnehin muss das schon eine absurde, filmreife Situation gewesen sein: Da sitzt ein 19-Jähriger in einer Stasi-Stube – und erlebt die letzten Monate eines untergehenden Staates und der Staatssicherheit. Holm sagte später wiederholt, er sei „extrem froh darüber, dass mir die Wende diese Zeit erheblich verkürzt hat“. Und er bedaure aufrichtig, für einen Repressionsapparat gearbeitet zu haben.

Angesichts der massiven Kampagne schüttelten etliche den Kopf: Einem 46-Jährigen fünf Monate seiner Vergangenheit vor 27 Jahren vorzuhalten, hielten viele für völlig überzogen – weil dies grundsätzlich einem Menschen die Fähigkeit abspräche, sich zu entwickeln. Interessant daran war, dass sich auch viele frühere DDR-Oppositionelle hinter Holm stellten und die Stasi-„Enthüllung“, die ja keine war, lächerlich fanden. Weil das also nicht so recht zu zünden schien, legte der Tagesspiegel nach. 

Es begann Akt Nr. 2: Holm habe damals bei Aufnahme seiner Arbeit bei der Humboldt-Uni falsche Angaben gemacht und seine „hautamtliche Stasi-Tätigkeit“ verschwiegen. Holm erwiderte (sinngemäß), er sei davon ausgegangen, dass er eine Ausbildung beim Wachregiment Feliks Dzierzynski beziehungsweise dem MfS absolviert habe. Tatsächlich wurde er aber bei der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin des MfS als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter geführt.

Darüber zu streiten ist müßig – schon deshalb, weil nur Holm selbst wissen kann, was er damals dachte. Zweitens, weil schon bald deutlich wurde, dass es hier eigentlich um ganz andere Dinge ging.

Denn ein weiterer bedeutender Teil von Holms Geschichte ist auch, dass er 2007 mit dem absurden Vorwurf, er sei der geistige Kopf einer Gruppe linkextremistischer Autonomer, die drei Polizeiwagen in Brand gesteckt haben sollten, verhaftet wurde. Vorgeworfen wurde ihm also die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – er wurde morgens wie ein Schwerverbrecher in seiner Wohnung festgenommen, umgehend nach Karlsruhe ausgeflogen und saß wochenlang in isolierter Untersuchungshaft. Als wesentliches Indiz galten unter anderem seine Publikationen als Gentrifizierungsforscher und -kritiker. Es hagelte auch international Proteste, namhafte Soziologen waren empört. Weil die Anwürfe von BKA und Bundesanwaltschaft nicht haltbar waren, musste Holm freigelassen werden.

Akt Nr. 3: Während nun einige von Holms Gegnern eine direkte Linie vom ehemaligen Stasi-Mitarbeiter über seine Hausbesetzerzeit Anfang der 1990er Jahre bis zu „linksextremer Gesinnung“ zogen (Kommunistenalarm!), ließen andere gleich die Katze aus dem Sack: Etwa der Berliner FDP-Chef Sebastian Czaja, der in einer Abgeordnetenhaus-Debatte am 12. Januar sagte: „Herr Holm ist mit seiner ganzen Vita antidemokratisch geschult. Diesem Staatssekretär ist der Hausbesetzer näher als der Investor und deshalb hat er nichts in einer Regierung zu suchen.“

Beide Sätze sind interessant: Der erste sagt zwischen den Zeilen, dass Holm schon durch seine Familie „antidemokratisch geschult“ sei. Das kann man auch Sippenhaft nennen. Der zweite Satz sagt: Wer Investoren nicht nahe steht, hat in der Regierung nichts zu suchen.

Der Tagesspiegel war in dieser Hinsicht schon am 12. Dezember deutlich geworden: „Ein Gentrifizierungskritiker, ein linker Aktivist, ein Wissenschaftler ist er. Einer, der Hausbesetzung als effektives Mittel zur Schaffung von Sozialwohnungen preist, leerstehende Wohnungen zwangsbelegen will und mit umfangreichen Steuersubventionsprogrammen eine baupolitische Richtung unterstützt, die in der SPD kritisiert und in der Wohnungswirtschaft zu munteren Kontroversen führen wird. Hier liegt die Gefahr seiner Ernennung und nicht in seiner Stasi-Vergangenheit.“

Nun ist Andrej Holm seit langem nicht nur als renommierter Wissenschaftler und Stadtforscher, sondern durchaus auch für seine linken Positionen und sein gesellschaftliches Engagement für eine soziale Wohnungspolitik und gegen fortschreitende Gentrifizierung bekannt. Und er hätte mit seinen Vorschlägen und Erfahrungen einer Stadt, in der die Grundstückspreise und Mieten explodieren und in der es akut an bezahlbaren Wohnungen und Sozialwohnungen mangelt, überaus gut getan. Doch genau deshalb ist er auch jenen, die vom ständig im Wert steigenden Betongold dieser Stadt und von Verdrängung profitieren, natürlich ein Dorn im Auge.

Akt Nr. 4 war dann ein rasanter politischer Prozess: Denn von Anfang an diente die „Causa Holm“ auch dazu, die neue rot-rot-grüne Regierung unter Druck zu setzen. Ohnehin hatte Holm selbst innerhalb der Koalition einen schweren Stand, insbesondere bei der SPD. Schnell ließ sie sich von der aufbrandenden Mediendebatte vor sich her treiben. Dazu muss man auch sagen, dass weder die Linke noch Holm in der folgenden Auseinandersetzung sonderlich geschickt agierten – dazu hätte man das Thema schon von vornherein wesentlich offensiver angehen müssen. Als es dann um Holms Angaben bei der Humboldt-Uni ging, versteckte sich die Regierungskoalition, allen voran der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), hinter der Universität: Von deren arbeitsrechtlicher Prüfung machte man nun das politische Schicksal Holms als Staatssekretär abhängig – man wolle Holms Stellungnahme und die HU-Entscheidung abwarten.

Dazu kam es aber nicht mehr: Bereits am Samstag zuvor machte Müller eine Kehrtwende und forderte nun eine umgehende politische Entscheidung: Holm habe in den letzten Wochen Gelegenheit gehabt, sich und seinen Umgang mit der eigenen Biografie zu überprüfen und zu entscheiden, ob er ein hohes politisches Staatsamt ausfüllen kann. „Seine Interviews und Aussagen in dieser Frage zeigen mir, dass er zu dieser Selbstprüfung und den dazugehörigen Rückschlüssen nicht ausreichend in der Lage ist“, so Müller. Damit sei deutlich geworden, „dass Herr Holm die ihm anvertrauten, für diese Stadt extrem wichtigen wohnungspolitischen Fragen nicht in dem notwendigen Maß erfüllen kann“.

Eine eigenartige Erklärung. Sollte das bedeuten, erst wenn Holm freiwillig zurückträte, wäre er für das Amt des Staatsekretärs geeignet? Und war es Zufall, dass diese Forderung kam, kurz nachdem der SPD-Fraktionschef Raed Saleh die Koalition und seinen Parteikollegen öffentlich düpiert hatte, indem er in Sachen Videoüberwachung überraschend eine völlig andere Position vertrat?

Andrej Holm kam einer Entlassung zuvor, zog die einzig mögliche Konsequenz und trat noch am Samstag zurück. Kurze Zeit später erklärte die HU, dass Holm auch seinen Job an der Uni (von dem er bislang für seine neue politische Tätigkeit beurlaubt war) verliert und entlassen wird. Es folgten massive Studentenproteste.

Was für ein Scherbenhaufen. Nicht nur beruflich für Andrej Holm, sondern auch für die neue Koalition, die – insbesondere die Grünen und die SPD – nun hofften, endlich ungestört arbeiten zu können.

Doch diese „causa“ und vor allem die Erfahrung, wie man die Koalition medial vor sich her treiben kann, wird haften bleiben. Ein Scherbenhaufen ist es nicht zuletzt für diverse Medien. Zwar gab es etliche, die fair und differenziert berichteten und kommentierten – die taz, die Süddeutsche, auch der Spiegel. Aber es gab eben auch eine enorme Schlammschlacht, in der sich insbesondere ein Autor des Tagesspiegels bemerkenswert engagiert zeigte. Eine präzise, detaillierte und auch für jeden Medienwissenschaftler sehr aufschlussreiche Analyse dieser Kampagne hat jüngst der Soziologe Ulf Kadritzke (Jg. 1943 und westdeutsch sozialisiert) im telegraph veröffentlicht. http://telegraph.cc/bemerkungen-zum-umgang-von-robert-ide-mit-dem-fall-holm-im-tagesspiegel/

Zur Ehrenrettung des Tagesspiegel sei auf den Beitrag von Ralf Schönball am 19. Januar hingewiesen, der sich immerhin der Frage widmete, inwiefern die Immobilienbranche am Fall Andrej Holms überaus großes Interesse hatte. – Zu spät.

Abermals beschädigt ist vor allem die Debattenkultur, was den Umgang mit der DDR und das Ost-West-Verhältnis betrifft, denn die „Causa Holm“ zeigt, dass sich die Differenzen – 27 Jahre nach der Wende und dem Mauerfall – offenbar eher zementieren. Man könnte ja annehmen, dass beim Thema Stasi die Erregungskurve bei jenen größer ist, die sie tatsächlich in der DDR erlebt haben, und zwar „auf der anderen Seite“. Doch die sind viel eher in der Lage zu differenzieren.

Tatsächlich werden die dumpfesten Erregungswellen meist von Leuten erzeugt, die gar nichts mit der Stasi zu tun hatten – vor allem von Westdeutschen, aber auch von spätgeborenen Ostlern, die „unbelastet“ Karriere machen konnten.

Es rächt sich, immer noch, dass die ostdeutsche Gesellschaft keine Möglichkeit hatte, diese Aufarbeitung selbstständig zu übernehmen. Stattdessen übernahm die Deutungshoheit ab 1990 vor allem die westdeutsch geprägte Bundesrepublik, die weitgehend keinerlei Differenzierungen zur Kenntnis nehmen mochte. Alles Stasi außer Mutti – aber wer weiß, vielleicht ja auch Mutti noch?

Beschädigt ist schließlich die Wohnungspolitik der Stadt. Ein Staatssekretär wie Andrej Holm wäre ein klares Zeichen sowohl für Mieter als auch für Investoren und erst recht für Spekulanten gewesen, dass die Weichen neu gestellt werden. Aber daran hat vielleicht auch die SPD, die ja seit Jahrzehnten die heutige Stadtmisere maßgeblich mitverursacht hat, kein Interesse.

Immerhin gibt es nun eine starke außerparlamentarische Opposition (die auch die Positionen der Bausenatorin stärken könnte). Mit Holm.“

http://das-blaettchen.de/2017/01/„causa-holm“-ein-„lehrstueck“-in-vier-akten-38836.html

 

Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben

 

Ulrich Gellermann: „Als Andrej Holm vor 27 Jahren Offiziersschüler im Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ war, einer Gliederung der DDR-Staatssicherheit, bespitzelte er niemanden. Er brach in keine Wohnung ein und verhaftete auch niemanden. Holm war 18. Das Wachregiment, dem er angehörte, war eine Art Objektschutz-Truppe: Zuständig für die Bewachung wichtiger Grundstücke von Partei und Staat. Manchmal durften die Soldaten auch mit blank geputzten Stiefeln den Stechschritt proben: Bei Kranzniederlegungen, an hohen staatlichen Feiertagen. Beim „protokollarischem Ehrendienst“ wie es auch in der Dienstvorschrift des Wachbataillons der Bundesrepublik Deutschland heißt.“

http://www.rationalgalerie.de/home/der-tiefe-staat-schlaegt-zurueck.html

Andrej Holm schildert seine DDR-Vergangenheit folgendermaßen:

„Holm: … Ich war aufgewachsen in einem SED-Haushalt: Vater bei der Stasi, Mutter in der Partei. Meine Urgroßeltern, die ich noch erlebt habe, waren Verfolgte des Naziregimes. Mein Opa hat das KZ Sachsenhausen überlebt. Für mich war der Antifaschismus keine hohle Phrase, sondern Familienrealität – in diesem Sinne war ich überzeugter Sozialist.

ZEIT ONLINE: Und Ihre Eltern waren hundertfünzigprozentige SED-Kader?

Holm: Meine Eltern wollten die DDR verbessern. Die haben immer auf den nächsten Parteitag gehofft, freuten sich über Gorbatschow, Perestroika und Glasnost, waren total schockiert, als in Peking die Proteste niedergeschlagen wurden. Die DDR schien mir nicht ein Ort zu sein, in dem man nicht für Veränderungen eintreten kann.

ZEIT ONLINE: Und dann verpflichteten Sie sich ausgerechnet bei der Stasi, deren Aufgabe es war, Kritiker mundtot zu machen und wegzusperren?

Holm: In meinem Umfeld gehörten Überwachung und Diskussionen um IMs nicht zum Alltag. Ich war ein ganz normaler Jugendlicher in einem Neubaugebiet, der Fußball gespielt hat. Ich bin auch zu Punkkonzerten gegangen – aber nicht mit der Idee, dass das etwas Oppositionelles wäre, sondern weil es mir gefallen hat. Für mich war eigentlich relativ viel möglich. Man konnte andere Musik hören, zu Hause wurde Westfernsehen geschaut …

ZEIT ONLINE: Bei Ihren systemtreuen Eltern lief Westfernsehen?

Holm: Klar. Ich erinnere mich an die Atomkatastrophe von Tschernobyl – zuerst haben meine Eltern Aktuelle Kamera geschaut, und danach Westfernsehen, um zu erfahren, was passiert ist. Die DDR, die ich kennengelernt habe, war nicht so geschlossen, wie sie in der historischen Betrachtung beschrieben wird.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Alltag kam Überwachung und Repression nicht vor, obwohl Ihr Vater bei der Stasi war?

Holm: Mein Vater hat mir Volker Braun und Heiner Müller zum Lesen gegeben und hat mir Theaterstücke empfohlen: "Geh da rein, lies das, das ist gute Kunst!" Er hat mir erklärt, dass der Stalinismus eine schlimme Sache sei. Das war mein Link zur Stasi. Es mag naiv und weltfremd sein, dass ich als Teenager noch nicht erkannt habe, was für ein Überwachungs- und Repressionsapparat die Stasi war – aber ich war auch damals noch nicht besonders politisch.

ZEIT ONLINE: Ihr Vater hat Ihnen die kritischen Autoren und Theater empfohlen?

