Matera ist 2019 Europäische Kulturhauptstadt, worüber sich der Wurm freut. Zum Einen, weil es die verdiente Aufmerksamkeit auf sich lenkt – auch von solchen Menschen, die noch nie etwas von Matera gehört haben. Zum Andern, weil vermehrt Touristen nach Matera und in dessen Umland kommen und dort Geld lassen werden, das diese Region dringend braucht.
Matera touristisch
In der Basilikata gibt es schon das ein oder andere zu sehen; Kultur-Touristen machen aber üblicherweise dann einen Abstecher nach Matera, wenn sie sich in den kulturell reichen Regionen Kalabrien oder Apulien aufhalten. Für Bade-Touristen in Kalabrien bzw. Apulien bietet es sich an, einen Tagesausflug nach Matera und Umgebung zu machen. Nach der Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt wird dies verstärkt der Fall sein.
Barbara Horvatits-Ebner: „Du suchst noch einen ganz besonderen Ort für deine nächste Reise? Wie wäre es mit einem versteckten Schatz in Süditalien? Matera ist ein außergewöhnliches Reiseziel und für mich die schönste Stadt in Italien, die wirklich jeder einmal gesehen haben sollte. In diesem Artikel verrate ich dir warum sie das ist, zusätzlich zu den wichtigsten Informationen und besten Tipps für Matera. Dann steht einem Besuch in dieser historisch höchst spannenden Stadt nichts mehr im Wege!
WARUM IST MATERA DIE SCHÖNSTE STADT IN ITALIEN?
Diese alte Stadt – sie gehört übrigens zu den ältesten Städten der Welt – liegt zwar nicht mehr in Apulien, sondern in der benachbarten Basilikata, aber sie ist gerade einmal eine Fahrstunde von Tarent oder Bari entfernt. Also beschlossen wir, ihr als Abschluss unserer Tour einen Besuch für eine Nacht abzustatten. Es war die letzte Station unseres Apulien-Roadtrips. Bis dato wusste ich beinahe nichts über die Stadt und kannte nur die faszinierenden Bilder von dort. Und was soll ich sagen? Ich habe mich verliebt!
Warum? Weil ich überwältigt war – zum einen von der historischen Bedeutung Materas, zum anderen von der Architektur des Stadtkerns. Ich war ja schon an vielen Orten unterwegs, aber so eindrucksvoll hat sich mir wirklich noch keine Stadt präsentiert. Mir war von Beginn an klar, dass die berühmtesten Sehenswürdigkeiten – die Sassi di Matera – nicht umsonst zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören.
DIE SASSI DI MATERA
Doch was sind diese Sassi überhaupt? Sassi bedeutet übersetzt ja nichts anderes als “Steine”, und es ist wirklich so, dass damit Höhlenwohnungen gemeint sind, die einfach aus dem Stein geschlagen wurden. In diesen Wohnungen lebten dann die Familien gemeinsam mit den Haus- und Hoftieren auf engstem Raum zusammen. Und das bis in die 1960er Jahre! Erst als sich der damalige Ministerpräsident des “Schandflecks Italiens” annahm, wurden richtige Wohnungen gebaut und die Menschen umgesiedelt. Alleine die Tatsache, dass die älteren EinwohnerInnen Materas diese Zeiten in den Sassi noch miterlebten, lässt mir jetzt noch die Gänsehaut aufsteigen.
Lange dem Verfall preisgegeben, hat man viele Sassi restauriert, aber in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Einige Wohnungen sind heute noch zu Ausstellungszwecken zu besichtigen, genauso wie die vier Felsenkirchen. Denn nicht nur das eigene Wohnhaus war im Stein untergebracht, sondern auch das ein oder andere Gotteshaus.
ARCHITEKTUR IN MATERA
Da Matera in einem sehr karstigen, hügeligen Gebiet liegt (genannt Murgia), geht es in der Stadt selbst auch auf und ab. Ein Graben trennt die zwei Altstadtviertel voneinander, und das macht die Anordnung der Häuser und Kirchen natürlich besonders interessant. Bis auf den Dom sind fast alle Gebäude relativ klein und schmal gehalten, und fügen sich an den Hügeln eng aneinander. Matera lässt sich wohl am besten als “Schluchtenstadt” beschreiben. Besonders in der Nacht ergibt diese Kulisse ein sensationelles Bild, an dem ich mich gar nicht satt sehen konnte.
Selbst nach den Restaurationen besteht das ganze Zentrum nach wie vor nur aus Sand- und Tuffstein, was der Stadt ihr einzigartiges Gesicht verleiht. Nicht umsonst bekommt man hier das Gefühl, eine Zeitreise zu erleben. Diesen Umstand haben natürlich auch Filmemacher erkannt, wodurch die Stadt zu einer beliebten Drehkulisse avanciert ist, wie etwa für “Die Passion Christi” mit Mel Gibson.
Die Faszination Materas lässt sich für mich aber kaum in Worte fassen. Die Bilder liefern schon mehr Information zur Schönheit der alten Stadt, aber wirklich greifbar wird sie erst, wenn man dort steht und sich Matera neben einem erhebt. Mir stockte wirklich der Atem und ich bekam meinen Mund vor lauter Staunen nicht zu. In dem Moment war mir klar, dass Matera die schönste Stadt Italiens ist.“
https://reisepsycho.com/8-tipps-fuer-matera-die-schoenste-stadt-italiens/
https://www.viva-italia.it/Regionen/Basilikata/Matera.php
http://www.italia.it/de/reisetipps/natur-und-landschaft/matera-eine-wiederentdeckte-stadt.html
Christus kam bis Matera
Kaum ein Ort bietet sich dermaßen für biblische Filme an wie Matera. Vor allem Pier Paolo Pasolini drehte hier mit „Das 1. Evangelium – Matthäus“ einen der ausdrucksstärksten Filme der Geschichte:
„Große Teile des Films wurden in und um Matera gedreht. Pasolini hatte dort Komparsen gefunden, in deren Gesichtern genauso wie im Schauplatz noch jene „prä-industriellen“ Züge zu finden waren, nach denen er lange gesucht hatte.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_1._Evangelium_%E2%80%93_Matth%C3%A4us
Hier der Einzug nach Matera:
„Wikipedia“ listet alle Filme auf, die in Matera gedreht wurden:
https://de.wikipedia.org/wiki/Matera
Carlo Levi und „Christus kam nur bis Eboli“
Zu verdanken hat Matera seinen späten Ruhm allerdings einem Menschen, der seit 44 Jahren tot ist: Carlo Levi.
„Carlo Levi (1902-1975) war einer der bedeutendsten Intellektuellen der italienischen Nachkriegsgeschichte. Sein 1945 erschienenes Buch "Cristo si è fermato a Eboli" (Christus kam nur bis Eboli) erlangte Weltruhm. Dass er auch zu den wichtigsten Malern des italienischen Realismus zählt - er nahm allein fünfmal an der Biennale in Venedig teil - blieb hingegen im Ausland weitgehend unbeachtet.
Levi entstammt einer bürgerlichen Turiner Arztfamilie, die mit dem Sozialismus sympathisierte. In Paris, wo er zeitweilig ein Atelier hatte und die Avantgardisten vom Montparnasse kennen lernte, schloss er sich der antifaschistischen Untergrundgruppe Giustizia e Libertà an. Sie wurde verraten, und Levi wurde 1935 in ein winziges Bergdorf des Mezzogiorno verbannt. Das Elend der archaischen Verhältnisse des Südens, die Armut der Bauern, die Malaria, die ihn zwang, heimlich - aber geduldet - seinen Arztberuf wieder auszuüben, hat er in seinem literarischen Hauptwerk eindrücklich geschildert.“
http://www.david.juden.at/kulturzeitschrift/55-56/Main%20frame_Artikel56_CarloLevi.htm
Bernd Zillich : „Aliano (Basilikata) ist der Schauplatz des literarischen Meisterwerks von Carlo Levi. Durch sein 1945, nach dem Ende des Faschismus, veröffentlichtes Buch „Cristo si è fermato a Eboli“ (Christus kam nur bis Eboli) wurde Carlo Levi weltberühmt. Die Verfilmung von Francesco Rosi im Jahr 1973 (mit Gian Maria Volonté und Irene Papas in den Hauptrollen) wurde ebenfalls zum Erfolg. Das Buch ist mehr ein Erfahrungsbericht als ein Roman, da Levi darin seine Zeit in Aliano beschrieb, wohin er vom faschistischen Regime von 1935 bis 1936 verbannt worden war.
Aus Diskretionsgründen nannte Levi den Ort des Geschehens „Gagliano“, so wie er auch durch eine bewusst ungenau angegebene Ortsangabe von Aliano ablenkte. Als das Buch berühmt wurde, wurde die wahre Identität des Ortes allerdings sehr schnell enttarnt, wovon die Einwohner Alianos, wegen der Beschreibung ihres Elends, anfangs gar nicht begeistert waren.
Das Buch gilt als die pointierteste literarische Beschreibung der Situation des mezzogiorno (des italienischen Südens) zu Levis Zeit. Es ist eine leidenschaftliche und ehrliche Schilderung dieses armen und rückständig gebliebenen Südens.
Levi schildert Aliano als einen Ort, in dem die Einwohner wie seit Jahrhunderten in Armut und Resignation leben, ohne auch nur im Geringsten von der Politik etwas zu erwarten und von der Geschichte außerhalb ihres Ortes Kenntnis zu nehmen.
Hier in diesem kleinen Dorf in der Mitte Lukaniens ist kein Bauer Mitglied einer Partei. Die Bauern sind keine Faschisten, so wie sie sich zu keiner Partei bekennen würden. Sie haben nichts zu tun mit der Regierung, mit der Macht, mit dem Staat. Der Staat, das sind für sie nur „die aus Rom“, die es schon immer gegeben hat und immer geben wird, wie den Hagel, die Trockenheit, die Erdrutsche, die Malaria. Die Bauern dieses tiefen Südens Italiens misstrauen jeder Art von Obrigkeit, die sie immer nur als Unterdrückung erfahren haben. Für sie ist der Staat weiter weg als der Himmel, aber bösartiger, weil er immer auf der „anderen Seite steht“. Er ist nur einer der Aspekte des Schicksals, wie der Wind, der die Ernte austrocknet, und das Feber, welches das Blut verseucht.
Eindrucksvoll und in essayistischer Form beschreibt Levi das Leben der Bauern in Aliano, ihr Elend, ihr Aberglaube, das in zahlreichen heidnischen und magischen Praktiken neben dem christlichen Glaube weiterlebt, das gelegentliche Aufflammen politischer Aufsässigkeit und einprägsame Porträts zahlreicher Menschen, wie die Gestalt des faschistischen Podestà (so wurden zwischen 1926 und 1945 die Bürgermeister Italiens genannt), den Pfarrer und die Haushälterin.
