Leben im Elfenbeinturm

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“

So lautet die Parole der Flugschrift „Der Hessische Landbote“ aus dem Jahre 1834, an der Georg Büchner maßgeblich beteiligt war. „Der Hessische Landbote“ richtete sich an die hessische Landbevölkerung und lässt zusammen mit seinen Briefen aus der Zeit deutlich eine revolutionäre Gesinnung verraten.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1
http://gutenberg.spiegel.de/buch/6788/2

 

Heute vor 200 Jahren wurde Büchner geboren. Der Schriftsteller, Mediziner und Naturwissenschaftler hat bedeutende Werke hinterlassen, deren revolutionärer Charakter sich allerdings in Grenzen hielt.

http://hpd.de/node/276

 

Nichtsdestotrotz drängt sich einem Wurm die Frage auf, wie heutige deutsche Intellektuelle bzw. Wissenschaftler auf soziale Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten reagieren und wie sie sich für ihre Mitmenschen einsetzen.

Und dem Wurm kommt der Gedanke, dass diese Intellektuellen oftmals in einer Parallelgesellschaft leben, vom richtigen Leben wenig mitkriegen und auch gar kein Interesse daran haben.

 

Wer von denen nicht selbst unter einfachen Leuten aufgewachsen ist und heute noch (bzw. wieder) solche Leute in seiner Nachbarschaft hat, wird mit Nicht-Akademikern in seinem Privatleben kaum Kontakt haben.

Und wird versuchen, sich vom einfachen Volk abzugrenzen. Anbei ein treffender Auszug aus dem Wikipedia-Artikel zum „Elfenbeinturm“:

„Heute überwiegt der negative Beigeschmack des Begriffs. Dieser bezieht sich auf einen akademischen Habitus von Forschern oder Wissenschaftlern beliebiger Disziplinen, der darin besteht, dass die innerhalb der Disziplinen herrschende extreme Spezialisierung in Bezug auf die nicht-akademische Außenwelt nicht als kommunikatives Problem erkannt werden will.

Mit einfacheren Worten: In vielen Fachgebieten haben Wissenschaftler eine sehr stark spezialisierte Fachsprache entwickelt, die von Nichteingeweihten kaum oder gar nicht verstanden wird; und trotzdem wird diese Fachsprache dann in der Kommunikation mit der Allgemeinheit verwendet, obwohl - oder gerade weil - man weiß, dass man als Wissenschaftler auf diesem Wege unverstanden bleibt.

Vielmehr wird diese Tatsache, dass auch ein überdurchschnittlich gebildeter Bürger das betreffende Fachgebiet nicht verstehen kann, als unvermeidliche – manchmal auch begrüßenswerte – Tatsache (siehe auch Fatalismus) hingenommen. Die Suche nach kommunikativen Lösungen, um Verständigungsprobleme zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu überwinden, wird entweder abgelehnt oder entsprechende Vorschläge mit dem Argument "populärwissenschaftliche Darstellung" als minderwertig abgekanzelt.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Elfenbeinturm

 

Ein modernes Zauberwort für die Akademiker lautet „privat“. Abgesehen von den privaten Krankenkassen gibt es mehr und mehr private Kindergärten, private Schulen, private Internate, private Universitäten. Natürlich wollen die alle auch in einer noblen Wohngegend wohnen. Von der Wiege bis zur Bahre abgeschottet vom real existierenden Leben.

Und wenn sie mal gezwungen sind, mit etwas einfacheren Menschen zu tun zu haben (etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln), kann mensch davon ausgehen, dass sie von ihren Mitmenschen recht wenig mitbekommen, da sie sich dann sehr wahrscheinlich mit sich selbst und ihren mitgebrachten elektronischen Geräten beschäftigen.

Geballt sind diese Leute an den Universitäten zu besichtigen. Laut Eulalia Eule, der Leiterin der Arbeitsgruppe SAU (Schulen, Akademien, Universitäten), fühlen sich die Damen und Herren Wissenschaftler schon als etwas Besonderes und nehmen einfache Mitarbeiter (etwa Reinigungskräfte, Handwerker, Verwaltungsmenschen) kaum zur Kenntnis.

Das bekommen in erster Linie die Leute aus der Verwaltung zu spüren. Während für die Wissenschaft finanziell so ziemlich alles getan wird, ob sinnvoll oder nicht, wird die Verwaltung nicht ernst genommen. Wenn gespart wird, heisst es immer „wir werden Verwaltungskosten senken“. Da die Arbeit nicht weniger wird, bedeutet das, dass immer weniger immer mehr leisten müssen. Und entsprechend überlastet sind.

Und auch noch mit den Wissenschaftlern zu tun haben, die auf sie mehr oder weniger deutlich herab sehen und sich sehr oft die „akademische Freiheit“ nehmen, sich nicht an allgemein gültige Regeln wie etwa Fristen zu halten. Der „Apparat“ hat schließlich zu funktionieren und soll nicht dauernd auf lästige Regeln und Gesetze bestehen.

Egal wie gut einer ist und wie sehr er sich auch einsetzt – groß Karriere wird keiner an der Universität machen, der nicht wissenschaftlich tätig ist. Sehr wahrscheinlich wird er auch nicht für seine Arbeit gelobt. Bei den Wissenschaftlern sieht das anders aus: die loben sich gegenseitig, erhalten Preise und Titel, treffen Ihresgleichen recht häufig bei Tagungen und Konferenzen im In- und Ausland und fühlen sich überhaupt zu jeglicher Förderung berechtigt.

Nun, wer in wissenschaftlichen Berufen arbeitet, der hat es „geschafft“. Und wer es „geschafft“ hat, hat entweder einen mitleidsvollen oder einen mitleidslosen Blick auf diejenigen, die auf die eine oder andere Art und Weise Probleme mit dem Leben haben und sei es „nur“ finanzieller Art. Schließlich seien die ja selbst schuld an ihrem Unglück. Wenn sie selbst es bis nach oben gebracht haben, können andere das ja auch – wenn sie nur wollten und sich etwas dafür anstrengen würden.

Verstärkt wird diese Meinung durch das Bild von Sozialhilfe-Empfängern, das bewusst von den Medien so dargestellt wird: neben solchen, die eigentlich nicht berechtigt wären und als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet werden, werden sehr oft unglückliche Gestalten präsentiert, die negative Assoziationen auslösen. Etwa Dicke und Faule, die sich gerne von „Junk Food“ ernähren. Getoppt wird das dadurch, dass sie viele Kinder haben.

Es mag ja solche Menschen geben – die Mehrheit sind sie allerdings nicht. Auch nicht bei denjenigen, die eine reguläre Arbeit haben und deren Gehalt “zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig“ ist. Und von denen gibt es immer mehr. Bedingt durch bewusste Niedriglohn-Politik seitens der Bundesregierung, Abbau von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen, Auslagerungen, Privatisierungen und Ersetzen großer Teile der Stammbelegschaft durch wesentlich schlechter bezahlte Zeitarbeitskräfte.

All dies sehen die meisten Wissenschaftler nicht oder wollen es nicht sehen. Dabei handelt es sich noch nicht mal um Schlechtmenschen. Im Gegenteil: häufig sind es richtige Gutmenschen, die sich um den Erhalt der Regenwälder kümmern, um bedrohte Kinder, Tiere und Völker „hinten, weit, in der Türkei“, die Bio- und „Fair Trade“-Produkte kaufen, sich für die Umwelt und für regenerative Energien einsetzen und überhaupt die ganze Welt retten möchten.

Nur das Elend im eigenen Land sehen sie nicht. Im Grunde handelt es sich um eine abgeschottete Parallel-Gesellschaft, die um sich selbst kreist.

Anbei ein kleiner Auszug aus dem „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“

Nicht zu beneiden ist Nina Nachtigall, Leiterin der Arbeitsgruppe MTV (Musik, Theater, Video). Das, was sie hören muss, ist zum größten Teil gruseliges Herz, Schmerz und dies und das.

Wenigstens ab und zu hat sie mit richtig guten Sachen zu tun. So mit einem der besten Liedtexter der Gegenwart, Mark Knopfler. In seinem vielschichtigen „Brothers in Arms“ gibt es eine passende Textzeile:

“There's so many different worlds
So many different suns
And we have just one world
But we live in different ones”

Hier die Übersetzung:

„Es gibt so viele verschiedene Welten
und so viele unterschiedliche Sonnen
Und wir haben nur eine Welt,
doch leben wir in verschiedenen”

http://www.youtube.com/watch?v=5vUDmFjWgVo