Holm: Schlimmer noch, er hat ja die Bücher gehabt, weil er in der Abteilung arbeitete, die in Berlin die Schriftsteller überwachte und die Theaterleute. Das habe ich erst nach der Wende herausbekommen – und das hat auch zu Spannungen zwischen uns geführt.

ZEIT ONLINE: Weil Ihr Vater ein rosiges Bild von der DDR und dem MfS vermittelt hat?

Holm: Er hat mir vor allem vermittelt, dass man auch in der DDR kritisch über Dinge sprechen darf. Die Erfahrung eines autoritären Systems hat bei mir so nicht stattgefunden …

ZEIT ONLINE: In einer handschriftlichen Bewerbung für das MfS haben Sie gelobt, nicht in die BRD oder in andere Länder des kapitalistischen Auslands zu fahren und auch unverzüglich zu melden, wenn Familien- oder Haushaltsangehörige das machen. Ein Gelöbnis, das engste Umfeld zu überwachen und zu denunzieren – findet man das als 18-Jähriger, in dem Zweifel aufkeimen, nicht untragbar?

Holm: Das mussten wir abschreiben – alle, die die militärische Ausbildung bei der Stasi gemacht haben. Das war eben Militär: Wir sind als Schüler angekommen, haben Uniformen bekommen, wurden angeschrien, und dann wurde gesagt, jetzt schreibt ihr das hier ab. Das war ein formaler Akt, du machst dir über den konkreten Inhalt von so einem Schwur keine Gedanken. Ich hatte mich dafür entschieden, also dachte ich: Da gehört es wohl dazu, dass man irgendwas schwören und unterschreiben muss.

ZEIT ONLINE: Wann ist Ihnen klar geworden, dass die Stasi Menschen schwer geschadet hat?

Holm: So richtig ernsthaft erst nach der Wende. Klar war mir aber schon, dass die Wachregimente im Zweifelsfall gegen Demonstranten eingesetzt werden, ich hatte Angst vor der Pekinger Lösung.

ZEIT ONLINE: Sie hatten Sorgen, während der Grundausbildung in so einen Einsatz gegen Demonstranten zu kommen?

Holm: Ja, im Sommer 1989 war ich mit einem Freund, der auch zur Stasi sollte, nach Bulgarien gefahren. Da haben wir darüber geredet, dass es ganz schön blöd ist, jetzt im Wachregiment zu sein. Was ist denn, wenn jetzt ein Befehl kommt? Darüber habe ich mir mehr Gedanken gemacht als darüber, dass dieses große Monstrum Staatssicherheit Menschen überwacht und zersetzt – das war mir zur Wendezeit so noch nicht klar …

ZEIT ONLINE: Sie haben erklärt, es sei Ihre "tiefste Überzeugung" gewesen, beim MfS nur eine Ausbildung gemacht zu haben – deshalb hätten Sie bei der Humboldt-Uni 2005 angegeben, nicht hauptamtlich beschäftigt zu sein. De facto waren Sie Offiziersschüler und haben 675 Mark Dienstbezüge bekommen, was ja eine Menge Geld gewesen ist für einen 18-Jährigen.

Holm: Ich war mir über meinen Status selbst nicht im Klaren. Dass ich ein höheres Gehalt hatte als viele andere, das wusste ich – ich wusste ja auch, dass ich keinen normalen Wehrdienst, sondern eine längerfristige Ausbildung machen sollte. Die Frage nach meinem formalen Status bei der Stasi hat für mich eigentlich keine Rolle gespielt. Und dieser Fragebogen kam 2005 in einer Situation, in der ich für etwa ein Jahr von einer Professorin eine Stelle angeboten bekommen habe – ich sollte mal schnell zur Personalabteilung rüber und die nötigen Formulare ausfüllen, damit wir schnell anfangen können. Das ging zack, zack. Was ich mir heute vorwerfen kann, ist mit Sicherheit, dass ich diese ganzen Formalien nicht besonders gründlich ausgefüllt habe.

ZEIT ONLINE: Unter dem Interview mit der taz von 2007 steht bei Ihnen: "Hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi". Jetzt sagen Sie, es sei Ihnen erst vor ein paar Wochen klar geworden, dass Sie hauptamtlicher Mitarbeiter waren …

Holm: Ehrlich gesagt, ich habe nicht geprüft, wie ich da beschrieben werde. Die Art und Weise, wie das, was ich in der DDR gemacht habe, klassifiziert wird, war für mich relativ nebensächlich. Wenn ich jetzt meine Stasiakte anschaue, dann entspricht das genau dem, was ich meinen Freunden Anfang der Neunziger erzählt habe und was 2007 im Interview stand.“

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-12/andrej-holm-berlin-senat-stasi-interview/komplettansicht

 

Menschen 2. Klasse

 

Peter Nowak: „Der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, hat persönlich dafür gesorgt, dass Journalisten über einen Link Einsicht in die Akte von Andrej Holm erhielten

Fünf Wochen war Andrej Holm Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Mieten und Stadtentwicklung in Berlin. Schon nach seiner Ernennung begannen verschiedene Kreise, an seinem Stuhl zu sägen. Dass nun ein Mann in die Politik gegangen war, der die Investoren zumindest zwingen könnte, sich an die Gesetze zu halten, beunruhigte manche. Da war es klar, dass die Vita von Holm mit Akribie durchleuchtet wurde.

Holms angebliche Nähe zu der außerparlamentarischen Linken und zu Hausbesetzern wurde sofort in den Fokus gerückt. Schließlich war der parteilose Holm seit Jahren in vielen mieten- und stadtpolitischen Initiativen aktiv. Doch dann rückte die MfS-Vergangenheit von Holm in den Vordergrund, die er schon vor 10 Jahren mit Stasi-Opfern öffentlich gemacht hatte. Schnell stellten sich Widersprüche zwischen Holms Darstellung und der MfS-Akte heraus, die plötzlich in der Öffentlichkeit zirkulierte.

Nun wurde bekannt, dass der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, persönlich dafür gesorgt hat, dass Holms Akte ausgewählten Journalisten bekannt gemacht wurde. Nach Mitteilung des Tagesspiegels könnte in der Weitergabe ein Verstoß gegen das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) vorliegen. Dies sieht eine Herausgabe von Unterlagen an Medien nur in engen Grenzen vor. Grund dafür ist der strenge Datenschutz angesichts der sensiblen persönlichkeitsbezogenen Informationen.

Der für die Aufsicht über die Gedenkstätten-Stiftung zuständige Kultursenator Klaus Lederer (Linke) sieht eine eigenmächtige Aktenweiterleitung kritisch: "Mitarbeiter der Stiftung sind gemäß Gesetz grundsätzlich nicht befugt, Unterlagen von Einzelpersonen ohne besondere Genehmigung an Dritte weiterzureichen", sagte ein Sprecher Lederers.

In einer Stellungnahme bestätigte die Gedenkstätte die Datenweitergabe, sieht dabei aber Hubertus Knabe vollkommen im Recht. Er habe die Daten zu Holms Akte nicht als Leiter der Stasi-Gedenkstätte, sondern als Privatmann, dazu noch im Urlaub, weitergegeben.

Hubertus Knabe auch im Urlaub als Stasijäger immer im Dienst, könnte man dazu sagen. Ob diese Trennung in Privatmann und Urlauber einer Überprüfung standhält, muss sich zeigen. Die Frage ist, ob Knabe hier nicht berufliche und private Interessen vermischt hat. Zudem liefert die Gedenkstätte eine bedenkliche rechtliche Bewertung, wenn schon in der Unterüberschrift der Pressemitteilung steht: "Unterlagen über "Ex-Stasi-Mitarbeiter können frei veröffentlicht werden." In einem eigenen Passus wird diese Auffassung in der Pressemitteilung noch einmal präzisiert:

Die Veröffentlichung von Unterlagen über ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurde vom Gesetzgeber ausdrücklich gewünscht. Er verpflichtete deshalb den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, derartige Unterlagen zum Zweck der politischen und historischen Aufarbeitung auf Antrag an jedermann herauszugeben. Der Versuch, die öffentliche Diskussion über die Stasi-Tätigkeit von Herrn Holm als nicht rechtskonform erscheinen zu lassen, ist von Unkenntnis der Gesetzeslage geprägt. Nur die personenbezogenen Informationen über Stasi-Opfer und Dritte sind aus Datenschutzgründen geschützt.

Stellungnahme der Gedenkstätte

Das Fazit dieses Abschnittes lautet, für ehemalige Mitarbeiter des MfS gibt es keinen Datenschutz. Dabei spielt auch keine Rolle, wie lange die Person beim MfS war, wie alt sie war und ob sie Menschen konkret geschadet hat. Sollte diese Auffassung der bisherigen Praxis entsprechen, wäre jedem Betroffenen zu raten, dagegen mit allen juristischen Mitteln vorzugehen. Denn selbstverständlich gelten Datenschutzregeln für alle und können nicht für eine bestimmte Gruppe außer Kraft gesetzt werden.

Es ist bekannt, dass wegen rechten Straftaten Verurteilte schon erfolgreich dagegen geklagt haben, dass ihr Name mit mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Delikten in Verbindung gebracht wird. Sie klagen ein, dass ihre Namen im Internet nicht mehr genannt werden dürfen. Es gibt ein Recht auf Vergessen auch dann, wenn sie vor einigen Jahren als Straftäter berechtigt Thema der Zeitgeschichte waren. Andrej Holm wurde nie einer Straftat überführt oder auch nur beschuldigt. Warum sollte für ihn kein Recht auf Vergessen gelten?

Sollte sich die Version der Gedenkstätte Hohenschönhausen durchsetzen, wäre das die Aberkennung von Grundrechten für eine ganze Personengruppe, unabhängig von ihren konkreten Handlungen und Taten.“

https://www.heise.de/tp/features/Keinen-Datenschutz-fuer-Stasi-Mitarbeiter-3609569.html

Johannes Eisenberg: „Treiben wir den Fall noch auf die Spitze und nehmen an, Holm hätte am 1. September 1989 einen Mord an einem „Klassengegner“ begangen, zum Beispiel im Auftrage seiner angeblich tschekistischen Eltern. Er wäre – wenn er nicht grottenschlecht verteidigt worden wäre – nach Jugendstrafrecht verurteilt worden, zu, sagen wir, achteinhalb Jahren Jugendstrafe. Er stand unter dem Einfluss der Eltern, handelte entsprechend antrainierter Kenntnisse und ethischer Maßstäbe, war noch nicht selbstständig, wohnte noch zu Hause und so weiter.

Die Richter hätten ihn reifemäßig als einem Jugendlichen gleichstehend beurteilt. Die Jugendstrafe hätte er teilweise abgesessen und deren Vollzug zur Ausbildung, Studium und Abschluss genutzt. Er wäre so etwa 1994 mustergültig „resozialisiert“ auf freien Fuß gekommen und hätte die Laufbahn, wie Holm eben, hinter sich gebracht und 2005 bei der HU beworben. Auf Nachfrage der HU hätte er angegeben, nicht bestraft zu sein. Später hätte die HU einen Bericht über die Mordtat gefunden. Sie wäre mit jedem Versuch, den Vertrag anzufechten oder zu kündigen, gescheitert. Denn: Die Jugendstrafe war nach dem Bundeszentralregistergesetz nach zehn Jahren zu tilgen, der Bewerber musste sie sich daher nicht vorhalten lassen.

Die Rechtspraxis gibt ausreichend Beispiele für diese Argumentation. So hat etwa das Bundesarbeitsgericht eine Anfechtung eines Angestelltenvertrages mit einem Gefängniswärter, der 2010 unwahre Angaben zu seinen strafrechtlichen Vorbelastungen gemacht hatte, für nichtig erklärt (2 AZR 1071/12). Der Mann war 2003 wegen Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 6 Monaten verurteilt worden, und seit 2007 liefen verschiedene Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Betrug, Beleidigung und gefährliche Körperverletzung. Alle Verfahren waren zum Zeitpunkt seiner Einstellung bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt oder eingestellt. Der Arbeitgeber hätte nicht fragen dürfen, der Mann durfte lügen.

Ebenso musste ein NPD-Aktivist bei einer Oberfinanzdirektion weiter beschäftigt werden (BAG 2 AZR 479/09), obwohl er erklärt hatte, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, und nicht offenbart hatte, NPD-Wahlkandidat gewesen zu sein. Der Arbeitgeber hätte angesichts des Charakters der Beschäftigung gar nicht danach fragen dürfen.

Nun sind Anfang der Neunziger zahlreiche übernommene Arbeitnehmer, Angestellte oder Beamte aus ihren Ämtern entfernt worden, weil sie ihre MfS-Tätigkeit verschwiegen hatten. Im Unterschied dazu lag die „Tätigkeit“ Holms im Jahre 2005 aber länger als eine halbe Generation zurück. Die 6-monatige hauptamtliche Tätigkeit beim MfS im Alter von 19 Jahren, die der Bewerber 1713548 vor seinem Studium und seinen beruflichen Stationen vollzogen hatte, konnte keinen konkreten Bezug zu dem und keinerlei Bedeutung für das wissenschaftlich-akademische Projekt haben, für das der Bewerber eingestellt werden sollte.

Legt man den Maßstab des Bundesarbeitsgerichts an die von der HU zu treffende Entscheidung an, so liegt die Antwort auf der Hand: Die HU hätte einen im Jahre 2005 35 Jahre alten Mann nicht nach einer möglichen hauptamtlichen Tätigkeit beim MfS fragen dürfen, denn es war auszuschließen, dass sich daraus Erkenntnisse zu einer Eignung für den wissenschaftlichen Job bei der HU ergeben konnten – angesichts des Alters des Kandidaten und der seit 1989 verstrichenen Zeit. Der Bewerber durfte entsprechend auch lügen. Politisch helfen diese Überlegungen dem Staatssekretär Holm in einer emotional und moralisch geführten Debatte nicht. Sie erklären aber das Vorgehen des Senats.“

https://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093/

„Nach dem Rücktritt des umstrittenen Berliner Staatssekretärs Andrej Holm hat der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (beide Linke) dafür plädiert, keine stasi-belasteten Personen in Regierungsämter zu berufen. Er habe bei der Regierungsbildung in Thüringen 2014 "darauf gedrungen, dass wir eindeutig sagen: Wir werden niemanden, der dem Apparat Staatssicherheit in irgendeiner Weise diente, in ein Regierungsamt berufen“, sagte Ramelow der "Thüringer Allgemeinen" (Dienstagsausgabe). Damit sei "ausdrücklich auch der Wehrdienst im Wachregiment der Staatssicherheit" gemeint gewesen.