Seinen Beruf als Arzt übte Carlo Levi nur in Aliano aus. Dort verband er Wunden, verteilte Chinin gegen Malaria und lehrte den Menschen Hygiene.
Lukanien, das heute Basilikata heißt und zwischen Kampanien, Kalabrien und Apulien liegt, ist zwar noch immer von Armut geprägt, doch es versucht sich inzwischen besser darzustellen und zieht sogar zunehmend Besucher an. Denn die abweisende, schroffe Landschaft kann auch als wildromantisch gesehen werden und der eher verschlossene Menschenschlag wird von den Besuchern gerne als authentisch gesehen. Malaria gibt es nicht mehr und nach dem abflauenden Toskana-Boom setzt man nun auch in Süditalien auf die Touristen.
Während die Einwohner Alianos anfangs von Levis Beschreibung nicht begeistert waren, ist das Buch heute in Aliano zur Schullektüre avanciert und der Ort lockt mit seinem neu erworbenen Rang als Parco Letterario, es gibt ein Museum, ein Amphitheater.“
https://www.mein-italien.info/literatur/christus-eboli.htm
Elisa Fuchs: „Es war der Besuch in der Felsenstadt Matera in Süditalien im letzten September, der mich dazu bewegte, den Klassiker, der mir nur dem Titel nach bekannt war, nun doch einmal zu lesen: Christus kam nur bis Eboli. Wir sahen die Höhlen, in denen die ärmeren Leute in Matera bis in die 1950er Jahre hausten. Kinder, Erwachsene und Haustiere lebten zusammen in einem einzigen fensterlosen Raum, davor ein meist winziger Anbau, um dem ganzen doch noch irgendwie den Anschein eines Hauses zu geben. Heute gehört Matera zum Weltkulturerbe der Unesco und wird 2019 europäische Kulturhauptstadt. Auch eine ganze Reihe von Filmen wurde in der malerisch-archaischen – und unterdessen auch zu einem guten Teil gentrifizierten – Altstadt gedreht, seit nach dem Erscheinen von Carlo Levis Buch italienische Intellektuelle auf die Stadt aufmerksam wurden. So drehte Pasolini dort einen Teil von Das 1. Evangelium – Matthäus (1964) und protestierte zusammen mit andern italienischen Intellektuellen gegen die unwürdigen Lebensbedingungen der Höhlenbewohner.
Als Carlo Levi 1935/36 ein knappes Jahr im Dorf Aliano (im Buch Gagliano) in der Provinz Matera verbringt, ist die Armut noch entsetzlich und allgegenwärtig. Die Menschen sagen von sich selber, dass sie keine cristiani, keine Christenmenschen seien, Christus sei nur bis nach Eboli, der grösseren Stadt an der Hauptstrasse im Nordwesten, gekommen. Der Maler und Schriftsteller ist ein confinato, ein Verbannter des Mussolini-Regimes und seine Bewegungsfreiheit strikt auf die Grenzen des Dorfes beschränkt. Obwohl er seinen ursprünglichen Beruf als Arzt nicht lange ausgeübt hat, lässt er sich angesichts der Bitten der Leute darauf ein, sie soweit wie möglich medizinisch zu versorgen, bis ihm auch das verboten wird. Dadurch wird er zu einem Vertrauten vieler Menschen, ihre letzte Hoffnung oft.
In seinem Buch – eher eine sehr persönliche Reportage als ein Roman – schildert Levi das ärmliche Leben der contadini, der Kleinbauernfamilien, geprägt vom Hunger, von der allgegenwärtigen Malaria und der Ausbeutung durch die degenerierte und habgierige lokale Bourgeoisie. Aber er zeigt auch die Stärken dieser Menschen, ihre Gastfreundschaft und ihre Aufrichtigkeit zum Beispiel und die Menschlichkeit einer archaischen Gesellschaft, die sich nicht wirklich den Werten und Zwängen des Christentums verpflichtet fühlt. Sexualität etwa gilt als eine Naturkraft, der man sich nicht entgegenstemmen kann. Und wenn man deshalb vermeiden sollte, dass ein Mann und eine Frau irgendwo alleine in einem Raum sind, ist es völlig selbstverständlich, dass es Frauen gibt, die Kinder von verschiedenen Männern haben. Was zählt, ist die Mutter eines Kindes, wer der Vater ist, ist sekundär. Levi spricht sogar von einem matriarchalen Regime, das er allerdings auch auf die Tatsache zurückführt, dass es sehr viel mehr Frauen im Dorf gibt, da viele Männer nach Amerika ausgewandert sind.
Stoisch ertragen die Bauern ihr mühseliges Leben und nur selten blitzt Widerstand auf. So entziehen sich viele der vom Bürgermeister einberufenen Versammlung, wo Freiwillige für Mussolinis Abessinienkrieg gesucht werden. Politik interessiert sie nicht, die in Rom machen eh, was sie wollen, und wenn sie das Geld für einen Krieg ausgeben, statt endlich eine Brücke über den Agri zu bauen, ist das ihre Sache. Und schon in der ersten Euphorie über die faschistische Expansion, die damals offensichtlich andere italienische Regionen erfasste, steht bei ihnen eher der Gedanke an die Menschen, denen man das Land wegnimmt, das man erobern will, im Vordergrund.
So wenig Levi mit beissender Ironie gegenüber den gentiluomini, der lokalen "Elite", spart, die nichts für die ärmere Bevölkerung tut, aber noch erwartet, dass diese ihnen Kirchenobolus und Weihnachtsgeschenke bringt, so einfühlsam, ja liebevoll, erzählt er von den contadini. Die Menschen sind ihm ans Herz gewachsen und das überträgt sich auf die Lesenden. Ein berührendes Buch, das einem einiges verstehen lässt über den Mezzogiorno, den verkannten italienischen Süden, der auch heute noch sehr weit weg ist von Rom und den Wirtschaftszentren in Norditalien.“
Der Wurm hat „Christus kam nur bis Eboli“ mit großer Freude gelesen und gibt gerne ein paar Eindrücke wieder:
Einleitung
„Viele Jahre sind vergangen, Jahre voller Kriege, in denen sogenannte Geschichte gemacht wurde. Vom Zufall hin- und hergetrieben, habe ich das beim Abschied gegebene Versprechen, zu meinen Bauern zurückzukehren, bis jetzt nicht halten können; wer weiß, ob es überhaupt dazu kommen wird. Aber hier in meinem Zimmer, in meiner in sich abgeschlossenen Welt, lege ich gern in der Erinnerung den Weg wieder zurück in jene andere, in Schmerz und Brauchtum verstrickte, unendlich geduldige Welt, die abseits von Geschichte und Staat liegt, in dieses herbe, trostlose Land, wo der Bauer in Elend und Verlassenheit auf karger Scholle im Angesicht des Todes seiner starren Sitte lebt.
„Wir sind keine Christen“, sagen sie, „Christus ist nur bis Eboli gekommen.“ Christ bedeutet in ihrer Ausdrucksweise Mensch; und der sprichwörtliche Satz, den ich hundertmal habe wiederholen hören, ist in ihrem Munde wohl nichts anderes als der Ausdruck eines trostlosen Minderwertigkeitskomplexes. „Wir sind keine Christen, keine Menschen, wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere, als Lasttiere und noch geringer als Tiere und Koboldwesen, die doch ihr freies, teuflisches oder engelhaftes Dasein leben; denn wir müssen uns der Welt der Christen jenseits unseres Horizontes unterwerfen, ihre Last und ihren Widerspruch ertragen.“ Aber der Satz hat noch einen viel tieferen Sinn: wie jede symbolische Ausdrucksweise gilt er auch buchstäblich. Christus ist wirklich nur bis Eboli gekommen, wo Straße und Eisenbahn die Salernitaner Küste und das Meer verlassen und in das öde lukanische Land eindringen. Christus ist niemals bis hierher gelangt, ebensowenig wie die Zeit, die individuelle Seele, die Hoffnung oder das Band zwischen Ursache und Wirkung, wie die Vernunft und die Geschichte. Christus ist nicht bis hierher vorgedrungen, wie auch die Römer nicht bis hierher vorgedrungen waren, welche die großen Straßen beherrschten, aber sich von den Bergen und Wäldern fernhielten, ebensowenig wie die Griechen, welche am Meer die blühenden Städte Metapont und Sybaris bewohnten. Keiner der kühnen Männer des Westens hat bis hierher den Sinn für die sich wandelnde Zeit, seine Staatstheokratie oder seinen ewigen, sich selbst noch steigernden Tatendrang gebracht. Niemand hat diese Erde berührt, es sei denn als Eroberer oder als Feind oder als verständnisloser Besucher. Die Jahreszeiten gleiten über die Mühsal der Bauern dahin, heute wie dreitausend Jahre vor Christi Geburt; keine menschliche oder göttliche Botschaft wurde an diese halsstarrige Armut gerichtet. Wir reden eine andere Sprache: unsere Worte sind hier unverständlich. Die großen Entdecker haben die Grenzen ihrer eigenen Welt nicht verlassen; sie haben die Pfade ihrer eigenen Seele, die Wege des Guten und Bösen, der Moral und der Erlösung durchlaufen. Christus ist in die unterirdische Hölle der jüdischen Ethik hinabgestiegen, um dort die Pforten der Zeit aufzubrechen und sie in Ewigkeit zu versiegeln. Aber in dieses düstere Land ohne Sünde und ohne Erlösung, wo das Übel nicht moralisch, sondern nur irdisches Leid ist, das ewig den Dingen anhaftet, ist Christus nicht herabgestiegen. Christus ist nur bis Eboli gekommen.“
Als Arzt konsultiert
