Menschen-Fischer

„Tausende Menschen verdanken Rupert Neudeck ihr Leben – und haben es ihm in einem bewegenden Gottesdienst gedankt. Es war ein Abschied, bei dem viel gelächelt wurde.

Es war, als hätten sich in St. Aposteln zu Köln alle 10.375 boat people versammelt, die Rupert Neudeck mit seiner Hilfsorganisation Cap Anamur aus dem Südchinesischen Meer gerettet hat, samt ihrer Kinder und Kindeskinder. Die Trauerfeier für den vor zwei Wochen im Alter von 77 Jahren gestorbenen Neudeck am Dienstag dieser Woche wurde ein großer vietnamesischer Dankgottesdienst …

Rainer Maria Kardinal Woelki, der die Messe zelebrierte, würdigte das Wirken dieses Menschenretters: "Rupert Neudeck hat das Leben verteidigt, konsequent und kompromisslos. Viele von Ihnen, die heute hier sind, verdanken ihm ihr Leben" …

"Er schien noch so viel, so unendlich viel vorzuhaben", sagte der Kardinal und fragte: "Woher nahm der Mann diese Kraft?"

Nicht zuletzt wohl aus seinem Glauben. Denn Neudeck hat selbst einmal katholische Theologie studiert, schloss sich den Jesuiten an, unterwarf sich ihren strengen Exerzitien. Warum er Theologie studierte? "Weil es das Radikalste ist, was man machen kann", lautete Neudecks Antwort. Er hat sich dann der Philosophie zugewandt, promovierte über die politische Ethik bei Sartre und Camus. Jesus und Camus blieben seine Leitfiguren, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und der Mythos des Sisyphos seine ethischen Leitplanken …

Anders gesagt: Er hat ein vorbildliches Leben gelebt. Sein Einsatz kontrastierte mit dem Kleinmut von uns "gewöhnlichen Menschen". So sagte es der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, auch er ein Schriftgelehrter – oder besser: ein Schriftengelehrter, denn er kennt sich im Koran genauso gut aus wie in der Bibel. Kermani schilderte in seiner Ansprache das "mulmige Gefühl", mit dem wir nach den Abendnachrichten manchmal ins Bett gehen: Wieder sind Menschen im Mittelmeer ertrunken, aber wir tun nichts. Wir haben gelernt, die Bilder "auszuhalten".

Neudeck aber wollte diese Bilder nicht aushalten. Er wollte nicht zu den Vernünftigen zählen, zu den Pragmatikern, die wissen, dass wir zusammenbrechen, wenn wir uns das ganze Elend dieser Welt auflasten, und damit unser Nichtstun entschuldigen – wenn auch "mit mulmigem Gefühl". Navid Kermani sagte: "Wir Vernünftigen legen uns ins Bett und löschen das Licht." Neudeck konnte das nicht. Er blieb ein unbequemer, ja unerbittlicher Radikaler im humanitären Dienst.“

http://www.zeit.de/politik/2016-06/rupert-neudeck-trauerfeier-koeln

Rupert Neudeck hat es wahrlich verdient, dass ihn der Wurm würdigt. Als Einstieg bietet sich der Film „Mission: Menschen retten - Rupert Neudeck und die Cap Anamur“ an:

 

 

 

Die Anfänge

 

Auszüge aus einem Gespräch im „Alpha Forum“ aus dem Jahr 2002, das zumindest noch als pdf abrufbar ist:

„Neudeck: Nein, wir mussten nicht nur mit Engelszungen reden, wir mussten sogar mit richtigen Teufelszungen reden, um die Politiker davon überzeugen zu können, dass diese Menschen es unbedingt nötig haben, in der Bundesrepublik untergebracht zu werden. Zunächst einmal wäre es ja leicht gewesen zu sagen, dass diese Menschen von den Staaten Südostasiens aufgenommen werden müssen: also von Malaysia, von den Philippinen, von Indonesien, von Thailand usw. Aber diese Staaten wollten diese Menschen ums Verrecken nicht aufnehmen: Vietnamesen sind in dieser Region nicht sehr beliebt. Deshalb hat es nur eine einzige andere Möglichkeit gegeben: Europa musste diese Menschen aufnehmen. Wir hatten dabei so große Schwierigkeiten, dass ich davon überzeugt bin, dass wir das alleine mit unserer Überzeugungs- und Überredungskraft unserer Argumente nicht erreicht hätten: Es hatte aber eine merkwürdig interessante und für uns sehr erfolgreiche Situation kurz davor gegeben. Es hatte davor in Genf eine Flüchtlingskonferenz gegeben, die alle Regierungen aus Europa, Amerika, Kanada und Australien zusammengeführt hatte. Diese Regierungen hatten Anfang Juni erklärt, was sie alles machen werden, um Flüchtlinge zu retten bzw. sie retten zu lassen und sie dann auch unterzubringen. Die Bundesregierung hatte bei dieser Genfer Flüchtlingskonferenz - nicht ahnend, dass es in der Geschichte der christlichen Seeschifffahrt einmal ein Schiff geben könnte, das alleine und nur zu dem Zweck auslaufen könnte, um im Südchinesischen Meer Menschen zu retten - einen ganz pathetischen und wunderbaren Satz losgelassen. Das war der Satz: "Jeder Kapitän eines Schiffes deutscher Flagge ist unter Strafe verpflichtet, Menschen im Südchinesischen Meer zu retten. Die Bundesregierung ist bereit, diese Menschen in der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen." Diesen Satz hatte meine Regierung ja deshalb so leicht gesagt, weil es damals höchstens drei oder vier Schiffe unter deutscher Flagge in diesem ganzen Ozean namens Südchinesisches Meer gegeben hat. So wäre es pro Jahr höchstens einmal vorgekommen, dass eines dieser Schiffe mal eine Begegnung mit einem dieser Fluchtboote gehabt hätte. Es wäre also höchstens einmal im Jahr eine solche Rettungsaktion notwendig gewesen: Darauf konnte man sich vermeintlich natürlich leicht einlassen. Man wusste freilich nicht, dass kurz darauf plötzlich eine private Bürgerinitiative – bezahlt von der deutschen Gesellschaft, bezahlt mit Spendengeldern aus der Bundesrepublik Deutschland und ohne eine müde Mark der Bundesregierung – ins Leben gerufen wurde und ein Schiff gechartert hat, das nur zu dem Zweck ins Südchinesische Meer geschickt wurde, um dort diese Menschen zu suchen, zu finden, sie aufzunehmen, sie zunächst in ein Transitlager und danach in die Bundesrepublik zu bringen. Wir nutzten also diesen Garantiesatz der deutschen Bundesregierung, um in den darauf folgenden drei bis vier Jahren immer wieder unseren Außenminister zu bitten, uns einen entsprechenden Garantiebrief zu geben. Das war immer dann der Fall, wenn die Cap Anamur voll war mit geretteten Flüchtlingen, die dann in ein Transitlager gebracht werden mussten. Zu Beginn war das Singapur und später dann Puerto Princesa. Damit wir dort diese Menschen absetzen konnten, brauchten wir einen Garantiebrief des deutschen Außenministers dafür. Den hat er uns auch immer pünktlich gegeben. Das ging so bis zum Jahr 1982, als es dann offenbar so viel Verärgerung über so viele gerettete Menschen gegeben hat, dass man angestrebt hat, dieses Schiff nun endlich still zu stellen. Das ist dann auch auf eine sehr merkwürdige Art gelungen, indem man uns diesen Garantiebrief nicht mehr für die Philippinen gegeben hat, sondern uns dazu nötigte, diese meinetwegen 376 Menschen, die an Bord waren, in Hamburg abzuliefern. Das war das Ende der ersten Cap Anamur, denn es kann sich ja jeder leicht vorstellen, wenn er sich den Globus ansieht, dass das nicht mehr zu machen war. Wir hätten dafür aus dem Südchinesischen Meer durch die Straße von Malaga, durch den gesamten Indischen Ozean, durch das Rote Meer, durch den Suezkanal, durch das gesamte Mittelmeer, an Gibraltar vorbei, am Golf von Biskaya vorbei, an Frankreich vorbei, an Dover vorbei bis Brunsbüttel und Hamburg fahren müssen. Das wäre auf diesen Weltmeeren eine Fahrt von ungefähr sechs Wochen gewesen, bei allen Wind- und Wettersituationen. Dies hätten wir auf Dauer weder den geretteten Menschen noch unseren Spendern in Deutschland zumuten können. Denn das hätte ja immer eine tote Zeit von sechs Wochen nur für die einfache Fahrt bedeutet, die wir da mit diesem Transport verbracht hätten. Das war das Ende der ersten Cap Anamur.

Küpper: Wie ist denn dieses zögerliche Unterstützen – ich will hier noch gar nicht mal von Widerstand sprechen – zu werten? War das ein offenes Vorgehen gegen Sie? Lief das eher versteckt? Wie muss man sich solche Mechanismen vorstellen? Denn Sie haben sich ja vermutlich doch den Hass vieler Menschen hier bei uns zugezogen, die gesagt haben: "Dieser Neudeck spinnt! Der macht Dinge, die eigentlich gar nicht gehen!"

Neudeck: Das Interessante dabei war, dass die Regierungen der Bundesländer nicht bereit waren, über dieses Thema in der Öffentlichkeit sehr laut zu reden. Denn sie merkten ja, dass das hässlich klingen würde. Die Öffentlichkeit, die Gesellschaft war ja sehr dafür: Das war eine sehr populäre Aktion. Man wollte unbedingt, dass diese Menschen aus dem Südchinesischen Meer gerettet werden. Was sollte man mit diesen armen Teufeln sonst tun, als sie zu retten und sie aufzunehmen? Das war also eine Aktion, die fast schon plebiszitär abgelaufen ist, denn wir bekamen ja als völlige Neueinsteiger auf diesem Spendenmarkt jeden Monat 450000 Mark: Das war natürlich eine gewaltige Summe. Weil das in dieser Weise so populär und fast schon plebiszitär ablief, wagten die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer nicht, offen dagegen vorzugehen. Außerdem muss ich gerechterweise auch sagen, dass es dabei zwei verschiedene Gruppen gegeben hat. Es gab unter den Bundesländern eine Unterstützergruppe und es gab eine ablehnende Gruppe. Interessanterweise und für uns sehr günstigerweise waren diese beiden Gruppen untereinander nicht parteilich gebunden. Zu den Unterstützern gehörte z. B. Johannes Rau, der damalige SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Ein noch größerer Unterstützer war Ernst Albrecht, der Ministerpräsident von Niedersachsen, der der CDU angehörte. Das waren also zwei Leute, die nach unserem Schulverständnis eigentlich gar nicht gemeinsam Politik machen konnten. Auf der Seite der ablehnenden Gruppe hat es zwei Ministerpräsidenten gegeben, an die ich mich heute noch sehr genau erinnern kann. Das war zum einen Holger Börner, der damalige hessische SPD-Ministerpräsident, und das war zum anderen in Bayern Franz Josef Strauß, von dem man diese Ablehnung eigentlich gar nicht erwartet hatte. Denn wir waren ja dabei, Menschen zu retten, die in wilder Flucht ihr kommunistisches Vietnam verlassen hatten und die wirklich erklärte Antikommunisten waren. Ich kann nur sagen, dass es mal im ZDF den Versuch gegeben hat, ein Streitgespräch mit mir und einem Ministerpräsidenten zu machen. Das ZDF fand aber keinen Ministerpräsidenten, der mit mir öffentlich streiten wollte. Denn auf deren Seite hat es ja immer diese Furcht gegeben, die Zuschauer in Deutschland könnten dann annehmen, dass so ein Ministerpräsident sagt: "Lasst sie doch ersaufen! Das ist uns doch egal!" Man wollte natürlich um jeden Preis vermeiden, einen solchen Eindruck zu erwecken. Deshalb war man bemüht, diese Sache ein wenig unter dem Teppich zu halten.

Küpper: Nun war dennoch im Jahr 1982 die Arbeit dieses Rettungsschiffs zunächst einmal zu Ende. Aber damit war natürlich die Arbeit der Aktion "Cap Anamur" nicht zu Ende. War dennoch zu befürchten, dass damit nun alles ein Ende finden könnte? Oder hatten Sie sofort eine Anschlussidee, ein neues Projekt? Wie ist es da weitergegangen?

Neudeck: Wir waren schon in einer großen Krise: Wir mussten uns überlegen, was wir nun machen. Hören wir mit der ganzen Unternehmung auf? Das war ja auch ein ganz legitimes Unterfangen gewesen, denn manchmal sollte man wirklich auf dem Höhepunkt einer Aktion auch aufhören. Das wäre jedenfalls ein guter Schluss gewesen. Die Alternative war, dass wir unsere Arbeit unter einem anderen Titel fortsetzen. Wir haben uns dann nach langen Gesprächen und Diskussionen dazu entschieden, Folgendes zu sagen: Was die Bundesrepublik Deutschland nicht braucht, ist noch eine weitere große Organisation mit einem großen Apparat. Dafür gibt es schon genügend gute deutsche Organisationen. Was die Bundesrepublik Deutschland jedoch möglicherweise wirklich braucht, ist eine kleine, schlanke, behände und spontane Organisation, die für ihre Arbeit keine großen bürokratischen Gebäude aufbauen muss, die jedoch als eine Art von humanitärer Feuerwehr sofort in der Lage ist, in eine Situation hineinspringen zu können. Sie muss ausschließlich von Spendengeldern abhängen, damit sie auch die nötige Unabhängigkeit hat, um diese Feuerwehr sein zu können. Das war der Weg, den wir einschlagen wollten. Wir nannten uns damals "Deutsches Komitee Notärzte e. V.". Ein oder zwei Jahre später haben wir dann dafür auch den Titel "Cap Anamur" gewählt. Wir beschlossen also weiterzumachen: in besonders schwierigen Bürgerkriegssituationen, wo es fast unmöglich schien, etwas zu tun. Wir haben dann eigentlich Jahr für Jahr immer wieder neue Projekte begonnen: immer zusammen mit Medizinern, mit Ärztinnen und Ärzten, mit Krankenschwestern und Krankenpflegern …

Küpper: Das heißt also, Sie sehen sehr wohl noch die nötige Sensibilität in unserer Gesellschaft für Ihre Arbeit gegeben. Diese Grundlage wäre also vorhanden, daran fehlt es nicht. An den Helfern fehlt es momentan auch nicht, denn deren Bereitschaft ist sicherlich vorhanden: Man muss nur das Interesse wecken und entsprechende Menschen finden. Insgesamt haben Sie also einen positiven Ausblick in die Zukunft.

Neudeck: Ja, ich selbst habe eindeutig diesen positiven Ausblick. Ich lebe gerne in dieser Gesellschaft: Ich halte meine deutsche Gesellschaft für eine Gesellschaft, die sehr gerne bereit war, sehr gerne bereit ist und auch sehr gerne bereit sein wird, diese Arbeit zu unterstützen. Ich freue mich auf weitere kühne, mutige, tapfere Taten überall in der Welt, wo es den Menschen dreckiger geht als uns in der Bundesrepublik.“

http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/rupert-neudeck-gespraech100.html

Und hier geht’s zu den von Rupert Neudeck mitgegründeten Hilfsorganisationen „Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte“ …

https://de.wikipedia.org/wiki/Cap_Anamur/Deutsche_Not-%C3%84rzte

http://www.cap-anamur.de/

… und „Grünhelme“:

https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCnhelme_e._V.

http://gruenhelme.de/

 

Radikal leben

 

Aus der „taz“: „„Erwachsen sein heißt vernünftig sein, gesittet, ordentlich, klug auf seine Gesundheit und sein Sparkonto achten, taktisch und strategisch in Form sein und bleiben. Aber doch nicht direkt sagen, was man denkt, meint oder fühlt.“ Mit diesen Worten führt Rupert Neudeck in sein zum 75. Geburtstag erschienenes Buch „Radikal leben“ ein. Der Bucheinband erklärt im Bucheinbandjargon: „Radikalität ist für Rupert Neudeck Lebensthema und Lebenswerk zugleich“ …

Neudeck kann aus solchen Erfahrungen seine Erkenntnis ziehen: „Wer auf dieser Welt, aus welchen Motiven auch immer, etwas für die Menschen, vielleicht sogar etwas Großes tun will, der darf sich nicht von Zuständigen abhalten lassen.“ Im persönlichen Gespräch ergänzt er: „Wenn ich Kultusminister wäre, würde ich in der Schule ein Fach einführen ’Lust an der List‘. Man muss listig sein, das ist ein schönes deutsches Wort, das viele nicht kennen oder gar für verboten halten, aber nein, listig ist ganz wichtig. Man muss ja nicht gleich Gesetze verletzen, aber man kann an ihnen vorbeigehen.“

Neudeck, der sich als radikalen Menschenfreund sieht – und die Bezeichnung dabei positiv prägen möchte – betont, dass humanitäre Arbeit mit Mut verbunden ist, sie aber nicht mit Tollkühnheit gleichzusetzen ist …

Ohne seinen geistigen Mentor Albert Camus käme Neudeck auch in dem Buch „Radikal leben“ nicht aus, ihm widmet er das längste Kapitel „Das Vorbild meiner humanitären Arbeitsenergie“. Darin bezieht er sich auf „Die Pest“. Camus, der die Revolte mit Leitsätzen wie „Je me révolte, donc nous sommes“ („Ich revoltiere, also sind wir“) prägte und über den Neudeck seine Doktorarbeit in Philosophie schrieb, verfasste einen Fundamentalsatz für die humanitäre Arbeit: „Es sei besser, gegen das menschliche Elend zu kämpfen, als die Hände zu einem Gott zu erheben, der schweigt.“

http://www.taz.de/!5038818/

 

Religion

 

Aus dem Gespräch im „Alpha Forum“: „Wir sind also auf dieser Welt wirklich mit Religionen konfrontiert, die leider das Friedensgebot und das Gebot der Nächstenliebe - zwei Gebote, die ja an sich alle Religionen haben – nicht immer so erfüllen und so durchführen, wie wir das eigentlich von den Gründungsurkunden der Religionen her verstehen müssten. Ich meine auch, dass das ein wichtiger Grund dafür ist, warum viele der religiösen Menschen, die bei uns in Europa in der humanitären Arbeit tätig sind, ihre frömmsten Stunden nicht mehr in der Kirche verbringen: Stattdessen sehnen sie sich nach etwas, das eigentlich im Evangelium steht, das sie aber in der Kirche nicht mehr finden – und deshalb machen sie humanitäre Arbeit. Für mich ist das ein sehr evidenter Zusammenhang.

Küpper: Und Sie bekennen sich ja auch zu Ihren christlichen Wurzeln. Mir ist z. B. aufgefallen, dass Ihr neuestes Buch mit einem Auszug aus der Bibel endet. Dort geht es um das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Sie haben ja auch mal ein bisschen Theologie studiert: Sie haben eigentlich mal einen kirchlichen Weg eingeschlagen und sind dann davon abgewichen. Aber Sie sind dem Christentum nach wie vor verbunden: Das kann man so festhalten, oder?

Neudeck: Ja, nicht nur verbunden, sondern ich denke, dass da wirklich meine Wurzeln liegen. In diesem wunderbaren Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eigentlich alles ausgesagt, was wir jetzt in den letzten 40 Minuten in diesem Gespräch besprochen haben. Mehr als dieses Gleichnis braucht man eigentlich nicht: Da ist jemand auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho, man kann auch sagen, er ist auf dem Weg von Peschawar nach Kigali oder von Grosny nach Moskau und fällt dabei unter die Räuber. In der Regel ist derjenige, der ihm hilft, nicht derjenige, der dafür die Kompetenz hat bzw. dafür ausersehen ist. Stattdessen ist das jemand, der eigentlich nicht den Auftrag und das Mandat dafür hat, wie man heute sagt. Er hat kein Mandat, aber er macht es! So verstehe ich eigentlich humanitäre Arbeit: Man muss nicht unbedingt ein Mandat haben, um darauf zu kommen, dass Menschen, die in Gefahr sind zu ertrinken, zerhackt zu werden, ersäuft zu werden, ermordet zu werden, geholfen werden muss. Wir brauchen als Menschen dieses Jahrhunderts eigentlich kein Mandat, um zu helfen, um hinzulaufen, um diese Menschen zu unterstützen.“

http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/rupert-neudeck-gespraech100.html

Aus dem „Sonntagsblatt“: „Kleine Gemeinden werden künftig Gottesdienste auch woanders feiern. In Wohnhäusern mit Diakonen, mit Priestern, die auch verheiratet sind. Wir werden so Gottesdienst feiern, dass wir anschließend eine Suppenküche für Asylbewerber, Unterricht für Kinder aus einem Obdachlosengebiet anbieten, mit Behinderten auf den Drachenfels gehen oder die nächste Aktion mit einem Lkw nach Malta oder Lampedusa starten. Das Entscheidende sind die kleinen Kreise, die wachsen können. Wenn die Christenheit in all ihren Facetten nicht erkennt, dass man die Welt so nicht lassen kann, dass sie zu großen Ufern aufbrechen muss, dann hat sie verloren. Dann ist sie auch ihrem Auftrag nicht treu. Wir müssen zum Beispiel den alten gewaltlosen Pazifismus wieder erobern. Wir müssen den Stopp der Waffenexporte beginnen. Durch Rat und Tat und Gebet und Anstrengung. Wenn wir uns drauf einlassen, dass die Welt eben ist, wie sie ist, dann haben wir verloren. Die Kirche muss neue Formen finden, in denen sich das Christliche und Solidarische betätigt. Meine Frau Christel arbeitet bei der Telefonseelsorge mit. Das ist eine großartige Form von Hilfe für Menschen im Alltag. Diese Form der Seelsorge, ohne geweihte Priester, tut stracks etwas gegen die größte Krankheit, die wir haben: die Einsamkeit. Das ist eine tolle Form mit einem modernen Kommunikationsinstrument.“

http://www.sonntagsblatt.de/news/aktuell/2014_12_01_01.htm

Für Rupert Neudeck ist sein Glaube wichtig, insbesondere das erwähnte Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Das ist gut und schön – Rupert Neudeck wäre jedoch auch ohne Religion ein großer Humanist gewesen und hätte sehr wahrscheinlich kein Deut anders gehandelt ohne Religion. Wie für alle anderen Humanisten gilt dies auch für Rupert Neudeck: Ein Humanist wird nicht durch die Religion zum Humanisten – er war schon immer Humanist und findet seine entsprechenden Gedanken anderweitig bestätigt. Ob das in Religion, Politik oder humanitären Vereinen ist.

Seine Hilfstätigkeiten hatten nichts mit Religion oder Glaube zu tun. Ob ein Arzt oder ein Bauingenieur, der für ihn gearbeitet hat, religiös oder atheistisch war, hat ihn nicht interessiert. Allein die Arbeit am Menschen zählte für ihn.

 

Rupert und Rupert

 

Nun nimmt Rupert Neudeck kein Blatt vor den Mund. Auch, wenn Rupert Regenwurm das, was er von sich gibt, größtenteils für richtig hält, gibt es doch einige Punkte, wo es unterschiedliche Meinungen gibt. Darauf wird der Wurm bei seinen jeweiligen Büchern zu schreiben kommen. In erster Linie gibt es jedoch einen Punkt, bei dem es einen fundamentalen Widerspruch gibt: nämlich der Anzahl der Menschen auf der Erde.

Zuerst Rupert Neudeck aus seinem Afrika-Buch:

„1990 hatten wir 5,3 Milliarden Menschen auf der Erde, 2025 werden es geschätzt wohl an die 8,5 Milliarden sein. 95 Prozent der Zunahme gehen auf das Konto der Dritten Welt.“

„Aber die Schätzungen sprechen nicht mehr von Hunderttausenden, sondern von Millionen. 18 Millionen junger Menschen sollen in ganz Afrika unterwegs sein, um nach Norden oder Süden zu kommen.“

„Das mag ein übertriebenes Szenario sein, aber die Realität des demographisch weiter wachsenden Afrikas wird uns überrennen. Aus der Migration ist längst eine Völkerwanderung geworden. Das Problem der Migration wird quälender werden als al-Qaida.“

Das stimmt alles, was er da schreibt. Dann kommt’s aber:

„Wir könnten in den nächsten Jahrzehnten einiges von den Afrikanern lernen, Freundschaft, Zusammenhalt, Trauer- und Schmerzverarbeitung, mehr Kinder zu bekommen.“

Der Wurm hat sich in seinen Beiträgen anders zum Thema Überbevölkerung geäußert. Unter anderem hier:

„Wie auch immer es in Ägypten weiter gehen mag: Es wird nicht gut ausgehen. Wir Regenwürmer haben das seit Jahrzehnten vorausgesehen, denn das eigentliche Problem Ägyptens (und vieler anderer Länder) ist die Bevölkerungsexplosion. In den letzten 50 Jahren hat sich die Bevölkerung Ägyptens verdreifacht. Das heisst für den Staat: Es werden 3x so viele Lebensmittel, 3x so viel Wasser, 3x so viele Arbeitsplätze, 3x so viel Wohnraum, 3x so viele Rohstoffe gebraucht und 3x so viel wird die Umwelt belastet. Theoretisch. Praktisch sind in den letzten 50 Jahren auch die Ansprüche gestiegen: Es werden bessere Lebensmittel und Arbeitsplätze sowie mehr Wohnfläche für den Einzelnen gewünscht, es gibt mehr Verkehr und mehr Möglichkeiten, die Umwelt zu verdrecken.

Welches auch immer die Wünsche und Bedürfnisse sein werden: Es werden nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Wer keine Arbeit hat, hat kein Geld. Und wer Arbeit hat, hat wenig Geld und schlechte Arbeitsbedingungen: Wenn genügend Reserven da sind, haben Arbeitgeber (und Vermieter) keinen Anlass, ihre Arbeiter bzw. Mieter gut zu behandeln. Wenn im Umkehrschluss mehr Arbeitsplätze als Arbeiter bzw. mehr Wohnungen als Mieter da sind, wird mensch sich aber wundern, wie freundlich er auf einmal von Arbeitgeber und Vermieter behandelt wird.

Keine Arbeit, kein Geld. Oftmals heisst das auch keine Ehe. Und es gibt eine Gruppe von Menschen, bei denen sich das nicht gut auswirkt: junge Männer. Sagen wir mal, im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Diese unzufriedenen, hoffnungslosen Männer, die wenig bis nichts zu verlieren haben, neigen dazu, sich zu radikalisieren und auf die eine oder andere Art und Weise Rabbatz zu machen. Mit den neuen technischen Möglichkeiten, in denen mensch sieht, wie es in reicheren Ländern so zugeht, werden zusätzliche Begehrlichkeiten geweckt und die Verärgerung wird zunehmen.

Bei zwischenzeitlich sieben Milliarden Menschen werden staatlicherseits immer mehr Konflikte um Land, Wasser und Energie kommen. Und Staaten werden sich immer unangreifbarer machen wollen, vor allem dann, wenn sie sehen, was mit solchen Ländern passiert, die keine Massenvernichtungswaffen zur Abschreckung haben. Auf nicht-staatlicher Ebene wird es eine größere Fanatisierung von Menschen geben, die vor Terrorakten in den reichen Ländern nicht zurückschrecken.

Eine Entwicklung, die seit Jahrzehnten vorhersehbar war. Hat denn gar niemand darauf reagiert? Wundersamerweise gibt es zwei Staaten, die sehr gut etwas gegen die Bevölkerungsexplosion getan haben. Der eine Staat ist China mit seiner im Westen verteufelten „Ein-Kind-Politik“ (böse, böse Diktatur!) – mensch stelle sich vor, was los wäre, wenn es eine Milliarde zusätzlicher Chinesen auf der Welt gäbe (ohne diese Politik wäre das der Fall).

Wer es nicht weiss, wird nicht drauf kommen, welches der zweite erfolgreiche Staat in der Bekämpfung der Bevölkerungsexplosion ist. Dessen Erfolge werden nämlich gerne totgeschwiegen. Denn es gibt viele Länder, die können diesen Staat nicht leiden, unabhängig davon, von wem er gerade regiert wird, und zeichnen ein sehr schlechtes Bild von diesem Land und seinen Menschen. Es handelt sich um den Iran.

Es gibt sehr gute Gründe, etwas gegen die aktuelle Führung des Iran zu haben. Eines muss man ihr aber lassen: Sie hat es geschafft, seit den 1980er Jahren die Geburtenrate (= Anzahl der Geburten pro Frau) von 6,9 auf 1,8 zu senken. Zum Vergleich (aktuelle Zahlen): China 1,8, Türkei 2,1, Ägypten 2,8, Saudi-Arabien 3,0, Pakistan 3,8, Afghanistan 6,4.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/24-arabischer-winter.html

„Die Bevölkerungs-Politik der meisten afrikanischen Länder kann wurm nicht als verfehlt ansehen - es gab sie schlichtweg nicht. Das Problem wurde schlichtweg ignoriert, auch von den westlichen Ländern, die nicht darauf hingewiesen hatten geschweige denn auf eine Änderung der Politik gedrängt hatten. Eine Umkehr wäre möglich gewesen, wie die äußerst erfolgreichen Beispiele China und Iran zeigen.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/154-krokodilstraenen-der-internationalen-verbrecherbande.html

Das Beispiel Iran zeigt auch, dass selbst extrem religiöse Menschen zur Vernunft kommen können: Ruholla Chomeini gehört dazu und er konnte von vernünftigen Menschen davon überzeugt werden, eine aktive Bevölkerungs-Politik in Gang zu setzen. Mit großem Erfolg.

Rupert Neudeck schreibt in seinem Syrien-Buch, dass die dortige Jugend keine Perspektive hätte. Ja, wie soll sie denn auch? In keinem Land mit hoher Geburtenrate hat die Jugend eine Perspektive. Wenn die 18 Millionen, von denen er schreibt, dass sie in Afrika „unterwegs“ seien, gar nicht erst geboren wären, müssten sie auch nicht aus ihrer Perspektivlosigkeit aufbrechen.

Einige Male beschwert er sich (wenn dies auch nicht zu seinen Hauptthemen gehört), dass in Deutschland zu wenige Kinder geboren würden und dies schlecht für den Generationen-Vertrag sei.

Auch hierzu hatte sich der Wurm bereits geäußert – es gibt keinen Generationen-Vertrag: das Geld für die heutigen Rentner wird nicht von deren Kindern bezahlt, sondern von denjenigen, die einer sozialversicherungs-pflichtigen Arbeit nachgehen. Vollkommen egal, in welchem Land diese geboren wurden:

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/170-dem-kanzler-ein-kind-schenken.html

 

5 Bücher

 

Rupert Regenwurm möchte einige Auszüge aus 5 Büchern von Rupert Neudeck bringen, die er für bemerkenswert hält.

 

Das Versagen des Humanismus – Unkonventionelle Hilfsmaßnahmen für die Dritte Welt 1992

 

Rupert Neudeck sagt klar und eindeutig, was Sache ist. Gerade in diesem Buch betätigt er sich als Philippikist. Einige Beispiele daraus:

Über deutsche Politik

„Es gibt in der Politik keine Ehrlichkeit und keine Verläßlichkeit. Das ist ja der Grund, weshalb junge Menschen davor zurückschrecken, irgend etwas mit der Politik zu tun zu haben, so wie sie gemacht wird. Die Parteien erobern sich mit ihrer monomanen Gefräßigkeit die Machtpositionen, gehen dabei über Verfassungsrechte und Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung hinweg wie über ein Schlachtfeld …

Die Parteien haben die Sender wirklich besetzt. Von Zeit zu Zeit erklärt immer wieder einmal ein hochmögender Journalist: er sei in seiner Freiheit noch nie beschnitten worden – und das mit den Parteien sei ja gar nicht so. Das finde ich phantastisch …

So läuft die offizielle Politik, so rangelt und wurschtelt sie sich durch: schlecht. Das ist auch der Grund, weshalb sich die gleiche offizielle Politik nicht wundern soll, wenn junge Menschen in diesem Gestrüpp lieber nicht erst Luft holen wollen, sondern gleich zu handgreiflichen bis terroristischen Aktionen übergehen. Die Masse junger Lehrlinge, Schüler, Studenten ist allerdings in die Trägheitsklasse untergetaucht und hat allein das eigene Karriereinteresse im Auge. ‚Gute Nacht Deutschland‘, und Gute Nacht Europa.“

„(Paul) Frank – der ehemalige Kissinger und Talleyrand der deutschen Republik – sagt es unumwunden: Dieses Jahrhundert ist das der großen Heuchelei. Die Politik sagt der Bevölkerung ausdrücklich nicht die Wahrheit. Die hehren Ziele tönt man nur donnernd an Sonntagen, aber man will sie eigentlich nicht.

Zum Beispiel Europa. Hätte man Europa wirklich gewollt, dann hätten wir längst einen Gesamteuropäischen Plan. Dann hätten wir wirkliche Demokratie, die wir ja zeigefingerhebend der gesamten bekannten Welt anempfehlen, in Europa durchgesetzt. Statt dessen haben wir ein europäisches Scheinparlament, eine regelrechte Schwatzbude, sündhaft teuer, ‚Wanderzirkus‘, überflüssig, deshalb auch mit dritter und vierter Generation besetzt, weil, ja weil dort im Europa-Parlament nichts entschieden wird.“

„Wir wollen nie wieder kolonisieren, jedenfalls die Neger wollen wir nicht kolonisieren. Aber die DDR – die kolonisieren wir jetzt mit einer Brachialgewalt, daß uns nur so Hören und Sehen vergehen wird. Die kolonisieren wir jetzt mit den schlimmsten Auswirkungen des Manchester- und Immobilienkapitalismus. Wir lassen die westdeutsche Wirtschaft boomen und legen die ostdeutsche, soweit sie in Spurenelementen existiert, an die Kette.“

Über Entwicklungshilfe

„Brigitte Erler hat uns Deutschen schon 1985 gesagt, daß wir mit der bisherigen Form der deutschen Entwicklungshilfe weder Entwicklung forcieren noch wirklich helfen, sondern etwas Tödliches betreiben. Wir machen die Reichen nur reicher, die Armen nur ärmer und sorgen noch durch Kredite und teure Projekte mit viel ideologischem Gutachterbrimborium dafür, daß besonders gefährliche Technologien, Pestizide, Düngemittel und ähnliches in die Dritte Welt exportiert werden. Erler hat damals – 1984 schon – herausbekommen, daß wir gar nicht zusammenarbeiten, sondern nur das Feld bereiten wollen, um unserer Groß- und Kleinindustrie den Weg zu bahnen. Wie anders denn, so sagt Brigitte Erler, würden Hoechst und Bayer ihre Chemieprodukte nach Bangladesh bringen können, gäbe es nicht Landwirtschafts- oder Gesundheitsprojekte des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) oder der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ)?“

Über das christliche Bodenpersonal

„Das alles hindert mich aber nicht, die erstarrte Struktur der Lametta-Kirche zu beklagen. Im entscheidenden Fall kann man sich als deutscher Katholik (ich rede von mir, gehöre dieser Kirche an) auf die Kirche nicht verlassen, im Gegenteil: Man ist verlassen. Als wir, Bürger der Bundesrepublik, dem Beispiel französischer Freunde (Bernard Kouchner, Jean-Paul Sartre, Raymond Aron, André Glucksmann) folgend ein Menschen-Rettungsschiff ins Südchina-Meer schickten – August 1979 -, da hatte der winzige Verein mit dem Namen „Deutsches Komitee Ein Schiff für Vietnam“ von keiner Seite wirklich aktiven Rückenwind. Die Kirchen in ihrer Staatsabhängigkeit hielten das für riskant, weil das Schiff mit der Rettung von je länger je mehr Menschen, Schiffbrüchigen, Boatpeople, der offiziellen Regierungspolitik in Bonn und den Bundesländern stracks zuwiderlief. (Die Ausnahmen, wie der gute Mensch der Caritas Freiburg, Dr. Georg Splett, verletzen diese Regel.) Die Politik ging auf Minimierung der bei uns in Deutschland zu Rettenden und damit Aufzunehmenden. Hat sich etwa ein Bischof der katholischen und evangelischen Kirche hingestellt in die pralle Öffentlichkeit und dieses Schiff mit seiner Menschenfischer-Aufgabe in biblisch-evangelischen Worten heftig zu seiner Sache gemacht, wie es sich angeboten hätte? Ja, es gab einen, den damals neu eingesetzten Bischof von Trier, Spitta, der das einmal tat, als MS Cap Anamur 1980 mit einer Ladung von aus dem Wasser Gezogenen unterwegs war, und ein christliches Hochfest drohte. Als ich bei der nächsten Ausfahrt der Cap Anamur zu einer neuen Rettungssequenz demselben Bischof erneut auf den Pelz rückte, sagte der mir mit einem merkwürdig falschen Nebenton ab. Schließlich hätte er sich einmal eingesetzt, das könne er „nicht ein zweites Mal“ machen, das sollte ich verstehen, das kann ja schließlich nicht so weitergehen.“

„Die Kirche als Institution hat sich den Wind aus den Segeln genommen und dümpelt vor sich hin. Das Schlimmste, was man von ihr sagen kann: Sie fällt nicht mehr auf. Als der letzte (Golf-)Krieg ausbrach, hat der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenzen, Karl Lehmann, eine regierungsfreundliche Position eingenommen …“

„Ich kann nur noch einmal sagen: Die entscheidenden menschenrettenden, ja sogar die – biblisch gesprochen – „Menschenfischer“-Aktionen werden nicht mehr von der Kirche gemacht, sondern von Menschen, die einen hohen moralischen Anspruch an sich selbst und ihre Gesellschaft haben, die aber keine Heimat haben in einer Kirche, die keinen Mumm mehr hat. Die den Mächtigen nicht wirklich die Meinung sagt, weil sie von den Mächtigen viel zu oft abhängig ist.“

Über das islamische Bodenpersonal

„In Kuwait sind die gräßlichsten Folterungen an Kuwaitis von irakischen Soldaten oder Agenten betrieben worden. Das Fernsehen hat uns nach der Eroberung Kuwaits durch die alliierten Truppen Bilder von Massengräbern gezeigt. Das Ausmaß des Terrors und der Verwüstung, auch der Verwüstung der Moral, der mitmenschlichen Sitten ist unbeschreiblich.

Was hat der oberste Mufti der Muslims in Damaskus oder Bagdad, in Beirut oder an der Al-Azar-Universität in Kairo dazu verlauten lassen? Welche muslimische Stimme hat sich gegen den Brudermord unter Muslimen gewandt? Wer hat den mörderischen Umgang mit menschlichem Leben kritisiert?

Wer hat Allah beschworen, er möge dem Gemetzel ein Ende machen, das jetzt zwischen schiitischen Oppositionellen und den sunnitischen Machthabern ausgebrochen ist? Wer hat sich für die Kurden eingesetzt, die ja auch Muslime sind?

Hat es jemals Proteste, einen Aufschrei, ein langes großes Weinen und Wehklagen der Muslime gegen diese schrecklichen Verletzungen von Menschen, von physischem und psychischem Leben von Mit-Muslimen, also von Glaubensbrüdern gegeben? Habe ich das nur überhört? Frage ich meine arabischen Freunde. Nein, sagen sie mir, auch sie haben das nicht gehört …

Das IKRK ist außerordentlich um die Ernährungssicherheit der Menschen im Irak besorgt. Nach den Berichten, die das Hauptquartier in Genf von den nunmehr 37 Delegierten des Komitees im Irak bekommen hat, droht den Irakis eine wirkliche Hungersnot.

Das sagt leider nicht eine internationale islamische Hilfsorganisation. Wo sind die „Islamic Arabic Relief Agencies (IARA)“? Die mit großem Machtanspruch so oft bei auftretenden Katastrophen in islamischen Ländern uns europäischen Organisationen das Arbeitsfeld streitig machten – wie damals 1986 in Darfur, Westsudan, Geneina, im Flüchtlingslager Assernie? Es war eines der schlimmsten Lager, die ich je gesehen habe, weil die 30.000 Flüchtlinge starke Lagerbevölkerung bar jeder Versorgung war. Es war dies das Lager, in dem wir mit der britischen Organisation OXFAM gemeinsam versuchten, die Wasserversorgung behelfsmäßig zu organisieren, damit jeder Flüchtling wenigstens vier Liter Wasser pro Kopf und Tag bekommen konnte. Davor mußten die Flüchtlinge aus einem naheliegenden Gewässer Wasser holen, in dem faulende, aufgeblähte Tierkadaver (Pferde und Rinder) lagen …

Kaum war die Arbeit getan, tauchte mit Triumph und saudischen Mitteln die SARA auf, die uns des Lagers verwies. Das wäre auch in Ordnung gegangen, ich hatte immer auf Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen gehofft: Aber die SARA war dort, um das Banner der Saudis hochzuhalten, nicht, um vernünftige basis-medizinische Versorgung zu leisten.

Jetzt – wo ist die Stimme der Muslims? Wo sind die Muslime, die ihren Obolus entrichten und ihre Ärzte und Konvois, ihre Wasseringenieure und Wasseraufbereitungsanlagen schicken? Reicht es denn, den fundamentalistischen Fanatismus auszutoben und sich in heller Djihadbegeisterung gleich für den Märtyrerdienst an der Front registrieren zu lassen- und danach die Glaubensbrüder im Elend des zerstörten Landes vermodern zu lassen?

Es reicht nicht, den Islam in seiner Erstarrung zu lassen, man muß ihn solidarisch kritisieren. Er muß – wenn es sich um eine lebendige, hilfreiche Religion handelt – sich zumindest um seine Glaubensbrüder und –schwestern in Not kümmern. Warum ist es keine Schande, daß jetzt die zivilen humanitären Konvois in den Irak fahren? Warum ist das keine Invasion, die abgewendet werden muß?“

Über Linke

„Jahre später bekam ich selbst die Wucht der Wahrheitsmanipulationen mit, über die ich immer noch nicht lachen kann, weil sie bis zur Gefährdung von Menschenleben im heiligen Gehorsam und mit einer kirchenähnlichen Disziplin weitergetrieben wurden. Als wir im Frühjahr 1979 mit einem Schiff namens Cap Anamur ins Südchina-Meer losfahren wollten, um dort möglichst viele Bootsflüchtlinge zu retten, die unter Gefahr für Leib und Leben sich damals zu Zehntausenden aufmachten, um ihr Land über das Meer zu verlassen, da war eine solche humanitäre Rettungsaktion unter den Linken (ich benutze diese Rubrik weiter so) sehr umstritten.

Besonders hervorgetan in der Ablehnung einer solchen Aktion zur Rettung der falschen Hilfsbedürftigen im Lande Vietnam hatte sich Peter Weiss …

Ein riesengroßer Artikel, eine Apologetik in schönster ekklesiologischer Tradition, wird von Peter Weiss aufgeboten, um nur ja nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, an dieser fortschrittlichen richtigen Regierung wäre ein Fehl, und es könnte und dürfte überhaupt Flüchtlinge geben aus einem Land, das in die richtige, von uns linken Weltintellektuellen abgesegnete Richtung geht …

Das sind menschenmörderische Kapriolen. Mit solchen Quislingen und theologischen Imperativen, solchen inquisitorischen Andeutungen, nach denen ein Regime schon mal hobeln darf, wenn es in der richtigen Richtung hobelt, und daß dann auch mal gern Späne fallen und in Kauf zu nehmen sind. Dieser Artikel wurde geschrieben, um eine humanitäre Rettungsaktion zu verhindern, bei der in drei Jahren 9.507 Menschen, Vietnamesen, ja vielleicht Hoa-Händler und Kleinbürger und Katholiken aus Vietnam gerettet wurden. Peter Weiss meinte, das Regime in Hanoi hätte das Recht, um die verdorbene Moral aufzumöbeln, diese Menschen auch mal für eine Zeit in ein reeducation-camp zu stecken.“

Über gewollte und ungewollte Erinnerungen

„Erinnerung ist auch im Geschichtlichen, in der Politik und in den Medien auf den Hund gekommen. Wir schalten nur die Erinnerung ein, die uns paßt. Eine andere kommt uns nicht gelegen, Opportunitätsgründe bestimmen, was wir als Erinnerung weitertragen, was wir ausschließen, wegschließen, wegradieren …

Immer wieder hatte Heinrich Böll zu seinen Lebzeiten darauf hingewiesen, wie falsch, unsinnig und töricht es war (und ist), über Verbrechen nur deshalb zu schweigen, weil sie in der ‚falschen‘ Richtung stattfanden. Die Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa war so ein Verbrechen, das nicht durch Verschweigen und ‚Schwamm drüber‘ gut werden kann. Nur die ganze Erinnerung an das verwickelte Schuld- und Sühne-Geschehen der Zeitgeschichte wird uns freimachen – Deutsche und Polen, Deutsche und Tschechen, Deutsche und Russen, Deutsche und Juden, Deutsche und Italiener, Deutsche und Österreicher, Deutsche und Namibier, Deutsche und Tansanier, Deutsche und Franzosen.“

 

Ich will nicht mehr schweigen – Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina, 2005

 

http://www.kultur-fibel.de/Buch,Neudeck_Pal%E4stina_Vertreibung_V%F6lkermord.htm

„Ich kann die Menschen nicht vergessen, die ich in der Altstadt von Hebron an uns habe vorüberhuschen sehen. Diesen Palästinensern geschieht in ihrer Stadt schlicht gesagt ein furchtbares Unrecht. Ich habe ihnen angesehen, was sie von mir erwarten: dass ich nicht nur ein blinder Tourist oder ein sensationslüsterner Reporter bin; dass ich ihre gerechte Sache vor das Forum der deutschen Öffentlichkeit bringe; dass ich berichte, was ich mit eigenen Augen gesehen habe: Hier werden Menschen in ihrer eigenen Stadt rassistisch behandelt und durch die zu Stein und Stacheldraht gewordene Architektur einer Siedlung mitten in der Stadt gedemütigt und entrechtet. Und sie erwarten, dass ich um des Rechts und der Gerechtigkeit willen das nicht mit Schweigen übergehe!“

Auch hier schildert Rupert Neudeck seine Eindrücke und schreibt, was Sache ist. Das Besondere am Buch ist, dass er neben seinen Erlebnissen Zwiesprache mit dem „Geist“ und den Werken des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber hält.

Rupert Neudeck zitiert im Buch aus einer Presse-Erklärung einer Delegation, an der auch er beteiligt war:

„Europäische Delegation ruft Europäische Union und EU-Mitgliedstaaten auf, Israel zur Rechenschaft zu ziehen. 

Jerusalem - Vom 22. bis 28. August 2005 führte eine europäische Delegation ehemaliger Minister aus den Niederlanden, Irland und Deutschland sowie ein hochrangiger ehemaliger Botschafter Frankreichs eine Informationsreise nach Israel und Palästina ( d.h. in die besetzten palästinensischen Gebiete) durch. Der Delegation gehörten ferner fünf Vertreter europäischer Zivilgesellschaften an. Delegationsleiter war Professor Andreas van Agt, 1977-1992  Premierminister der Niederlande.“

Hier der Text im Wortlaut:

http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/Stimmen_international/europaeische_delegation_europaeische_union_aufruf_august_2005.htm

Für die deutsche Leserschaft interessant ist noch das Nachwort des jüdischen Verlegers Abraham Melzer (siehe zum Thema auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/189-ein-gutmensch-ist-ein-schlechter-mensch.html ):

„Als ich das Manuskript von Rupert Neudeck las, wusste ich sofort, dass ich es verlegen werde. Endlich meldete sich jemand, zumal ein prominenter und durch die Medien bekannter Autor, der den Mut hat, gegen die „political correctness" in unserem Land seine Stimme zu erheben: „Ich will nie mehr feige sein", schreibt er und eigentlich schreit es aus ihm heraus.

Was mich in Deutschland erschreckt und zornig macht, ist ein Ungeist, der nicht nur salonfähig geworden ist, sondern den öffentlichen Diskurs dominiert. Wenn ein ehemaliger Bundes-präsident Johannes Rau 2004 anlässlich der Berliner KSZE-Konferenz gegen Antisemitismus sagt, dass man Israel zwar wegen seiner Politik kritisieren dürfe, aber, fragt er rhetorisch, naiv, unschuldig: „Muss es denn öffentlich sein?"

Jawohl, Herr Rau, es muss unbedingt öffentlich sein und ich will jeden unterstützen, der sich der fanatischen, blinden und unbegreiflich einseitigen Parteinahme für Israel entzieht. Für mich ist jeder „schuldig", der die Rechte und Würde der Palästinenser ignoriert und das mit den „besonderen Beziehungen" zu Israel rechtfertigt. Gegenüber diesen falschen Freunden möchte ich mein Israel verteidigen.

Mein Israel hat es verdient, sachlich und ehrlich kritisiert zu werden, und wer Israels Freund ist, aber auch Freund der Palästinenser, sollte es tun, so wie Rupert Neudeck es in diesem Buch tut. Man spürt zwar auf jeder Seite seine Verzweiflung und seinen Zorn, aber auch seine Liebe zu den Menschen in Israel und Palästina und seine trotz aller Trauer noch vorhandene Hoffnung.

Es ist in diesem Land inzwischen unerträglich und eigentlich skandalös, dass man von diesen selbsternannten Protectores Judaicae in plumper, diffamierender und oft schon fast existenz-bedrohender Art und Weise angepöbelt wird bei dem Versuch mundtot gemacht zu werden, nur weil man eine andere Meinung zum Geschehen im Nahen Osten hat.

Der wirkliche Skandal ist jedoch das Verhalten der politischen Kaste und der Medien, die das Thema Israel und Nahost-Konflikt mit sträflicher Leichtfertigkeit behandeln und zulassen, dass es immer wieder mit Antizionismus und Antisemitismus in Verbindung gebracht wird. Skandalös ist die Tatsache, dass fanatische Israel-Freunde jeder relevanten und sachlichen Diskussion aus dem Weg gehen und Israelkritik und Antisemitismus dummdreist gleichsetzen, ohne sich die Mühe zu machen auf sachliche Argumente einzugehen.

Bei einer Debatte über Antisemitismus in Berlin brachten es diese Freunde fertig, den bekannten jüdischen Publizisten Alfred Grosser des Antisemitismus zu bezichtigen, weil er es gewagt hatte zu behaupten: „Es gehe nicht nur um die Politik Israels, es gehe auch um Verbrechen." Eigentlich sprach er damit aus, was auch viele Israelis, selbst führende Vertreter des Establishments, inzwischen offen aussprechen und diskutieren (siehe dazu im Anhang die Beiträge von Avraham Burg und Jossi Sand).

In Berlin, im Beisein vieler Bundestagsabgeordneter, hochrangiger Beamter aus dem Innen- und Außen-Ministerium sowie namhafter Wissenschaftler, wurde Befremden geäußert, dass Grossers Position „ernsthaft und relevant in diesem Hause diskutiert" würde. So kann nur sprechen, wer Angst vor der Wahrheit hat. Israel kann sich seine Freunde nicht aussuchen. Wir können uns das Recht der freien Rede auch nicht von solchen Claqueuren Israels nehmen lassen. Grossers Argumentation, die man humanistisch und demokratisch nennen könnte, war für die deutschen Parlamentarier und Experten in Sachen „Antisemitismus" unerträglich, peinlich und sogar unanständig, obwohl Grosser sein Recht auf Kritik ausdrücklich mit seiner jüdischen Identität begründete. Da ist dann schnell - auch das ist ein Mangel an Argumentation in der Sache - von „jüdischem Selbsthass" die Rede. Kritiker werden flächendeckend mit dem Antisemitismusvorwurf zum Schweigen gebracht. Der eigentliche Skandal aber sind nicht diese Claqueure und falschen Freunde Israels, sondern die deutschen Medien, die diesen Stimmen ein Forum bieten und durch ihre Einseitigkeit auf ein Stück Freiheit der Meinungsäußerung verzichten, das gerade für die Freiheit der Presse unabdingbar ist. Feigheit allerorten.

Wie verunsichert das israelische Establishment ist, haben wir gesehen und gehört, als anlässlich einer Feier im israelischen Parlament - der Knesset - zu Ehren von Daniel Barenboim, die israelische Erziehungs- und Kulturministerin nach der Rede Barenboims geradezu explodierte; der aber hatte nichts anderes gemacht, als aus der israelischen „Magna Charta", der von den Gründungsvätern Israels unterschriebenen Unabhängigkeitserklärung, Passagen vorzulesen, in denen „allen seinen Bürgern ohne Ansehen der Unterschiede ihres Glaubens, ihrer Rasse oder ihres Geschlechts die gleichen sozialen und politischen Rechte" versprochen wurden. Barenboim hatte es nur gewagt, an dieses Versprechen zu erinnern, was aber offensichtlich schon zu viel war. Neudeck schreibt darüber ausführlich in seinem Buch.

Ich bin froh, dass Rupert Neudeck keine Angst hat, in diesem Buch Ross und Reiter zu nennen und den Skandal immer wieder auf den Punkt zu bringen. Wie kommt es, dass es in der politischen Kultur der Bundesrepublik eine geradezu totalitär verfestigte Ideologie zum Thema Israel und Antisemitismus gibt? Ist das die „besondere Verantwortung gegenüber Israel und den Juden", von der Joschka Fischer immer wieder spricht und die ihm am Ende auch einen Dr. h.c. eingebracht hat?

Die Juden als Opfer der Deutschen. Wo bleibt dann die besondere Verantwortung gegenüber den Palästinensern? Den Palästinensern als Opfer der Opfer und insofern auch Opfer der Deutschen.

Dieses Buch soll über das Problem der Kritik ein wenig aufklären und allen Menschen Mut machen, sich sachlich, ehrlich und mutig in die Debatte einzumischen. Israel geht uns alle an, denn im Nahost-Konflikt ist auch die Sicherheit Europas, also unser aller Sicherheit, bedroht. Es muss endlich in Deutschland möglich sein, die israelische Politik zu kritisieren, ohne Antisemit zu sein - oder muss man den wirklich unbedingt ein Antisemit sein, wenn man Israel kritisieren will?

Alles sträubt sich in mir angesichts dieser rassistischen Verallgemeinerung, als seien nicht nur „die Israelis", sondern auch gleich „alle Juden" unmittelbar mit dem israelischen Staat und dessen Politik zu identifizieren. Warum will man mit aller Gewalt diejenigen Juden ignorieren, die laut rufen: „Not in my name!"?

Und last not least: Es soll keiner später sagen, er habe nicht gewusst, was in Israel geschieht. Wer es wissen will, hat genügend Möglichkeiten sich zu informieren, wer es nicht tut, will es nicht wissen.“

 

Christel und Rupert Neudeck: Zwei Leben für die Menschlichkeit 2009

 

„Zum 30. Jahrestag des Komitees Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. erinnern sich Christel und Rupert Neudeck daran, was in den letzten Jahren alles geschehen ist. Während Rupert Neudeck von seinen teils dramatischen Erlebnissen aus den Krisengebieten berichtet, beschreibt Christel Neudeck, wie sie den Anfang erlebt hat, erzählt von den Mitarbeitern und ihrer Arbeit in der Zentrale in Troisdorf.

Entstanden ist so ein emotionaler Rückblick, der persönliche Einblicke gewährt in den Alltag der Neudecks.“

In diesem interessanten Buch gibt es Texte von Christel und Rupert Neudeck sowie Gespräche, die Christel Neudeck mit folgenden Personen über deren Erlebnisse und die Arbeit vor Ort führt:

- Huan Thomas Nguyen, Schifffahrtskaufmann aus Hamburg

- Bärbel Krumme, Ärztin aus Würzburg

- Elisabeth Franken, Lehrerin aus Much

- Edith Fischnaller, Ärztin aus Bonn

- Troisdorfer Schulen bauen eine Schule in Afghanistan

- Zobair Akhi, Diplom-Ingenieur aus Heidelberg

- Thomas Just, Zimmermann aus Leipzig

- Albert Schmidt, Berufsschullehrer aus Aachen

Familie Neudeck

„Doch wie fing das 1979 eigentlich an mit den Rettungsarbeiten im Südchinesischen Meer? Wir wissen es selbst nicht mehr genau, nur, dass uns das Anschauen der laufenden Bilder im Fernsehen zur sofortigen Tat oder zu dem Versuch einer Tat anstachelte. Wir waren beide sozial und humanitär eher normal begabt, nicht außergewöhnlich.“

„Wie kamen wir, Christel und ich, darauf, uns diesem Unternehmen zu stellen?

Es war wie ein Aufruf, denn wir waren ja nicht prädestiniert, nicht vorgesehen so etwas zu tun. Wir waren nicht besonders gute Menschen, wir hatten nicht die richtigen Berufe, wir waren Deutsche, die eine erste bürgerliche Existenz begonnen hatten.“

Humor haben sie auch - Rupert über Christel Neudeck: „Sie war einfach sie. So wie alle großen Dinge nur mit einer klaren Gemüts- und Verstandesverfassung geleistet werden: Sie musste das nicht durch das Evangelium lernen, es lag ihr im Blut: Deine Rede sei Ja-Ja oder Nein-Nein, alles andere ist von Übel (für die säkularen Leser) oder vom Teufel (für die Teufel-Gläubigen).

Solidarität mit Notleidenden

„Es reicht oft, dass man in solchen ausweglosen Situationen einfach da ist, präsent ist, vor Ort, wenn die Granaten heruntergehen. Dann ist es wichtig, dass man sich mit den Patienten auf den Boden drückt oder die Nacht mit ihnen verbringt, wenn etwas Furchteinflößendes passiert ist.

Deshalb bestehen wir seit 30 Jahren darauf, dass der Helfer oder der Mitarbeiter bei den Menschen in ihren Verhältnissen wohnt, lebt, isst, arbeitet. Dass wir nicht aus Flüchtlingslagern am Spätnachmittag in unser Hotel zurückgehen, sondern dass wir mit den Menschen leben.“

Irak: „Die Grünhelme haben sofort Quartier in einer der Hütten in der ersten Dorfstraße genommen. Wir haben die Hütte von einem Dorfbewohner gemietet. Das gehört zu unserer Arbeitsweise: Leben inmitten der Menschen unter den ortsüblichen Bedingungen, damit wir 24 Stunden eingebunden sind in die Lebensverhältnisse der Menschen. Außerdem erhöht das die Akzeptanz durch die Bevölkerung, erhöht auch die Effektivität der Arbeit.“

„Wir stellten unsere drei „Grünhelme-Bedingungen“, wie wir das später in Mauretanien, in Sumatra und in Afghanistan auch tun würden: Erstens musste uns Shishan einen Raum oder eine Hütte mitten im Dorf geben. Dort sollten die Grünhelme-Mitarbeiter leben und schlafen. Zweitens sollte uns die Gemeinde schriftlich versichern, dass die Gemeinde genügend Lehrer habe, drittens müssen wir schriftlich bestätigt bekommen, dass nach der Fertigstellung der Schule der Staat und nicht die Grünhelme die Bezahlung der Lehrer übernehmen würde.“

Beitrag zur Völkerverständigung

„Wir Grünhelme haben diese Arbeit immer als mehr empfunden als das Hochziehen von Schulen (Afghanistan), den Aufbau von Dörfern (Sumatra, Aceh), den Bau einer Berufsschule (Ruanda), das Installieren einer Solaranlage (Palästina). Wir haben das immer auch als einen Beitrag zum besseren Verständnis der Völker gesehen.“

Vom Umgang mit den Menschen

„Von Vorteil ist es, wenn man die Hierarchieformen kennt. Der Dorfchef kennt seine Leute und verlangt von ihnen nur Dinge, die sie können. Der weiße Arzt z.B. übernimmt die Rolle des Chefs. Leicht vermutet der Angestellte, dass er das kann, worum ihn der Arzt bittet. Deshalb sollte man nicht fragen: Kannst du spritzen? Sondern: Hast du schon Spritzen gegeben? Bei welcher Gelegenheit?

Die Afrikaner sind freundliche Menschen, die in Harmonie leben wollen. Niemals darf man sie - bei aller Konsequenz – anschreien, oder sie vor anderen lächerlich machen. Vieles ist in Asien ganz anders, doch das gilt auch dort. Das Gesicht muss gewahrt werden können.“

Im Vorfeld heisst es über Ruanda, dass es dort die Mentalität gibt, dass wenn es einer mal ‚geschafft‘ hat, dass er dann mit Krawatte hinter dem Schreibtisch sitzt und nie mehr etwas tut: „Die Trainees, die Schülerinnen und Schüler haben deshalb das Internat selbst gebaut und damit schon mehr gelernt, als jede andere Generation von Berufsauszubildenden in Ruanda vorher. Die Schülerinnen – in Ruanda gibt es eine strikt einzuhaltende Frauenquote – und Schüler müssen immer der Praxis den Vortritt geben, weil der Lehrplan das so vorsieht.“

Über Uganda: „Ich hatte viel zu tun, weil ich immer wieder dorthin musste, um mich mit Staatssekretären der mörderischen Regierung zusammenzusetzen und gute Miene zu dem abscheulichen Spiel zu machen. Damals habe ich gelernt, dass man seine Seele nicht rein bewahren kann. Man muss manchmal mit einem Massenmörder Whisky trinken. Man muss manchmal Nachrichten unterdrücken. Wenn es darum geht, dieses Hospital als den letzten Hort der Armen und Verzweifelten aufrechtzuerhalten, dann muss man eine Menge krummer Dinger machen können.“

Über die afghanische Regierung

„Die afghanische Regierung, die nur durch die Mittel der Internationalen Gemeinschaft und durch die Waffen und die Bodyguards der Amerikaner überhaupt noch im Amt ist, hat wirklich alles Interesse an ihrem Volk verloren. Wenn einer sich darum kümmern müsste, dass es im Lande eine richtig gute und loyal stolze Polizei gibt, dann müsste das der Präsident Afghanistans sein. Denn nur mit einer starken und ganz loyalen, fast preußischen Polizei kann eine Gesundung des Landes gelingen. Aber der Präsident kümmert sich nicht um solche Kleinigkeiten.“

„Der Präsident müsste sich darum kümmern, wenn in Shendang 70 oder gar 90 Menschen durch einen Bombenangriff der US-Streitkräfte aus Versehen bombardiert werden und sterben. Dann darf ein Präsident der Afghanen das nicht so stehen lassen … Aber man stelle sich das nur mal vor: In Deutschland würden aus Versehen 90 Menschen, 90 unbescholtene Bürger einfach bombardiert, was es dann für einen Aufstand geben würde. Stattdessen machen wir uns in den Nachrichten ausschließlich Gedanken um den einen deutschen Bundeswehrsoldaten, der bei Kunduz gefallen ist … Der eine deutsche Soldat führt zu einem Erdbeben in der Bundesrepublik – die 90 bombardierten Afghanen finden in einer Randnotiz Erwähnung.“

„Der Militäreinsatz der ISAF hat sich gleichzeitig so verweichlicht und überflüssig gemacht, dass man über die Parlamente in Europa staunt, die weiter scharenweise ihre Soldaten in Afghanistan besuchen, aber nicht verstehen wollen, dass seit der Ausdehnung der Stationierung westlicher Soldaten die Sicherheitslage stetig schlechter geworden ist. Selbst da, wo die Sicherheitslage vorher vorzüglich war, hat die Präsenz von Soldaten sie unsicher gemacht. Das alles aber wird verschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Wenn das nur nicht alles so wahnsinnig teuer wäre. Die deutsche Bundeswehr kostet den deutschen Steuerzahler 700 Mio. Euro im Jahr, die Bundesregierung gibt für den zivilen Wiederaufbau im Lande etwa 70 Mio. Euro aus. Schlimmer ist aber, dass man eine Regierung alimentiert, die unser Geld nicht wert ist. Die in Saus und Braus und völlig ohne Kontakt zur Realität lebt. Diese Regierung hat das tapfere und fleißige Volk nicht verdient. Solange sich diese Regierung nicht um ihr Volk kümmert und sich aus Kabul herausbewegt in die Provinzen, würde ich im übernächsten Bundeshaushalt alle Posten für Afghanistan streichen, die nicht über gut beleumundete Einheimische und kleine Organisationen an die kleinen Landwirte in den Dörfern und in die wichtige Verkehrsinfrastruktur und in die Polizei und die Armee der Afghanen gehen.“

Zobair Akhi: „Traurigerweise nahm mir die unberechenbare afghanische Bürokratie und die dadurch verursachte Korruption im Staatsapparat oft die Energie, die ich für meine Arbeit benötigte. Als ich Anfang 2006 zum wiederholten Male nach Kabul reiste, um die Registrierung der Grünhelme zu erreichen, musste ich sechs Tage lang wartend auf einem Flur vor dem Zimmer des zuständigen Sachbearbeiters sitzen und die Beamten beim Teetrinken beobachten … Aber der zuständige Beamte sagte mir am sechsten Tag: ‚Ihre Papiere sind jetzt fertig, ich werde ihre Organisation nun als 36ste auf die Warteliste setzen. Es wird also etwas dauern, bis Sie an der Reihe sind. Wir werden uns bei Ihnen melden, wenn es so weit ist‘ … Ich wusste, dass diese Regierung die Bedürfnisse ihres Volkes nicht erfüllte. Die Bevölkerung wird sich von ihr abwenden. Ein Herz, das verletzt wird, heilt sehr schwer wieder …

Die Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut sind sehr stark gewachsen. Ebenso hat in diesen Jahren die Korruption im Staatsapparat unglaublich zugenommen. Damit werden die versprochenen Ziele der jetzigen Regierung bei weitem verfehlt. Die schon vorhandene große Distanzierung der Bevölkerung zu den Machthabern wird täglich größer. Momentan kommt es einem so vor, dass die Regierung sehr schwach geworden ist, so dass sie jeden Augenblick das Handtuch schmeißen kann. Es ist nicht so, dass sich die Menschen wieder die Taliban wünschen würden, aber sie sehen sich von dieser ‚von ihnen frei gewählten Regierung‘ nicht vertreten.“

Die USA im Irak

„Wir haben uns um diese Schulen gekümmert, dann noch um die Wasserversorgung für diese Dörfer. Aber dann haben wir dem Irak den Rücken gekehrt. Das ist nicht das Land, in dem man zu lange bleiben sollte. Es kam so weit, dass sich die Situation in Bagdad wegen der totalen Unfähigkeit der US-Besatzer so verschlechterte, dass man sich eigentlich aus dem Land nur verabschieden konnte.“

Über Deutschland

„Nach kurzer Zeit aber waren wir ernüchtert. Die deutsche Gesellschaft hat ja die Formen ihrer Wohltätigkeit fein dosiert, verpackt und immer schon geordnet. Einmal ist die Wohltätigkeit als integraler Teil in die Fernsehunterhaltung eingegangen, in der kein Jux zu blöd ist, um nicht noch von einem guten Zweck geadelt zu werden. Zum anderen ist Spendenfreudigkeit steuerlich begünstigt, fachlich gesagt: ‚steuerabzugsfähig‘. Und weil dieses so ist, muss eine solche Aktion ein wenig ihre informelle Unschuld verlieren. Wir waren nach heftigem Zögern gezwungen, ein Verein zu werden. ‚Mon Dieu‘, ein deutscher Verein …

Als ich damals den Freunden in Paris von diesen steuerbegünstigten Spenden und den Gruppenzwängen erzählte, lachten sie. Sie haben gut lachen. Frankreich, in diesem Punkt hast du es wahrlich besser. Aber wir sollen nicht undankbar sein. Dafür wird in unserem Land von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im statistischen Schnitt sechs mal so viel gespendet wie in Frankreich!“

„Als die Vietnamesen auf die schöne Idee kamen, an dem Landesteg, wo das Schiff zweimal mit Flüchtlingen angekommen war, am Hamburger Hafen, eine Gedenkplakette anzubringen – ein regelrechtes Denkmal der Dankbarkeit, wie das die Vietnamesen so gut können, da bekam der Vietnamese Nguyen eine Antwort, die er nicht erwartet hatte – und die zeigt, dass wir wirklich krank sind in Deutschland. Die Vietnamesen wollten, wie ich in meinem Brief vom 8. März 2006 an den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg geschrieben hatte, ihrer Dankbarkeit für die Rettung aus Seenot durch die deutsche Bevölkerung und die deutsche Bundesregierung mit einem Gedenkstein und Denkmal Ausdruck geben. Wer gedacht hätte, dass sich die deutsche Verwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg über solch ein Ansinnen freut, das nur der Dankbarkeit für eine wunderbare und im europäischen Maßstab einmalige Aktion der Rettung von Ertrinkenden im Südchinesischen Meer dienen sollte, sah sich getäuscht.

Worauf eine deutsche Verwaltung im Jahre 2006, 64 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kommen kann, das ist in diesem Brief dokumentiert …

‚In der nächsten Umgebung der Landungsbrücken existieren bereits zwei Gedenktafeln. Diese haben mit ihrem Bezug zu jüdischen Flüchtlingen und Emigranten einen klaren Anknüpfungspunkt zur deutschen Geschichte und reflektieren damit auch deutsche Schuld. Das Anbringen weiterer Tafeln, die sich auf Flüchtlinge in anderen Weltgegenden beziehen, könnte als Versuch einer Relativierung der Judenverfolgung in Deutschland und des Holocaust empfunden werden und damit zu ungewollten und nicht unerheblichen Irritationen führen. Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass die Freie und Hansestadt Hamburg Ihr Anliegen nach intensiver Prüfung und eingehender Abwägung leider nicht unterstützen kann.‘

Das war natürlich für die Vietnamesen ein Brief, den sie nicht verstehen konnten. Konnten wir als deutsche Bürger, aufgewachsen in der Bundesrepublik, ihn nicht eigentlich auch nur als ein krankhaftes Produkt analysieren? Die Vietnamesen fragten uns denn auch: Kann das sein, dass die Deutschen etwas Gutes nicht bekannt machen dürfen, wenn sie es denn schon mal getan haben? Kann es wirklich so sein, dass die Geschichte eines Volkes abgeschnitten wird, dass wir sie uns abschneiden sollen und sogar andere, die subjektiv und objektiv Grund zur Freude und zur Dankbarkeit haben. So dass man uns daran hindern will, diese Dankbarkeit uns Deutschen gegenüber auszudrücken?“

„Bis heute, nach so vielen Jahren nicht ermüdender Tätigkeit für Afghanistan und die Afghanen, hat es die zuständige Behörde in Deutschland, die Botschaft, immer noch nicht geschafft, mir ein Visum auf Lebenszeit oder zumindest eines für ein Jahr auszustellen. Nein, ich muss meistens persönlich zum Generalkonsulat nach Bonn fahren, nachdem ich vorher Geld bar eingezahlt habe, weil das Konsulat das so verlangt, um mir das Visum für die nächsten zwei Monate abzuholen. Es gibt bei den Behörden keinerlei Dankbarkeit für diese Arbeit.“

Fehlende Prominenz

„Da dachte ich, es wäre möglich, die Einwohner dieses Dorfes am Ende der Welt zu fragen, ob sie denn überhaupt einen Deutschen kennen würden …

Nein, es meldete sich irgendwie niemand auf diese Frage hin, die unser kluger Dolmetscher in die Runde auf Dari geworfen hatte. Doch dann sprang ein junger Kerl, ein Schüler, auf und sagte zwei Worte: ‚Oliver Kahn‘!

Als ich Oliver Kahn am 2. September 2008 bei seinem Abschiedsspiel durch das Stadion ziehen sah, als ihm 80.000 Menschen in Münchens Olympiastadion mit stehenden Ovationen zujubelten, dachte ich mir: Schade, dass man Oliver Kahn nicht vermitteln kann, dass wir mit ihm zusammen noch eine Menge in Afghanistan tun könnten, gesetzt den Fall, er würde mal die Summe von 40.000 Euro spenden und dann mitgehen, damit wir dann in der Provinz Herat eine neue Schule eröffnen könnten, mit dem Namen ‚Oliver Kahn Schule‘!“

 

Die Kraft Afrikas – Warum der Kontinent noch nicht verloren ist 2010

 

Fehler Afrikas

„Wie kann man Afrika helfen? Wahrscheinlich kann man nach fast 60 Jahren Unabhängigkeit der afrikanischen Völker sagen, dass man ihnen, den Afrikanern, möglichst nicht so helfen kann und soll, wie wir das von anderen Kontinenten und Situationen gewohnt sind. Warum? Erkennbar hören afrikanische Regierungen, Verwaltungen, Häuptlinge und Clans auf, selbst zu arbeiten und sich selbst zu helfen, wenn von außen irgendeine Form von Unterstützung oder Hilfe kommt. Davon sind die asiatischen Nationen himmelweit entfernt: Sie konzentrieren alle Anstrengungen auf dieses eine große Ziel hin: sich unabhängig von der Hilfe zu machen. Das ist mit Korea und Japan so, mit China und Malaysia, mit Thailand und Indien, mit Singapur und mit Taiwan. Sie alle haben in Katastrophensituationen Unterstützung aus der ganzen Welt bekommen, aber nach zwei Jahren spätestens kann man sich von dort entfernen, weil die Menschen wieder kräftig an der Arbeit sind.

Unsere Erfahrung in Afrika ist leider eine andere. Wir haben mit den deutschen Notärzten tatsächlich neun ganze Jahre hintereinander Dienst im Group Hospital in Hargeisa, Somalia, gemacht. Und dabei wurde uns klar, dass man das in der Bevölkerung für eine mit der Regierung abgesprochene Anwesenheit hielt, ohne die der Dienst im Krankenhaus nicht mehr gelingen würde. Die Tatsache, dass wir eine freiwillige Arbeit leisteten, geboren aus der Zuversicht, dass sie es irgendwann selbst schaffen werden, war den Afrikanern, die wir kennenlernten, ganz unbekannt.“

Kraft und Freude

„Das Leben in Afrika ist viel anstrengender, risikoreicher als bei uns. Diese Menschen denken aber nicht daran zu sterben. Das war und ist bis heute die sensationelle Entdeckung von Mohammed Yunus, der in armen Ländern Kleinkredite vergibt. Wer es schafft, als afrikanische Mutter (oder auch Vater) von sieben Kindern im südsudanesischen Sudd mit einem Dollar pro Tag sein Leben zu bestreiten, muss ein glänzender Unternehmer und eine starke Persönlichkeit sein. Eine solche Frau oder ein solcher Mann wird mit einem Kleinkredit pfleglich und haushälterisch umgehen.“

„Es gibt in Afrika wunderbare Frauen, die kämpfen und nicht aufhören, Mut zu machen. Ich lernte sie in Uganda kennen, in Ruanda, in Äthiopien, im Tschad, in Südafrika, überall. Sie waren HIV-positiv, aber sie gewannen dem Leben dennoch etwas ab. Wenn man den Kontinent, die Dörfer (die Hauptstädte sind meist nicht mehr afrikanisch, so haben die Europäer sie verändert) mit einem liebevollen Blick durchstreift, dann findet man überall diese wunderbaren Menschen, die die Glut der Hoffnung nicht erlöschen lassen. Sie legen immer Wert darauf, etwas Positives zu tun. Dort gibt es eine Menge solcher Frauen, die Heldinnen geworden sind. Wir können uns nicht annähernd vorstellen, welche Kraft und Freude Afrikaner aufzubringen in der Lage sind, um zu leben und zu überleben. Auf diesen Menschen und ihrem Engagement, auf neuen Initiativen von unten, von denen es inzwischen bereits eine ganze Menge gibt, beruht die Kraft Afrikas. Mit ihnen kann eine bessere Zukunft erreicht werden – auf einem eigenen afrikanischen Weg.“

„Wir könnten in den nächsten Jahrzehnten einiges von den Afrikanern lernen, Freundschaft, Zusammenhalt, Trauer- und Schmerzverarbeitung, mehr Kinder zu bekommen.“

„Ich muss am Ende ganz persönlich etwas sagen, das weder politisch noch repräsentativ ist. Ich wundere mich immer wieder, dass wir Afrikafahrer schon deshalb als Helden gelten, weil wir die Gefahren durch Viren, Amöben, Aids, Malaria, Tuberkulose usw. aushalten und ihnen trotzen. Das erzeugte immer wieder das Gefühl, es sei ganz wahnsinnig gefährlich. Das ist es aber nicht. Im Gegenteil. Ich fühle mich in afrikanischen Breiten, zumal im ländlichen Raum in Ruanda, Uganda, Kongo, immer sauwohl. Ich esse dort besseres und gesünderes Essen als in Deutschland, ich atme dort bessere und gesündere Luft, folge einem gesünderen Tagesablauf. Im Nelson Mandela Educational Center gibt es keinen Fernseher, die Nahrungsmittel haben nichts mit Chemie zu tun, wir kaufen sie täglich frisch vom Markt in Nyamara. Wir sind daher gut beraten, uns für die alternative ‚afrikanische Lebensweise‘ offenzuhalten.“

Ausbeutung durch den Norden

„Die Migration findet ja schon statt, aber hauptsächlich im Sinne eines gefährlichen brain drains. Mit Ärzten und Krankenschwestern an der Spitze wandern vor allem die ausgebildeten Menschen in Länder aus, in denen sie eine Perspektive sehen. In den Niederlanden arbeiten allein 1.200 Krankenschwestern aus Südafrika. In London praktizieren mehr sambische Ärztinnen und Ärzte als in Sambia. Fußballer sind besonders beliebt, die bekommen auch gleich Visum und Arbeitserlaubnis.“

„Die Entwicklungshilfe der vergangenen Jahrzehnte hat keine positive Wirkung gehabt, sie hat im Gegenteil die Ineffizienz und Korruption meistens gefördert, korrupte Machthaber finanziert und stabilisiert und damit eine negative Wirkung auf Afrikas Entwicklung ausgeübt. Nur wenige Projekte überleben nach dem Ende der Hilfe, da die Hilfe die eigenen Kräfte lähmt …

Ohne Entwicklungshilfe wären marktfreundliche Reformen unvermeidlich gewesen, was für den Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft in den jeweiligen Ländern langfristig hilfreicher gewesen wäre. Wichtig wäre die frühzeitige Erkenntnis gewesen, dass die kompetenten Gruppen im Empfängerland sich die Vorhaben und Projekte wirklich zu eigen machen müssen, wenn sie etwas bewirken sollen. Diese Erkenntnis wird heute auch neudeutsch ownership genannt.“

„Eine weitere effektive Form von Entwicklung begünstigender Politik bestünde in der Öffnung unserer Märkte. Wir halten in Europa mit Subventionen eine weltmarktwirtschaftlich überflüssige landwirtschaftliche Produktion künstlich am Leben. Die WTO hat ausgerechnet: Wir reichen Länder subventionieren unsere landwirtschaftlichen Produkte pro Tag mit einer Milliarde US-Dollar. Das ist nach Adam Riese etwa sechsmal so viel, wie wir für Entwicklungshilfe an arme Länder geben. Dazu kommen unfaire Handelsbedingungen, die die armen Länder laut der Organisation Oxfam 100 Milliarden Dollar jährlich kosten. Für jeden Dollar Entwicklungshilfe werden den armen Ländern durch unfairen Handel zwei Dollar wieder abgenommen.“

Menschen unterwegs

„Ich habe in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass es in Deutschland immer schwerer geworden ist, für die Belange Afrikas und der Afrikaner zu werben und über den Kontinent zu informieren. Die Politik, die politische Öffentlichkeit und die Medien haben, verstärkt seit der Einführung des Privatfernsehens, viel dazu beigetragen, dass wir uns immer mehr auf unsere eigenen Probleme beschränken … Ein ARD-Korrespondent berichtet, wie er versuchte, ein Zugunglück in Tansania, bei dem 250 Menschen starben, bei der Tagesschau zu platzieren. ‚Es wurde schlicht abgewinkt, weil das keinen Menschen interessieren würde‘.

Lange werden wir uns diese Ignoranz nicht mehr leisten können. Denn der Kontinent muss uns schon deshalb interessieren, weil er uns auf die Pelle rückt. Zahlen über die Migrationsbewegung zu bekommen fällt schwer. Aber die Schätzungen sprechen nicht mehr von Hunderttausenden, sondern von Millionen. 18 Millionen junger Menschen sollen in ganz Afrika unterwegs sein, um nach Norden oder Süden zu kommen.“

„Wer einmal, wie ich 1979, vietnamesische Bootsflüchtlinge nach Deutschland gebracht und gesehen hat, wie diese Menschen am Tag ihrer Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland so viel Geld bekamen wie noch nie in ihrem Leben, der weiß, was für ein Magnet der deutsche Sozialstaat ist.“

„Die Kanarischen Inseln sind unser Wohlstandsvehikel und Aushängeschild. Aber es kann sein, dass es in zehn Jahren diese Ferieninseln als Ferieninseln nicht mehr gibt. Denn die Flut der in Europa nicht geliebten Migranten wird diese Inseln überfluten und sie entweder zu großen Camps machen, oder sie werden aus Militärstützpunkten bestehen. Das mag ein übertriebenes Szenario sein, aber die Realität des demographisch weiter wachsenden Afrikas wird uns überrennen. Aus der Migration ist längst eine Völkerwanderung geworden. Und sie führt alles mit sich, was so eine Masseneinwanderung in unserem kollektiven Unbewussten assoziiert: Furcht, Schrecken, Angst vor der Überfremdung, Schrecken vor der Potenz und der Übermacht der Schwarzafrikaner, Furcht vor unserem Aussterben.“

„Niemand kümmere sich um sie, in keinem der Staaten Afrikas gebe es eine Vorsorge. Einen funktionierenden Sozialstaat, einen Rechtsstaat gibt es nur in Europa. Diese jungen Leute erleben die Aufnahmeprozeduren in Europa interessanterweise oft ganz anders, als in vielen Büchern berichtet wird. Manche werden zum ersten Mal richtig mit ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum angesprochen und haben das erste Mal das Gefühl, dass sie ernst genommen und voll als Bürger akzeptiert werden. Diese jungen Flüchtlinge haben ja zu Hause keine eigenen Institutionen, weder des Staates noch der Kirche, der Verwaltung oder der Botschaft, die sich um sie kümmern.“

„Es fehlen neue Strategien. Dabei bräuchte es zweierlei. Es bräuchte einmal ein Zuwanderungsregime für die Millionen, die schon auf dem Marsch hierher sind. Europa braucht Zuwanderung, aber es braucht ausgebildete Zuwanderer. Und es bräuchte zum anderen Partnerschaften mit einzelnen Staaten in Afrika, die bereit und stolz genug sind, ihre Bevölkerungen im Land zu halten …

Diese Länder müssten eine gute Investitionspolitik machen, Korruption im Keim ersticken, Landwirtschaft fördern, zukunftsträchtige Industrien aufbauen. Und nur solche Regierungen sollte man auf Dauer mit einer Partnerschaftspolitik unterstützen. Nur mit ihnen zusammen lässt sich ein Teil des Problems, das sich in den letzten vier Jahrzehnten aufgestaut hat, wieder verringern. Wenn einige wenige funktionierende Staaten in Ost- und Westafrika Arbeitsplätze schaffen, damit die Jungen dort nicht mehr auswandern, können vielleicht sogar junge Menschen aus anderen afrikanischen Ländern in diese aufblühenden Länder streben.“

„Im Moment steht aber die Abschottung im Vordergrund, in der politischen Praxis geht es nur darum. Die Staaten am Mittelmeer und an der Westküste Afrikas bekommen massiv Gelder, um uns die Flüchtlinge vom Hals zu halten …

Die Nicht-Politik Europas wird uns in den nächsten Jahren schwer belasten. Das Problem der Migration wird quälender werden als al-Qaida. Lösungsversuche wie die regelmäßigen Legalisierungskampagnen in Spanien sind nur kurzfristige Auswege. Auf diese Legalisierungen warten antürlich die Millionen in den Hafenstädten des Maghreb, die dort auf einen teuren Platz in einem Schlepperboot warten, um das gelobte Land Europa zu erreichen.“

„Die bisherige Entwicklungspolitik in und für Afrika muss aber als gescheitert angesehen werden. Wir brauchen stattdessen eine ganz neue Entwicklungspolitik für Afrika, eine größere Bereitschaft, junge Afrikaner auf Zeit aufzunehmen und sie auszubilden. Eine viel klarere Politik der Partnerschaft und Freundschaft mit einigen wenigen Ländern, mit denen es schon historische Beziehungen gibt.

Es bleibt die klare Erkenntnis, dass wir in der reichen, industrialisierten, gebildeten Welt auf dem Rückmarsch sind. 1990 hatten wir 5,3 Milliarden Menschen auf der Erde, 2025 werden es geschätzt wohl an die 8,5 Milliarden sein. 95 Prozent der Zunahme gehen auf das Konto der Dritten Welt. Es wird weiter Migrationswellen geben. Es wäre dabei gut, dieses Europa würde aus seinem Dornröschenschlaf aufwachen und sich darauf einstellen. Wir werden auf Dauer diese Migration kaum stoppen können, aber wir können versuchen, sie zu gestalten und in vernünftige Bahnen zu lenken.“

China in Afrika

„Der Siegeszug der chinesischen Staats- und Wirtschaftsmacht in Afrika scheint daher nicht enden zu wollen, und die westlichen Staaten müssen sich inzwischen ernsthaft fragen, ob China auf dem Kontinent nicht bald einflussreicher sein wird als sie selbst …

China hat seine Rolle als Abnehmer von afrikanischen Exporten erheblich gesteigert, von 2,6 Prozent 1998 auf 9,3 Prozent im Jahre 2005. Gleichzeitig konnten sich die chinesischen Produkte auf dem afrikanischen Kontinent etablieren. Mittlerweile gibt es keinen afrikanischen Markt mehr, der nicht mit chinesischen Exporten überschwemmt wird und fast schon unter der rastlosen Aktivität des schnellen und effektiven Investors erschöpft zusammenbricht.“

„Ganz eindeutig ist der Einbruch Chinas zu erkennen an der Einwanderung von Chinesen. In allen afrikanischen Hauptstädten gibt es wenigstens ein Mini-Chinatown. In Südafrika gab es 1980 10.000 Chinesen, 1998 waren es schon 120.000, 2006 ist diese Zahl auf 300 – 400.000 angewachsen. In Tansania hatten sich nach der Fertigstellung der TanZam-Eisenbahn einige Chinesen niedergelassen, ihre Zahl ist bis 2006 auf 20.000 gestiegen. Die chinesische Gemeinde in Nigeria wurde 2006 auf 100.000 geschätzt …

Diese Migration breitet sich schnell aus und kann auch schnell zu Widerstand und heftigen antichinesischen Gefühlen und Ausbrüchen führen. Bis jetzt gab es die Verstimmungen nur in Sambia und andeutungsweise auch in Lesotho sowie im August 2009 in Algerien.“

„Die Chinesen sind da anders, stärker, weniger pingelig, sie sind mit einfachsten Unterbringungsmöglichkeiten zufrieden. Sie halten sich in fremden Kulturen zurück, greifen nicht ins soziale oder kulturell religiöse Leben ein, weder durch Missionierung noch durch Verachtung. Selbst die staatlichen Repräsentanten Chinas reisen nicht von einem Luxushotel zum nächsten, sondern checken in einfachen, kleinen Pensionen ein, weil sie nicht auffallen wollen. Sie sind überall, betreiben Handel, bringen Investitionen, sorgen mit ihren eigenen Arbeitskräften dafür, dass Stadien, Häfen, Rathäuser, Straßen entstehen.“

Bonner Aufruf

„Ich muss jetzt ehrlicherweise sagen, dass ich das alles, was ich hier kritisiere, vor 20 Jahren noch überzeugt hochgehalten habe. Ich identifizierte mich damit und forderte nur hier und da kleinere Korrekturen an den Gehältern der Entwicklungsbeamten, an den Gefahrenzulagen der GTZ, an den zu hohen Absicherungsgeldern für diejenigen, die sich bei uns als die Jungtürken einer globalisierten Weltrevolution empfanden. Bei all dem, was ich in diesem Kapitel kritisiere, muss ich mich an die eigene Nase fassen und sagen: Mea Culpa. Erst in einem winzig kleinen Kreis von ehemaligen Experten habe ich gelernt, wie sich eine neue Politik von ausgewiesenen Partnerschaften konstituieren muss.“

Auf jeden Fall ist Rupert Neudeck bereit, sich mit neuen Gedanken zu beschäftigen und seine bisherige Meinung in Frage zu stellen.

Hier ein paar Links zum Bonner Aufruf:

http://www.bonner-aufruf.eu/

http://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/archiv/2013/august/130829_Hans-Juergen-Beerfeltz-Bonner-Aufruf-war-ein-starkes-Zeichen-fuer-eine-wirksamere-Entwicklungszusammenarbeit/index.html

http://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4137:senior-experten-ernten-kritik-mit-qbonner-aufrufq-fuer-eine-andere-entwicklungspolitik&catid=45&Itemid=90

http://www.afroport.de/em_wissen_news_bonner_aufruf.php

 

Es gibt ein Leben nach Assad – Syrisches Tagebuch 2013

 

Die Anfänge

14.07.2012 – 07.07.2013

„Ich fragte mich, wie ich den syrischen Revolutionstraum humanitär begleiten könnte. Offiziell waren Mitte 2012 keine humanitären Hilfsorganisationen im Land zugelassen …

Ich versuchte zunächst, etwas von Deutschland aus zu tun. Um es vom Ende her zu sagen: Es war ein Scheitern auf der ganzen Linie. Mir schwebte vor, alle ethnischen und religiösen Parteien des syrischen Konflikts an einen Tisch zu bringen. Und wenn es schon nicht gelänge, alle Parteien und Teile der Gesellschaft aus Syrien selbst zu versammeln, dann doch wenigstens die wichtigsten Vertreter des syrischen Exils in Deutschland. Sed frustra. Es gab niemanden, der mich dabei unterstützen wollte. Also beschloss ich, mit den Grünhelmen selber nach Syrien zu gehen und direkt vor Ort zu helfen. Denn das Einzige, was unter Menschen, die verfolgt, bedroht oder zur Flucht gezwungen werden, wirklich zählt, ist das menschliche Mitgefühl, die Sympathie und die konkrete Hilfe, die wir mit unseren Spenden und den Händen der Helfer leisten wollen und können.

Im Juni 2012 begannen wir mit den konkreten Vorbereitungen. Wir planten, gleich nach dem Ende der Kampfhandlungen über die Türkei nach Syrien zu gehen, um beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu helfen. Wir wollten dazu beitragen, dass es ein Leben nach Assad geben würde. Als sich abzeichnete, dass die Rebellen größere Teile des türkisch-syrischen Grenzgebiets dauerhaft behaupten könnten, witterten wir die Chance, auch schon vorher helfen zu können. Mitte Juli brach ich daher zu einer ersten Reise ins Grenzgebiet auf, um die Möglichkeiten vor Ort zu erkunden. Entweder würden wir einen Weg nach Syrien hinein finden, oder zumindest die syrischen Flüchtlinge in der Türkei unterstützen können. Bei diesem Besuch gelangte ich noch nicht nach Syrien, doch in den folgenden Wochen festigte sich die Position der Rebellen. Aus der Stadt Azaz, die etwa 70.000 Einwohner zählt, wurden die Regierungstruppen vertrieben. Die Rebellen hofften, dort einen Rückzugsraum schaffen zu können, wie es Bengasi für die libysche Revolution war. Azaz liegt kurz hinter der türkisch-syrischen Grenze, gegenüber von Kilis, in fast gerader Linie südlich des türkischen Gaziantep, wo es einen Flughafen gibt. Wir wählten daher Azaz zu unserem Anlaufpunkt und brachen Anfang September zu einer ersten Reise nach Syrien auf. Seitdem bin ich immer dort gewesen, um unsere Arbeiten voranzubringen und neue Projekte zu beginnen. Ich habe die Menschen bewundern gelernt, die versuchen einen Alltag im Bürgerkrieg zu leben, und ich habe viel über Syrien, seine Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft nach Assad nachgedacht. Mein Tagebuch legt davon Zeugnis ab.“

08.09.2012

„In Deutschland trifft man immer wieder auf die Prognose, dass, wenn Assad stürzt, sich hier alle die Köpfe einschlagen. Für unsere Gesprächspartner sind das völlig realitätsferne Überlegungen.“

20.12.2012

„Ich gehe heute trotz allem wieder die Wette ein, dass Baschar al-Assad Ende des Jahres weg ist.“

08.01.2013

„Wir als Grünhelme müssen nun mehr Augenmerk richten auf die Nothilfe, auf die Versorgung der Menschen mit dem Lebensnotwendigen: Strom, Wärme und Mehl“.

Die Regierung wehrt sich

Rupert Neudeck und seine Grünhelme befinden sich mitten unter den Revoluzzern. Mehrfach muss er Bombardierungen miterleben, die bis hin zur Zerstörung des Krankenhauses gehen.

27.04.2013

„Michael Lüders, mit dem ich mich immer wieder über Syrien unterhalten habe, hat es schon länger vermutet: Assad hat sich in den letzten Monaten auf seine Kerngebiete zurückgezogen und versucht den Küstenstreifen zu sichern, während er den von den Rebellen gehaltenen Teil des Landes aus der Luft bombardiert und damit destabilisiert hat. Assad hat damit nicht den Fehler Ghaddafis begangen und seine Kräfte in einem impulsiven Angriff überdehnt.“

Lernfähig

Aus einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom Oktober 2013:

„Natürlich wird es ein Leben nach der Dynastie Assad geben. Aber ich würde keine Wette samt Prognose mehr eingehen, wann das sein wird. Denn es hat sich gezeigt, dass keine der beiden bewaffneten Seiten den Sieg erringen kann. Das habe ich 2012 noch anders gesehen …

Würden Sie in Syrien auch heute noch so klar Partei ergreifen?

Nein, das galt für 2012. Ich übe jetzt große Kritik an der Opposition. Sie hat behauptet, die Gebiete im Norden zu kontrollieren - das tut sie aber gar nicht. Andere Gruppen haben sich unter die Rebellen der Freien Syrischen Armee gemischt, die verfolgen ihre eigene Agenda.“

http://www.sueddeutsche.de/politik/rupert-neudeck-ueber-den-krieg-in-syrien-die-katastrophe-steckt-in-den-koepfen-der-kinder-1.1790704

Chemie-Verdacht und linke Verschwörungstheoretiker

05.12.2012

„Derweil meldete sich Obama gestern von der Rampe des Weißen Hauses und sprach Assad direkt an: ‚Assad und allen unter seinem Kommando will ich absolut klarmachen: Die Welt hat euch im Auge. Ein Einsatz von Chemiewaffen ist absolut inakzeptabel‘ … Viele europäische Außenminister glauben offenbar den US-Geheimdienstberichten nicht. Und wahrscheinlich tun sie recht daran. Aref Hajjaj, der ehemalige Chefdolmetscher im Auswärtigen Amt, erzählte mir, man sei ganz ungewiss, denn die Quelle dafür laute wie schon bei den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins: UMIS = ‚Unnamed Military Intelligence Sources‘."

Ganz naiv ist Rupert Neudeck nicht. Nichtsdestotrotz:

14.02.2013

„Derweil hält die Welle an wütenden Protesten gegen mich und andere, die sich offen gegen Assad und das Regime äußern, an. Ich bekam auf das Deutschlandfunk-Interview vom Morgen des 8. Februar wieder Zuschriften, die durch linke Verschwörungstheoretiker gekennzeichnet sind. Assad und seine Dynastie haben immer noch die Unterstützung linker Ideologen. Es gibt einige mir sehr vertraute junge und alte Linke, die immer noch wie in einer Nibelungentreue zu Baschar al-Assad stehen und davon gar nicht abzubringen sind … In Deutschland wird diese Position vor allem vertreten von der Jungen Welt, der ehemaligen FDJ-Zeitung. Dort erscheinen in regelmäßigen Abständen die Artikel der wohl einzigen deutschen Journalistin, die gegenwärtig ein Arbeitsvisum für Syrien besitzt, von Karin Leukefeld. Ich werde mit dieser Szene wohl noch unerquickliche, nicht produktive Auseinandersetzungen haben.“

09.03.2013

„Die Wut dieser Äußerungen, die alle in Deutschland abbekommen, die sich gegen Assad stellen, auch die Expertin Kristin Helberg, ist mir unverständlich. Ich erhalte immer wieder wütende Briefe von Leuten, die der Verschwörungstheorie anhängen, dass der Westen alles nur inszeniert habe, um Assad zu stürzen und eine willfährige Marionettenregierung an seine Stelle zu setzen.“

Es ist erstaunlich, dass es anscheinend doch eine größere Anzahl von Menschen gibt, die anderer Meinung als die Staatsmedien sind. Um der „Verschwörungstheorie“ Glauben zu schenken, „dass der Westen alles nur inszeniert habe, um Assad zu stürzen und eine willfährige Marionettenregierung an seine Stelle zu setzen“, muss mensch allerdings nicht „links“ sein.

Oder ist etwa Peter Scholl-Latour „links“? Hier im Interview, das der Wurm im Juni 2014 zitierte (http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/100-das-gute-an-der-boesen-diktatur.html ):

„Die Revolte gegen Assad ist von vielen Seiten unterstützt worden. Vor allem im Westen. Assad wäre gestürzt, wenn nicht Russland, der Iran und die Hisbollah im Libanon dies verhindert hätten. Das Assad-Regime war brutal und repressiv, aber es war das einzige säkulare in der gesamten islamischen Welt. Es war tolerant gegenüber Minderheiten wie den Christen. Assad war und ist, so bitter dies klingt, das kleinere Übel …"

http://www.merkur-online.de/aktuelles/politik/peter-scholl-latour-ueber-irak-krieg-wird-gefaehrlich-3629703.html

Über den beabsichtigten Regime-Wechsel hatte sich der Wurm im September 2013 geäußert:

„Den Mut haben wir und waren uns seit Mitte 2011 darüber im Klaren, dass sich in und um Syrien was Gewaltiges zusammenbraut. Denn da ist durch Wikileaks durchgesickert, dass „die Widerspenstigen unter den Arabern entweder eingekauft oder gestürzt werden sollten. Ziel ist ein „Neuer/Größerer Mittlerer Osten“, in dem ethnische und religiöse Gruppen gegen nationale arabische Politik gestärkt werden sollen. Der Plan stammt aus den Denkfabriken diverser Geheimdienste in den USA und Saudi-Arabien und wurde 2006 von der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice öffentlich gemacht.“

Maßgeblich am Plan beteiligt ist Jeffrey Feltman. Wer den Namen nicht kennt: Jeffrey Feltman war zuletzt US-Botschafter im Libanon, Staatssekretär für den Nahen Osten im US-Außenministerium und ist seit 2012 „Berater“ von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon für den Nahen Osten.

Über solche Pläne berichten die Massenmedien natürlich nicht. Dankenswerterweise gibt es aber noch andere Informationsquellen, die sich entweder an den politischen „Rändern“ aufhalten oder sich ihren unabhängigen Geist bewahren. Hier zwei Links zum Thema:

http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Nahost/feltman.html

http://www.freitag.de/autoren/hans-springstein/die-rolle-der-uno-im-syrischen-konflikt

Wer sich nicht freiwillig fügt, hat Pech gehabt. Nach dem Irak ist jetzt Syrien an der Reihe. Zum Einen spielt das Land eine Schlüsselrolle im Friedensprozess um Israel. Aus westlicher Sicht eine negative durch die Unterstützung der Hisbolla im Libanon und der Hamas in Palästina. Ein Syrien unter westlicher Kontrolle ist eine große Verlockung.

Zum Andern hat das Land eine sunnitische Bevölkerungs-Mehrheit, die in der Regierung nicht so viel zu sagen hat, wie viele ihrer Führer es wollten.

Also: Mensch stachele die Sunniten in Syrien auf, die übernehmen die Regierung, die lässt sich vom Westen (damit sind auch solche Staaten wie Saudi-Arabien und Katar gemeint) kontrollieren – und alles wird gut. So zumindest der Plan. Auch wenn das in den Massenmedien so nicht verbreitet wird, deutet doch alles genau darauf hin.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/34-feinde-syriens.html

Der Wurm im Dezember 2015:

„Dabei hätte es 2012 wohl die Chance gegeben, den eskalierenden Syrien-Krieg einzudämmen und einer politischen Lösung zuzuführen. Wie der ehemalige Präsident Finnlands, Martti Ahtisaari, vor kurzem berichtet hat, trug ihm Ende Februar 2012 der Botschafter Russlands bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, einen Vorschlag für einen Interessenabgleich zwischen Russland und dem Westen in Sachen Syrien vor. Demnach war Moskau damals bereit, Assad zu Verhandlungen mit der syrischen Opposition zu zwingen, wenn der Westen im Gegenzug die Bewaffnung des Aufstandes unterlasse bzw. unterbinde; Russland könne sogar "einen eleganten Weg für Assad zum Rückzug finden", wird Tschurkins damaliges Angebot zitiert. In der Hoffnung, den Absturz Syriens in den Krieg verhindern zu können, sprach Ahtisaari - ein erprobter Vermittler aus dem Kosovo-Konflikt - bei den UN-Botschaften der USA, Großbritanniens und Frankreichs vor, blitzte dort aber ab: Die westlichen Mächte "waren überzeugt, dass Assad in wenigen Wochen sein Amt verlieren" werde und man auf einen Kompromiss nicht angewiesen sei, berichtet der einstige finnische Präsident. Berlin bereitete damals die syrische Exilopposition auf die Übernahme der Macht in Damaskus vor. Die Terroranschläge von Al Nusra trugen aus westlicher Sicht dazu bei, Assads Sturz zu beschleunigen ….“

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59252

„Eine der gängigsten Verschwörungstheorien zum Islamischen Staat ist, er sei ein Produkt der USA. Die Enthüllung geheimer Dokumente zeigt, dass die Amerikaner der Entstehung des IS zumindest nichts entgegengesetzt haben - weil sie darin eine Chance sahen.

Die Regierung der USA ahnte schon vor drei Jahren, dass eine islamistische Terrororganisation im Osten Syriens einen eigenen Staat ausrufen könnte. Das belegen Dokumente der amerikanischen Defense Intelligence Agency (DIA), die der britische Enthüllungsjournalist Nafeez Ahmed ausgewertet hat. Der Artikel ist auf der durch freiwillige Spenden ("Crowdfunding") finanzierten Plattform "Insurge Intelligence" erschienen.

Ahmed schreibt unter Berufung auf die Dokumente, dass die USA und westliche Staaten gemeinsam mit der Türkei und sunnitischen Golfstaaten wissentlich radikal-islamische Gruppen in Syrien unterstützt hätten. Dabei hätten sie in Kauf genommen, dass sich diese im weiteren Verlauf des Krieges zu einer großen neuen islamistischen Terrorgruppe zusammenschließen könnten.

Genau das ist mit dem "Islamischen Staat" vor etwa zwei Jahren auch geschehen. Es wurde vom Pentagon jedoch - trotz aller ebenfalls erkannten Gefahren - als hilfreich bei der Destabilisierung des syrischen Regimes gesehen. Die offizielle Version, wonach die USA nur "moderate" Rebellengruppen im Syrienkrieg unterstützt haben, sei damit falsch. Womöglich ist das eine Erklärung dafür, dass der IS sich lange Zeit ungehindert formieren und ausbreiten konnte.

Bereits 2012, als das nun in Auszügen öffentlich gewordene DIA-Dokument verfasst wurde, war den US-Behörden klar, dass Al-Kaida im Irak eine maßgebliche Rolle bei der Unterstützung der syrischen Opposition spielte. Die Terrorfiliale gilt als Vorläuferorganisation des IS, bei dem frühere Geheimdienstler des irakischen Baath-Regimes unter Saddam Hussein die Hauptstrategen sind. Bereits damals war den USA klar, dass der Konflikt in einen Stellvertreterkrieg von Sunniten und Schiiten münden würde.

Wörtlich heißt es in dem zitierten Dokument, es bestünde die Möglichkeit, dass sich im Osten Syriens ein neues salafistisches Staatswesen etablieren könnte. "Und das ist genau, was die die Opposition unterstützenden Mächte wollen, um das syrische Regime zu isolieren", heißt es. Das Regime wiederum wird hier als Teil einer vom Iran unterwanderten schiitischen Achse gesehen.

Journalist Ahmed schreibt, dass die US-Regierung durchaus schon durchblicken ließ, welch ungeheure Summen an die extremistischen Gruppen in Syrien und im Irak geflossen sind. Allerdings habe Vizepräsident Joe Biden dabei nur die direkten Geldgeber Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und die Türkei erwähnt - nicht aber, dass die gesamte Strategie der Regionalmächte durch die USA, Großbritannien, Frankreich, Israel und andere westliche Regierungen gebilligt und überwacht worden sei …

http://www.n-tv.de/politik/USA-liessen-den-IS-gewaehren-article15177536.html

Jürgen Todenhöfer: „Liebe Freunde, laut US-Geheimdienst DIA wusste die Regierung Obama spätestens seit August 2012, dass Al Qaida (AQI, ISI, IS) und andere Extremisten den Aufstand in Syrien anführten. Dadurch sei „die Chance der Schaffung eines ‚Salafisten-Hoheits-Gebiets‘ in Ost-Syrien“ entstanden. Das sei genau das, was der Westen und seine Verbündeten am Golf ‚wollten‘, um das syrische Regime vom schiitischen Irak und Iran abzuschneiden. „Der ISI könne dadurch zusammen mit anderen Terror-Organisationen im Irak und Syrien einen ‚islamischen Staat‘ ausrufen.“

Wumm!! Der detaillierte und schonungslose Geheim-Bericht der Defence Intelligence Agency (DIA) wurde vor einer Woche auf Anordnung eines US-Gerichts veröffentlicht. Er war seinerzeit auch dem Nationalen Sicherheitsrat vorgelegt worden. Dessen Vorsitzender heißt Barack Obama. Er wird regelmäßig über die Erkenntnisse der Geheimdienste informiert.

Der Inhalt des Geheimdokuments verschlägt einem die Sprache. Ein Friedens-Nobelpreisträger als Terror-Pate! Der Westen an der Seite des internationalen Terrorismus! Als wissentlicher Förderer des internationalen Terrorismus! Des ISI! Das ist die bittere Realität.

Das Dokument ist eine Sensation und ein politischer Skandal. Ein terroristisches Watergate. Obama und der Westen wussten früh, wer in Syrien wirklich kämpft und welche weltweite terroristische Gefahr aus ihrer Politik erwuchs. Während sie der Welt das übliche Märchen erzählten, sie kämpften für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, unterstützten sie gezielt terroristische Organisationen.

Ein salafistischer Terrorstaat in Ost-Syrien war ihnen nicht nur egal. Sie ‚wollten‘ ihn. Sie nahmen zusätzlich bewusst in Kauf, dass der ISI einen islamistischen Terrorstaat gründen konnte, der Teile des Irak umfasste. Der DIA-Bericht ist in diesem Punkt unmissverständlich.

Deshalb planen die USA zur Zeit auch nicht, den ‚Islamischen Staat‘ völlig auszuschalten. Selbst wenn sie wüssten, wie. Sie brauchen den IS noch. Iran würde ihnen sonst zu stark. So kämpfen sie mit angezogener Handbremse.

Wetten, dass die westlichen Politiker und die Mainstream-Medien alles tun werden, um diese Perversion der offiziellen westlichen Anti-Terrorpolitik herunterzuspielen oder totzuschweigen? Die DIA-Analyse ist der Offenbarungseid einer abenteuerlichen und leider auch kriminellen Strategie. Obama und der Westen als vom US-Geheimdienst überführte Terrorpaten – das ist schwer zu verdauen.“

http://juergentodenhoefer.de/us-geheimdienst-deckt-auf-der-westen-wollte-einen-islamistischen-terrorstaat/

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/195-wer-wind-saet-wird-sturm-ernten-terror-in-paris.html

Jasinna in ihrem Video „Die USA, Assad und DIE ROTE LINIE“ zeigt ab Minute 34, dass der Regime-Wechsel in Syrien vom Westen lange vorher geplant war und ab Minute 43 einen „Aktivisten“, der viele Aktivisten ist und in den westlichen Staatsmedien quasi eine Dauerpräsenz hatte:

https://www.youtube.com/watch?v=XW54Ol8bjBw

Und hier die von Rupert Neudeck gescholtene Karin Leukefeld im Gespräch mit Ken Jebsen – unglaubwürdig wirkt sie gerade nicht:

https://www.youtube.com/watch?v=xcBtZ1wHXX8

Es spricht alles dafür, dass Rupert Neudeck in seinen politischen Annahmen zum Syrien-Konflikt völlig falsch lag.

Jugend der Welt! Kommt nach Syrien

09.09.2012

„Warum, frage ich mich schon die ganze Woche in Azaz, macht sich 2012 nicht das junge Europa auf den Weg nach Syrien, wie es das 1936 nach Spanien tat, um dort den Faschismus zu bekämpfen? Unter den heutigen Bedingungen der Mobilität, in Zeiten von Facebook und Billigflügen, müsste das alles viel leichter sein als zu Zeiten von George Orwell und Willy Brandt. Sind wir alle Waschlappen geworden? Haben wir keine Phantasie mehr? Was, wenn morgen 200, übermorgen 300, dann nächste Woche 4.000 junge Europäer mit jungen Vertretern der Gewerkschaften und der Parteien, der Pfadfinder und der Kirchen, der Moschee- und Kirchengemeinden nach Syrien gingen, um das Land für die Freiheit und die Zukunft der hier lebenden Menschen zu retten? Wenn man heute in Azaz George Orwell und Arthur Koestler liest, wird einem klar, dass daraus nichts wird. Es ist ihre Versicherungs- und Rückversicherungsmentalität, die den jungen Europäern den Weg versperrt.“

Entweder drückt er sich hier sehr missverständlich aus oder er meint es tatsächlich: der Faschismus in Spanien wurde zum größten Teil mit der Waffe in der Hand bekämpft. Will er allen Ernstes, dass „das junge Europa“ mit Waffen in Syrien kämpft?

Die Jugend kommt

14.11.2012:

„Spaltung war bis jetzt das Los der syrischen Opposition, und zwar auf lokaler Ebene ebenso wie auf nationaler und im Exil. Wir haben es in Azaz gesehen, bei den Kämpfen zwischen den beiden FSA-Brigaden … Angesichts der gefährlich volatilen Lage in Syrien wäre ein Zusammenschluss der vielen unterschiedlichen Gruppen immens wichtig. Die Opposition muss sich jetzt einen und eine Gegenregierung bilden, damit kein Vakuum entsteht, wenn Regime und Staat zusammenbrechen. Denn sonst drohen Anarchie und Chaos.“

19.02.2013

„Problematisch ist allerdings die offenbar zunehmende Stärke der Al Nusra Front. Ich habe sie zwischen Azaz und Aleppo noch nicht gesehen, aber das ist ja auch nur ein kleiner Ausschnitt Syriens. In anderen Regionen scheint sie durch ausländische Kämpfer, die in den Dschihad nach Syrien ziehen, sehr an Gewicht zuzulegen, auch wenn derzeit niemand ihre Stärke sicher beurteilen kann. Sie will in Syrien nach dem Sturz Assads einen Gottesstaat errichten wie einst die Taliban in Afghanistan, etwas, das überhaupt nicht zu diesem religiös so toleranten Land passt. Ihren Kämpfern sichert die Al Nusra Front zu, nach dem Ende des Krieges im Land bleiben zu können. ‚Sie sind keine Ausländer, sie sind Muslime!‘“

06.04.2013

„Ich hoffe weiterhin, dass die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien, diesem wunderbaren Land, in dem die Wiegen der Religionen so dicht nebeneinander stehen wie in Palästina, auch in Zukunft friedlich nebeneinander existieren können. Sunniten, Alawiten, Christen, Drusen, Ismaeliten, es gibt in Syrien eine lange Tradition der religiösen Toleranz, die nun durch die Gewalt des Bürgerkriegs, die Angst der Minderheiten und die fanatischen ausländischen ‚Gotteskrieger‘ infrage gestellt wird.“

Westen lässt Syrien alleine

11.04.2013

„Die Menschen hier in den befreiten Gebieten erhalten nicht die humanitäre Hilfe, auf die sie nach dem Völkerrecht eigentlich Anspruch hätten. Es war eine große Errungenschaft der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Menschen, die solche Katastrophen durchleiden müssen, von der internationalen Gemeinschaft nicht mehr alleine gelassen werden. Für Syrien scheint das nicht zu gelten. Wenn die Bevölkerung der Rebellengebiete Hilfe erhält, dann kommt sie von einigen wenigen mutigen NGOs. Wir haben neben den Grünhelmen und Cap Anamur etwa noch die irische Organisation Goal und die tschechische People in Need gesehen und es gibt Hilfstransporte, die von Exilsyrern ins Land geschickt werden. Die großen UN-Organisationen und das Internationale Rote Kreuz sucht man hier jedoch vergeblich …

Die Syrer sind enttäuscht vom Westen. Diese Sympathielücke füllen nun andere und sie füllen sie ganz konkret. Mit dem Geld aus Saudi-Arabien leistet die Al Nusra Front etwa in Aleppo die humanitäre Hilfe, zu der wir uns nicht aufraffen können.“

Deutschland hilft nicht

01.10.2012

„Heute haben wir einen Aufruf veröffentlicht, in dem wir die Bundesregierung um eine Quote für die Aufnahme von 10.000 syrischen Flüchtlingen bitten … Als Akt der Menschlichkeit sollte die Bundesregierung zumindest den in Deutschland lebenden Syrern erlauben, ihre Angehörigen zu sich zu holen und sie hier zu versorgen …

Zweiter Fall: Ein Deutsch-Syrer aus Aachen will seine Schwester nach Deutschland holen. Durch seine Einladung und seine Verpflichtungserklärung, dass er für eine gewisse Zeit für alles aufkommen wird, konnte sie unter großer Gefahr die Grenze nach Jordanien überwinden und ein Visum bei der deutschen Botschaft in Amman beantragen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt mit einer Begründung, bei der man sich angesichts der Bilder, die täglich in der Tagesschau und der heute-Sendung zu sehen sind, an den Kopf fasst. Es sei kein ausreichender Nachweis vorhanden, dass sie ‚nach Syrien zurückkehren‘ wolle. Nun sitzt die Schwester in Amman fest. Nach Syrien kann sie ja schlecht zurück! Gnädigerweise teilte ihr das deutsche Konsulat aber mit, sie habe ‚das Recht auf Widerspruch innerhalb von vier Wochen‘. Da kann ich nur sagen: Bravo, deutsche Diplomatie und Außenpolitik. Wenn wir den Krieg schon nicht stoppen können, sollten wir wenigstens einige der syrischen Menschen aufnehmen, die im Moment so Entsetzliches durchmachen.“

18.04.2013

„Die beiden journalistischen Kollegen Martin Durm und Jörg Armbruster haben heute einen geharnischten Brief an das Auswärtige Amt geschrieben, in dem es um die Aufnahme von Flüchtlingen und die humanitäre Hilfe für Syrien geht. Sie fragen, wie viele Flüchtlinge inzwischen in Deutschland aufgenommen worden seien. Außerdem wollen sie wissen, ob es richtig sei, dass weder Deutschland noch die EU Hilfe für die Zivilisten im Kriegsgebiet leiste und wenn ja, warum nichts in diese Richtung geschehe, obgleich doch so viel möglich und nötig sei.

Ich bin sehr dankbar, dass einmal jemand diese Fragen in dieser Härte gestellt hat.“

Anders ausgedrückt: der deutschen Regierung und zum größten Teil auch der deutschen Bevölkerung geht es zutiefst am Arsch vorbei, was die syrische Bevölkerung im Bürgerkrieg erleiden musste und muss.

Die Gutmenschen-Show, die Regierung und ein Teil der Bevölkerung letzten Herbst wg. Flüchtlings-Aufnahme abgezogen haben, ist zutiefst unglaubwürdig; siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/186-kater-vor-der-tuer.html

 

Vom Umgang mit Flüchtlingen

 

Es gibt kaum einen Menschen auf der Welt, der mehr mit Flüchtlingen zu tun hatte und der die unterschiedlichen Mentalitäten besser kennt als Rupert Neudeck.

Heftig kritisiert wurde er von Gutmenschen wg. folgendem, eigentlich sehr sinnvollen, Beitrag vom Januar 2016:

„Eine Integration kann nur gelingen, wenn sie vom ersten Tag des Betretens deutschen oder europäischen Bodens vorbereitet wird. Jeder, der in eine Erstaufnahme hineinkommt, muss ein Papier in die Hand bekommen in seiner Muttersprache. In dem Papier wird klar gesagt: Dieses Geschenk der Deutschen, dass man erst mal ohne Bezahlung eine Unterkunft, einen Schlafplatz und eine Vollversorgung plus Taschengeld bekommt, muss durch eigene Anstrengungen im Asylheim beantwortet werden. Man erwartet die Teilnahme an allen Veranstaltungen im Heim. Der Deutschunterricht muss besucht werden, es muss in den ersten Tagen fleißig Deutsch gelernt werden.

Es müssen alle Arbeiten im Haus oder Heim von den Flüchtlingen erledigt werden, auch die Toilettenreinigung. Es müssen kommunale Arbeitsdienste, auch ohne Bezahlung, geleistet werden. Ein solches Papier muss nach Lektüre unterschrieben werden. Es gibt wenige Fälle, in denen sich Flüchtlinge nicht bereitfinden, den Deutschunterricht zu besuchen. Dann muss ihnen gesagt werden, dass sie in diesem Fall wieder abgeschoben werden. Und das muss auch sofort durchgeführt werden.

Jeder Mensch lebt durch Tätigsein. Das schlimmste Hindernis der Integration sind die Untätigkeit und Passivität, zu denen das deutsche Asylbewerbersystem nicht nur neigt, sondern die es verfügt. Die Menschen, die hier auf ihr Einleben warten, dürfen bis zu 17 Monate nichts tun, dürfen sich außerhalb der Bannmeile ihres Ortes nicht bewegen. Sie werden geradezu stillgestellt. Das ist für die Entfaltung der Selbstorganisation und die Integration von Menschen in unsere Gesellschaft schmerzlich hinderlich.“

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fluechtlinge-das-ende-der-lebensluege-a-1071077.html

 

Fazit

 

Der Wurm teilt nicht immer die Meinung mit Rupert Neudeck. Die größten Differenzen lassen sich durch Sozialisation erklären: Menschen können oft nur dann logisch denken, wenn sie auf die Logik aufmerksam gemacht werden. Und wenn mensch nur von solchen Menschen umgeben ist, die eine einzige Meinung vertreten (wie es wohl etwa bei den Themen Weltbevölkerung und Hintergründe des syrischen Bürgerkriegs der Fall ist), dann kann halt mal Unfug dabei raus kommen.

Nichtsdestotrotz schätzt es der Wurm, dass Rupert Neudeck überhaupt eine Meinung zu vielen Dingen hat und diese klar und eindeutig mitteilt. Und bei veränderter Information seine Meinung auch ändern kann (etwa bei den Themen Entwicklungshilfe oder Israel / Palästina).

Ein anderer Punkt ist der tief in ihm sitzende Humanismus, der dem Wurm etwas zu weit geht. Dass er gutgläubig ist und seinen Mitmenschen erst mal nur Gutes unterstellt, richtet zumindest keinen Schaden an (obwohl die Bewohner des Erdreichs andere Erfahrungen mit den Menschen gemacht haben).

Allerdings ist es den Bewohnern des Erdreichs wichtig, ob die Art des Humanismus ausschließlich auf den Menschen und damit in letzter Konsequenz gegen die Natur gerichtet ist. Oder doch im Einklang mit der Natur. Bei Rupert Neudeck wird dies in seinem Afrika-Buch ersichtlich bei seiner Kritik an Bernhard Grzimek und dessen Film „Kein Platz für wilde Tiere“. Wurm hat da den Eindruck, dass Rupert Neudeck weder Tiere noch überhaupt Natur für schützenswert hält; unter anderem kritisiert er Bernhard Grzimek, dass dieser sich gar nicht um den Menschen kümmere. Wenn Rupert Neudeck weiss, dass zwischen 1990 und 2025 die Anzahl der Menschen von 5,3 Milliarden auf 8,5 Milliarden steigen wird (davon abgesehen, dass überhaupt der Anstieg auf die 5,3 Milliarden sehr schnell innerhalb der letzten Jahrzehnte vonstatten ging) und er sich über jedes einzelne zusätzliche Menschenkind freut, heisst das, dass diese Entwicklung in erster Linie den Bewohnern des Erdreichs geschadet hat und weiter schaden wird.

Diese Einstellung heisst „Macht euch die Erde untertan“. Siehe dazu auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/90-oekoterrorist-noah.html

Wie dem auch immer sei und was mensch von seinen Worten halten mag: in seinen Taten war Rupert Neudeck zutiefst vorbildlich. Er hat allen geholfen, die seiner Hilfe bedurften. Völlig egal, ob sie auf der „richtigen“ Seite standen oder nicht; Tausende verdanken ihm überhaupt ihr Leben.

Abschließen möchte der Wurm mit den Worten, mit denen er bereits Karlheinz Böhm verabschiedet hat:

„Trotz aller berechtigten Kritik an den Menschen kommt der Wurm nicht umhin, den Größten unter ihnen seinen Respekt zu zollen. Rupert Neudeck zählt zu ihnen. Und die vielen, vielen Unbekannten, die ihn auf die eine oder andere Art und Weise in seinen Projekten unterstützen.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/99-mensch-fuer-menschen.html

 

 

Dada

 

von Rupert Regenwurm

 

Der Schoppen-Hauer

 

Der Schoppen-Hauer

Ist ein ganz ein Schlauer

Trinkt gern mal einen über’n Durst

Und isst dazu ‘ne Wurst.

 

 

 

 

 

Den Beruf „Dadaist“ gibt es nicht. Am Nähesten kommt ihm vielleicht der Karikaturist. Pierre Christin ist so einer und er durfte in der Kirche Notre-Dame de l’Assomption in Èvian-les-Bains den Kreuzweg gestalten.

Kein Wunder für einen Karikaturisten – der Kreuzweg fiel recht dadaistisch aus. Mensch beachte etwa die Länge der Gliedmaßen der Hauptpersonen. Im unteren Bild wird im Hintergrund Polonaise getanzt.

Den vollständigen Kreuzweg gibt’s im Reisebericht über den französischen Teil des Genfersees zu sehen:

http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/europa/frankreich/genfersees/franzoesischer-teil-des-genfersees.html