Ramelow plädierte für eine höhere Sensibilität seiner Partei bei diesem Thema. "Das Signal, einen früheren Teil dieses Apparats, und mag er damals noch so unwichtig gewesen sein, Mitglied der Regierung werden zu lassen, ohne die Wähler zu befragen: Das wollte ich nicht." Es seien immer "noch viele Menschen von dem Unterdrückungs- und Bespitzelungsapparat Staatssicherheit“ traumatisiert. Man dürfe sich in dieser Frage "nicht in einer Grauzone" bewegen, sagte Ramelow.“

https://www.welt.de/newsticker/news1/article161242116/Ramelow-Keine-Stasi-belasteten-Personen-in-Regierungsaemter.html

 

Sind Mitarbeiter des Geheimdienstes verachtenswerte Gestalten?

 

George Bush, Präsident der USA von 1989 bis 1993, war es: Chef des US-amerikanischen Geheimdienstes.

Klaus Kinkel, deutscher Justiz- und Außenminister von 1991 bis 1998, war es: Chef des deutschen Geheimdienstes.

Handelt es sich deshalb um schlechte Menschen?

Jeder Staat dieser Erde hat einen Sicherheitsapparat bestehend aus Militär, Geheimdienst und Polizei. Menschen, die in diesen Sicherheitsapparaten arbeiten, dienen ihrem jeweiligen Land. Solange sie sich an Recht, Gesetz und Moral halten, ist ihnen nichts vorzuwerfen.

Auch von seinen ärgsten Feinden wird Andrej Holm nicht vorgeworfen, in seiner 5-monatigen Ausbildung im Alter von 18 Jahren üble Taten begangen zu haben.

Wohl aber, dass er sich einer Art „kriminellen Vereinigung“ angeschlossen hätte.

Dazu Wolf Wetzel: „Gehen wir einmal davon aus, dass der 18-jährige Andrej Holm im engen oder weiteren Sinne für den Inlandsgeheimdienst der DDR (Stasi) gearbeitet hat. Er hatte sich den familiären Erwartungen und dem politischen Druck gebeugt. Möglicherweise wollte er auch seinem Land „dienen“ und sich nichts verbauen.

Diese angepasste und karrierebewusste Haltung pflegen ganz besonders jene, die den BürgerInnen der DDR genau dies vorhalten.

Vielleicht kannte der 18-jährige Andrej Holm auch noch nicht die „Ost-West-Gleichung“: Wenn in der DDR Menschen bespitzelt werden, dann ist das ein Merkmal für eine Diktatur. Wenn dies in Westdeutschland passiert, ist das hingegen ein Zeichen einer „wehrhaften Demokratie“.

Gehen wir die Abrechnung (mit der Vergangenheit) einmal unbefangen durch:

Wie viele, die ihm das vorwerfen, haben in Westdeutschland alles mitgemacht? Wie viele haben in Westdeutschland eisern und beharrlich die Renazifizierung unterstützt und gedeckt?

Wie viele ehemalige Nazis durften in allen Positionen und in allen Ministerien weitermachen, ihre Karriere fortsetzen? Wie viele haben diese faschistische „Vergangenheit“ gedeckt und geteilt?

Wer hat in Westdeutschland bereits Anfang der 50er Jahre Faschisten aus dem Dritten Reich in stay-behind–Terrorgruppen organisiert und bewaffnet? Wer deckt diesen staatseigenen Terrorismus bis heute?

Wie viele waren am Verbot der KPD, an den zehntausenden Berufsverboten, bis hin zum „Deutschen Herbst“ ab Mitte der 70er Jahre beteiligt?

Andrej Holm hat sich am Spitzelsystem der DDR beteiligt. Lassen wir das einmal so stehen und fragen die aufrecht Empörten: Wie viele lebten vom Bespitzeln und Überwachen in Westdeutschland? Wer hat in Westdeutschland zugelassen, dass US-Geheimdienste grenzenlos und ohne jegliche parlamentarische/institutionelle Kontrolle bespitzeln und überwachen durften? Wer hat diesen Verfassungsbruch gedeckt?

Wie viele von den nun Empörten finden Überwachung und Bespitzelung in Ordnung – zum Schutz dieses Landes?

So titelte das Magazin „Der Spiegel“ bereits Anfang der 80er Jahre seine Titelstory mit der Überschrift:

Auf dem Weg zum Überwachungsstaat“ (2/1983): Die Gefahren des ‚großen Bruders’ sind nicht mehr bloß Literatur. Sie sind nach dem heutigen Stand der Technik real.“

Der Fall Andrej Holm ist ein Grund mehr, mit der Vergangenheit und ihrem Ranking offensiv umzugehen und endlich die Mär vom Unrechtstaat DDR und vom Rechtsstaat BRD durchzubuchstabieren.

Man braucht die Generation „Flakhelfer“ und die angebliche „Stunde Null“ in Westdeutschland nicht in Erinnerung zu rufen, um diese Infamie anzugreifen, mit der Andrej Holms Vergangenheit für untragbar gehalten wird.

Andrej Holm hat mit seiner oppositionellen Haltung hier, in diesem Deutschland, mehr aus seiner Jugend gemacht, als alle jene, die bis heute die „Weltherrschaft der Spitzel“ (FR vom 28. Juni 2013) decken und tragen.

Und genau diese nicht angepasste Haltung, die Bereitschaft, kein Systembückling zu sein, haben Andrej Holm keine Lorbeeren eingebracht, sondern Überwachung, Bespitzelung und Einzelhaft. Im real existierenden Deutschland.

Andrej Holm wurde über mehrere Monate überwacht und am 31. Juli 2007 inhaftiert. Der Vorwurf lautete, Mitglied einer militanten Gruppe (mg) zu sein, die sich u.a. zu mehreren Anschlägen auf Immobilienfirmen bekannt hatte. Das Bundeskriminalamt fand heraus, dass es zwischen einem Text von Andrej Holm und Bekennerschreiben der ›mg‹ eine »Vielzahl« von Übereinstimmungen gäbe: Wörter wie ›Reproduktion‹, ›implodieren‹, ›Prekarisierung‹, ›Bezugsrahmen‹, ›politische Praxis‹ oder das nicht ganz leichte Wort ›Gentrifizierung‹ würden in beiden Texten auftauchen. Außerdem habe er sich der Überwachung dadurch entzogen, indem er an Treffen beteiligt gewesen sei, ohne sein Handy mitzuführen.

Ende August 2007 wurde der Haftbefehl aufgehoben, im Jahr 2010 wurde das „Verfahren“ eingestellt.

Fangen wir also an, mit der Vergangenheitsbewältigung, mit der Beantwortung der Frage: Was ist ein „Unrechtsstaat“, was ist ein „Rechtsstaat“?“

http://www.nachdenkseiten.de/?p=36344

 

Der Staatsfeind

 

Wie der Sicherheitsapparat in einem „Rechtsstaat“ mit „Oppositionellen“ umspringt, weiss Andrej Holm aus eigener Erfahrung. Mensch sehe und schaudere: die rbb-Produktion „Mein Leben als Terrorist“:

 

 

Ernst Corinth aus dem Jahr 2007:

„Die Lebensgefährtin des Soziologen Andrej Holm, ein Opfer staatlicher Überwachung, schildert ihren Alltag

Über den unter Terrorismusverdacht stehenden Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm ist in den letzten Wochen viel geschrieben wurden. Es gab Solidaritätsbekundungen auch aus dem Ausland und von angesehenen Kollegen. Und einige der gegen ihn erhobenen Vorwürfe sind mehr als absurd. Dennoch wird Andrej Holm auch nach seiner vorzeitigen Haftentlassung vom BKA und der Bundesanwaltschaft weiterhin wie ein Staatsfeind Nr. 1 behandelt und davon betroffen ist auch seine Familie, seine Lebensgefährtin und ihre zwei Kinder.

Wie ein Leben unter ständiger Beobachtung durch das BKA ausschaut, schildert Holms Lebensgefährtin seit Anfang Oktober in dem Weblog Annalist https://annalist.noblogs.org/ . Ihr Versuch, die Isolierung aufzubrechen, Gegenöffentlichkeit herzustellen und auch der Versuch, die staatlichen Beobachter zumindest ein Stück weit selber unter Beobachtung zu stellen. Gleichzeitig hat man zuweilen den Eindruck, dass beim BKA technische Dilettanten am Werke sind oder sollen die offensichtlichen Pannen die Überwachten zusätzlich verunsichern?

Und wieder. Ich rufe Andrejs Handy an und werde aufgefordert, meine eigene Mailbox-PIN einzugeben. Ich versuche es mit dem Festnetztelefon nochmal und höre meine eigene Ansage.

Dann ruft mich jemand anders auf dem Handy an, es klingelt zweimal.. und stürzt ab.

Ich schicke Andrej eine SMS in der Erwartung, dass die dann auch bei mir landet, aber die kommt nicht wieder.

Ich mache einen ersten Versuch, das zu bloggen, und der Rechner stürzt ab. Bei einem neuen Rechner mit neuem Kubuntu, auf dem nur Mail-Client, Browser, Pidgin und ein Open-Office-Dokument laufen, auch nicht unbedingt erwartungsgemäß - auch das kommt in den letzten Tagen zunehmend vor. Zunächst habe ich das für reguläres Schwächeln gehalten, wenn zuviel gleichzeitig läuft und verdächtigte Amarok. Ob mein Computer ein Morgenmuffel ist? Es gibt sicher für alles eine ganz rationale Erklärung.

Genau wie für den Brief, der neulich bei Andrejs Eltern ankam, von einer Bekannten, handschriftliche Adresse, korrekter Absender, offensichtlich privat. Als er ankam, fand sich links unten neben der Adresse ein Stempelaufdruck: 'Irrläufer! Poststelle der Berliner Senatskanzlei'.

Absicht oder Versehen? Auf jeden Fall ziemlich unsouverän.

Dass das BKA dabei nicht vor Schikanen zurückschreckt oder sie zumindest initiiert, wundert nach dem Lesen des Weblogs kaum noch:

Kleine Schikanen am Rande: einem Beschuldigten wurde gerade ohne Angabe von Gründen das Giro-Konto von der Bank gekündigt, einem anderen unvermittelt der Mietvertrag nicht verlängert. Bei uns kommt weiterhin täglich vor, dass, wer Andrej anruft, meine Mailbox erreicht.

Dass die Bundesanwaltschaft und das BKA eine eigene, wenn auch groteske Logik bei ihrer Arbeit entwickelt haben, zeigt dieses Beispiel:

Nach Ansicht von der zuständigen Unterbundesstaatsanwältin muss Andrej just deswegen sofort wieder in U-Haft, weil 1. zu befürchten steht, dass er sofort abhaut, wenn er draußen ist. Das begründet sie u.a. mit einem weiteren schnuckeligen Mitschnitt eines Telefonats zwischen Andrej und seiner Mutter irgendwann im Frühjahr (ein Wunder, dass die überhaupt noch telefoniert). Darin geht es um eine Bewerbung auf eine Stelle an einer Uni in den Niederlanden. Wie denn das gehen wird, wenn er da arbeitet, mit der Familie, fragte sie da. Und er antwortete, dass er dann, wenn das denn klappt mit der Stelle, vielleicht erstmal pendeln muss. Und dass wir vielleicht irgendwann nachziehen würden. Und was macht unsere Lieblingsbehörde daraus? Die angeblich so enge Bindung an die Familie ist ja wohl nicht gegeben = Fluchtgefahr, ganz klar! Bzw., falls das nicht reicht: er würde ins Ausland umziehen, mit Familie!

Wie schnell man als Überwachter an den Rand der Paranoia getrieben wird, beschreibt dieser Ausschnitt:

Was mich daran erinnert, dass ich kürzlich in einem Telefonat versehentlich die Formulierung gebraucht habe, dann denken sie bestimmt gleich wieder, dass wir sofort irgendwelche Anschläge vorbereiten, wobei ja meines Wissens niemand davon ausgeht, dass ich Anschläge vorbereite, und ich mir dann innerlich auf die Zunge biss, weil ja zu befürchten steht, dass das BKA samt BAW jetzt vielleicht denken, dass ich Anschläge vorbereiten wollen könnte.

Wer Annalist sorgfältig liest, erfährt also von Menschen, denen man das Recht auf Privatsphäre völlig genommen hat, die eingeschüchtert und in die Enge getrieben werden. Und er lernt dabei eine Bundesrepublik kennen, in der Bundesbehörden und Polizei ganz offen und scheinbar ganz legal staatliche Willkür ausüben. Ein Dokument, das erschrocken und betroffen macht. Und Schlimmes für die Zukunft befürchten lässt.“

https://www.heise.de/tp/features/Ein-Weblog-des-Terrors-3415819.html

 

Zu Kreuze kriechen

 

Was seine Kritiker wohl am meisten erbost, ist, dass er nicht zu Kreuze kriecht und sich „angepasst“ verhält. So wie etwa frühere westdeutsche Radikale, teilweise auch Gewalttätige wie Joschka Fischer, späterer Außenminister, der dafür gesorgt hat, dass Deutschland wieder in den Krieg zieht.

Peter Nowak: „Auch dass sich Holm bereits im Jahr 2007 mit DDR-Oppositionellen, die von der Repression der Stasi betroffen waren, mit seiner Tätigkeit für die DDR-Sicherheitsorgane kritisch auseinandersetzte und das Ergebnis sogar in der Taz öffentlich gemacht wurde, wird nun gegen ihn ausgelegt. So heißt es in der HU-Erklärung:

In dem vielzitierten taz-Interview vom Dezember 2007 konnte er sich wohl an Einzelheiten seiner MfS-Tätigkeit erinnern. In seinem Lebenslauf, den er bei der Wiedereinstellung 2011 der HU vorgelegt hat, verschwieg Herr Dr. Holm die Tätigkeit als Offiziersschüler des MfS weiterhin.

Humboldt-Universität

Da stellt sich doch die Frage, warum 10 Jahre lang niemandem an der HU aufgefallen sein soll, dass es Unterschiede zwischen Holms Angaben im Fragebogen und in der Taz gab und er darauf nicht angesprochen wurde.