„Am frühen Morgen weckten mich keine Herdenglöckchen wie in Grassano, da es hier keine Hirten, keine Weiden und kein Gras gibt, sondern das fortwährende Getrappel der Eselshufe auf dem Straßenpflaster und das Meckern der Ziegen. Dies ist der tägliche Auszug. Die Bauern stehen in der Dunkelheit auf, weil sie es weit haben, einige zwei, andere drei, manche gar vier Stunden Weges, um zu ihren Feldern zu gelangen, die an den ungesunden Kiesbetten des Agri und des Sauro oder an den Hängen der fernen Berge liegen. Das Zimmer war voller Licht; die Mütze mit den Buchstaben war verschwunden. Mein Gefährte war offenbar beim Morgengrauen aufgestanden, um den Trost des Gesetzes in die Häuser der Bauern zu bringen, noch bevor diese auf die Felder gezogen waren; und um diese Zeit lief er vielleicht schon mit der in der Sonne blinkenden Mütze, seiner Klarinette und einer Ziege am Strick die Straße nach Stigliano hinunter. Vom Eingang her drang der Klang weiblicher Stimmen und Kinderweinen an mein Ohr. Etwa zehn Weiber mit Kindern auf dem Arm und an der Hand warteten geduldig auf mein Aufstehen. Sie wollten mir ihre Kinder zeigen, damit ich sie kurierte. Es waren bleiche und magere Geschöpfe mit großen, schwarzen und traurigen Augen in den wachsbleichen Gesichtchen, mit aufgetriebenen und gedunsenen Bäuchen wie Trommeln auf krummen und dünnen Beinchen. Die Malaria, die hier niemanden verschont, hatte sich bereits in ihren unterernährten und rachitischen Körpern eingenistet. Ich hatte es vermeiden wollen, mich mit Kranken zu beschäftigen, weil es nicht mein Beruf war, weil ich wußte, wie wenig Sachkenntnis ich hatte, und weil mir klar war, daß ich durch diese Tätigkeit in die starre und eifersüchtige Welt der Interessen der Signori dieses Ortes geraten würde, was mich keineswegs lockte. Aber ich begriff sofort, daß ich meinen Vorsatz nicht lange würde einhalten können. Der Vorgang vom vorigen Tag wiederholte sich. Die Frauen baten mich, segneten mich und küßten mir die Hände. Sie hofften auf mich und vertrauten mir vollkommen. Ich fragte mich, woher das käme. Der Kranke gestern war gestorben, und ich hatte nichts tun können, um seinen Tod abzuwenden; aber die Frauen behaupteten, sie hätten gesehen, daß ich nicht wie die andern sei, kein Quacksalber, sondern ein guter Mensch und daß ich ihre Kinder heilen würde. Vielleicht lag das am natürlichen Ansehen, das der Fremde genießt, der von fern her kommt und eben deshalb wie ein Gott ist; oder eher noch hatten sie gemerkt, daß ich bei meiner Hilflosigkeit doch versucht hatte, etwas für den Sterbenden zu tun, und daß ich ihn mit Teilnahme und echtem Mitgefühl betrachtet hatte. Ich war betroffen und schämte mich ihres so völlig unverdienten Vertrauens. Ich schickte die Frauen mit ein paar Ratschlägen fort und ging hinter ihnen aus dem schattigen Zimmer in das blendende Morgenlicht. Die Häuserschatten waren schwarz und unbeweglich, der heiße Wind, der aus den Schluchten aufstieg, wirbelte Staubwolken auf; die Hunde flöhten sich im Staub.“
Häuser der Bauern
„Die Häuser der Bauern sind alle gleich; sie bestehen aus einem einzigen Raum, der als Küche, Schlafzimmer und fast immer auch als Stall für die kleinen Haustiere dient, wenn es dafür nicht neben dem Haus eine Hütte gibt, die im Dialekt mit einem griechischen Wort als „Catoico“ bezeichnet wird. Auf der einen Seite ist der Kamin, auf dem mit ein bißchen Reisig, das man jeden Tag von den Feldern mit heimbringt, gekocht wird: Wände und Decke sind rauchgeschwärzt. Das Licht kommt durch die Tür herein. Das Zimmer ist fast ganz ausgefüllt von einem riesigen Bett, das viel größer ist als ein gewöhnliches Ehebett: in ihm muß die ganze Familie, Vater, Mutter und alle Kinder, schlafen. Die Kleinsten haben, solange sie gestillt werden, das heißt, bis sie drei oder vier Jahre alt sind, kleine Wiegen oder Weizenkörbchen, die an Stricken von der Decke hängen und so etwas oberhalb des Bettes schweben. Die Mutter braucht nicht aus dem Bett zu steigen, um sie zu säugen, sondern streckt nur den Arm aus und nimmt sie an die Brust; dann legt sie sie wieder in die Wiege, die sie mit einem Schlag ihrer Hand zum Schaukeln bringt wie einen Pendel, so lange, bis die Kinder zu weinen aufhören.
Unter dem Bett liegen die Tiere: der Raum ist so in drei Schichten aufgeteilt: auf dem Fußboden die Tiere, auf dem Bett die Menschen und in der Luft die Säuglinge. Ich beugte mich über das Bett, wenn ich einen Kranken abhören oder einer Frau, deren Zähne im hitzigen Malariafieber zusammenschlugen, eine Einspritzung machen mußte; mit dem Kopf stieß ich an die aufgehängten Wiegen und zwischen den Beinen schlüpften die Schweine oder die aufgeschreckten Hühner durch. Was mir jedoch jedesmal wieder Eindruck machte (und ich war jetzt im größten Teil der Häuser gewesen), waren die von der Wand hinter dem Bett starr auf mich gerichteten Augen der beiden unzertrennlichen Schutzgötter. Auf der einen Seite hing das schwarze, mürrische Gesicht der Madonna von Viggiano mit den großen, unmenschlichen Augen, auf der andern Seite gegenüber, hinter glänzenden Brillengläsern, die schlauen Äuglein und das große Gehege der zu herzlichem Lachen geöffneten Zähne des Präsidenten Roosevelt in einem Buntdruck. Ich habe niemals, in keinem Haus, andere Bilder gesehen: weder den König noch den Duce und noch weniger Garibaldi und auch sonst keinen unserer großen Männer, auch keine Heiligen, die doch guten Grund gehabt hätten, hier zu sein: aber Roosevelt und die Madonna von Viggiano fehlten nie. Wenn man sie so nebeneinander in den volkstümlichen Drucken sah, erschienen sie wie die beiden Gesichter der über die Welt verteilten Macht; doch waren gerechtfertigterweise die Rollen vertauscht: die Madonna war hier die wilde, grausame, dunkel archaische Erdgöttin, die launische Herrin dieser Welt; der Präsident, eine Art von Zeus, von wohlwollendem, lächelndem Gott, war der Herr der andern Welt. Manchmal bildete ein drittes Bild zusammen mit den beiden eine Art von Trinität: ein Papierdollar, der letzte der von dort mitgebrachten oder einer aus einem Brief des Mannes oder eines Verwandten, war mit einem Reißnagel unter der Madonna oder dem Präsidenten oder zwischen ihnen wie ein Heiliger Geist oder ein Botschafter des Himmels im Reich der Toten geheftet.“
Alte und neue Sitten
„… die Zufälle im Leben sind vielfältig, und es fehlt weder an alten Kupplerinnen noch an jungen Willfährigen. Die in ihren Schleiern verborgenen Frauen sind wie ungezähmte Tiere. Sie denken mit äußerster Natürlichkeit an nichts anderes als an physische Liebe und sprechen mit einer Freiheit und Ungeschminktheit davon, daß es einen in Erstaunen setzt. Wenn du über die Straße gehst, gucken sie dich mit schwarzen forschenden Augen von der Seite an, um deine Männlichkeit abzuschätzen, und du hörst sie dann hinter deinem Rücken ihre Urteile und das Lob deiner verborgenen Schönheit flüstern. Wenn du dich umdrehst, verstecken sie das Gesicht in den Händen und betrachten dich durch die Finger. Gefühl ist mit dieser Atmosphäre von Begierde, die aus den Augen spritzt und die Luft des Landes zu erfüllen scheint, nicht verbunden, wenn nicht vielleicht das der Ergebung in ein Schicksal, unter eine höhere Macht, der man nicht entrinnen kann. Auch die Liebe ist mehr als von Begeisterung oder Hoffnung von einer Art Resignation begleitet. Ist die Gelegenheit flüchtig, so muß man sie beim Schopf ergreifen: man verständigt sich rasch und wortlos. Was man sich erzählt und was ich selbst für wahr gehalten hatte, von der grausamen Strenge der Sitten, der tückischen Eifersucht, dem wilden Sinn für Familienehre, der zu Verbrechen und Rachetaten führt, ist hier unten eine Legende. Vielleicht war es in nicht allzufern zurückliegender Zeit Wirklichkeit, und in der Starrheit des Formalismus ist etwas davon übriggeblieben. Aber durch die Auswanderung hat sich das alles geändert. Es gibt wenig Männer, und der Ort gehört den Weibern. Viele Frauen haben ihre Männer in Amerika. Er schreibt im ersten Jahre, vielleicht auch noch im zweiten, dann erfährt man nichts mehr; mag sein, daß er sich dort draußen eine neue Familie gründet, jedenfalls verschwindet er für immer und kehrt nicht mehr zurück. Die Frau wartet ein Jahr, ein zweites Jahr auf ihn, dann bietet sich ihr eine Gelegenheit, und ein Kind wird geboren. Ein großer Teil der Kinder ist illegitim: die Autorität der Mutter herrscht. Gagliano hat zwölfhundert Einwohner, in Amerika sind zweitausend Gaglianer, Grassano hat fünftausend Einwohner, und fast die gleiche Anzahl von Grassanern lebt in den Vereinigten Staaten. In der Heimat bleiben viel mehr Frauen als Männer. Wer die Väter sind, kann nicht mehr eine so eifersüchtig gewahrte Bedeutung haben, das Gefühl der Ehre löst sich von der der Vaterschaft: das Matriarchat tritt die Herrschaft an. Während der Tagesstunden sind die Bauern fern, der Ort ist den Weibern überlassen, diesen Vogelköniginnen, die über das Gewimmel ihrer Kinder herrschen. Die Kinder werden geliebt, verwöhnt, angebetet von den Müttern, die bei ihren Krankheiten zittern, sie Jahre hindurch nähren und keine Minute allein lassen, sie immer mit sich auf dem Rücken oder auf den Armen, eingehüllt in schwarze Schals, herumschleppen, während sie gerade aufgerichtet mit Henkelkrügen auf dem Kopf vom Brunnen kommen. Viele sterben, andere schießen in die Höhe, dann kriegen sie die Malaria, die sie gelb und melancholisch macht, werden zu Männern und gehen in den Krieg oder nach Amerika oder bleiben im Lande, um wie Tiere ihre Rücken, einen Tag um den andern, unter der Sonne zu krümmen.
Wenn die illegitimen Kinder schon für die Mütter keine Schande sind, so gilt das natürlich um so mehr für die Männer. Die Priester haben fast alle Kinder, und keiner findet, daß dies ihrem Priestertum abträglich ist. Wenn Gott sie nicht schon klein wieder zu sich nimmt, lassen sie sie in den Kollegien in Potenza oder Melfi erziehen. Der Briefträger in Grassano, ein munterer, ein wenig hinkender Alter mit einem schönen, hochgezwirbelten Schnurrbart, war im Ort berühmt und geehrt, weil man behauptete, er hätte wie Priamus fünfzig Kinder. Davon gehörten zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig seinen zwei oder drei Frauen; die andern waren über den Ort und die umliegenden Dörfer verstreut und wurden ihm teilweise, vielleicht nur von der Legende, zugeschrieben; er kümmerte sich jedoch gar nicht um sie und wußte von vielen nicht einmal, daß sie existierten. Sie nannten ihn „'u Re“ (den König), ich weiß nicht, ob wegen der königlichen Würde seiner männlichen Kraft oder wegen seines monarchischen Schnurrbartes, und seine Kinder hießen im Volksmund die Prinzchen. Das Überwiegen der matriarchalischen Bindung, die natürliche, tierhafte Art der Liebe und die durch die Auswanderung verursachte Gleichgewichtsverschiebung erfahren jedoch eine starke Beeinflussung durch den bleibenden Rest von Familiensinn, das sehr starke Gefühl der Blutsgemeinschaft und die alten Sitten, die darauf abzielen, den Kontakt zwischen Männern und Frauen zu verhindern. So konnten in mein Haus zu Dienstleistungen nur diejenigen Frauen kommen, die irgendwie außerhalb der allgemeinen Regel standen, diejenigen, die viele Kinder von unbekannten Vätern hatten und, ohne richtige Prostituierte zu sein (dieser Beruf existiert hierzulande nicht), doch einen ziemlich freien Lebenswandel führten und nicht nur der Liebe, sondern auch Zauberpraktiken huldigten, um Liebe hervorzurufen, das heißt also die Hexen.
Von solchen Frauen gab es in Gagliano wenigstens zwanzig, aber, so sagte mir Donna Caterina, einige waren zu schmutzig und unordentlich, andere konnten eine Wohnung nicht anständig halten, einige mußten für ein Stück Land sorgen, andere dienten schon in Herrenhäusern des Ortes. „Eine einzige kommt wirklich für Sie in Betracht: sie ist sauber, ehrlich, kann kochen und außerdem ist das Haus, wo Sie wohnen, ein bißchen wie ihr eigenes. Sie hat dort viele Jahre mit dem seligen Priester bis zu dessen Ende gelebt.“ Ich entschloß mich also, sie aufzusuchen; sie nahm mein Angebot an und trat in mein neues Haus ein. Julia Venere, genannt Julia die Santarcangelese, weil sie in dem weißen Santarcangelo auf der andern Seite des Agri geboren war, war einundvierzig Jahre alt und hatte, normale Geburten und Fehlgeburten zusammengerechnet, siebzehn Schwangerschaften von fünfzehn verschiedenen Vätern hinter sich …“
Staatsferne
„Die Signori waren alle Parteimitglieder, auch die wenigen, die, wie Doktor Milillo, anders dachten, nur weil die Partei eben die Regierung, den Staat, die Macht darstellte und sie selbstverständlich sich als Teilhaber an dieser Macht fühlten. Aus dem entgegengesetzten Grund war keiner der Bauern eingeschrieben, und sie wären übrigens auch keiner andern politischen Partei, die etwa zufällig bestanden hätte, beigetreten. Sie waren keine Faschisten, wie sie auch keine Liberalen oder Sozialisten oder sonst etwas gewesen wären, weil diese Dinge einer andern Welt angehörten und für sie sinnlos waren. Was hatten sie mit der Regierung, der Macht, dem Staate zu tun? „Der Staat, wie immer er auch beschaffen sein mag, das sind ,die in Rom', und man weiß, die in Rom wollen nicht, daß wir ein menschenwürdiges Dasein führen. Es gibt Hagel, Erdrutsche, Dürre, Malaria und es gibt den Staat. Es sind unabwendbare Übel, die schon immer da waren und es immer sein werden. Sie zwingen uns, unsere Ziegen zu schlachten, sie tragen unsere Möbel weg, und jetzt schicken sie uns den Krieg. Da kann man nichts machen.“
Der Staat ist für die Bauern ferner als der Himmel und auch böser; denn er ist immer gegen sie. Es ist gleich, wie seine Schlagworte lauten, wie sein Aufbau und sein Programm ist. Die Bauern verstehen sie nicht; denn sie sprechen eine andere Sprache, und es ist auch kein Grund vorhanden, warum sie sich um ein Verständnis bemühen sollten. Die einzig mögliche Verteidigung gegen den Staat und die Propaganda ist Resignation, die gleiche dumpfe Resignation, ohne Hoffnung auf ein Paradies, die ihre Rücken unter das Joch der von Natur verhängten Übel beugt.
Daher legen sie sich ganz berechtigterweise auch keinerlei Rechenschaft darüber ab, was eigentlich der politische Kampf ist: er ist eine persönliche Angelegenheit der Leute in Rom. Es ist ihnen gleichgültig, was die Konfinierten denken und warum sie hierhergekommen sind; aber sie betrachten sie wohlwollend und sehen sie als Brüder an, weil auch sie, aus irgendeinem geheimnisvollen Grund, Opfer des gleichen Schicksals sind. Wenn ich in den ersten Tagen auf dem Pfad außerhalb des Ortes irgendeinem alten Bauern begegnete, der mich noch nicht kannte, hielt er seinen Esel an, um mich zu grüßen, und fragte: „Wer bist du? Addo vades?“ (Wo gehst du hin?) - „Ich gehe spazieren“, sagte ich, „ich bin ein Konfinierter.“ - „Ein Verbannter?“ (Die Bauern hier sagen nicht konfiniert, sondern verbannt.) - „Ein Verbannter? Wie schade. Irgendeiner in Rom ist dir übel gesinnt.“ Und er fügte nichts weiter hinzu, setzte sein Eselchen wieder in Trab und blickte mich mit brüderlichem Mitleid an.
Diese passive Brüderlichkeit, dies gemeinsame Leiden, diese resignierte, allgemeine, jahrhundertealte Geduld ist das tiefe Gemeinschaftsgefühl der Bauern, ein nicht religiöses, aber natürliches Band. Sie besitzen nicht das, was man politisches Bewußtsein zu nennen pflegt und können es auch gar nicht besitzen; denn sie sind, in jedem Sinn, Heiden und keine Staatsbürger: die Götter des Staates und der Stadt können hier zwischen diesen Lehmhügeln nicht angebetet werden, wo der Wolf und der uralte schwarze Eber herrschen, wo keine Wand die Menschenwelt von der Tier- und Geisterwelt trennt, ebensowenig wie das Laub der Bäume getrennt ist von ihren dunklen, unterirdischen Wurzeln. Sie können nicht einmal ein richtiges Individualitätsbewußtsein besitzen, hier, wo alles von gegenseitigen Einflüssen abhängt, wo jedes Ding eine unmerklich wirkende Macht hat und wo es keine Grenzen gibt, die nicht von magischen Einflüssen durchbrochen werden. Sie leben versunken in eine Welt, wo die Grenzen verfließen, wo sich der Mensch nicht von seinem Boden, von seinem Tier, von seiner Malaria unterscheidet, wo es weder die von den Literaten, die das Heidentum zurücksehnen, gepriesene Glückseligkeit gibt, noch die Hoffnung, die doch immer auch ein individuelles Gefühl ist, sondern nur die dumpfe Passivität einer leidenden Natur. Lebendig ist in ihnen aber das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und einer gemeinsamen Ergebung. Es ist ein Gefühl, kein Bewußtseinsakt; es drückt sich nicht in Reden oder Worten aus, sondern ist in jedem Augenblick, in jeder Lebensäußerung, in all den gleichen Tagen enthalten, die über diese Wüsten dahinziehen.
„Schade, irgendeiner ist dir übel gesinnt.“ Auch du bist dem Schicksal unterworfen. Auch du bist hier kraft eines bösen Willens, durch üblen Einfluß, durch feindlichen Zauber hin und her geworfen. Es kommt nicht auf die Beweggründe an, die dich getrieben haben, nicht auf Politik oder Gesetze oder Vorspiegelungen der Vernunft. Es gibt weder Vernunft noch Ursache und Wirkung, sondern nur ein feindliches Schicksal, einen Willen, der das Böse will und der die magische Kraft der Dinge ist. Der Staat ist eine Form dieses Schicksals wie der Wind, der die Ernten versengt und das Fieber, das im Blut wühlt. Dem Verhängnis gegenüber kann das Leben nur Geduld und Schweigen sein. Wozu sind Worte nütze? Und was kann man tun? Nichts.“
Staat und Ziegen
„„Dieses Jahr gibt es ziemlich viel Arbeit. Die Bauern schlachten alle Ziegen. Sie sind dazu gezwungen. Wer kann die Steuern bezahlen?“ Die Regierung hatte anscheinend vor kurzem entdeckt, daß die Ziege ein für die Landwirtschaft schädliches Tier sei, da es die Knospen und zarten Triebe der Pflanzen fresse; und sie hatte daher einen Erlaß herausgegeben, der für sämtliche Gemeinden des Königreichs ohne Ausnahme galt, wonach für jedes Stück eine so hohe Steuer verlangt wurde, daß sie fast dem Wert des Tieres entsprach. So wurden die Ziegen geopfert und die Bäume gerettet. Aber in Gagliano gibt es keine Bäume, und die Ziegen sind der einzige Reichtum der Bauern, da sie sich von fast nichts nähren, auf dem öden und zerrissenen Lehmboden herumspringen, an Dornbüschen knabbern und dort leben können, wo man, aus Mangel an Wiesen, weder Schafe noch Kälber halten kann. Die Ziegensteuer war demnach ein Unglück, und weil man kein Geld hatte, um sie zu bezahlen, ein unabwendbares Unglück. Man mußte die Ziegen schlachten und hatte keine Milch und keinen Käse mehr. Der Lahme war ein heruntergekommener Grundbesitzer, aber trotzdem stolz auf seine soziale Stellung. Um leben zu können, ging er vielerlei Berufen nach; einer davon war das Ziegenopfer. Dank dem fürsorglichen Erlaß konnte ich in diesem Jahr oft Fleisch bei ihm kaufen; in den vorhergehenden Jahren hätte ich, wie er mir erklärte, mich damit abfinden müssen, nur sehr selten welches zu essen. Er beschäftigte sich auch mit der Verwaltung von Gütern, deren Besitzer nicht im Ort wohnten, überwachte die Bauern, war Makler bei Verkäufen, machte den Heiratsvermittler und kannte alles und alle; und es gab kein Ereignis und keinen Vorfall, bei dem man nicht sein Hinkebein, sein schwarzes Gewand und sein Fuchsgesicht hätte auftauchen sehen.“
Schwester zu Besuch