Tatsächlich wird in der Erklärung der HU deutlich, dass Holm gehen soll, weil er eben aktuell nicht zu Kreuze kriecht sondern weiterhin eine kritische Haltung bewahrt und auch äußert, auch was den Umgang mit seiner Biographie betrifft. Das wird ganz deutlich an diesem Satz:

Die gegenüber der HU abgegebene Stellungnahme und die öffentlichen Äußerungen von Herrn Dr. Holm zeigen, dass er nicht bereit ist, seine Falschangaben gegenüber der HU einzuräumen und sich von ihnen zu distanzieren.

Humboldt-Universität

Sich zu distanzieren, das ist die Forderung aller Repressionsorgane in Ost und West. Der DDR und anderen nominalsozialistischen Ländern hatte man mangelnde Selbstkritik vorgeworfen. Im Deutschen Herbst wurden kritische Wissenschaftler zur Distanzierung von linker Theorie und Praxis aufgefordert. Wer sich nicht distanzierte, wie der Soziologieprofessor Peter Brückner, verlor seinen Job.“

https://www.heise.de/tp/features/Humboldt-Universitaet-Berlin-Kritische-Wissenschaft-unerwuenscht-3603293.html

 

Gentrifizierung

 

Einen ersten Überblick über die Thematik bietet ein Teilaspekt eines Beitrages des Wurms vom September 2015:

„Alleine dieses Jahr sollen mindestens 800.000 bis eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Nachdem „das Schlimmste“ erst mal überstanden ist, brauchen diese Wohnraum und Arbeitsplätze.

Und werden auf Millionen von Deutschen treffen, die arbeitslos sind bzw. von der Politik bewusst in unsichere und immer niedriger bezahlte Jobs abgedrängt wurden (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/176-personifizierter-drecksack.html ), die sich immer weniger halbwegs anständige Wohnungen leisten können und damit aus den Städten abgedrängt werden, die sehen, wie die Infrastruktur in den Kommunen wg. Geldknappheit zerfällt und in den Staatsmedien völlig ungerechtfertigt als sehr negativ dargestellt werden.

Jetzt kommen Flüchtlinge, die in den Staatsmedien äußerst positiv dargestellt werden, für die bundesweit völlig problemlos 10 Milliarden Euro aufgewendet werden, für die der soziale Wohnungsbau angekurbelt wird und für die Arbeitsplätze geschaffen werden.

Jubel wird da nicht ausbrechen. Auch nicht über die Gutmenschen, denen ihr Schicksal bislang weitest gehend egal war …

„Bereits vor drei Jahren konstatierte das Pestel-Institut in einer Studie, dass vier Millionen Sozialwohnungen fehlen. Als Bedarf rechnete das Institut damals bundesweit mit rund 5,6 Millionen, die verfügbaren bezifferte man mit 1,6 Millionen. Jedes Jahr gebe es immer weniger Sozialwohnungen, kritisierte die Studie. Im Schnitt würden 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr vom Markt verschwinden - "eine dramatische Entwicklung".

Als Gründe dafür wurden genannt, dass immer mehr Wohnungen aus der Mietpreisbindung herausfallen und nur wenige neue Sozialwohnungen gebaut würden. Von politischer Seite wurde das Thema in den Hintergrund gedrängt, es gab deutliche Entwicklungstendenzen, die den profitableren Entwicklungen im Bausektor zuarbeiteten, lässt sich der Studie entnehmen:

Im Jahr 1987 gab es noch knapp vier Millionen Sozialwohnungen in der alten Bundesrepublik, heute sind es in ganz Deutschland nur noch 1,5 Millionen, also nicht einmal mehr die Hälfte davon.“

Im oben zitierten Artikel, erschienen Anfang August dieses Jahres, wird berichtet, dass Kommunen, um Geld in ihre Kassen zu bekommen, immer häufiger Grundstücke und Immobilien verkauft haben, was ihre Spielräume für sozialen Wohnungsbau immer mehr einengte.

„Tatsächlich haben viele Großstädte in den vergangenen Jahren einen Großteil ihrer Wohnungen zu Geld gemacht. Dresden verkaufte aus Geldnot gar seinen gesamten kommunalen Wohnungsbestand 2006 an einen internationalen Immobilieninvestor, für insgesamt 1,7 Milliarden Euro. Damit machte sich die sächsische Metropole zur ersten schuldenfreien Großstadt Deutschlands, aber eben auch zur ersten ohne eigene Wohnungen für Bedürftige. Auch Kiel stieß alle seine Wohnungen ab. Berlin hat inzwischen rund 310.000 seiner ehemals 585.000 Wohnungen verkauft. München schlug vor zwei Jahren 32.000 Wohnungen los. Die Liste ließe sich beliebig verlängern“ …

Unter der Nachricht der Tagesschau zur Studie des Instituts, gab es verärgerte Kommentare:

„Für viele deutsche Geringverdiener gibt es keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, da der soziale Wohnungsbau immer weiter runter gefahren wurde. Luxussanierungen bringen ja mehr Geld.“

Von diesem Standpunkt aus geht es, nicht zwangsläufig, aber auch nicht gerade selten, zur nächsten Position, die auf einem Berg von Ressentiments steht:

„Der Mensch 2. Klasse (Inländer) stellt nun mit Erstaunen fest, dass jetzt zügig für die 1. Klasse Menschen, den Flüchtlingen, Sozialwohnungen gebaut werden müssen.“

Von zügig bauen ist ja noch nicht die Rede. Wenn nun der Bund tatsächlich mehr Geld für sozialen Wohnungsbau bereitstellen würde, dann würden davon auch diejenigen profitieren, die bereits in Deutschland leben und sich die teuren Mieten immer weniger leisten können.“

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45995/1.html

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/186-kater-vor-der-tuer.html

 

Positionen von Andrej Holm

 

Wolf Wetzel: „Andrej Holm ist Stadtsoziologie und hat sehr profunde Analysen gemacht, die das doch recht unverständliche Wort „Gentrifizierung“ greifbar machen, also den Prozess der Verdrängung von alten MieterInnen, das gefällige Zusammenspiel von Stadtplanung, Investoren und Banken, um sich die attraktivsten Teile der Stadt unter den Nagel zu reißen. Andrej Holm kann nicht nur sehr exakt belegen, dass der „freie Markt“ eine Farce ist, also ein Eldorado für fünf Prozent der Bevölkerung. Er kann auch sehr genau begründen, wie sich die Stadtregierungen mit ihren verschiedenen und doch gleichen Parteienmischungen gegenseitig darin überboten haben, zu beweisen, dass das „Primat der Politik“ eine Fußnote im Häuserkampf von oben ist – wenn es darum geht, die Frage zu beantworten: Wem gehört die Stadt?

Dazu hat Andrej Holm mit beigetragen, durch präzise Analysen und durch seine Präsenz als Aktivist, als Gegner einer Stadtpolitik, die sich vor allem als Immobilienverwertungskonsortium versteht.“

http://www.nachdenkseiten.de/?p=36344

 

 

März 2016: Über Wohnungs-Politik der letzten Jahre

 

„Andrej Holm über Wohnraum-Versorgung und Wohnraum-Mangel in Deutschland. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gentrification, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik.

Was sind die wesentlichen Gründe dafür, dass es in bestimmten Metropolen und Regionen in Deutschland heute einen Wohnraum-Mangel gibt?

Andrej Holm: Die in einigen Städten drohende Wohnungsnot hat verschiedene Ursachen. Neben demografischen Effekten, den starken Wanderungsgewinnen mancher Städte in den letzten Jahren, sind es vor allem ökonomische und politische Ursachen, die zur aktuellen Problemlage geführt haben. Es wäre zu einfach, den Mangel an Wohnungen auf das Missverhältnis zwischen starkem Bevölkerungswachstum und stagnierender oder sogar rückläufiger Bautätigkeit zu verkürzen. Eine Ursache ist offensichtlich, dass Investitionen in den Neubau für einen Großteil der privaten Marktakteure ökonomisch nicht attraktiv genug sind. Das hat weniger mit den hohen Baupreisen als mit der wachsenden Ertragserwartung der Investoren zu tun. Solange mit Spekulationen auf starke Mietsteigerungen im Bestand eine hohe Rendite erzielt werden kann, wird es kein großes Interesse am Wohnungsneubau geben. Auch wenn von den Lobbyisten der Bauwirtschaft immer wieder auf die schwerfälligen Genehmigungsverfahren bei Bauvorhaben verwiesen wird: Das Bauen in Deutschland war nicht verboten und die geringe Neubauleistung trotz steigender Bevölkerungszahlen zeigt vor allem, dass die viel gepriesenen Marktmechanismen nicht greifen. Zu diesem Marktversagen kommt hinzu, dass sich die Kommunen fast überall aus dem Wohnungsneubau zurückgezogen haben. Anders als in früheren Dekaden wird das Marktversagen nicht durch staatliches Investieren ausgeglichen. Die Zeche für dieses doppelte Versagen von Markt und Staat zahlen die Mieterinnen und Mieter mit steigenden Mietpreisen und die Wohnungssuchenden, die gänzlich von der Wohnungsversorgung ausgeschlossen bleiben.

Welche Art Wohnräume fehlen eigentlich genau und in welchen Städten und Regionen ist dieser Wohnraum-Mangel besonders groß?

Andrej Holm: Es fehlen vor allem leistbare Wohnungen für die Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen. Es gibt keine Wohnungsnot im Luxuswohnbereich. Dort fallen inzwischen sogar die Preise wieder. Ganz grundsätzlich gilt: je geringer das Einkommen, desto schwieriger die Wohnungsversorgung. Einzelne Studien zeigen, dass Geringverdiener oft 50 oder sogar 60 Prozent des sowieso schon geringen Einkommens für die Wohnung ausgeben. Da bleibt nicht viel zum Leben. Besonders drastisch ist die Situation in den wachsenden Großstädten und in einer Reihe von Universitätsstädten. Durch die wachsenden Bevölkerungszahlen und die hohen Neuvermietungszahlen durch häufige Wohnungswechsel werden Monopolstellungen der Anbieter hier besonders stark ausgenutzt. Das Paradox der aktuellen Situation wird hier besonders deutlich. Gerade weil die Wohnungsmärkte überfordert sind und die Preise steigen, gibt es weniger Neubauanreize, weil sich im Bestand so hohe Gewinne erzielen lassen. Eine Lösung des Problems wird um substantielle Einschränkungen der zurzeit möglichen Ertragserwartungsspekulationen mit Bestandswohnungen nicht umhin kommen.

Welche Rolle spielten Privatisierungen von Wohnbeständen des Bundes, der Länder und der Kommunen in der Vergangenheit, und welche Rolle könnten öffentliche Wohnungsunternehmen in der Zukunft spielen?

Andrej Holm: Die umfangreichen Privatisierungen der letzten 15 Jahre haben zu einer Marktradikalisierung beigetragen. Verkauft wurden ja meist große Portfolios, so dass die Privatisierung vor allem für institutionelle Anbieter interessant war. Es wird geschätzt, dass es inzwischen weit über zwei Millionen Wohnungen sind, die mehr oder weniger direkt von Banken, Immobilienfonds und anderen Finanzmarktakteuren bewirtschaftet werden. Die Privatisierung war der Türöffner für den wachsenden Einfluss von Finanzmarktlogiken im Bereich der Wohnungsversorgung. Für die Mieterinnen und Mieter hat das sehr unterschiedliche Konsequenzen. Während in eher entspannten Wohnungsmärkten die Gewinne durch Desinvestitionen und Einsparungen beim Personal durchgesetzt werden, wird in den Städten mit einer starken Nachfrage an der Spekulationsschraube gedreht. Schrottimmobilien und Luxusaufwertung sind letztendlich zwei Seiten ein und derselben Medaille. Für die Städte ist es besonders bitter, denn mit den wachsenden Problemen im privatisierten Bereich hat sich zugleich der kommunale Handlungsspielraum eingeengt. Je größer die öffentlichen Bestände einer Stadt, desto größer die Versorgungsleistung und die Effekte auf den Wohnungsmarkt. Im Vergleich mit anderen wohnungspolitischen Instrumenten ist öffentliches Eigentum an Wohnungen eigentlich sehr effektiv. Wenn nicht die Wohnungsunternehmen selbst zu einer Ökonomisierung gedrängt werden, wie es leider in vielen Städten zu beobachten ist.

Würde es helfen, den sozialen Wohnungsbau auszuweiten?

Andrej Holm: Ja, eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus würde zumindest kurzfristig die Anzahl und den Anteil von preiswerten und belegungsgebundenen Wohnungen erhöhen. Aber die zurzeit bereitgestellten Fördermittel von Bund, Ländern und Kommunen reichen nicht einmal aus, um die Abgänge der früheren Förderperioden zu kompensieren. Obwohl die Förderausgaben steigen, wird die Zahl der verfügbaren Sozialwohnungen weiter sinken. Die Fördersystematik des Sozialen Wohnungsbaus hat drei große Probleme: Der Wohnungsbau ist sehr teuer, die planmäßige Steigerung der Mietpreise durch den Abbau der Fördermittel lässt die Mieten steigen und der Soziale Wohnungsbau ist zeitlich befristet. Ein Großteil der Fördergelder wurde in der Vergangenheit an private Wohnungsunternehmen gegeben, die dann für meist 20 Jahre Sozialwohnungen zu halbwegs günstigen Mieten bereitgestellt haben. Nach Ablauf der Förderzeiträume enden die Sozialbindungen, und ehemalige Sozialwohnungen werden zu den ganz normalen Marktkonditionen bewirtschaftet. Das führt zu steigenden Mieten und zur Verdrängung finanzschwacher Bewohnerinnen und Bewohner. Im Kern ist der Soziale Wohnungsbau also eine Wirtschaftsförderung mit sozialer Zwischennutzung. Andere europäische Länder setzen ihre Fördermittel nachhaltiger ein. Was einmal gefördert ist, sollte auch hierzulande dauerhaft zur sozialen Wohnungsversorgung beitragen.

Sie plädieren für die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau. Was ist damit gemeint, und weshalb halten Sie dies für sinnvoll?

Andrej Holm: Die Gemeinnützigkeit kann ganz allgemein als eine steuerliche Begünstigung für Leistungen beschrieben werden, die dem Gemeinwohl dienen. Eine neue Wohngemeinnützigkeit hätte die dauerhafte Bereitstellung von preiswerten Wohnungen zum Ziel und die Unternehmen müssten sich einer Gewinnbeschränkung und einer Zweckbindung der Überschüsse unterwerfen. Alle Einnahmen müssten dann wieder in den sozialen Wohnungsbau investiert werden. Ein solches revolvierendes Prinzip würde auch die Probleme des Sozialen Wohnungsbaus lösen. Dass eine soziale Wohnungsversorgung im Interesse der Allgemeinheit läge, steht außer Frage. Wie beschrieben, können wir von privaten Investoren keinen nachhaltigen Beitrag für eine soziale Wohnungsversorgung erwarten. Diese soziale Blindheit des Marktes ist dabei kein böser Wille einzelner Akteure, sondern das Wesen einer gewinnorientierten Bewirtschaftungsweise. Die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit soll dazu dienen, den Non-Profit-Sektor im Bereich der Wohnungsversorgung zu stärken. Gerade weil der Markt versagt und der Staat die Wohnungsversorgung nicht umfassend vergesellschaften wird, bietet sich der Ausbau eines gemeinnützigen Sektors als eine notwendige und machbare Alternative an. Es geht also um nichts weniger als den Bruch mit der Profitlogik im Bereich der Wohnungsversorgung.“

http://www.annotazioni.de/post/1827

http://niedersachsen.dgb.de/themen/++co++23ea4ba2-b9d6-11e5-8cc0-52540023ef1a

 

Gentrification heißt Verdrängung - Andrej Holm im Gespräch - Teil 1

 

 

Andrej Holm im Gespräch (Teil 2): Stadt und Kapital

 

 

Andrej Holm im Gespräch (Teil 3): Recht auf Stadt

 

 

Juni 2016: Über die Mietpreisbremse

 

„Weder Gerede noch Gesetze konnten den rasanten Anstieg der Mieten in den Großstädten stoppen. Dafür fehlt der politische Wille

Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es sie, die Mietpreisbremse. Für Städte mit einem angespannten Wohnungsmarkt können die Bundesländer seither die Miete bei Wiedervermietung beschränken – für zunächst fünf Jahre. Die Länder haben dies bisher in mehr als 300 deutschen Städten getan. Im Kern geht es um die Kappung der Miete bei zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete. Die Idee ist an sich einleuchtend: Ohne Wohnwertverbesserung soll es keine großen Mietsprünge geben. So könnte das überzogene Ausnutzen des Wohnungsmangels in überhitzten Wohnungsmärkten unterbunden werden …

Ein Jahr später zeigt eine Zwischenbilanz, dass sich weder soziale Heilsversprechen noch wohnungswirtschaftliche Katastrophenszenarien bewahrheitet haben …

Unabhängig von diesen Kontrolldefiziten verfehlt die Mietpreisbremse ihre soziale Wirksamkeit durch einen systemischen Mangel. Mit dem Prinzip, die Mieten auf Höhe von zehn Prozent über den ortsüblichen Vergleichsmieten zu kappen, werden nur die Spitzen der Preisexplosionen abgemildert, ihre grundsätzliche Markttendenz wird fortgesetzt. Vor allem entsteht keine einzige preiswerte Wohnung.

Eigentlich sind die wohnungspolitischen Herausforderungen relativ simpel: Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen brauchen Wohnungen zu unterdurchschnittlichen Mietpreisen. Das hat die Mietpreisbremse selbst bei voller Entfaltung ihrer Wirkung nicht zu bieten. Letztendlich ist die Regelung ein Placebo, das Vermieterinnen nicht wehtut und vorrangig den Besserverdienenden nützt …

Tatsächlich wird öffentlich neben der Mietpreisbremse der Neubau als Lösung der Krise angepriesen. Vertreter der Immobilienwirtschaft wurden zuletzt nicht müde, ihn sogar als einzige Antwort auf die Wohnungskrise zu proklamieren. Da ist ja auch was dran: Wenn Wohnungen fehlen, braucht es zusätzliche Wohnungen. Mit entsprechendem medialem Rückenwind formierte sich das „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“: eine denkbar breite Koalition aus Wohnungswirtschaft, Bauindustrie, Gewerkschaften, Architekten, Stadtverwaltungen, Banken und Regierung. Im engeren Sinn ist es ein Bündnis für den Neubau, an dem alle potenziellen Geschäftspartner der Immobilienverwertung beteiligt sind …

Zum anderen ist die Neubauorientierung ausgesprochen konsensfähig, da sie den meist langjährigen Geschäftspartnern aus der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft nicht wehtut. Anders als mietrechtliche Auflagen, Erhaltungssatzungen oder Umwandlungsverordnungen schränkt der Neubau die Marktkräfte nicht ein, sondern fördert sie offen. Im Kern reduziert sich Wohnungspolitik in Gestalt von Neubauanreizen und steuerlichen Subventionen auf reine Wirtschaftsförderung. Dass dabei soziale Effekte von eher beschränkter Reichweite sind, ist nicht verwunderlich …

Angesichts der Spekulation mit Ertragserwartungen in den Städten braucht es nicht Mietpreisbremse und Luxusneubau. Sondern eine Verwertungsbremse und kommunalen Wohnungsbau. Solange politischer Willen fehlt, den Handel mit Bestandsimmobilien deutlich einzuschränken, wird es keine soziale Wohnungsversorgung in den Großstädten geben.“

https://www.freitag.de/autoren/andrej-holm/die-falsche-bremse

 

 

 

Dezember 2016: Geplante neue Wohnungspolitik

 

„ZEIT ONLINE: In einer Solidaritätserklärung von Wissenschaftlern, heißt es: "Diese Diskreditierungsversuche gegen seine Person müssen als der Versuch verstanden werden, eine Änderung der Stadt- und Wohnungspolitik zu unterbinden." Muss das so verstanden werden?

Holm: Ich will mich nicht über die Motive derer erheben, die Kritik an der Personalentscheidung haben. Aber das, was wir uns vorgenommen haben, ist tatsächlich ein deutlicher Richtungswechsel der Wohnungspolitik in Berlin. Wir haben eine ganz klare Priorisierung von sozialen Funktionen des Wohnens gegenüber privaten Profiten oder privaten Interessen …

Das Eigentum wird nicht infrage gestellt. Aber wir wollen eine Priorisierung, eine Verantwortung für die sozialen gemeinwohlorientierten Belange, die in einer Stadt wichtig sind. Wir haben Eigentum, das wir sehr stark schützen und sogar ausbauen wollen, nämlich das öffentliche Eigentum bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Sie können eine Stadt, in der viereinhalb Millionen Menschen leben, nicht nach privaten Interessen einzelner Grundstückseigentümer organisieren, sondern wir sind darauf angewiesen, im großen Umfang Gemeinwohl durchzusetzen.

ZEIT ONLINE: Wie soll das konkret geschehen?

Holm: Wir haben da eine Reihe von Instrumenten die auch schon in der Vergangenheit diskutiert wurden. Dazu gehört das Zweckentfremdungsverbot, das muss überarbeitet werden, sodass es tatsächlich hilft – nicht nur gegen die Ferienwohnungen, sondern auch gegen spekulativen Leerstand. Das soll genutzt werden um bei Abrissen den Neubau von preiswerten Wohnungen zu erzwingen, was es bisher nicht gibt. Wir werden die Milieuschutz-Satzungen, die mit qualifizierten Umwandlungsverordnungen verbunden sind, ausweiten. Wir werden Instrumente des Vorkaufsrechts stärker in Anschlag bringen, um den Wohnungsbau anzukurbeln. Es gibt nicht den Königsweg, den einen Hebel, der alles richtet. Wohnungspolitik in sozialer Verantwortung muss immer ein Zusammenspiel von ganz vielen einzelnen Elementen sein.

ZEIT ONLINE: Aber was ist daran neu und radikal?

Holm: Unsere Wohnungspolitik wird sich von der bisherigen Politik unterscheiden. Nicht so sehr die Einzelinstrumente werden sich verändern, sondern das Ziel, mit dem wir sie einsetzen. Ob das erfolgreich ist, ob wir tatsächlich den großen immobilienwirtschaftlichen Druck, den es in Berlin ja unbestritten gibt, stoppen können, ob Berlin auch langfristig eine Stadt ist, in der Leute mit wenig Einkommen in der Innenstadt wohnen können, das wird man sehen.

ZEIT ONLINE: Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sollen jetzt für 10 Euro pro Quadratmeter neu bauen – wie soll das gehen? Angesichts steigender Bodenpreise und Baukosten und kostspieligen Klimaschutzauflagen kommt man doch schon auf Erstellungskosten nicht unter 13 Euro pro Quadratmeter …

Holm: Da gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Es gibt auch in der Innenstadt Berlins Wohnungsbauprojekte, bei denen gezeigt wurde, dass man auch für 4,50 pro Quadratmeter bauen kann. Die Wohnungsbaugesellschaften bekommen in jedem Fall Unterstützung: Grundstücke werden in den Bestand der Wohnungsbaugesellschaften überführt und sie bekommen eine Eigenkapitalaufstockung, um finanziell leistungsfähiger zu sein und stärker investieren zu können.

ZEIT ONLINE: Wenn die Bauwirtschaft darauf hinweist, dass man kaum unter 13 Euro pro Quadratmeter netto kalt bauen kann – das ist bloß kapitalistische Propaganda?

Holm: Wenn ich den Profit rausrechne, wird es schon preiswerter. Außerdem hängen die Mietkosten nicht nur an den Baukosten – auch wenn wir die Bauauflagen so weit verändern würden, dass man günstiger bauen kann, gibt's keine Garantie dafür, dass im privaten Wohnungsbau tatsächlich auch ein günstigerer Mietpreis herauskommt.

ZEIT ONLINE: Ist das unanständig, Rendite auf Wohneigentum? Oder gibt's eine Höhe der Rendite von der Sie sagen würden, die ist unanständig?

Holm: Nein, so funktioniert Verwertung eben. Aber wir werden natürlich da, wo es preiswerte Mieten gibt, auch bei Bestandswohnungen und im privaten Wohnungsmarkt versuchen, die Mieterinteressen so stark wie möglich zu schützen. Der Bestand bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften soll auf 400.000 Wohnungen angehoben werden und wir haben zurzeit über 100.000 Sozialwohnungen, die wir dauerhaft sichern wollen als bezahlbaren Wohnraum.

ZEIT ONLINE: London, Paris, New York – Metropolen, in denen das Wohnen unbezahlbar für Normalverdiener ist, gibt es viele. Haben Sie ein Vorbild einer Stadt, die besonders gut funktioniert?

Holm: Nein. Ich könnte mir einen großen gemeinnützigen Sektor wie in Wien und die Mitsprachemöglichkeiten der Bewohnerschaft wie im dänischen Genossenschaftswesen vorstellen. Ich will weder das ganze Kopenhagen noch das ganze Wien haben. Im Moment sind wir dabei, uns mit vielen Instrumenten aus anderen Städten zu beschäftigen und zu überlegen, wie kann man die übertragen, ohne dass es eine Kopie einer anderen Stadt wird. Berlin ist einfach Berlin.

ZEIT ONLINE: Könnte diese wohnungspolitische Wende in Berlin, falls sie denn klappt, Modellcharakter haben?

Holm: Das wäre schon schön, zumal ja viele Städte mit diesem starken Verdrängungsdruck und dem sozialen Versorgungsproblem zu tun haben. Die Neoliberalisierung der Stadtpolitik ist ein globaler Trend – wir hoffen, dass wir in Berlin eine Alternative finden. Sozialen Fragen den Vorrang vor privaten Profiten zu geben und mehr Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung zu gewähren – das sind schon zwei ziemlich gute Grundprinzipien, die wir jetzt umsetzen müssen.“

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-12/andrej-holm-berlin-senat-stasi-interview/komplettansicht

 

 

Wohnungs-Politik in Deutschland: Vergangenheit und Gegenwart

 

Einen recht guten Überblick gibt die Sendereihe „Planet Wissen“ mit der Folge „Städteboom – der Kampf um Wohnungen“:

http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wohnen/stadtentwicklung/index.html

Unter anderem verweist die Sendung auf die Stadt Wien, die 220.000 Gemeindewohnungen bietet. Ca. 60% von ca. 2 Millionen Einwohnern wohnen im geförderten Wohnbau oder in Gemeindebauten.

 

 

„Der Wohnsoziologe Tilman Harlander im Gespräch mit Jochen Rack

Jochen Rack: Herr Harlander, Sie haben sich als Professor für Wohn- und Architektursoziologie an der Universität Stuttgart bis zum Jahr 2011 mit Problemen der Wohnungspolitik und der Frage nach der richtigen sozialen Mischung in der Stadt auseinandergesetzt. Worauf führen Sie denn dieses neu erwachte Interesse an der Frage "Wie wollen wir wohnen?" zurück?

Tilman Harlander: Das ist natürlich ein ganzes Bündel von Faktoren. Das eine ist schlicht ein quantitatives Problem: Noch bis in die 90er-, ja, bis in die Nullerjahre hinein hat man gedacht, die klassische Wohnungsfrage habe sich erledigt, es sei ein gewisser Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf den Wohnungsmärkten erreicht, und die Konsequenz war dann, dass sich der Bund aus der Wohnungsbauförderung zurückzog, 2006 hat er diese Aufgabe ganz allein den Ländern überlassen, und der klassische soziale Wohnungsbau, der war längst auf ein Minimum reduziert und konzentrierte sich nur noch auf wirklich randständige und unterprivilegierte Gruppen. Und dann änderte sich die Situation spätestens seit den Nullerjahren auf, ja inzwischen kann man sagen, dramatische Art und Weise. Wir können da mindestens vier Faktoren unterscheiden: Das eine ist die Renaissance der Städte und des Stadtwohnens, die neue Attraktivität der Städte als Wohnstandort, vor allem für die sogenannte Creative Class, die kreative Klasse, aber beileibe nicht nur für die, auch für die ganzen sogenannten Bildungswanderer, ja selbst junge Familien, aber auch alte Menschen schätzen die Städte mit ihrer besseren Erreichbarkeit von Infrastruktur und Dienstleistungen, auch Vergnügungsstätten, Bildungseinrichtungen immer mehr.

Das andere ist: Der Nachfragedruck hat sich ungeahnt erhöht, gerade in Deutschland mit seinen scheinbar unterbewerteten Immobilienbeständen durch die Nachfrage internationaler Immobilieninvestoren, und - das kam dann auch noch hinzu - durch den Nachfragedruck von Kapital und Steuerflüchtlingen aus den südeuropäischen Ländern. Dann eben in jüngster Zeit noch zwei ganz entscheidende Punkte, die alle Statistiken über den Haufen geworfen haben und uns völlig überrollt haben: Das war einerseits die Zuwanderung, vor allem auch aus den osteuropäischen Staaten im Zuge der EU-Osterweiterung, und dann waren es natürlich, zweitens - das hat noch mal eins draufgesetzt -, der Zuzug der Flüchtlinge. Also all dies hat den Nachfragedruck in den Städten ungeahnt erhöht.

Rack: Ich fasse mal zusammen: Wohnraum ist knapp geworden in Deutschland, vor allem in den großen Städten. Wir müssen vielleicht noch auch über die ländlichen Regionen reden, wo es etwas anders aussieht, aber da Ihr Thema ja die soziale Mischung in der Stadt ist, oder eins Ihrer großen Themen - kann man denn aus dieser Diagnose, die Sie jetzt beschrieben haben, auch folgern, dass die soziale Polarisierung in der Stadt zunehmen wird oder kann man sagen, sie hat schon zugenommen durch diese Prozesse der Verknappung von Wohnraum und des Anstiegs der Preise?

Harlander: Ja, die hat natürlich schon zugenommen, aber da müssen wir einen weiteren Faktor jetzt mitbenennen: Das ist der enorme Schwund an bezahlbarem Wohnraum. Der hat jetzt mit spezifisch deutschen Bedingungen auch zu tun, die sich zum Teil von denen in unseren Nachbarländern Österreich oder Schweiz unterscheiden. In Deutschland haben wir einen als gravierend anzusehenden Schwund von belegungs- und mietpreisgebundenen Wohnungen. Um da nur eine Zahl mal zu nennen: Noch Ende der 80er-Jahre hatten wir noch etwa vier Millionen mietpreis- und belegungsgebundene Wohnungen, heute sind es noch etwa 1,3 Millionen. Wir rechnen also pro Jahr mit einer Abnahme von etwa 100.000 mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen, und hinzukamen in den ganzen letzten zehn, fünfzehn Jahren vielleicht gerade mal 10.000 dieser geförderten Sozialwohnungen.

Rack: Und wenn ich das richtig sehe, diese geförderten Sozialwohnungen, die befanden sich ja auch immer im Inneren der Städte, nicht nur an den Randlagen, weil die Wohnungsbaupolitik, wenn ich das richtig sehe, ja versucht hat, die soziale Mischung in der Stadt auch aufrecht zu erhalten, nicht nur Wohnen für Reiche im Zentrum etwa zu ermöglichen.

Harlander: Ja, das ist heute natürlich vor allem ein Ziel, aber natürlich sind über einen langen Zeitraum hinweg in den 60er- und 70er-Jahren, vor allem also zu den Hochzeiten der Förderung von sozialem Wohnraum, da sind die Großwohnsiedlungen entstanden, mit zum Großteil dann fast durchgängig sozialen Mietwohnungen, die damals zwar noch für sogenannte - so fasste es das erste und das zweite Wohnungsbaugesetz - breite Schichten der Bevölkerung konzipiert waren, aber dann im Zuge der weiteren Entwicklung doch immer mehr zu einseitig belegten Strukturen sich entwickelten, und, wie das der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft Ende der 90er-Jahre dann nannte, zu sogenannten überforderten Nachbarschaften. Überfordert hieß dann, dass in diesen Quartieren einseitige Entwicklungen eingesetzt haben, eine Spirale nach unten, indem die vermögenderen Schichten auszogen, Infrastrukturmängel kumulierten, schlechte Anbindungen an die Innenstädte vorhanden waren und so weiter.

Rack: Also Sie sagen, auch zu Zeiten des sozialen Wohnungsbaus war es schon so, dass eigentlich soziale Segregation entstanden ist, auch durch diesen sozialen Wohnungsbau, weil er eben eigene Quartiere oder, man könnte vielleicht auch sagen, Gettos geschaffen hat.

Harlander: Nicht von vornherein. Es ist eines der Kennzeichen des Wiederaufbaus und der 1950er- und 1960er-Jahre, dass das Erfolgsmodell sozialer Wohnungsbau, der ja in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war, enorm viel für die Integration der Nachkriegsgesellschaft geleistet hat. Insgesamt, um da eine weitere Zahl zu nennen, wurden von etwa 24 Millionen Wohnungen zwischen 1950 und 2000 etwa neun Millionen Sozialwohnungen gebaut, und die standen zunächst eben für breite Schichten der Bevölkerung offen, und das führte bis in die 1970er-Jahre hinein - so können wir über den Daumen sagen - bis in die 1970er-Jahre hinein zu einer relativ guten Durchmischung. Erst dann vollzog sich sukzessive eine immer einseitigere Belegung der Sozialwohnungsbaubestände, weil die, die dann am sozialen Aufstieg teilhatten und zu Besserverdienern wurden, die zogen dann im Zuge der suburbanen Stadtflucht in die Bungalow- und Eigenheimsiedlungen an den Stadträndern aus, und so entmischten sich in einem allmählichen Prozess diese Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus.

Rack: Wo gehen denn jetzt Leute heute hin, die eigentlich die Berechtigung oder die Notwendigkeit hätten, eine Sozialwohnung zu beziehen, solche aber nicht zur Verfügung stehen? Müssen die dann noch weiter raus, also noch jenseits der Sozialwohnungsviertel, die existieren oder wohin gehen die, oder können sie sich die Stadt eigentlich gar nicht mehr leisten?

Harlander: Das sind zwei verschiedene Prozesse, da müssen wir jetzt noch einen zweiten Prozess mit reinnehmen, den der Gentrifizierung. Das ist ein soziologischer Fachbegriff, er meint einfach die Verdrängung einkommensschwächerer Schichten durch Besserverdienende im Zug eines Prozesses der allmählichen Aufwertung von Quartieren, die zuvor der Wohnungsversorgung einkommensschwächerer Schichten zur Verfügung standen. Diese beiden Prozesse, die Entmischung klassischer Sozialbausiedlungen, aber auch die Gentrifizierung klassischer Innenstadt-Randgebiete und zentraler Wohngebiete in der Stadt, die beide führen in der Tat zu einer Verdrängung einkommensschwächerer Schichten.

Da muss man aber sofort hinzusagen, dies gilt eigentlich vor allem und in erster Linie für die Wachstumsregionen und für die Wachstumspole. Wir haben also ein Nebeneinander von Wachstumspolen mit einer enormen Dynamik auf den Miet- und Kaufpreismärkten und damit auch einen hohen Verdrängungsdruck, sodass sich also die viel zitierten Feuerwehrleute, Krankenschwestern und einfachen Angestellten und Bediensteten diese Städte wie München - und Stuttgart gehört auch dazu, Frankfurt, Düsseldorf, Köln, Hamburg - eben kaum mehr leisten können, und auf der anderen Seite haben wir die strukturschwachen Regionen, und da finanzieren wir bis heute auch, und fördern das über staatliche Programme, den euphemistisch sogenannten Rückbau von Wohnungen, also den Abriss von Wohnungen. Das ist historisch ein neues Phänomen in einem fortgeschrittenen Industrieland, ein Nebeneinander von neuer Wohnungsnot und gleichzeitig Abrissprogrammen.

Rack: Jetzt stellt man sich ja die Frage, wenn man diese Prozesse betrachtet - das sind ja, wenn man so will, auch makroökonomische Prozesse, Sie haben vom Einfluss des Finanzkapitals auf die Wohnungsmärkte gesprochen -, welche Möglichkeiten hat denn eigentlich eine Kommune, oder welche Möglichkeiten hat die Politik, sei es auch von Bundesseite, gegen solche Prozesse anzusteuern, denn soweit ich die Situation richtig verstehe, ist es ja doch so, dass man gerne diese soziale Mischung, wo also arm und reich nicht komplett in verschiedenen Vierteln wohnen, dass man diese gerne als Teil des Erfolgsmodells europäischer Stadt eigentlich festhalten will?

Harlander: Zunächst muss man noch mal unterstreichen, wie wichtig dieses Ziel des Erhalts einer sozialen Durchmischung und des Erhalts sozialer Vielfalt in den Städten überhaupt ist, da lohnt sich schon der Blick auch noch mal über die Grenzen: Die United Nations haben etwa in ihrem Bericht über den Zustand der Städte von 2010/11, nannten sie als eine der wichtigsten und größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, bridging the urban divide, die städtische Spaltung zu überwinden.

Wir wissen alle, worin sich die im Weltmaßstab manifestiert: Das ist auf der einen Seite in einem gravierenden Slumwachstum - wir können davon ausgehen, dass weltweit etwa eine Milliarde Menschen in Slums wohnen auf der einen Seite - und auf der anderen Seite in einer enorm raschen Expansion von Enklaven des Reichtums, mehr oder weniger abgeschlossen, Gated Communities. Das ist eine Entwicklung, die uns längst auch in Europa erreicht hat und auch in Deutschland Sorgen macht, das Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften. Im Hintergrund steht natürlich eine Auseinanderentwicklung von arm und reich, die OECD beobachtet das für Europa und auch für Deutschland, und die unterstreicht regelmäßig, dass es in Deutschland in dieser Hinsicht keinen Anlass gibt für Selbstzufriedenheit.

Wenn vor 30 Jahren das oberste Zehntel noch etwa das Siebenfache verdiente vom untersten Zehntel, dann ist es mittlerweile das Zehnfache, was verdient wird, und, was manchmal auch manche Fachkollegen kaum glauben wollen, aber die OECD hat es in mehreren Untersuchungen unterstrichen: Neben Österreich gehört Deutschland zu den Ländern in der Eurozone, in denen die Vermögen am ungleichsten verteilt sind. Gut, und jetzt ist es natürlich kein Wunder, dass sich diese wachsende Spaltung von Arm und Reich, die ja auch abgebildet wird in den Armuts- und Reichtumsberichten, die die Bundesregierung regelmäßig vorlegt, dass sich die auch niederschlägt in einer sozialräumlichen Entwicklung, im sozialräumlichen Auseinanderdriften in den Städten. Wir Soziologen nennen das Segregation in verschiedenen Quartieren, und damit sind wir bei den Instrumenten, die die Städte haben.

Ich nenne vielleicht gleich das wichtigste Instrument jetzt im Neubau - wir müssen getrennt betrachten den Neubau und den Bestand - im Neubau hat sich vielleicht zum wichtigsten Instrument entwickelt - da war München ein Schrittmacher -, die sogenannte Förderquote. Das meint, immer dann, wenn die Stadt neues Baurecht vergibt und ermöglicht, muss sich der Investor verpflichten, in einem gewissen Prozentsatz auch geförderten Wohnraum für einkommensschwächere Gruppen zu errichten, und das ist in München eine 30-Prozent-Quote, auf städtischen Grundstücken sogar 50 Prozent.

Das haben inzwischen zahlreiche Städte nachgeahmt: Stuttgart hat eine 20‑Prozent‑Quote, aber das gibt es in Köln, in Freiburg, in Hamburg, in Regensburg, also viele weitere Städte haben es eingeführt, weil es der simplen Logik folgt, man sagt, es kann nicht angehen, dass von der neuen Nachfrage nach urbanem Wohnraum allein Besserverdienende profitieren, sondern im Sinne des Erhalts gemischter urbaner Stadtquartiere müssen eben auch im Neubau - das heißt, auf Konversionsflächen, in Baulücken, auf Brachflächen - gemischte Quartiere entstehen.

Rack: Aber wie sieht es denn aus, wenn wir auf den bestehenden Wohnraum, auf die bestehenden Strukturen blicken - haben da die Städte auch diese Macht, die Sie jetzt beschreiben, wenn es darum geht, eben neuen Wohnraum zu schaffen, wo sie Vorschriften erlassen können offenbar, oder wo sie zum Teil ja auch die Grundstücke dann günstiger etwa an Baugenossenschaften vergeben, die solche Modelle verfolgen, aber wenn wir die gewachsenen Städte anschauen, gibt es da eine Gegenmacht gegen das Kapitalgesetz, die diese Entmischung aufhalten kann?

Harlander: Im Bestand ist es enorm schwierig, das muss man sich eingestehen. Im Grunde hat die Entwicklung ja schon in den 1980er-Jahren eingesetzt, der Aufwertung von Beständen und damit auch der Gentrifizierung und Vertreibung einkommensschwächerer Gruppen. Ich kann mich als Münchener gut erinnern, wie schon in den 1980er-Jahren in dem Stadtteil Schwabing Investoren von Haus zu Haus gegangen sind und versucht haben, so viel Altbauten wie möglich aufzukaufen, um die dann luxuszumodernisieren und umzuwandeln von Miet- in Eigentumswohnungen.

Um solche städtebaulich und sozialpolitisch unerwünschte Prozesse zu bremsen, gibt es eigentlich nur einige wenige Instrumente. Das wichtigste ist die Erhaltungssatzung nach dem Städtebaurecht: Es gibt da einen Paragrafen im Baugesetzbuch, den Paragraf 172, das ist die sogenannte Erhaltungssatzung, da ist es den Städten möglich, wenn sie aus städtebaulichen Gründen begründen kann, warum bestimmte Gebiete mit dieser Satzung zu belegen sind, dann kann sie dort jeden Eingriff genehmigungspflichtig machen. Das heißt, man kann dann bei jeder Modernisierung überlegen, ob das schon eine Luxusmodernisierung ist, die möglicherweise zu einem unerwünschten Bevölkerungsaustausch führt oder, ob es eben nur die ja durchaus erwünschte Anpassung des Wohnungsbestandes an verbesserte Wohnstandards ist …

Rack: Ich will Sie jetzt am Abschluss unseres Gesprächs noch fragen, wenn wir alles dies resümieren und zurückblicken auf unsere Diskussion: Wenn Sie sich eine Stadt vor Augen führen sollten, in der diese Probleme, von denen wir jetzt gesprochen haben, einigermaßen bewältigt sind, in denen es eine soziale Mischung gibt, in der Segregation verhindert wird, haben Sie da so was wie eine utopische Stadt im Kopf?

Harlander: Ich finde im Augenblick, man kann sich vielleicht an zwei Städten ganz gut orientieren: In der Stadtplanung ist für mich vieles vorbildhaft, was Kopenhagen macht. Kopenhagen hat dezidiert eine Stadtvision formuliert, die nicht mehr von den Gebäuden oder von Signature Architecture ausgeht oder derartigen Dingen, sondern in Kopenhagen hat man versucht, die Dinge scheinbar auf den Kopf zu stellen, aber es ist eigentlich die richtige Reihenfolge - man sagt in Kopenhagen, und da war ein Stadtsoziologe und Planer wichtig, Jan Gehl, man sagt, man geht zunächst mal davon aus, welches Stadtleben wollen wir, und dann definiert man, nachdem man dieses soziale Ziel definiert hat, welche Stadträume brauchen wir, und erst als drittes kommt man zu den Gebäuden.

Das ist eigentlich umgekehrt wie bei uns, da geht man von den Gebäuden aus und den Investoren, und dann versucht, die Stadtplanung noch in ihrer Wohnumfeldplanung zu retten, was zu retten ist, und was sich an sozialem Leben entwickelt, das ist eine Residualgröße, die kaum Aufmerksamkeit findet. In der konkreten Ausgestaltung würde ich Zürich nennen: Zürich hat sich mit seinen genossenschaftlichen Traditionen wohnkulturelle Leistungen erhalten, die ich vorbildhaft finde.

In Zürich sind also 25 Prozent des Wohnungsbestandes dauerhaft sozialgebundener Wohnmietraum, und aktuelle genossenschaftliche Projekte in Zürich, wie etwa "Mehr als Wohnen" oder die "Kalkbreite", die sind auch wohnkulturell führend - die realisieren sozial- und nutzungsgemischte Projekte, die auch ökologisch vorbildhaft sind, aber in denen man dann auch neue Wohnformen und mit neuen Grundrisstypen experimentiert, die auf grundsätzliche Veränderungen unserer Gesellschaften reagieren, wie die Pluralisierung der Werthaltungen und die zunehmende Individualisierung etwa, mit dem Konzept von Clusterwohnungen und Satellitenwohnungen.

Das sind einfach kleine Mikrowohnungen, die in solchen Wohnprojekten ermöglicht werden, in denen man zurückgezogen mit einer kleinen Küche und Badeinheit auch als Ein‑Personen‑Haushalt in seinem privaten Raum wohnen kann, aber gleichzeitig in einem Wohnzusammenhang wohnt, der auf großzügige Weise ergänzt ist durch Gemeinschaftseinrichtungen."

http://www.deutschlandfunk.de/die-stadt-planen-2-4-nebeneinander-von-neuer-wohnungsnot.1184.de.html?dram:article_id=337795

 

Wie sich Stadtteile bzw. ganze Städte zu ihrem Nachteil verändern, zeigt der „Münchner Gentrifizierungs-Rundgang: Der Luxus der Anderen“:

 

 

Zustände in Berlin

 

April 2015: Peter Nowak

 

„Zwangsräumungen sind in Berlin und anderen Städten zu einem politischen Thema geworden, seit sich Mieter dagegen zu wehren begonnen haben. Das sind längst nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus der linken Ecke. Senioren, die in der Stillen Straße in Berlin-Pankow eine Begegnungsstätte besetzen, die aus finanziellen Gründen geschlossen werden soll, die Mieter der Palisadenstraße, die erfolgreich eine Mieterhöhung in ihrer Seniorenanlage verhindert haben, wurden über Berlin hinaus bekannt. Auch die 67 jährige schwer kranke Rentnerin Rosemarie F., die am 11. April 2013 zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung gestorben ist, wurde bundesweit zu einen Symbol für eine unbarmherzige Wohnungspolitik.

Zum zweiten Todestag hat Margit Englert in dem in der Edition Assemblage erschienenen Buch Rosemarie F. kein Skandal die Umstände untersucht, die zum Tod der Rentnerin führten. Dazu wertete Englert zahlreiche Dokumente aus, die die Rentnerin dem Berliner Bündnis "Zwangsräumungen gemeinsam verhindern“ überlassen hatte. Bei der Initiative suchte sie Unterstützung gegen ihre Zwangsräumung.

In dem Buch werden auch zahlreiche Briefe veröffentlicht, mit denen sich F. gegen ihre Räumung wehrte. Doch sie hatte gegen den "sozialstaatlich-immoblienwirtschaftlichen Komplex" keine Chance, wie Englert das Konglomerat aus Eigentumswohnungsbesitzern und ihrer Lobbygruppen, Politik und eines Hilfesystems, das vor allem darauf abzielt, Zwangsräumungen möglichst geräuschlos zu bewältigen, bezeichnet. Darüber gibt sie im Buch einen guten Überblick.

Sie zitiert auch die Kommentare einiger Nachbarn in den Eigentumswohnungen des Wohnblocks, in dem F. wohnte. Die Rentnerin hätte nicht in das Haus gepasst. Schließlich bezog sie Grundsicherung, sammelte zur Aufbesserung ihrer geringen Rente Flaschen und war damit niemand, die nicht gut verwertbar war. Englerts Anliegen war es, den Fall der Rentnerin nicht als Ausnahme hinzustellen, wie es viele Medien nach dem Tod der Rentnerin praktizierten. Englert erklärt gegenüber Telepolis:

Wenn der Tod Rosemaries zum Skandal erhoben wird, lässt es sich leicht zurücklehnen und zur Tagesordnung übergehen. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen, oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der freiwerdenden Wohnungen zu nehmen, oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern, durch Investition in Immobilien.

Was Englert am Beispiel von Rosemarie F. ausführte, haben Stadtforscher der Berliner Humboldtuniversität in einer noch nicht veröffentlichten Fallstudie mit dem Titel "Zwangsräumungen und Krise des Hilfesystems" gut belegt. In der von Laura Berner, Andrej Holm und Inga Jensen verfassten Fallstudie, die Telepolis vorliegt, heißt es:

Der Berliner Wohnungsmarkt ist in den letzten Jahren durch eine fast flächendeckende Mietsteigerungsdynamik geprägt und innerhalb des S-Bahn-Ringes hat sich Gentrification zu einem Mainstream-Phänomen entwickelt. Diese Entwicklungen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Zwangsräumungen in Berlin und die Überlastung des wohnungsbezogenen Hilfesystems. Insbesondere die Entstehung von Mietschulden, die Klagebereitschaft von Eigentümer*innen und die Unterbringungsschwierigkeiten sind eng mit Mietsteigerungen im Bestand, Ertragserwartungen von Eigentümer*innen und den Preisentwicklungen von Wohnungsangeboten verbunden.

Dort wird anschaulich beschrieben, wie die Wohnungseigentümer von einem Mieterwechsel profitieren und wie der dann auch forciert wird. Aus einer ökonomischen Perspektive verwandeln sich Bewohner, die schon sehr lange im Haus wohnen und günstige Bestandsmieten zahlen, in "unrentable Mieter“. Galten Mietrückstände noch vor ein paar Jahren vor allem als ärgerlicher Einnahmeverlust, sehen viele Eigentümer in Mietrückständen inzwischen eine Chance, durch eine Räumungsklage den Mieterwechsel zu forcieren.

Diese Entwicklung haben die Stadtforscher nicht nur in einigen angesagten Szenestadtteilen sondern in ganz Berlin festgestellt. Die Zahl der Zwangsräumungen war denn auch nicht in Kreuzberg oder Neukölln sondern in dem Stadtteil Marzahn im Osten Berlins besonders hoch. Belegt wird in der Studie auch, dass Jobcenter mit ihrem Handeln die Bedingungen für Zwangsräumungen schaffen:

Jobcenter und landeseigene Wohnungsbaugesellschaften sind Teil einer staatlichen Koproduktion von Zwangsräumungen und erzwungenen Umzügen. Mit ihrer konsequenten Orientierung an Kostensenkungsverfahren und der repressiven Hartz-IV-Gesetzgebung sind die Jobcenter an der Entstehung von Mietrückständen oft beteiligt.

In der Studie werden auch die verschiedenen Instrumentarien untersucht, mit denen der Verlust der Wohnung von einkommensschwachen Mietern verhindern werden soll. Ihre Schlussfolgerungen sind wenig ermutigend:

Unter den aktuellen wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen erscheinen die Mietschuldenübernahme und die Unterbringung als klassische Instrumente der Sozialen Wohnhilfe völlig ungeeignet, um eine Vermeidung von Wohnungslosigkeit tatsächlich durchzusetzen.

Ausführlich wird an vielen Beispielen belegt, wie die Hilfesysteme selbst dem Zwang unterworfen sind, rentabel zu arbeiten und dadurch Ausgrenzungsmechanismen gegen einkommensschwache Mieter entwickeln.

Durch Sparzwang und fehlende Ressourcen entwickelt sich eine Logik des Hilfesystems, die die eigentliche Logik von Auffangsystemen ins Gegenteil verkehrt. Statt davon auszugehen, dass unterstützungsbedürftige Menschen grundsätzlich immer Hilfe gewährt wird, gilt die Devise: "Es ist nichts zum Verteilen da, Ausnahmen von dieser Regel sind allerdings möglich."

Im Fazit betont das Forschertrio noch einmal, dass mit den Instrumenten des Hilfesystems Zwangsräumungen und erzwungene Umzüge nicht verhindert werden können. Organisierter Widerstand gegen Zwangsräumungen, wie er in Spanien in den letzten Jahren massenhaft praktiziert und in Deutschland in einigen Städten durchaus ein Faktor wurde, könnte die Interessen einkommensschwacher Mieter besser vertreten."

https://www.heise.de/tp/news/Wenn-die-Renditechancen-steigen-wird-schneller-geraeumt-2599807.html

 

„Wem gehört die Stadt? Wenn das Geld die Menschen verdrängt“: Im Film wird erwähnt, dass es im Jahr 2012 bundesweit ca. 25.000 Zwangsräumungen gab, davon ca. 7.000 in Berlin.

 

 

November 2015: Bernhard Wiens

 

„Das Unwort "Gentrifizierung" kann inzwischen jeder buchstabieren, zumindest, wer umziehen will oder muss. Was aber ist "Rental Gentrification"? Wer das erlernt, stößt auf ein Paradox der Gentrifizierung. Eine Aufwertung durch Investitionen in Modernisierung ist gar nicht mehr nötig. Der Bodenwert steigt so stark, dass Hauseigentümer auch ohne produktiven Aufwand auf künftige Ertragssteigerungen spekulieren. Es reicht, die angestammten Mieter zu verdrängen. In Berlin stiegen 2014 die Mieten für Neu-Einzügler um über 9%.

Nun greift ein neues Paradox: "Große Teile der Berliner Bevölkerung sind zu arm, um verdrängt zu werden", sagt Andrej Holm, der Experte für Gentrifizierungsfolgen an der Humboldt-Universität. Die Situation spitzt sich zu. Die Abwanderung in Randlagen können sich nur noch relativ Kaufkräftige leisten. Für die anderen nimmt die Kaufkraft nach Abzug der Miete ab. Berlin war und ist (noch) eine Mieterstadt. Beim großen Mietstreik von 1932 prangte groß an einer Hauswand: "Erst das Essen, dann die Miete." Kommen die Zeiten eingeschränkten Konsums wieder?

Die Wohnungsversorgungsraten, das Verhältnis von Privathaushalten zu bestehenden Wohnungen, betrug 2014 in Berlin 92,7%, bei abnehmender Tendenz. Als nach 2000 die Bevölkerung wieder stieg, ging der Wohnungsbau zurück. Der Soziale Wohnungsbau lief 2003 aus. Der Markt ist nicht in der Lage oder willens, preiswerte Wohnungen zu bauen. Die Marktlogik löst nicht die Wohnungsfrage. Die Kommunen und Ministerien reagieren mit einer Verzögerung, die den jeweiligen Zyklen hinterher hechelt. Verständlich sogar, denn alle Prognosen sind im Augenblick ihrer Veröffentlichung bereits Makulatur. Architekten könnten von den neuen Wohnungsbauprojekten profitieren, aber nun folgt das nächste Paradox: Die Baustandards müssen abgesenkt werden. Der zuständige Senator gibt die Parole aus: Tempo und Menge. Renaissance der Platte. Es geht auch ohne Architekten.“

https://www.heise.de/tp/features/Die-Verkleidung-des-Geldes-3376573.html

 

 

Juli 2016: Verena Nees

 

„Wenige Wochen vor der Berlin-Wahl im September propagieren die Politiker aller etablierten Parteien gebetsmühlenartig, sie wollten für mehr „bezahlbare“ Wohnungen eintreten. Doch das ist nichts weiter als heiße Luft und leeres Wahlkampfgetöse.

So sehen das auch viele Berliner, die gegen massive Mieterhöhungen und die drohende Vertreibung aus ihren Wohnsiedlungen kämpfen. Berlin gehört zu den Städten, in denen derzeit die Mieten am schnellsten steigen. Die Hauptstadt wächst. Der Senat lockt gezielt Besserverdienende, Start-up-Unternehmer, sogenannte Kreative, Selbstständige, gut betuchte Wissenschafts-, Kultur- und Tourismusmanager und jede Menge Immobilienspekulanten an.

Die Stadt ist tief gespalten: Sichtbare Armut und wachsende Wohnungsnot für viele Familien – Glanz und Gloria für eine superreiche Schickeria.

Die teuerste Dachgeschosswohnung Deutschlands erstand vor wenigen Monaten Nationaltorhüter Manuel Neuer – 300 Quadratmeter Luxus für sich und seine Freundin. Das Loft in der Nähe des Ku-Damms kostete 3 Millionen Euro. Schon vor zwei Jahren ging eine Wohnung in der Nähe des Gendarmenmarkts für stolze 22.000 Euro pro Quadratmeter über den Tisch.

Dagegen werden immer mehr Mieter aus ihren angestammten Wohnungen verdrängt. Überall in Berlin entstehen Mieterinitiativen, mit denen sich die Betroffenen zur Wehr setzen.

In Pankow sind in den vergangenen Wochen Tausende Mieter der kommunalen Wohnungsgesellschaften Gewobau und Gesobau auf die Straße gegangen. Sie wehren sich gegen Luxussanierungen wie die sogenannte energetische Gebäudesanierung, die von der Bundesregierung seit 2014 durch steuerliche Anreize gefördert wird. Derlei Wärmedämmung auch bei hundert Jahre alten Gebäuden mit dicken Wänden bringen kaum Energiespareffekte, kann aber auf die Mieter umgelegt werden und führt zu heftigen Mieterhöhungen.

Immer mehr Unmut und Widerstand gibt es auch gegen das Wohnungsunternehmen Deutsche Wohnen AG. Dabei handelt es sich um den größten Vermieter in Berlin, der die ehemals landeseigenen Wohnungsgesellschaften GSW und GEHAG aufgekauft hat.

Beispiel Lichtenberg: Hier versucht das Unternehmen derzeit, die Miete durch Modernisierung von 3,09 auf 8,20 Euro pro Quadratmeter fast zu verdreifachen. Beispiel Kreuzberg: Hier kassiert sie in den Sozialwohnungen am Kottbusser Tor doppelt so hohe Betriebskosten wie im Berliner Durchschnitt --- statt 2,56 Euro bis zu 5,50 Euro pro Quadratmeter und steht dafür zurzeit vor Gericht. Gleichzeitig kauft sie sich aus der Sozialbindung frei, indem sie öffentliche Darlehen vorzeitig ablöst. Beispiel Zehlendorf: Die Deutsche Wohnen modernisiert hier ohne Energieeinsparung und wandelt Wohnungen in Eigentumswohnungen um, die sich die meisten Mieter nicht leisten können. Und in ihrem Wohnungsbestand in Pankow drohen durch „energetische“ Sanierung Mietsteigerungen bis zu 300 Euro.

Am heftigsten trifft es die Bewohner der Siedlung Westend in Charlottenburg. Ihnen droht der komplette Abriss der Siedlung mit ihren 212 Wohnungen. Die Deutsche Wohnen AG will auf diesem Gelände, das direkt an den Grunewald mit seinen Villen und Erholungsgebieten angrenzt, höhere Neubauten mit 580 Wohnungen im oberen Preissegment, zum Teil als Eigentumswohnungen, errichten. Seit Bekanntwerden dieser Pläne vor zwei Jahren wehren sich die Mieter und haben eine Bürgerinitiative gegründet, die sich inzwischen mit anderen Initiativen der Stadt verbündet hat (siehe Interview).

Die Deutsche Wohnen AG wurde 1998 von der Deutschen Bank gegründet, ist seit 2006 ein selbstständiges, börsennotiertes Unternehmen und macht nicht nur mit Wohnimmobilien, sondern auch mit Seniorenpflegeheimen Geschäfte. Im Jahr 2015 erzielte sie einen Rekordgewinn von 1,2 Milliarden Euro, gut ein Drittel über dem Vorjahr, und will nun den Aktionären eine um 23 Prozent steigende Dividende ausschütten - auf Kosten der Mieter von über Hunderttausend Wohnungen allein in Berlin. Freuen können sich darüber vor allem die Hauptaktionäre und ihre superreiche Klientel, wie der US-Vermögensverwalter Blackrock, Inc., der als größte Schattenbank der Welt gilt.

Der wachsende Widerstand in Berlin gegen den Mietwucher richtet sich einhellig gegen die Politik des Senats und der Bundesregierung, die dem Profitinteresse solcher Investoren und Immobilienspekulanten das Grundrecht auf Wohnen opfern.

Wie sich in den letzten Monaten herausstellte, hat die sogenannte Mietpreisbremse, die am 1. Juni 2015 in Kraft getreten ist und die Mietsteigerungen angeblich dämpfen sollte, nicht nur nichts bewirkt, sondern sogar zu Mietsteigerungen geführt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erklärte Ende Mai, Vermieter in Ballungszentren reagierten auf die 10-prozentige Beschränkung der Mieterhöhung bei Neuvermietung mit „Vorzieheffekten“, indem sie von vorneherein besonders hohe Mieten verlangen. Das Gesetz, das Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vergangenes Jahr in den höchsten Tönen als mieterfreundlich gelobt hat, beinhaltet zudem eine Klausel, nach der Eigentümer solche überhöhten Mieten nie mehr zurückzahlen müssen.

Berlin hat das neue Gesetz im letzten Jahr sofort umgesetzt. Nach einer vom Berliner Mieterverein (BMV) zitierten Untersuchung im Januar 2016 lagen die Mieten im Schnitt schon wieder zwei Prozent über denen vor der Einführung der Bremse. In manchen Wohnquartieren machten sie wahre Sprünge, so in den Innenstadtbezirken auf über zehn Euro pro Quadratmeter nettokalt. Nach einer BMV-Untersuchung der Online-Angebote liegen inzwischen die Mietforderungen um 31 Prozent über der durchschnittlichen Miete mit Mietpreisbremse.

Die Berliner Situation wird jedoch noch durch die Politik des 2011 abgewählten rot-roten Senats unter Klaus Wowereit (SPD) verschärft. Zwei Jahre, nachdem SPD und PDS (der späteren Linken) auf einer Welle der Opposition gegen den Bankenskandal an die Macht kamen, beschlossen sie den Ausstieg aus der Anschlussförderung für Zehntausende Sozialwohnungen. 2004 leiteten sie die Privatisierung der größten landeseigenen Wohnungsgesellschaft GSW ein, die einst im Jahr 1924 als städtische „Wohnungsfürsorgegesellschaft Berlin“ gegründet worden war. Sie verkauften sie an die Immobilienspekulanten Cerberus und den zu Goldman Sachs gehörenden Whitehall-Fonds und ebneten 2010 den Gang an die Börse, wo die GSW letztlich der Deutsche Wohnen AG zum Fraß vorgeworfen wurde (2013). Heute existiert sie nur noch als formalrechtliche Hülle.

Im Sommer 2011, noch vor seiner Abwahl, setzte schließlich das rot-rote Regierungsbündnis ein neues Wohnraumgesetz durch, das den Vermietern beim Verkauf von Wohnungen den Ausstieg aus der Sozialbindung ermöglicht. Es war der Startschuss für massive Immobilienspekulation in Berlin.

Inzwischen ist die Zahl der mehr als 200.000 Sozialwohnungen zu Beginn der 2000er Jahre auf weniger als 120.000 gesunken. Für die ärmeren Berliner Haushalte – 350.000 Haushalte mit Hartz4 und 300.000 weitere Haushalte mit geringem Einkommen – fehlen 125.000 Wohnungen, schätzt eine im Juni vorgestellte soziologische Studie des HU-Wissenschaftlers Andrej Holm.

Laut Caritas steigt die Zahl der mehr als 10.000 Obdachlosen in Berlin stetig an. Im Winter waren die Schlafplätze der Kältehilfe bis auf den letzten Platz besetzt, anders als in früheren Jahren. Seit dem Frühjahr müssen viele Menschen, die in Obdachlosenasylen keinen Platz mehr finden, in Parks, auf Brachflächen oder unter Brücken nächtigen.

Der Tagesspiegel titelte im Juni, die „Wohnungsnot in Berlin erreicht die Mittelschicht“. Der Wohnungsleerstand in der Hauptstadt betrage nur noch 1,7 Prozent. Ein echter „Leerstand“ sei dies nicht, weil die Eigentümer leer werdende Wohnungen meist sanieren (und dann die Miete erhöhen), verkaufen oder zusammenlegen. Selbst für die besserverdienenden Neuberliner hätte man im vergangenen Jahr 20.000 neue Wohnungen gebraucht; gebaut wurden weniger als 11.000."

https://www.wsws.org/de/articles/2016/07/28/miet-j28.html

 

… dann isch over

 

Betongold - Wie die Finanzkrise in mein Wohnzimmer kam

 

„Vor sieben Jahren wurde die globale Finanzkrise von faulen amerikanischen Immobilienkrediten ausgelöst. Jetzt droht die nächste Immobilienblase: In Europa investieren verunsicherte Anleger nicht mehr in Aktienfonds, sondern in Häuser und Wohnungen, in so genanntes Betongold. Beton gilt als krisensicher. Vor allem in den Großstädten ist die Nachfrage riesig, die Quadratmeterpreise für Wohnraum sind explodiert. Die Verlierer des Booms sind die Mieter. Sie werden systematisch aus den Innenstädten verdrängt.

Wenn ein Haus in die Hände eines Investors fällt, heißt das für die Mieter Angst und Unsicherheit. Denn nur, wenn die Wohnungen leer sind, lassen sich aus ihnen lukrative Anlageobjekte machen. Im Briefkasten landen Abmahnungen, Kündigungen, Räumungsklagen. Zwar schützt das deutsche Mietrecht die Mieter, aber das Recht wird in der Realität immer weiter ausgehöhlt.

Auch das Haus in Berlin-Mitte, in dem ich seit 16 Jahren zur Miete wohne, bekommt eines Tages einen neuen Besitzer. Es ist ein Investor, spezialisiert auf "einzigartige Wohnungsbauten in Toplagen" und "Wohnhäuser mit Entwicklungspotential". Bei meinen Recherchen stoße ich auf ein dubioses Firmengeflecht. Es ist eine neue Welt, mit der ich da konfrontiert werde, eine Welt voller Provokationen, Lügen und Briefterror. Aber versuchte Nötigung ist schwer nachweisbar. Der Investor erscheint zunehmend als übermächtiger Feind, dem wir, die einzelnen Mieter, hilflos ausgeliefert sind - trotz Rechtsberatung, trotz gültiger Mietverträge, trotz Kündigungsschutz.

Mein Film erzählt, wie eine Mietergemeinschaft plötzlich in den Strudel des globalen Immobilienhypes gerät. Mit der Kamera habe ich unseren monatelangen Kampf gegen Einschüchterungen und Schikanen festgehalten. Was ich nicht gefilmt habe, zeige ich in Zeichentrickszenen. Zum Beispiel die Besichtigungstermine.

Oft unterscheiden sich die Kaufinteressenten kaum von uns, den bisherigen Mietern. Auch sie gehören zur deutschen Mittelschicht, auch sie sind Getriebene der Finanzkrise, die versuchen, ihr Geld existenzsichernd anzulegen. Für Solidarität mit uns, den Mietern, bleibt da kein Platz. Den wenigsten Käufern dabei ist bewusst, dass sie, auch wenn sie die bewohnten Wohnungen "nur mal" besichtigen, schon Teil eines Systems aus Druck, Rendite und Verdrängung sind.

Was wird aus unsren Städten? Noch ist Berlin durchmischt, noch ist Berlin eine Stadt der Mieter.

Der Film thematisiert den schleichenden städtischen Umbau der Eigentumsverhältnisse. Und er zeigt auch die innere Zerrissenheit der Betroffenen, denen - wenn sie nur schnellstmöglich ausziehen - immer höhere Abfindungen angeboten werden. Doch was anfangen mit all dem Geld? Eine Wohnung anzahlen, Schulden machen? Selbst in Betongold investieren?“

http://www.betongold-der-film.de/film.html

 

 

Faire Miete statt Rendite: Diskussion zum Film Betongold

 

 

Exclusiv im Ersten: Miete rauf, Mieter raus! Die fiesen Tricks der Spekulanten

 

„Die Mieten in den Ballungsräumen explodieren. Das soziale Gefüge der Innenstädte verändert sich. Arme werden zusehends an den Rand gedrängt, selbst die Mittelschicht kann sich Wohnen in den Großstädten kaum noch leisten. Finanzinvestoren, Spekulanten und mittelständische Immobilieneigentümer profitieren unterdessen von der Wohnungsnot - sie streichen mit "Betongold" hohe Renditen ein. Die Reportage führt langjährige Recherchen von "Report Mainz" zur Wohnungsnot in Deutschland weiter und beleuchtet Schicksale von Mietern, die trickreich aus ihren vier Wänden vertrieben werden sollen, obwohl Wohnen in Deutschland ein Grundrecht ist.

Die Autoren folgen der Spur von Spekulanten, die für hohe Renditen Familien und Rentner aus ihrem angestammten Lebensumfeld vertreiben. Sie versuchen, die Methoden der Profiteure des grassierenden Mietwahnsinns aufzudecken. Und sie fragen nach der Verantwortung von Vermietern, Lobbyisten und Politikern für die Situation auf dem Wohnungsmarkt.“

http://programm.ard.de/?sendung=2810610414334762

 

 

 

Dada

 

Unsere kleine Polizei-Station

 

Wir befinden uns im Jahre 2017 unserer Zeitrechnung. Ganz Deutschland ist von Verbrechern besetzt … Ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Hütern des Gesetzes bewohnte Polizei-Station hört nicht auf, dem Verbrechen Widerstand zu leisten.

Und so ist halt noch vieles in Ordnung in der Region. Denn für Ruhe, Ordnung und Gerechtigkeit sorgt der Polizeiposten Rüppurr.

Kleine und große Spitzbuben, mehr oder weniger Leichtgläubige, Verrückte und Alkoholisierte, mehr oder weniger wilde Tiere treiben hier ihr Unwesen. Der Polizeioberkommissar und Chronist Karl Sauter hält diese Vorkommnisse fest im Buch „Tatort Rüppurr – Karl Sauters Notizen aus dem Polizei-Alltag“ aus dem Jahr 2005, jeweils monatlich im lokalen „Rieberger Bläddle“ und „Monatsspiegel“ und im Internet:

http://www.polizei.rueppurr.de/index.php?action=berichte

http://www.polizei.rueppurr.de/index.php?action=cms&id=1

Von Zeit zu Zeit möchte der Wurm eine dieser Geschichten zitieren. Diesmal geht es um folgenden Fall:

 

Umzug unter erschwerten Bedingungen

Stellen Sie sich vor, Sie wollen von A nach B umziehen. Ihre Couch steht noch in A, und da liegt ein total Betrunkener aus der Wohngemeinschaft drauf.

So passiert am 02.07.16, mittags um zwei in der Südstadt. Die Couch musste also transportiert werden, der Mann ließ sich aber unter keinen Umständen wecken. Die Polizei wurde verständigt und selbst der Streife gelang es nicht, dem Schläfer etwas mehr Leben einzuhauchen. Er musste in Gewahrsam genommen und sogar zum Streifenwagen getragen werden. Der komatöse Mann wurde, nicht ohne vorher vom Polizeiarzt untersucht worden zu sein, in den Polizeigewahrsam eingeliefert.

Für das Tragen wurde, so die Verwaltung, kein Zuschlag erhoben, denn dieser Service ist nach der Gebührenordnung im Preis inbegriffen.

 

Das Leben geht weiter: Ob Freispruch oder Zuchthaus – und auf die Guillotin' hat unser Herr Polizeioberkommissar Karl Sauter eh niemanden geschickt.

Es ist eine liebe Zeit – trotz der Vorkommnisse, menschlich halt. Und darum kommt es immer wieder zu diesen Szenen – beim Polizeiposten Rüppurr.

 

 

 

Die Gestaltung von Kreisverkehren ist ein beliebtes Objekt von Dadaisten. Vor allem die französischen Dadaisten toben sich hier gerne aus.

 

 

Die riesige Gottesanbeterin steht am Ortseingang von Sérignan-du-Comtat und verweist auf den hier ansässigen Insektenforscher Jean-Henri Fabre.