„Wenn meine Schwester und ich abends Arm in Arm durch die einzige Ortsstraße wanderten, blickten uns die Bauern beseligt von ihren Schwellen aus nach. Die Frauen grüßten uns und riefen uns Segenswünsche zu: „Gesegnet sei der Leib, der euch getragen hat“, ertönte es von den Türen, an denen wir vorbei gingen. „Gesegnet die Brüste, die euch gesäugt haben!“ Die alten, zahnlosen Weibchen unter den Türen hörten einen Augenblick auf, Wolle zu spinnen, um uns ihre Sprüche zuzumurmeln: „Eine Frau ist etwas Schönes, aber eine Schwester ist viel mehr!“ „Bruder und Schwester, Herz und Herz.“ Luisa, die ihre natürliche, städtische und rationelle Atmosphäre mit sich gebracht hatte, konnte sich nicht genug wundern über diese merkwürdige Begeisterung ob der einfachen Tatsache, daß ich eine Schwester hatte.“
Schwester in Matera
„Meine Schwester kam aus Turin und konnte nur vier oder fünf Tage bleiben. „Leider habe ich viel Zeit mit der Reise verloren“, sagte sie mir, „denn ich mußte über Matera fahren, um meine Besuchserlaubnis von der Quästur dort prüfen zu lassen. Deshalb brauchte ich, anstatt den kürzesten Weg über Neapel und Potenza zu wählen, der nur zwei Tage gedauert hätte, volle drei Tage, um über Bari und von da nach Matera zu fahren. In Matera habe ich einen ganzen Tag verloren, um auf den Autobus zu warten. Was ist das für ein Land! Das bißchen, was ich bei der Ankunft in Gagliano gesehen habe, erscheint mir nicht so übel; jedenfalls kann es nicht schlimmer als Matera sein.“ Sie war sehr beeindruckt und ganz entsetzt von dem, was sie gesehen hatte. Ich dachte und sagte es ihr, daß sie alles nur deshalb so lebhaft empfinde, weil sie niemals in dieser Gegend gewesen und Matera eben ihre erste Begegnung mit dieser gottverlassenen Natur und Menschenwelt gewesen sei. „Ich kannte diese Gegend nicht, aber irgendwie habe ich sie mir vorgestellt“, antwortete sie. „Aber was ich in Matera gesehen habe, ist einfach unvorstellbar.“
„Ich kam in Matera“, erzählte sie, „gegen elf Uhr vormittags an. Ich hatte in dem Führer gelesen, daß es eine malerische Stadt ist, die einen Besuch verdient, daß es dort ein Museum antiker Kunst und merkwürdige Höhlenwohnungen gibt. Aber als ich aus dem modernen und recht luxuriösen Bahnhof kam und mich umblickte, suchte ich mit den Augen vergebens die Stadt. Die Stadt war nicht da. Ich stand auf einer Art öder Hochebene, ringsum kahle Hügelchen aus grauer, mit Geröll besäter Erde. In dieser Wüste erhoben sich hier und dort verstreut acht bis zehn große Marmorpaläste, wie man sie jetzt in Rom baut im Piacentinistil mit großen Toren, üppigen Architraven, feierlichen lateinischen Inschriften und in der Sonne leuchtenden Säulen. Einige waren noch nicht fertig und wirkten verlassen, monströs und paradox inmitten dieser verzweifelten Natur. Ein elendes Viertel von Häuschen für Angestellte, in aller Eile hergestellt und schon halb verfallen und schmutzig, lag zwischen den Palästen und schloß nach einer Seite den Horizont ab. Es erschien mir wie die ehrgeizige Anlage einer Kolonialstadt, die auf ungefähr in Angriff genommen und zu Beginn wegen irgendeiner Seuche unterbrochen worden ist, oder eher noch wie der geschmacklose Schauplatz eines Freilichttheaters für eine Tragödie im Stile d'Annunzios. Diese riesigen, imperialen, modernen Paläste waren die Quästur, die Präfektur, die Post, das Gemeindehaus, die Karabinierikaserne, das Haus des Fascio, der Sitz der Korporationen, die Opera Balilla und so weiter. Aber wo war die Stadt? Matera war nicht zu sehen. Ich wollte sofort meine Angelegenheiten erledigen. Ich ging zur Quästur, die außen in Marmor erglänzte und innen schmutzig und unhygienisch war mit kleinen, schlecht gefegten Zimmerchen voller Staub und Kehricht. Ich wurde vom Vizequästor empfangen, der zugleich Chef der politischen Polizei ist und meine Besuchserlaubnis zu genehmigen hatte. Ich erhob dagegen Einspruch, daß man dich in eine Malariagegend geschickt hat und fragte aus Sorge um dein Wohlbefinden, ob man dich nicht an einen gesunden Ort bringen könnte. Ein Kommissar, der mit im Zimmer war, unterbrach mich brüsk: „Malaria? Die gibt es nicht. Das ist alles Gerede. Es mag einen Fall im Jahr geben. Ihrem Bruder geht es ausgezeichnet, wo er ist.“ Aber als er erfuhr, daß ich Ärztin bin, wurde er still; und der Vizequästor antwortete mir in einem andern Ton. „Malaria“, sagte er, „gibt es überall. Wenn Sie es wünschen, können wir Ihren Bruder auch anderswohin versetzen; aber er würde überall die gleichen Bedingungen finden wie in Gagliano. Ein einziger Ort in der Provinz kann als malariafrei angesehen werden, und das ist Stigliano, weil es tausend Meter hoch liegt: vielleicht können wir ihn später dorthin schicken, aber jetzt ist es aus vielen Gründen unmöglich.“ (Ich begriff, daß nach Stigliano die abtrünnigen Faschisten geschickt werden.) „Ihr Bruder soll sich ruhig verhalten. Wir leben auch hier in Matera und sind nicht konfiniert. Und glauben Sie nicht, daß es hier mit der Malaria besser steht. Wenn wir hierbleiben müssen, kann er auch bleiben, Fräulein.“ Gegen dieses Argument konnte ich natürlich nichts einwenden. Ich drängte also nicht weiter und ging weg. Ich wollte dir ein Stethoskop kaufen, das ich vergessen habe, dir aus Turin mitzubringen und das dir sicher in deiner Praxis nützlich sein würde. Da es keine Spezialgeschäfte gab, dachte ich es in einer Apotheke zu finden. Zwischen den Palästen und den billigen Häuschen waren Läden, und ich fand denn auch zwei Apotheken, angeblich die einzigen in der Stadt. Sie hatten beide nicht nur keines, sondern die beiden Apotheker hatten auch nicht die leiseste Ahnung, was das für ein Ding sei. „Stethoskop? Was ist denn das?“ Als ich ihnen erklärt hatte, daß es ein einfaches Instrument sei zum Abhören des Herzens, das wie ein akustisches Horn, meist aus Holz konstruiert sei, usw., sagten sie, so etwas könnte ich vielleicht in Bari finden, aber hier in Matera hätten sie nie davon reden hören. Es war Mittag, ich ließ mir ein Restaurant zeigen, das beste von allen, wurde mir gesagt. Und da saß denn auch schon melancholisch, mit sehr gelangweilter Miene, vor einem schmutzigen Tischtuch mit den Serviettenringen für die Stammgäste der Vizequästor mit andern Polizeibeamten. Du weißt, ich bin nicht anspruchsvoll, aber als ich wieder aufstand, war ich noch hungrig. Und dann ging ich endlich die Stadt suchen. In einiger Entfernung vom Bahnhof kam ich auf eine Straße, die nur auf einer Seite von alten Häusern gesäumt war und auf der andern einem Abgrund entlang führte. In diesem Abgrund lag Matera. Aber von dort oben sah man fast nichts, weil der außerordentlich steile Hang beinah senkrecht abfällt. Als ich mich hinabbeugte, sah ich nur Terrassen und Pfade, die den Ausblick auf die darunterliegenden Häuser verdeckten. Gegenüber erhob sich ein kahler Berg von häßlicher, grauer Farbe ohne die Spur einer Anpflanzung und ohne einen einzigen Baum: nichts als Erde und Steine in der prallen Sonne. Ganz unten floß ein Gießbach, die Gravina, mit nur spärlichem, verschlammtem Wasser auf dem Kiesgrund. Fluß und Berg wirkten düster und böse, so daß es einem das Herz zusammenzog. Die Schlucht hatte eine merkwürdige Form: wie zwei halbe Trichter nebeneinander, die durch einen kleinen Vorsprung getrennt sind und sich unten in einer gemeinsamen Spitze vereinigen, dort, wo man von oben eine weiße Kirche, Santa Maria de Idris, sieht, die im Boden zu stecken scheint. Diese umgekehrten Kegel, die Trichter, heißen Sassi: Sasso Caveoso und Sasso Barisano. Sie sind so geformt, wie wir uns in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt haben. Und auch ich begann auf einer Art von Saumpfad von einem Kreis zum andern in den Grund hinunterzusteigen. Dieses ganz schmale Sträßchen, das sich in Kehren hinunterwindet, führt über die Hausdächer, wenn man sie so nennen kann. Es sind Höhlen, die man in die verhärtete Lehmwand der Schlucht gegraben hat: jede hat vorn eine Fassade; einige sind ganz hübsch, mit ein paar bescheidenen Ornamenten, im Stil des achtzehnten Jahrhunderts. Wegen der Neigung des Hanges beginnen diese fingierten Fassaden unten hart am Berg. Oben springen sie etwas vor: in dem engen Raum zwischen den Fassaden und dem Abhang liegen die Straßen; sie bilden zugleich den Boden für den, der aus den oberen Behausungen heraustritt, und die Dächer für die darunterliegenden. Die Türen standen wegen der Hitze offen, und ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und Luft nur durch die Türe empfangen. Einige besitzen nicht einmal eine solche: man steigt von oben durch Falltüren und über Treppchen hinein. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben zwanzigtausend Menschen. Kinder gab es unzählige. In der Hitze, im Staub, fliegenumschwärmt tauchten sie von allen Seiten auf, entweder ganz nackt oder mit ein paar Lumpen bekleidet. Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt, und dabei bin ich doch in meinem Beruf gewöhnt, täglich sehr viele arme, kranke und schlecht gepflegte Kinder zu sehen. Aber ein Schauspiel wie das gestrige hätte ich mir auch nicht einmal vorstellen können. Ich sah Kinder auf der Türschwelle im Schmutz unter der glühenden Sonne sitzen mit halbgeschlossenen Augen unter roten geschwollenen Lidern; die Fliegen setzten sich auf die Augen, aber sie rührten sich gar nicht, sie verjagten sie nicht einmal mit den Händen. Ja, die Fliegen krochen ihnen über die Augen, und sie schienen es nicht zu spüren. Es war Trachom. Ich wußte, daß es das hier unten gibt: aber sie so im Schmutz und Elend zu sehen, war doch etwas ganz anderes. Andern Kindern begegnete ich, deren Gesichtchen voller Runzeln waren wie bei alten Leuten; vor Hunger waren sie zu Skeletten abgemagert mit völlig verlausten grindigen Haaren. Aber der größte Teil hatte dicke, riesige, aufgetriebene Bäuche und von Malaria bleiche, leidende Gesichter. Die Frauen, welche merkten, wie ich hineinblickte, forderten mich zum Eintreten auf, und ich sah in diesen dunklen, stinkenden Höhlen Kinder, deren Zähne im Fieber zusammenschlugen, auf der Erde unter Decken und Lumpen liegen. Andere konnten sich kaum auf den Beinen halten und waren infolge von Ruhr nur noch Haut und Knochen. Ich habe auch welche mit wachsbleichen Gesichtchen gesehen, die an einer noch schlimmeren Krankheit als Malaria, irgendeiner Tropenkrankheit, vielleicht an Kala Azar, dem schwarzen Fieber, zu leiden schienen. Die mageren Weiber, mit unterernährten, schmutzigen Säuglingen an den welken Brüsten, grüßten mich freundlich und trostlos; es wirkte auf mich, als wäre ich in der blendenden Sonne in eine von der Pest heimgesuchte Stadt geraten. Ich stieg immer weiter bis zum Grund der Schlucht hinab, auf die Kirche zu, und eine große Menge von Kindern lief in einer Entfernung von ein paar Schritten hinter mir her und wuchs immer mehr an. Sie riefen irgendetwas, aber ich konnte nicht erfassen, was sie in ihrem unverständlichen Dialekt forderten. Ich stieg weiter hinunter, und sie kamen mir immer nach und hörten nicht auf zu rufen. Ich dachte, sie wollten ein Almosen und blieb stehen, und erst da unterschied ich ihre Worte, die sie im Chor schrien: „Fräulein, gib mir Chinin!“ Ich verteilte das bißchen Kleingeld, das ich bei mir hatte, damit sie sich Bonbons kauften aber das wollten sie gar nicht, sie baten weiter inständig um Chinin. Inzwischen waren wir auf dem Grund der Schlucht bei Santa Maria de Idris, einer schönen Barockkirche, angelangt, und als ich aufblickte, sah ich endlich ganz Matera wie eine schräge Mauer. Von hier wirkt es fast wie eine richtige Stadt. Die Fassaden der Höhlen, die wie weiße, nebeneinander stehende Häuser aussahen, schienen mich mit den Türlöchern wie schwarze Augen anzusehen. So ist es wirklich eine sehr schöne, malerische und eindrucksvolle Stadt. Es gibt auch ein hübsches Museum mit bemalten griechischen Vasen, antiken Statuetten und Münzen, die in der Umgegend gefunden worden sind. Während ich es besuchte, standen die Kinder immer noch draußen in der Sonne und erwarteten, daß ich ihnen Chinin brächte.“
Ideen der Schwester
„Was sie aber vor allem in Erstaunen setzte und entrüstete, war, daß niemand etwas für dieses Land tat. Denn da sie eine konstruktive Natur hat (das, was die Astrologen sonnenhaft nennen) und ihre tatkräftige Güte kein Zaudern liebt, verbrachte sie mit mir die Zeit im Gespräch darüber, was man tun könne, und unterbreitete mir praktische Pläne, um den Bauern in Gagliano und den Kindern in Matera zu helfen. Krankenhäuser, Kindergärten, Kampf gegen Malaria, Schulen, öffentliche Arbeiten, staatlich angestellte und unter Umständen auch freiwillige Ärzte, nationaler Einsatz für die Umgestaltung dieser Gebiete und so fort. Sie selber wollte ihre Zeit gern einer Sache widmen, die ihr so gerecht erschien. Man mußte etwas tun, nicht schlafen und alles immer auf morgen verschieben. Sicher hatte sie recht; und was sie vorschlug, war richtig und gut und realisierbar; aber die Dinge hierzulande sind sehr viel verwickelter, als sie dem klaren Geist guter und rechtlich denkender Menschen erscheinen.“
Leben der Bauern
„In Grassano hatte ich viel weniger Bauern kennengelernt als in Gagliano, nicht allein deshalb, weil ich dort kürzere Zeit war und nicht den ärztlichen Beruf ausübte, sondern weil sie vielleicht noch geheimnisvoller und verschlossener sind. In Gagliano besitzen die meisten ein kleines Stückchen Land; in Grassano dagegen herrschen die Großgrundbesitzer, und die Bauern bearbeiten den Boden der andern. Das Elend ist unter beiden Bedingungen so ziemlich gleich; denn sowohl hier wie dort kann man es sich schwer schlimmer vorstellen. Die Bauern in Grassano leben vom Vorschuß auf die Ernte; und wenn deren Zeit kommt; gelingt es ihnen nur äußerst selten, ihre Schulden abzutragen, die so von Jahr zu Jahr anwachsen und sie immer mehr in das Netz der furchtbaren Armut verstricken. Die Bauern in Gagliano bearbeiten ihren eigenen Grund, ernten jedoch niemals genug, um sich zu ernähren und die Steuern zu bezahlen. Die wenigen, etwa in guten Jahren ersparten Lire gehen bei der ewigen Malaria für Ärzte und Medikamente drauf; deshalb sind die Bauern auch dauernd unterernährt und können niemals daran denken, irgend etwas zu ändern. Es gibt also keinen wirklichen Unterschied im Leben der einen und der andern. Aber während es in Gagliano nur Bauern und ein paar Herren gibt, besitzt Grassano, das ein großer Ort ist, eine zahlreiche Mittelklasse, die aus Handwerkern, hauptsächlich Tischlern, besteht. Ich habe mich oft gefragt, für wen eigentlich die vielen Tischlerwerkstätten im Ort arbeiteten; und sie hatten auch wirklich wenig zu tun und schlugen sich schwer durch. Das Vorhandensein dieser Mittelklasse gab dem Leben dort eine eigene Note. Die Handwerker standen den ganzen Tag unter der Tür ihrer Werkstätten, fast alle beschäftigungslos, aber alle mit prachtvollem amerikanischen Werkzeug. Die Bauern sah man nur beim Morgengrauen und in der Abenddämmerung, und sie wirkten noch viel ferner, wie eingeschlossen in ihre abseitige Welt.“
Gedanken von Carlo Levi
„Schon führte uns der Zug über die Hauptstadt hinaus nach Süden. Es war Nacht, und ich konnte nicht schlafen. Auf der harten Bank sitzend, überdachte ich die vergangenen Tage, das Gefühl von Fremdheit, das ich nicht hatte abschütteln können, und die völlige Verständnislosigkeit der Politiker für den Landesteil, auf den ich wieder zueilte. Alle hatten mich über den Süden befragt, und allen hatte ich erzählt, was ich gesehen; und wenn auch jeder mit Interesse zugehört hatte, so wollten doch offenbar nur wenige verstehen, was ich sagte. Es waren Männer mit verschiedenen Ansichten und von verschiedener Veranlagung, von den glühendsten Vertretern der Linken bis zu den starrsten Konservativen. Viele waren wirklich bedeutende Menschen, und alle behaupteten, über das „Problem des Südens“ nachgedacht zu haben, und hielten fertige Formeln und Schemata bereit. Doch ebenso wie für das Ohr der Bauern diese Formeln und Schemata und sogar die Sprache und die Worte, die sie ausdrückten, unverständlich sein würden, ebenso waren für meine Bekannten Leben und Bedürfnisse der Bauern eine verschlossene Welt, in die sie nicht einmal einzudringen versuchten. Im Grunde waren sie allesamt (das schien mir jetzt ganz klar zu sein) mehr oder weniger unbewußte Anbeter des Staates, Götzendiener, ohne es zu wissen. Dabei war es gleichgültig, ob ihr Staat der augenblicklich bestehende war oder einer, den sie für die Zukunft ersehnten; in jedem Falle wurde der Staat als etwas die Menschen und das Volksleben Transzendierendes aufgefaßt, als Tyrannis oder väterlich sorgend, als Diktatur oder Demokratie, aber stets vereinheitlichend, zentralisiert und fern. Daher die Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen den Politikern und meinen Bauern. Daher das oft durch pseudophilosophische Ausdrücke verbrämte Vereinfachen der Politiker, die Abstraktheit ihrer Lösungen, die sich nie der lebendigen Wirklichkeit anpassen, sondern schematische Teillösungen sind und also rasch veralten. Fünfzehn Jahre Faschismus hatten alle das Problem des Südens vergessen lassen, und wenn sie sich jetzt auch wieder damit befaßten, so konnten sie es nur im Zusammenhang mit etwas anderm sehen, mit allgemeinen Beglückungstheorien einer bestimmten Partei oder Klasse oder wohl gar einer Rasse. Einige erblickten darin ein bloß wirtschaftliches und technisches Problem, redeten von öffentlichen Arbeiten, Bodenverbesserung, der Notwendigkeit einer Industrialisierung, einer innern Kolonisation oder griffen auf die alten sozialistischen Programme von der „Wiederherstellung Italiens“ zurück. Manche sahen dagegen dort nur eine traurige historische Erbschaft, eine Tradition von bourbonischer Knechtschaft, die eine liberale Demokratie allmählich abschaffen müßte. Andere behaupteten, das Problem des Südens sei nur ein Sonderfall der kapitalistischen Unterdrückung, welche die Diktatur des Proletariats ohne weiteres aus der Welt schaffen würde. Wieder andere dachten an eine wirkliche Rasseninferiorität und sprachen vom Süden als von einer toten Last für den italienischen Norden und untersuchten die Maßnahmen, um diesem traurigen Zustand von oben her ein Ende zu bereiten. Alle gingen von der Voraussetzung aus, der Staat müsse etwas sehr Nützliches, Wohltätiges und Fürsorgliches unternehmen, und alle sahen mich höchst erstaunt an, als ich sagte, gerade der Staat, so wie sie ihn verständen, verhindere an erster Stelle, daß irgend etwas geschehe. Es kann nicht der Staat sein, hatte ich angeführt, der die Frage des Südens löst, aus dem einfachen Grunde, weil das, was wir das Problem des Südens nennen, nichts anderes als das Problem des Staates selbst ist. Zwischen dem faschistischen, dem liberalen, dem sozialistischen und allen künftigen Formen des Staatssystems, das sich in einem kleinbürgerlichen Land wie dem unsern zu verwirklichen sucht, und der Anti-Staatsauffassung der Bauern klafft ein Abgrund, und das wird immer so sein; man wird ihn nur dann überbrücken können, wenn es uns gelingt, eine Staatsform zu schaffen, in der sich auch die Bauern zu Hause fühlen können. Die öffentlichen Arbeiten und die Bodenverbesserungen sind ausgezeichnet, aber sie lösen das Problem nicht. Die innere KoIonisation mag ganz gute Früchte tragen, aber dann würde ganz Italien und nicht nur der Süden zur Kolonie werden. Die Zentralisierungspläne können bedeutende praktische Ergebnisse zeitigen, aber unter jedem Zeichen würde Italien immer in zwei feindliche Teile gespalten bleiben. Das Problem, über das wir sprechen, ist viel verwickelter, als ihr euch einbildet. Es hat drei verschiedene Seiten, drei Gesichter einer einzigen Realität, die nicht getrennt betrachtet und deren Fragen nicht einzeln gelöst werden können. Es handelt sich vor allem um das Nebeneinanderbestehen von zwei vollkommen verschiedenen Kulturen, von denen keine imstande ist, sich die andere anzugleichen. Land und Stadt, vorchristliche und nicht mehr christliche Kultur stehen einander gegenüber, und solange die letztere fortfährt, der ersten ihre Staatstheokratie aufzuzwingen, wird der Zwiespalt bestehen bleiben. Der jetzige Krieg und die nach ihm kommen werden, sind zum großen Teil das Ergebnis dieses jahrhundertealten Gegensatzes, der jetzt besonders, und zwar nicht nur in Italien, akut geworden ist. Die bäuerliche Kultur wird immer besiegt werden, sie wird sich jedoch niemals ganz zerschmettern lassen und unter dem Schleier der Geduld immer weiterbestehen, um von Zeit zu Zeit zu explodieren, und die tödliche Krise wird weitergehen. Das Brigantentum, der bäuerliche Krieg ist der Beweis dafür: und dieser Aufstand des vorigen Jahrhunderts wird nicht der letzte sein. Solange Rom Matera regieren wird, bleibt Matera anarchisch und verzweifelt und Rom verzweifelt und tyrannisch. Die zweite Seite des Problems ist die wirtschaftliche: es ist das Elendsproblem. Dies Land ist allmählich verarmt; die Wälder sind abgeholzt, die Flüsse zu Wildbächen geworden, der Viehbestand ist zurückgegangen, statt Bäume, Wiesen und Wälder hat man sich darein verbissen, Getreide auf ungeeignetem Boden anzubauen. Es gibt keine Hauptstädte, keine Industrie, keine Ersparnisse, keine Schulen; die Auswanderung ist unmöglich gemacht worden, die Steuern sind unerträglich und unproportioniert, und überall herrscht die Malaria. All dies ist zum beträchtlichen Teil das Ergebnis der guten Absichten und der Bemühungen des Staates, eines Staates, den die Bauern nie als den ihren anerkennen werden und der für sie nur Elend und Wüste geschaffen hat. Endlich ist noch die soziale Seite des Problems vorhanden. Man pflegt zu sagen, der große Feind seien die Latifundien, die Großgrundbesitzer; gewiß sind die Latifundien, wo sie vorhanden sind, alles andere als wohltätige Einrichtungen. Wenn aber der Großgrundbesitzer, der in Neapel oder Rom oder Palermo lebt, auch ein Feind der Bauern ist, so ist er doch keineswegs ihr größter oder schlimmster Gegner. Er ist zum mindesten weit weg und lastet nicht täglich auf dem Leben aller. Der wahre Feind, der jede Freiheit und jede Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins für die Bauern verhindert, ist das Kleinbürgertum in den Orten selbst. Das ist eine körperlich und moralisch verkommene Klasse, die unfähig ist, ihre Aufgabe zu erfüllen, und nur von kleinem Raub und der entarteten Tradition eines Feudalrechtes lebt. Solange diese Klasse nicht ausgemerzt und ersetzt wird, ist nicht daran zu denken, das Problem des Südens zu lösen.
Dieses Problem mit seinen drei Seiten war schon vor dem Faschismus vorhanden; aber der Faschismus hat es, obwohl er nicht davon sprach und es leugnete, auf die Spitze getrieben, weil durch ihn die kleinbürgerliche Staatsauffassung sich überall und vollkommen breitgemacht hat. Wir können heute nicht voraussehen, welche politischen Formen sich in Zukunft herausstellen werden: aber in einem kleinbürgerlichen Land wie Italien, wo die kleinbürgerliche Ideologie auch die städtischen Volksschichten angesteckt hat, ist es leider wahrscheinlich, daß die neuen Einrichtungen, die dem Faschismus entweder in langsamer Entwicklung oder unter Anwendung von Gewalt folgen werden (und zwar auch die extremsten und anscheinend revolutionärsten unter ihnen), auf verschiedene Weise dahin kommen werden, sich wieder auf diese Ideologie zu stützen. Sie werden wiederum einen Staat schaffen, der ebenso oder vielleicht noch mehr lebensfremd, abstrakt und götzendienerisch ist, und sie werden unter neuen Namen und neuen Fahnen den ewigen italienischen Faschismus fortsetzen und verschlimmern. Ohne eine Bauernrevolution werden wir nie eine richtige italienische Revolution haben und umgekehrt. Die beiden Dinge entsprechen sich. Das Problem des Südens ist unlösbar innerhalb des gegenwärtigen Staates und ebenso innerhalb der Staatsformen, die auf diesen, ohne ihm radikal entgegengesetzt zu sein, folgen werden. Es wird nur außerhalb seiner zu lösen sein, wenn wir eine neue politische Idee und den Staat in einer neuen Form schaffen können, so daß er zugleich der Staat der Bauern ist, der sie aus ihrer erzwungenen Anarchie und der notwendig daraus folgenden Gleichgültigkeit befreit. Man kann das Problem auch nicht nur mit den Kräften des Südens lösen, da wir in dem Fall nur einen Bürgerkrieg, ein neues grausiges Brigantentum haben würden, das wie gewöhnlich mit der Niederlage der Bauern und einem allgemeinen Zusammenbruch enden würde, sondern nur unter Mithilfe von ganz Italien und durch seine vollkommene Erneuerung. Wir müssen fähig werden, uns einen neuen Staat auszudenken und zu schaffen, der weder der faschistische noch der liberale noch der kommunistische sein darf; denn all das sind nur verschiedene und im Grunde doch gleiche Formen derselben Staatsreligion. Wir müssen wieder zu den Wurzeln der Staatsidee selbst zurückgehen, zu dem Begriff des Individuums, der ihr zugrunde liegt; und wir müssen den juristischen und abstrakten Begriff des Individuums dabei durch einen neuen Begriff ersetzen, der die lebendige Wirklichkeit ausdrückt und die unüberschreitbare Schranke zwischen Individuum und Staat abschafft. Das Individuum ist keine abgeschlossene Wesenheit, sondern steht zu andern in Beziehung, ist der Brennpunkt aller Beziehungen. Dieser Begriff der Verbindung, außerhalb dessen das Individuum nicht existiert, ist der gleiche, durch den auch der Staat definiert wird. Individuum und Staat fallen in ihrem Wesen zusammen und müssen dahin gelangen, auch in ihrem täglichen Verhalten zusammenzugehen, um beide existieren zu können. Diese Umkehrung der Politik, die unbewußt heranreift, steckt in der bäuerlichen Kultur, und das ist der einzige Weg, der es uns erlauben wird, aus dem circulus vitiosus von Faschismus und Antifaschismus herauszukommen. Dieser Weg heißt Autonomie. Der Staat darf nur die Gemeinschaft unzähliger Autonomien, eine organische Föderation sein. Für die Bauern kann die Staatszelle, die einzige, durch die sie an dem vielfältigen Kollektivdasein teilnehmen können, nur die ländliche autonome Gemeinde sein. Das ist die einzige Staatsform, die zu einer zeitgemäßen Lösung der drei zusammenhängenden Seiten des Problems des Südens führen kann; die einzige Weise, um zwei verschiedene Kulturen nebeneinander bestehen zu lassen, ohne daß die eine die andere unterdrückt oder von ihr belastet wird. Sie gewährleistet im Rahmen des Möglichen die besten Bedingungen, um aus dem Elend herauszukommen, und wird schließlich durch Abschaffung von Macht und Einfluß sowohl der Großgrundbesitzer wie des lokalen Kleinbürgertums dem Bauernvolk endlich gestatten, sich selbst und allen zu leben. Aber die Autonomie der Landgemeinde kann nicht bestehen ohne die Autonomie der Fabriken, der Schulen, der Städte und aller andern Formen des sozialen Lebens. Das habe ich in einem Jahr unterirdischen Lebens gelernt.
So hatte ich zu meinen Freunden gesprochen, und dies überlegte ich mir in der Nacht, während der Zug in Lukanien einfuhr. Es waren die ersten Andeutungen der Ideen, die ich in den folgenden Jahren durch meine Erfahrungen in Exil und Krieg entwickeln sollte. Und über diesen Gedanken schlief ich ein.“
Carlo Levi und „Die Uhr“
„Die Uhr“ ist Carlo Levis zweiter großer Roman. Wobei es sich nicht um eine Geschichte mit fortlaufender Handlung handelt sondern eher um einzelne Episoden, die zusammengefügt sind. Sehr interessant für Menschen, die sich für italienische Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit interessieren.
Aus dem Nachwort der Übersetzerin Verena von Koskull aus dem Jahr 2005:
„Die Uhr und ihr Erscheinen in deutscher Sprache ist das, was man in Italien einen caso letterario nennt: eine kleine literarische Sensation.
Wie in einem Prisma bündelt und bricht sich in diesem Roman nicht nur ein bedeutendes Stück italienischer Nachkriegsgeschichte und das bis heute erfahrbare Bild eines Landes und seiner Menschen, sondern auch die Dynamik des Lebens, Wirkens und Denkens Carlo Levis, der zugleich Zeuge und Akteur einer ganzen Epoche ist. Levi wird 1902 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Turin geboren. Bereits während der Schulzeit befaßt er sich mit der besonders in seiner Heimatstadt akuten Problematik der unterdrückten Arbeiterklasse. Sein politisches Engagement wie auch das seiner jungen Mitstreiter folgt unter anderem dem Historizismus des Philosophen Benedetto Croce, demzufolge die moralische Pflicht des Intellektuellen darin besteht, nicht der Theorie verhaftet zu bleiben, sondern aktiv in den Lauf der Geschichte einzugreifen.
Schon bald verbindet sich der Kampf für die Arbeiterklasse mit dem Kampf für den Fortschritt im unterdrückten, rückständigen Mezzogiorno, und das oppositionelle Streben nach einer liberalen Revolution in ganz Italien mündet in den zwanziger Jahren schließlich in den Antifaschismus.
Unterdessen studiert Levi Medizin und entdeckt seine Leidenschaft für die Malerei, mit der er sich, seiner antifaschistischen Gesinnung zum Trotz, bis über Italiens Grenzen hinaus einen Namen macht und die für sein gesamtes schriftstellerisches Schaffen ebenfalls charakteristisch bleibt.
Schließlich wird er 1934 für seine Aktivitäten im Untergrund verhaftet und im Jahr darauf zu drei Jahren Verbannung in den kargen Hügeln der Basilikata verurteilt. Die mittelalterlichen Zustände im Mezzogiorno werden für den progressiven Piemontesen plötzlich zur unmittelbaren, schmerzhaften Erfahrung.
Nach Verbannung, Flucht ins französische Exil, heimlicher Rückkehr nach Italien und einer nochmaligen Haft, die mit dem Sturz Mussolinis endet, hält sich Levi während der letzten Monate bis zur Befreiung Italiens in Florenz vor den Deutschen versteckt. In dieser Zeit entsteht sein erster autobiographischer Roman Christus kam nur bis Eboli, in dem er die Jahre der Verbannung verarbeitet. Das Buch erscheint 1945 und wird sofort zum Erfolg.
Nach der Befreiung wird Levi im August 1945 von dem bereits zwei Jahre zuvor heimlich von diversen sozialliberalen Widerstandsgruppen gegründeten Partito d'Azione nach Rom berufen, um dort dessen Zeitung Italia Libera zu leiten. Die Aktionspartei hatte sich neben den Kommunisten maßgeblich am bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt, und als das Nationale Befreiungskomitee den Parteiführer Ferruccio Parri zum Chef der neuen Koalitionsregierung ernennt, scheint für viele ihrer Anhänger die lang ersehnte Geburt eines neuen Italien gekommen. Kaum jemand will wahrhaben, daß die Koalition, der auch die drei traditionellen Volksparteien der Christdemokraten, Sozialisten und Kommunisten angehören, die Ernennung des beliebten und verdienstvollen Widerstandskämpfers als einen vorübergehenden Kompromiß versteht, um die Lage in dem geschundenen, zerrissenen und fremdbesetzten Land zu entspannen und so den Weg zurück zu altbewährten politischen Strukturen zu erleichtern.
Nichtsdestoweniger richtet sich das seit Jahrzehnten genährte, durch Faschismus und Krieg verstärkte und oftmals intellektuell verstiegene Streben der Sozialliberalen nach einem radikal reformierten, vereinigten und volksbestimmten Italien auf die Galionsfigur Parri: Er soll dem Land eine Verfassung geben, die als „Krönung des Befreiungskampfes, Basis der neuen italienischen Gesellschaft und Beginn einer neuen Ära“ gelten kann. Ein fundamentaler politischer und sozialer Wandel scheint so greifbar wie seit 1861 nicht mehr. Doch so weit soll es nicht kommen. Die Diskrepanz zwischen hehren Reformzielen und desolater Realität, der Konflikt zwischen der Ablehnung althergebrachter politischer Strukturen und der Unfähigkeit, die eigenen Interessen durchzusetzen, ohne sich ihrer zu bedienen, die Zerrissenheit innerhalb der reformerischen Kräfte, die Skepsis der Alliierten, die Sehnsucht eines Großteils der Bevölkerung nach Bewährtem, Vertrautem sowie eine kräftige Portion Opportunismus in den eigenen Reihen führen schließlich zum Zerwürfnis. Zahlreiche Liberale laufen zur konservativen Opposition über. Statt sich auf die Seite der Aktionspartei zu stellen, verharren die Sozialisten in abwartendem Schweigen. Parri wird vor eine Reihe für ihn inakzeptabler Bedingungen gestellt, die die Wiederherstellung altüblicher Staatsstrukturen zum Ziel haben und in seinen Augen nichts anderes bedeuten als die „Fortführung des Faschismus mit all seinen Institutionen, Gesetzen und Ungerechtigkeiten“. Die Krise ist unumkehrbar. Am Abend des 24. November 1945 gibt Parri vor der internationalen Presse seinen Rücktritt bekannt.
In nicht einmal sechs Monaten ist der jahrzehntelang gehegte Traum von einem neuen Staat gescheitert. Wieder einmal bestätigt sich das für Italien bis heute charakteristische Phänomen, dem auch Giuseppe Tommasi di Lampedusa 1958 in seinem weltberühmten Roman „Der Leopard“ ein Denkmal gesetzt hat: „Alles muß sich ändern, damit es bleibt, wie es ist.“
Wenige Tage darauf übernimmt der katholische Politiker Alcide De Gasperi die Regierung. Die beinahe fünfzig Jahre währende Ära der konservativen Democrazia Cristiana, die Mitte der neunziger Jahre an Korruptionsskandalen zerbricht und deren Politik das Land und seine Geschicke bis heute nachhaltig zeichnet, hat begonnen.
Die Uhr inspiriert sich an den wenigen Tagen der Regierungskrise und des Rücktritts Parris, die das erzählende Ich in einer sensiblen Balance aus Anteilnahme und Distanz begleitet und miterlebt. Es ist die romanhaft aufgebrochene, von imaginären Begegnungen und poetisch überhöhten Episoden durchwebte, aber gerade deshalb um so wahrhaftigere Darstellung einer Wirklichkeit: der Wirklichkeit Italiens, die Levi im Verglühen einer Epoche aufscheinen läßt und die bis und vor allem heute nachvollziehbar und erlebbar ist.
Schon beim ersten Lesen scheint sich der Roman nach allen Seiten zu öffnen, sich in Raum und Zeit auszudehnen, immer auf dem schwankenden Grat zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erleben und Betrachtung, zwischen Augenblick und Dauer. Levi spielt mit der literarischen Form des Romans und ihren Grenzen, er läßt die Zeit zeitlos, zyklisch und antizyklisch werden und erschafft eine „Gleichzeitigkeit der Zeiten“, in der flüchtige Episoden die Ewigkeit bannen und Mythen im Hier und Jetzt lebendig werden.
Es drängt sich die Frage auf, warum bis zur deutschen Übersetzung des Buches fünfundfünfzig Jahre vergehen mußten. Die Antwort liegt in eben jener historisch-politischen Wirklichkeit begründet, von der es erzählt.
Im Jahr 1950, als der zwischen 1947 und 1949 entstandene Roman beim Einaudi Verlag erschien, stand in der jungen Republik Italien alles im Zeichen der Rückkehr zur Normalität. Der Vatikan beging das Heilige Jahr, der Wiederaufbau schritt voran, die Menschen machten Sommerferien und bevölkerten die Strände, das Wirtschaftswunder nahm seinen zaghaften Anfang, und die Linken versuchten, durch interne Streitigkeiten und heftige Attacken gegen die Sozialpolitik der Regierung über die erlittene Niederlage hinwegzukommen. In diesem scheinbar gefestigten Klima erschien nun ein Buch, welches nicht nur das ewige Übel des italienischen Staates, seine Rückgewandtheit und die Spaltung der Gesellschaft in Nutznießer und Verlierer, in Nord und Süd anprangert, sondern das auch die Akteure des Widerstands nicht verschont und ihnen Versagen und Opportunismus vorhält. Das Echo aus den Reihen der Linken, darunter ehemalige Weggefährten Levis und aktive Politiker, die sich durch die an ihnen inspirierten Figuren des Romans verunglimpft fühlen, fällt fast einhellig vernichtend aus. Vordergründig wirft man Levi vor, mit Die Uhr eine schwache Reprise des Christus beziehungsweise eine fehlgeschlagene Loslösung davon geliefert zu haben, doch ist es vor allem der „Verrat“ an den eigenen Leuten und die ungeschönte Schilderung der selbstverschuldeten Niederlage, die für Entrüstung sorgt. Die Diffamierungen gipfeln in einem kleinen „Skandal“ um den renommierten Literaturpreis Premio Viareggio desselben Jahres, in dessen Jury einige Kritiker erfolgreich Front gegen den von manchen als Favorit gehandelten Roman machen. Levi wird nahegelegt, Die Uhr zurückzuziehen, doch erfolglos. Schließlich entscheidet die Jury, den Konflikt zu umgehen und den Preis an zwei Mitbewerber zu verleihen. Die Uhr geht leer aus. Sie bleibt Carlo Levis zweiter und letzter Roman. Bis zu seinem Tod 1975 verfaßt er vor allem Essays und Reisebücher, in denen er sich immer wieder mit der Mezzogiorno-Problematik auseinandersetzt, bleibt als parteiloser Senator politisch aktiv und widmet sich der Malerei.
Die Ächtung der Uhr schlägt sich auch auf ihren Erfolg im Ausland nieder. Lediglich in sechs Ländern wird der Roman übersetzt (Argentinien, England, Amerika, Schweden, Frankreich und Israel) und ist Mitte der fünfziger Jahre bereits wieder in Vergessenheit geraten. Bis nach Deutschland gelangt er nicht. Zu kurz liegen die Ereignisse des Dritten Reiches und des Krieges zurück, und zu sehr ist man mit der Bewältigung eigener Probleme beschäftigt, als daß die Zustände im Land der einstigen Verbündeten literarisches Interesse wecken könnten. Offerierte der in Deutschland ebenfalls erfolgreiche Christus einen Blick auf eine entrückte, fremdartige Welt, so war man für das Zeitlose, das sich in Die Uhr jenseits der Schilderung des historischen Augenblicks offenbart, noch gänzlich unempfänglich.
Erst mit der Distanz der Jahre und Jahrzehnte gelang es der italienischen Literaturkritik, sich für die Substanz und poetische Besonderheit des Buches zu öffnen und die immer deutlicher erkennbare Berechtigung seiner politischen Aussage mit unverstelltem Blick zu erfassen. Die Uhr begann aus dem Schatten des Christus hinauszuwachsen, und im Laufe der achtziger und neunziger Jahre mehrten sich schließlich die Stimmen, die dem Roman seinen allzu lange verwehrten, herausragenden Platz im Gesamtwerk Carlo Levis zuerkennen.
Heute gilt Die Uhr in Italien als eines der bedeutendsten Werke der italienischen Nachkriegsliteratur, über das der italienische Publizist und Kritiker Goffredo Fofi schreibt:
„Gerade lese ich zum dritten Mal Carlo Levis Roman Die Uhr, und wieder erscheint er mir wie ein Meisterwerk, das mit den Jahren gewinnt, den Christus kam nur bis Eboli, dieses Zeugnis einer inzwischen verschwundenen Vergangenheit, übersteigt und nicht aufhört, uns zu sagen, wer wir sind, woher wir kommen und vielleicht auch, wohin wir gehen.“
Nicht zuletzt angesichts der jüngeren und jüngsten politischen Entwicklungen in Italien erweist sich die Lektüre dieses Romans als Offenbarung, die nichts von ihrer Unmittelbarkeit eingebüßt hat. Es scheint, als sei die Zeit der Uhr gerade erst angebrochen.“
Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm