Der Adler

„Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u. a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst nach der Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war sie und bleibt sie ein Adler ...“

http://luxemburg-lesen.blog.rosalux.de/files/2016/10/Die-eigent%C3%BCmliche-W%C3%BCrdigung-Luxemburgs-durch-Lenin-1922.pdf

So ziemlich das gleiche hätte Rosa Luxemburg über Lenin sagen können.

Der Adler wurde vor 100 Jahren vom politischen Gegner ermordet. Zeit, ihn zu würdigen und die heute noch zahlreichen Gegner zu entlarven.

 

Zur Person

 

Ossip K. Flechtheim gibt in seiner Einleitung zu „Die Russische Revolution“ von Rosa Luxemburg im Jahr 1963 einen kurzen Lebenslauf, den der Wurm wiedergeben möchte:

„Zeit ihres Lebens war Rosa Luxemburg aufs innigste mit Rußland - das damals Polen einschloß - und mit der russischen Revolution verbunden, ähnlich wie - wenn nicht noch stärker - ihre Kampfgefährten Karl Liebknecht und Clara Zetkin.

Die am 5. März 1870 oder 1871 (dem Geburtsjahr Lenins bzw. Liebknechts) - ihr Geburtsdatum steht nicht absolut fest!, - in Zamosc in Russisch-Polen geborene hochbegabte Tochter eines emanzipierten jüdischen Kaufmanns trat schon ganz früh einem polnischen illegalen revolutionären Zirkel bei und floh - noch nicht achtzehn Jahre alt - über die Grenze. In Zürich studierte sie Nationalökonomie und promovierte mit einer - nach dem Urteil ihres Lehrers Julius Wolf - „trefflichen Arbeit über die industrielle Entwicklung Polens". Auch in der Schweiz blieb sie mit der polnischen Arbeiterbewegung in dauerndem Kontakt - hier redigierte sie eine polnische sozialistische Zeitschrift und wurde Mitgründerin der „Sozialdemokratie des Königreichs Polen", einer Parteiorganisation, die im Gegensatz zur nationalpolnischen PPS Pilsudskis für die Einheit mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands eintrat. Obwohl sich Rosa Luxemburg, die - vor der Ausweisung geschützt durch ihre durch Scheinehe mit Gustav Lübeck erworbene neue Staatsangehörigkeit - seit 1896 in Deutschland lebte, alsbald mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit in die Arbeit der deutschen Sozialdemokratie stürzte, bald ständige Mitarbeiterin der Dresdner und Leipziger Parteizeitung und schon 1899 mit ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution?“ zu einem theoretischen Wortführer im Kampfe der Marxisten gegen den Revisionismus Bernsteins wurde, blieb sie stets Internationalistin und Weltbürgerin. Nach dem Ausbruch der ersten russischen Revolution im Jahre 1905 litt es sie nicht mehr in Deutschland: Illegal ging sie nach Warschau, wo sie 1906 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches verhaftet wurde. Nach Stellung einer Kaution freigekommen, kehrte sie nach Deutschland zurück.

Auf Grund der russischen Erfahrungen propagierte sie nun in ihrer Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" den Generalstreik als wichtigstes proletarisches Kampfmittel zum Sturz des Kapitalismus: „Soll der Massenstreik, oder vielmehr sollen die Massenstreiks, soll der Massenkampf einen Erfolg haben, so muß er zu einer wirklichen Volksbewegung werden." Da in Deutschland eine bürgerliche Revolution nicht mehr zu erwarten sei, „kann es sich bei einer Periode offener politischer Volkskämpfe in Deutschland als letztes geschichtlich notwendiges Ziel nur noch um die Diktatur des Proletariats handeln".

Im Mai 1907 vertrat Rosa Luxemburg die SPD auf dem 5. Parteitag der russischen Sozialdemokratie in London. Im gleichen Jahr wurde sie Dozentin an der Zentralen Parteischule der SPD in Berlin. Aus dieser Arbeit erwuchsen ihre beiden großen theoretischen Werke, die „Einführung in die Nationalökonomie" und „Die Akkumulation des Kapitals", ihr Versuch einer umfassenden Theorie der Wirtschaft und Politik des Imperialismus als einer neuen Phase des Kapitalismus - geschrieben „wie im Rausch". Rosa Luxemburg war nun zur hervorragendsten Theoretikerin der radikalen Linken geworden: Sie kämpfte nicht nur gegen den Revisionismus, sondern seit etwa 1907-1910 auch immer schärfer gegen das marxistische Zentrum Bebels und Kautskys - in Vorahnung einer krisenhaften Zuspitzung der Weltlage, die ihrer Meinung nach aus der imperialistischen Großmachtpolitik und dem aggressiven Wettrüsten resultieren mußte.

Für die Humanistin und Kriegsgegnerin, die schon 1900 auf dem Pariser Kongreß der 2. Internationale vorhergesagt hatte, der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung werde „durch eine durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis erfolgen", und die auf den Kongressen 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel die Internationale gegen Krieg und Militarismus zu aktivieren versucht hatte, war dennoch der Ausbruch des Weltkrieges ein furchtbarer Schlag. Die „Burgfriedenspolitik" der sozialistischen Parteien hatte sogar sie überrascht. Mühselig suchte sie zusammen mit Karl Liebknecht die Kriegsgegner in der SPD zu sammeln und zu organisieren - erst in der „Gruppe Internationale", dann im „Spartakusbund". Doch bereits am 18. Februar 1915 wurde sie zwecks Abbüßung einer einjährigen Gefängnisstrafe verhaftet. Zu Beginn des Jahres 1916 war sie wieder frei doch schon am 10. Juli 1916 wurde die „Schutzhaft“ über sie verhängt. Erst im Herbst 1918 öffneten sich die Gefängnistore endgültig auch für Rosa Luxemburg. Sie verzehrte sich nun im Kampf gegen die neue Ebert-Scheidemann-Regierung. Der Weiterführung der Revolution sollte auch die Gründung der KPD (Spartakusbund) dienen. Rosa Luxemburg hätte es im Gegensatz zum linken Flügel vorgezogen, wenn sich die neue Partei „Sozialistische Partei" genannt und an den Wahlen zur Nationalversammlung beteiligt hätte. Nachdem ein Aufstand, den Rosa abgelehnt hatte, fehlgeschlagen war, wurde sie am 15. Januar 1919 zusammen mit Karl Liebknecht von Regierungstruppen festgenommen und brutal ermordet. Ihre Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen und erst nach Monaten gefunden.“

Sebastian Haffner in „Der Verrat“: „Rosa Luxemburg dagegen war seit der Jahrhundertwende in Deutschland eine politische Figur ersten Ranges - dreifache Außenseiterin zwar, als Frau, als Jüdin und als halbe Ausländerin (sie war in Russisch-Polen geboren und nur durch eine Scheinheirat Deutsche geworden); außerdem natürlich ein Bürgerschreck, und sogar ein Sozialdemokratenschreck, wegen der Radikalität ihrer Ansichten; und doch auch von Freund und Feind bewundert - oft widerwillig bewundert - für eine Vielfalt von Begabungen, die ans Geniale grenzte: ein Intellekt von höchster Schärfe und Feinheit, glänzende Stilistin, mitreißende Rednerin, Vollblutpolitikerin und zugleich originelle Denkerin; dabei eine warmherzige, faszinierende Frau. Über ihrem Witz und ihrem schönen Ernst, ihrer Leidenschaft, ihrer Güte vergaß man, daß sie nicht hübsch war. Sie ist ebenso geliebt worden wie gefürchtet und gehaßt.

In den großen nationalen und internationalen sozialistischen Kontroversen des Jahrhundertanfangs gehörte sie stets zu den Vorkämpfern. Sie war die ebenbürtige Verbündete oder Gegnerin Bebels und Kautskys, Lenins und Trotzkis, Jaurès' und Pilsudkis. Dazwischen Ausflüge in die russische Revolution von 1905 - und immer wieder einmal ins Gefängnis, wegen Majestätsbeleidigung, Aufforderung zum Ungehorsam, Beleidigung des Offizierskorps. Eine unübersehbare, eine große Frau, wohl immer noch die größte des Jahrhunderts.“

Walter Jens in: „Rosa Luxemburg – Weder Poetin noch Petroleuse“: „Ein kurzes Leben; reich an Verfolgung, ständig bespitzelt, immer wieder in der Illegalität, inhaftiert, auf freien Fuß gesetzt, eingesperrt, am Rande der Gesellschaft lebend: um der Einbürgerung in Deutschland eine Scheinehe führend und zum Schluß, in genauer Kenntnis des Kommenden, gezeichnet vom Martyrium: Die »auf ihrem Posten« sterben wollte, in offenem Kampf, fiel, ohne daß sie einer aus den eigenen Reihen hätte begleiten können, uniformierten Meuchelmördern zum Opfer: »Da kommt Röschen, die alte Hure«, riefen die Soldaten, als die Gefangene das Hotel Eden betrat, um mißhandelt und herumgeschleift zu werden. Einer der Beteiligten bot später einen Schuh aus, in der Küche des Eden-Hotels, den die Umhergezerrte verloren hatte – in einem Totentanz, wie er schauerlicher nicht erdacht werden kann.

Ein kurzes Leben, nochmals, reich an Verfolgung und durch eine Hinrichtung von seiten derer, die sich am Abend des 15. Januar 1919 so zeigten, wie Rosa Luxemburg sie beschrieben hatte: unmenschlich und erbarmungslos.

Ein kurzes Leben, aber, wie die Briefe zeigen, auch ein Leben, das geprägt war von Enthusiasmus und Inspiration, von großen Triumphen, gewonnenen Schlachten in der Phalanx der sozialdemokratischen Linken, von verwegenen Liebesgeschichten, die zwischen Ekstasen, Entzweiungen, neuen Aufschwüngen, bitteren Preisgaben, abermaligen Verknüpfungen, Liaisons mit jungen Männern und, wichtiger am Ende, Freundschaften mit älteren Frauen hin und her pendelten – Aventiuren und Gratwanderungen an der Grenze von Politik und Persönlich-Privatem, von großer Liebe und der Sachbezogenheit kleiner Mitteilungen.“

http://www.bundesstiftung-rosa-luxemburg.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Rosalux_Endfassung.pdf

In ihrem Buch „Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem - Eine Biographie“ zitiert Annelies Laschitza Karl Radek: „Wir alle, die wir damals, alles junge Burschen, zu ihr als unserer Lehrerin hinaufblickten, sind für unser Leben lang von ihrer Arbeit befruchtet worden, selbst, wo wir mit den Resultaten dieser Arbeit nicht einverstanden waren; denn die Art der Behandlung der Streitfragen der Bewegung, ob es Fragen waren, mit denen sich der internationale Sozialismus schon auseinandersetzte, denen aber Rosa Luxemburg in der neuen revolutionären Situation immer ein ganz neues Gesicht abzugewinnen wußte - so die Frage der Gewerkschaften und die Rolle der Partei während der Revolution 1905/06 -, ob es neue Fragen waren, wie die Bedeutung des Massenstreiks in der Revolution, in allem zeigte sich Rosa Luxemburg frei von jedem Dogmatismus, den man dem orthodoxen Marxismus vorwarf, zeigte sich immer als die Schülerin der Wirklichkeit. Der Marxismus war für Rosa Luxemburg niemals ein starres Resultat, sondern immer lebendige Forschungsmethode.“

Wenn nicht anders angegeben, stammen die weiteren Zitate aus dem Buch von Annelies Laschitza: „Mit der Erklärung, daß „mitten in den blutigen Delirien und Konvulsionen des waffenstarrenden und völkermordenden Imperialismus“ immer sichtbarer die Stunde nahe, wo die Schlußworte des „Kapitals“ - „Die Expropriateurs werden expropriiert.“ - in Erfüllung gehen müssen, pflichtete sie Marx einerseits 30 Jahre nach seinem Tode bei. Andererseits kritisierte sie ihn: „Die kapitalistische Reife, die Marx in den 60er Jahren an der Hand der englischen Verhältnisse studierte und beschrieb, erscheint als unbeholfene, lallende Kindheit, gemessen an der heutigen weltumspannenden Herrschaft des Kapitals und an der verzweifelten Waghalsigkeit seiner jetzigen imperialistischen Schlußphase.“ (1913)

Wie für Marx war auch für Rosa Luxemburg die Verwirklichung des Sozialismus unvermeidlich, „wenn anders die ganze Kulturgesellschaft nicht ihrer Vernichtung entgegengehen soll“.

Die starre These, der Imperialismus führe in Bälde zwangsläufig zum Untergang des Kapitalismus, bemängelten wiederum jene, die glaubten, in der Kritik an Marx mit ihr übereinzustimmen. Für Rosa Luxemburg war der Marxismus jedoch eine revolutionäre Weltanschauung, „die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muß, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft gewährt“. Dabei könnte es zu Irrtümern oder Fehlern kommen, aber versuchen und verteidigen müsse man eine solche Herangehensweise, um in einer sich ständig verändernden Welt nicht im Dogmatismus zu versacken.“

„Direkt gegen Jaurès und Renaudel gerichtet, warnte sie, „aus dem Klassenkampf, aus der internationalen Solidarität eine Phrase“ zu machen. „Wenn ein sozialistischer Minister in einer bürgerlichen Regierung seine Grundsätze nicht durchführen kann, so ist es eine Sache der Ehre, abzutreten; wenn ein Revolutionär in einer gemäßigten Partei seine Grundsätze verleugnen muß, so gebietet seine Ehre ihm zu gehen. Ich will die Renaudelsche Einheit nicht; die Zerrissenheit ist bedauernswert, aber sie ist da. Und nichts ist revolutionärer, als zu erkennen und auszusprechen, was ist. Vollkommene Resolutionen sind noch nie gemacht.“ (1904)

 

Unter Genossen

 

Parlamentarismus

 

„Rosa Luxemburg galt in der deutschen Sozialdemokratie zunehmend als eine streitsüchtige Theoretikerin, die man mitdebattieren ließ, anhörte, aber deren Einfluß auf Parteibeschlüsse man umso energischer begrenzte, je kritischer sie argumentierte. Nicht zuletzt aus solchen Eindrücken speiste sich Rosa Luxemburgs Urteil über das deutsche Parteileben, das sie Mitte Dezember 1906 Clara Zetkin mitteilte. Beide waren über die Zaghaftigkeit und Kleinlichkeit des eben erschienenen Aufrufs des Parteivorstandes zu den Reichstagswahlen enttäuscht. „August (Bebel) und erst recht all die anderen haben sich für den Parlamentarismus und im Parlamentarismus gänzlich ausgegeben. Bei irgendeiner Wendung, die über die Schranken des Parlamentarismus hinausgeht, versagen sie gänzlich, ja, noch mehr, suchen alles auf den parlamentarischen Leisten zurückzuschrauben, werden also mit Grimm alles und jeden als ‚Volksfeind‘ bekämpfen, der darüber hinaus wird gehen wollen. Die Massen, und noch mehr die große Masse der Genossen, sind innerlich mit dem Parlamentarismus fertig, das Gefühl habe ich. Sie würden mit Jubel einen frischen Luftzug in der Taktik begrüßen; aber die alten Autoritäten lasten noch auf ihnen und noch mehr die oberste Schicht der opportunistischen Redakteure, Abgeordneten und Gewerkschaftsführer. Unsere Aufgabe ist jetzt, einfach dem Einrosten dieser Autoritäten mit möglichst schroffem Protest entgegenzuwirken ... Solange es die Defensive gegen Bernstein und Co. galt, ließen sich August und Co. unsere Gesellschaft und Hilfe gern gefallen - sintemalen sie selbst zuallererst in die Hosen gemacht haben. Kommt es aber zur Offensive gegen den Opportunismus, dann stehen die Alten mit Ede (Bernstein), Vollmar und David gegen uns. Dies meiner Auffassung nach die Lage, und nun die Hauptsache: Werde gesund und rege Dich nicht auf! Das sind Aufgaben, die auf lange Jahre berechnet sind!““

 

Strafe wg. führender Rolle in SPD

 

„Doch schon in der ersten Dezemberwoche mußte Rosa Luxemburg Italien und Luise Kautsky verlassen, denn am 12. Dezember 1906 hatte sie „wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten“ vor der Strafkammer des Großherzoglichen Landgerichts zu Weimar zu erscheinen. Ihr Verteidiger war Dr. Kurt Rosenfeld aus Berlin. Obwohl er nachwies, daß der zur Last gelegte Tatbestand in Rosa Luxemburgs Jenaer Parteitagsrede von 1905 nicht gegeben sei, beantragte der Staatsanwalt vier Monate Gefängnis. Die Höhe des beantragten Strafmaßes würde dadurch beeinflußt, hob dieser hervor, „daß die Angeklagte eine führende Rolle in der sozialdemokratischen Partei spielt“. Rosa Luxemburg wurde vom Gerichtshof im Sinne des § 130 des Strafgesetzbuches für schuldig erklärt und mit zwei Monaten Gefängnis bestraft, die sie im folgenden Jahr absitzen mußte.“

 

Analyse zur Reichstagswahl 1907

 

„Dennoch erhielten die Kandidaten der Sozialdemokratie rund 250.000 Stimmen mehr als 1903. Die Sozialdemokraten hatten damit das Zentrum, die Nationalliberale Partei und die Deutschkonservative Partei weit übertroffen. Durch Stichwahlabkommen und die geltende Wahlkreiseinteilung, die der veränderten Bevölkerungsstruktur und Besiedelungsdichte nicht mehr entsprach, büßte sie jedoch über die Hälfte ihrer Mandate ein und erhielt schließlich nur 43 Abgeordnetensitze.

Die starken Mandatsverluste waren ein Schlag, der nicht ignoriert werden konnte. In einer Rede über die Lehren der letzten Reichstagswahlen erklärte Rosa Luxemburg in Berlin am 6. März 1907: „Wir haben annähernd die Hälfte unserer Mandate verloren. Wer aber glaubt, daß dadurch unsere politische Macht geschwächt sei, der überschätzt den Einfluß des Parlamentarismus. Wir sind eine revolutionäre Massenpartei. Unsere politische Macht liegt deshalb nicht in der Zahl der Reichstagsmandate, sondern in der Zahl unserer Anhänger im Volke. Wir unterschätzen die parlamentarische Arbeit nicht, aber wir müssen uns auch darüber klar sein, daß wir als geborene Minderheitspartei sehr wenig Einfluß auf die Gesetzgebung haben. Was wir an Gesetzen zugunsten der Arbeiter erreicht haben, das ist nicht der Zahl unserer Abgeordneten zu danken, sondern dem Druck der Massen, die hinter ihnen stehen. In erster Linie haben unsere Abgeordneten die Reichstagstribüne zur Vertretung und Verbreitung unserer grundsätzlichen Auffassung zu benutzen. In bezug hierauf ist es ohne Bedeutung, ob wir 80 oder 40 Vertreter im Reichstage haben, auch ist die agitatorische Benutzung der Reichstagstribüne heute nicht mehr so bedeutungsvoll wie früher, wo es galt, die Ziele einer kleinen, noch wenig bekannten Partei öffentlich darzulegen.“ Viel wichtiger sei, die Ursachen für die Verschiebungen innerhalb der Wählermassen zu ergründen. Der von den etablierten Parteien zur Fortsetzung der Kolonialpolitik provozierte Nationalismus und die Angst vor einem Übergreifen der russischen Revolution hätten Mittelstand und Kleinbürgertum gegen die Sozialdemokratie aufgebracht. „Mit Schrecken sieht das Bürgertum, daß das Proletariat eine neue Waffe, den Massenstreik, im revolutionären Kampfe mit Erfolg anwendet.“ Die politische Entwicklung werde künftig im Zeichen der Weltpolitik stehen. „Weltpolitik bedeutet Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik. Das ist der Strudel, dem der Kapitalismus entgegenstürmt und in dem er mit Mann und Maus unterzugehen verdammt ist. Die Schwenkung des Mittelstandes bedeutet, daß der letzte Widerstand des Bürgertums gegen die Weltpolitik geschwunden ist. Es ist kein Zweifel, daß sich das offizielle Deutschland in diesen gefährlichen Strudel schleudern wird.“

Verlauf, Ergebnis und Bilanzierung des Wahlkampfes veranlaßten Rosa Luxemburg, vor den drohenden Gefahren der deutschen Großmachtpolitik ebenso zu warnen wie vor der Illusion, die deutsche Sozialdemokratie könne auf Unterstützung des Liberalismus oder einer ernstzunehmenden bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Opposition rechnen. Nicht wenige sozialreformerische Kräfte in der Partei hegten solche Hoffnungen und gaben deshalb marxistischen Verlautbarungen und der nach wie vor betont antikapitalistischen Politik die Schuld am Mandatsverlust, den sie als Niederlage bewerteten. Richard Calwer befürwortete in den „Sozialistischen Monatsheften“ die imperialistische Kolonialpolitik, Gustav Noske sprach sich in der Militärdebatte des Reichstags unter dem Beifall des Kriegsministers im Falle eines Angriffs auf Deutschland für die Vaterlandsverteidigung aus. Fast noch mehr als diese Offenbarungen erregte Rosa Luxemburg die in der deutschen Bewegung herrschende „unbewegliche Stickluft“. Der Zustand der Partei sei jetzt wirklich der eines bösen Traumes oder vielleicht eines traumlosen, bleiernen Schlafes.“

 

Bei der Basis beliebt

 

„In bestimmten Zentren der deutschen Arbeiterbewegung, z. B. am Niederrhein, im Ruhrgebiet, in Sachsen, Oberschlesien, Bremen und Hamburg, besaß Rosa Luxemburg festen Rückhalt. Am 1. Oktober 1910 hatte sie in Hagen auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des Deutschen Metallarbeiterverbandes über den politischen Massenstreik und die Gewerkschaften gesprochen. „Selbst auf der Straße wurden der Genossin Luxemburg noch begeisterte Ovationen zuteil, und ihr Weg nach dem Hotel glich einem wahren Triumphzuge“, hieß es im Bericht der „Leipziger Volkszeitung“.“

 

Jenaer Parteitag 1911

 

„Rosa Luxemburg sprach als erste in der Diskussion zum Geschäftsbericht des Vorstandes. Sie ging auch auf die Marokkofrage ein, obgleich ihr der Vorsitzende Heinrich Dietz empfohlen hatte, sich nicht vor der für den nächsten Tag erwarteten ausführlichen Stellungnahme August Bebels zu diesem Thema zu äußern. Mit Rosa Luxemburg forderten besonders Robert Dißmann, Wilhelm Dittmann, Alfred Henke, Gustav Hoch, Georg Ledebour, Paul Lensch, Karl Liebknecht, Heinrich Laufenberg und Clara Zetkin eine offensive Friedenspolitik der Partei und einen aktionsfähigeren Parteivorstand. In einem Zusatzantrag zum Resolutionsvorschlag des Parteivorstandes verlangten Rosa Luxemburg, Gustav Hoch und Clara Zetkin auf der Grundlage der Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses von 1907 schärfere Formulierungen gegen Kriegshetze, Wettrüsten und Kolonialpolitik sowie eine stärkere Orientierung auf Massenaktionen gegen Krieg. Die Partei sollte sich auch einer Erweiterung des Kolonialbesitzes auf „friedlichem“ Wege widersetzen, den imperialistischen Krieg generell bekämpfen und nicht nur militärische Konflikte zwischen den zivilisierten europäischen Großmächten. Die Interessen der eingeborenen Völker auf den anderen Kontinenten dürften nicht übergangen werden.

Der Reichstagsabgeordnete Eduard David würgte jegliche Debatte ab: Die Resolution des Parteivorstandes besage alles, und über ein Amendement, das nicht gedruckt vorliege, ließe sich nicht beraten. Auch Karl Liebknechts Einspruch konnte die Regie des rechten Flügels der Delegierten nicht unterlaufen: durch Mehrheitsbeschluß wurde die Auseinandersetzung beendet und Bebels Resolution einstimmig angenommen. Der Demokratie war Genüge getan. In der von ihm herausgegebenen antimilitaristischen Zeitschrift „Die Aktion“ vom 18. September 1911 urteilte Franz Pfemfert treffend: „In jeder Rede, die dort gehalten wurde, war die korrumpierende Wirkung des Parlamentarismus zu spüren. Doch die deutsche Sozialdemokratie täusche sich nicht über die Folgen dieser Taktik! In Jena mußten die Ehrlichen, die Luxemburg, Liebknecht, wollten sie nicht als Krakeeler und ‚Anarcho-Syndikalisten‘ verschrien werden, resignieren. Die Zukunft aber wird ihnen recht geben. Die Zukunft wird zeigen, daß eine sozialistische Partei verloren ist, wenn sie unwahrhaftig wird. Das Jena, das die Ehrlichkeit jetzt erlitt, wird zum Jena der deutschen Sozialdemokratie werden.“

 

Nicht austreten!

 

„Rosa Luxemburg berief sich auf jüngste Erfahrungen in der russischen wie deutschen Partei, wenn sie im August 1911 ihre Freundin Henriette Roland Holst eindringlich vor dem Austritt aus der holländischen Sozialdemokratie warnte. „Du weißt ja, ich war stark dagegen, als Du damals (1909) in der Partei bliebst, als die anderen gingen. Ich war und bin der Meinung, Ihr solltet alle zusammenstehen - drin oder draußen; eine Zersplitterung der Marxisten (nicht zu verwechseln mit Meinungsverschiedenheiten) ist fatal. Aber jetzt, wo Du aus der Partei heraus willst, möchte ich Dich mit aller Macht dran hindern … Das darfst Du nicht, das darf keiner von uns! Wir dürfen nicht außerhalb der Organisation, außer Kontakt mit den Massen stehen. Die schlechteste Arbeiterpartei ist besser wie keine. Und die Zeiten können sich ja ändern. In ein paar Jahren kann eine stürmische Periode in Holl(and) oder in ganz Europa den opportunistischen Mist wegfegen. Aber auf diese Zeiten darf man nicht draußen warten, man muß den Kampf, mag er noch so steril scheinen, weiter führen - bis zum Äußersten.““

 

Magdeburger Parteitag 1913

 

„Als im Parteiausschuß am 4. September 1913 vereinbart wurde, den Massenstreik nicht als gesonderten Punkt auf die Tagesordnung des Parteitages zu setzen und jedwede Änderung am Resolutionsentwurf des Vorstands abzulehnen, war Rosa Luxemburg auf eine neue großangelegte Kampagne gefaßt. Der Generalangriff ging am 15. September von Philipp Scheidemann aus, der sich nicht zuletzt auf die Autorität von August Bebel berief und schließlich erklärte: „Wir kennen die Massen besser als diejenigen, die die revolutionären Artikel schrieben, mit denen man aber keine Massenbewegung machen kann.“ Rosa Luxemburg durfte am nächsten Tag ihre Position zum politischen Massenstreik in einer halbstündigen Rede darlegen. „Wie es scheint, habe ich sehr gut gesprochen“, berichtete sie Leo Jogiches. Ihr Resolutionsentwurf erhielt zwar 80 Stimmen mehr als auf dem Magdeburger Parteitag, wurde aber mit der klaren Mehrheit von 333 zu 142 Stimmen abgelehnt. Außerdem sanktionierte der Parteitag die opportunistische Haltung der Reichstagsfraktion zur Vorlage für die weitere Finanzierung der Aufrüstung. Dieser offizielle Rechtsruck der Sozialdemokratie wurde mit der Wahl Friedrich Eberts für den verstorbenen August Bebel zum Mitvorsitzenden neben Hugo Haase besiegelt.

Rosa Luxemburg blieb ihren Widersachern nichts schuldig und stieg in Jena fünfmal auf die Tribüne. Ein Parteitag sei nicht dafür da, „um zu dem Willen und den Ansichten der Instanzen Hurra zu rufen, sondern er ist dazu da, damit die Instanzen lernen, was die Massen wollen“.“

 

15 Jahre SPD

 

„15 Jahre nachdem sie in die deutsche Sozialdemokratie eingetreten war und sich durch ihr publizistisches, agitatorisches und pädagogisches Vermögen in vielen Ortsvereinen großes Ansehen erworben hatte, stärkte sich die Tendenz seitens der leitenden Parteigremien wie der Redaktionen, ihre kritisch-konstruktiven Auffassungen zu entstellen und ihren Einfluß zu begrenzen.

Mit Genugtuung registrierte sie dagegen, daß ihr Standpunkt Resolutionen sozialdemokratischer Wahlkreisvereine in Stuttgart, Mülhausen (Elsaß), Chemnitz, Elberfeld-Barmen und im Herzogtum Gotha prägte. Sie versuchte frühere Parteischüler wie Jacob Walcher, der in Stuttgart wirkte, oder Rosi Wolfstein, die noch auf Arbeitssuche war, zu ermutigen. „Nur lustig und heiter alles nehmen - es muß schon obenauf kommen, was im Recht ist.“

Dogmatiker haßten und fürchteten die kritische Marxistin, die in der deutschen Sozialdemokratie einen festen Freundeskreis besaß, der sich seit 1907 Jahr für Jahr um von ihr begeisterte junge Absolventen der Parteischule vergrößerte, und bei vielen Mitgliedern, die in ihre Versammlungen und Kurse strömten, beliebt war. Es gelang ihren Widersachern nicht, sie zu isolieren, aber Rosa Luxemburg wußte: Die Sozialdemokratische Partei von 1913 war nicht mehr die Partei August Bebels, Wilhelm Liebknechts und Karl Kautskys von 1898, deren Anziehungskraft sie nicht hatte widerstehen können. Unter Hugo Haase und Friedrich Ebert als Vorsitzenden und einer einflußreichen Reichstagsfraktion von 110 Abgeordneten, in der sozialreformerisch orientierte Parlamentarier die Mehrheit bildeten, rückte sie bedenklich ab von ihrer Tradition, ihrer Programmatik und konsequenter Gegnerschaft zu Kapitalismus und Militarismus. Die Partei bewege sich auf einer schiefen Ebene, auf der es keinen Halt gebe, äußerte Rosa Luxemburg auf dem Jenaer Parteitag von 1913. Sie befürchtete: „Wenn der Krieg ausbricht und wir an dieser Tatsache nichts mehr ändern können und wenn dann die Frage kommt, ob die Kosten durch indirekte oder direkte Steuern zu decken sind, daß Sie dann folgerichtig für die Bewilligung der Kriegskosten eintreten““

 

Der Krieg rückt näher, die SPD macht mit

 

1911: „In der „Gleichheit“ äußerte Rosa Luxemburg dazu: „Heute erhitzen sich dieselben Staatsmänner und dieselben Parlamente für ein kolonialpolitisches Abenteuer, das die Völker dicht an den Rand des Abgrundes eines Weltkrieges bringt, und der freisinnige Chor in Deutschland begeistert sich ebenso für dieses kriegsschwangere Abenteuer wie früher für die Friedensdeklamationen. Dieser plötzliche Szenenwechsel zeigt wieder einmal, daß Abrüstungsvorschläge und Friedenskundgebungen der kapitalistischen Welt nichts anderes sind und sein können als gemalte Kulissen, die zuweilen in den Kram der politischen Komödie passen mögen, die aber zynisch auf die Seite geschoben werden, wenn das Geschäft ernst wird. Von dieser kapitalistischen Gesellschaft irgendwelche Friedenstendenzen erhoffen und im Ernst auf sie bauen wäre für das Proletariat die törichteste Selbsttäuschung, der es anheimfallen könnte.“ Es sei besorgniserregend, erklärte Rosa Luxemburg, wenn einige maßgebliche Sozialdemokraten immer ausschließlicher die diplomatischen Händel der Regierungen nur parlamentarisch verfolgten und sich in ihrem Friedensengagement kaum von den utopischen Beteuerungen bürgerlicher Friedensapostel unterschieden.

Wenn sie den Parteivorstand kritisierte und auf die um sich greifenden Friedensillusionen hinwies, dann nicht aus „wortradikaler Hysterie“ oder „persönlicher Streitsucht“, wie ihr die Kritisierten nachsagten, sondern aus Sorge um die lähmende Ruhe, um die sich der Parteivorstand bemühte. Statt die Öffentlichkeit zu beruhigen, müsse die Arbeiterpartei die Menschen aufrütteln, damit sie sich gegen die Kriegsgefahr auflehnten.

„Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik?“ - so laute die Klassenfrage im Friedenskampf. Falle es denn den Parlamentariern gar nicht auf, daß die herrschenden Kreise gerade in den Parlamentsferien ihr Abenteuer inszenieren? - fragte Rosa Luxemburg. Sei das nicht ein Beweis dafür, wie die Herrschenden die Demokratie ausschalten, wenn sie auf Profitjagd und Raub gehen? Das Volk könne nicht über Krieg und Frieden entscheiden, solange einige kapitalistische und militaristische Cliquen in Deutschland 64 Millionen Männer und Frauen dirigieren.“

„Die Sozialdemokratische Partei besaß inzwischen Millionen Mitglieder und Anhänger, stand innen- wie außenpolitisch vor neuen Herausforderungen. Im Sommer 1913 hatte eine Überproduktionskrise eingesetzt, die Arbeitslosigkeit stieg. Versuche der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, eine staatliche Arbeitslosenversicherung bzw. -unterstützung einzuführen, wurden abgeblockt. Die Forcierung der Rüstung ließ nach Ansicht der Regierung keine sozialreformerischen Zugeständnisse zu. Die Unternehmerverbände verständigten sich über ein schärferes Vorgehen gegen die Arbeiterklasse. Neue reaktionäre Organisationen bildeten sich und beeinflußten die Bevölkerung mit nationalistischen Parolen und chauvinistischer Hetze. Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, bezeichnete den Krieg unverhohlen als den Erwecker aller guten, gesunden und starken Kräfte im Volke. „Deutschland und der nächste Krieg“, „Deutschland erwache“, „Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk“, „Der ‚bevorstehende‘ Weltkrieg als Vorläufer des Weltfriedens, zugleich ein Kampf ums Deutschtum“ waren Titel von militaristischen und chauvinistischen Pamphleten, die in Massenauflagen verbreitet wurden. „Die Verschärfung der Klassengegensätze“, stellte Rosa Luxemburg fest, „die auf allen Gebieten zutage tritt: in den Gewerkschaftskämpfen, in den Parlamenten, in den Vorstößen des Militarismus, in der steigenden Kriegsgefahr, in der Bedrohung des Koalitionsrechts, im Stillstand der Sozialreform, im reaktionären Verfall der bürgerlichen Oppositionsparteien - dies ist es, was in den weitesten Kreisen der Arbeiterschaft jetzt eine lebhafte Beunruhigung und den Gedanken an schärfere Kampfwaffen rege gemacht hat.““

 

Auf dem Weg in die Verkommenheit

 

Karlludwig Rintelen zitiert in seinem Beitrag „Links blinken und rechts abbiegen“ aus dem Sammelband „Zwecklegenden – Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung“ eine Rede des Gewerkschaftsführers Gustav Bauer bei einer Sitzung von Parteivorstand, Generalkommission und SPD-Reichstagsfraktion in Berlin am 29.11.1913:

„… Jeder Proletarier weiß oder fühlt es, oder es wird ihm schon von den Vertretern der bürgerlichen Parteien erzählt, daß mit dem Siege der Kapitalisten seines Landes deren Industrie emporblühen werde, daß es damit ihm auch relativ besser gehe, daß er mehr Lohn erringen könne, daß die Arbeitslosigkeit sinken werde und so weiter. Solange der Kapitalismus herrscht, wird er noch immer genug Kraft aufbringen, um gegebenenfalls mit den äußersten Mitteln seine Ziele verfolgen zu können. Und solange der Kapitalismus die herrschende Produktionsform ist, wird er auch immer, wenn es sein Interesse unbedingt erheischt, Kriege führen und dazu die Massen durch patriotische Phrasen begeistern können. Es kann eine Reihe von Umständen eintreten, unter denen es das Interesse des Proletariats gebieterisch erheischt, auch in der auswärtigen Politik seine eigene Kapitalistenklasse zu bekämpfen. Diese Fälle treten insbesondere dann ein, wenn für das Proletariat der bei einem Kriege zu erwartende Gewinn zu klein ist, um die nötigen Blutopfer zu rechtfertigen …

Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und danach ist ihr Verhalten einzurichten ...“

Die Erregung ist groß – allerdings wird der Antrag zur Gegenrede mit 57 gegen 48 Stimmen abgelehnt.

Damit ist klar, dass sich die SPD einem Krieg nicht verweigern wird. Das Protokoll wird übrigens von der SPD verheimlicht, befindet sich aber beim 3. Kommisariat der Preußischen Politischen Polizei (Abt. VII) und wurde den Leitenden Beamten im Preußischen Innenministerium vorgelegt.

 

Sozialdemokratie im Krieg

 

„Mann der Arbeit, aufgewacht!

Und erkenne deine Macht!

Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will.

 

Deiner Dränger Schar erblaßt,

Wenn du, müde deiner Last,

In die Ecke lehnst den Pflug,

Wenn du rufst: Es ist genug!“

(Georg Herwegh)

 

Die Sitzung in Brüssel

 

Immer und immer wieder hatte die europäische Sozialdemokratie ihren Friedenswillen betont und auf internationalen Sitzungen eindrucksvoll demonstriert, dass sie sich einem Krieg verweigern würde. Auch mit den Mitteln des Streiks. Weltgeschichtlich entscheidend sollte die Sitzung Ende Juli 1914 in Brüssel sein. Allerdings: hat schon mal jemand davon gehört, gelesen, gesehen? Da dieses Ereignis zumeist völlig verschwiegen wird, berichtet der Wurm gerne darüber.

„Dienstag, 28. Juli 1914, früh saß Rosa Luxemburg erneut im Zug nach Brüssel. An diesem Tag erreichten die Antikriegskundgebungen ihren ersten Höhepunkt. 30.000 nahmen an 27 Massenversammlungen in Berlin teil, 35.000 an 10 Kundgebungen in Dresden, 19 Versammlungen fanden in Hamburg und seinen Vororten statt. 7.000 Personen beteiligten sich an Antikriegsdemonstrationen in Bielefeld, 10.000 in Bremen, 3.500 in Bremerhaven, 6.000 in Elberfeld-Barmen, 2.500 in Jena, 6.000 in Kiel, 3.000 in Lübeck, 1.600 in Ludwigshafen, 500 in Minden und 3.500 in Rüstringen. Die Teilnehmerzahlen der Antikriegskundgebungen in Breslau, Halberstadt, Mühlhausen, Solingen und vielen weiteren Orten sind nicht genau bekannt.

Am Morgen des 29. Juli 1914 wurde die Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in den Räumen des Instituts für Arbeitererziehung im 6. Stock des Maison du Peuple eröffnet. Rosa Luxemburg ahnte wie alle nicht, daß es für sie nach zehnjähriger Mitgliedschaft die letzte Beratung in diesem Gremium war.

Fast alle in der II. Internationale zusammengeschlossenen Parteien hatten Abgesandte geschickt. Laut Protokoll waren anwesend: James Keir Hardie, Bruce Glasier, Dan Irving aus Großbritannien, Hugo Haase, Karl Kautsky aus Deutschland, Victor Adler, Friedrich Adler aus Österreich, Edmund Burian, Anton Nemec aus Böhmen, Jean Jaurès, Edouard Vaillant, Jules Guesde, Marcel Sembat, Jean Longuet aus Frankreich, Angelica Balabanoff, Oddino Morgari aus Italien, Fabra Ribas, Corales aus Spanien, Ilja Rubanowitsch, Paul Axelrod aus Rußland, Winter, Otto Braun aus Lettland, Rosa Luxemburg, Walecki aus Polen, Stauning aus Dänemark, Troelstra aus Holland, Emile Vandervelde, Edouard Anseele, Louis Bertrand, Camille Huysmans aus Belgien und Carl Moor, Robert Grimm aus der Schweiz. Die meisten kannte sie seit vielen Jahren, mit nicht wenigen von ihnen stand sie in persönlichem Kontakt. Es fehlten allerdings der serbische Delegierte, Friedrich Ebert von der deutschen Delegation und M. M. Litwinow als Delegierter der Bolschewiki. Zwei Fragen standen im Vordergrund: die internationale Lage und der internationale Kongreß. Vandervelde führte den Vorsitz.

„Nur die wenigsten unter den Anwesenden, so James und Rosa Luxemburg“, erinnerte sich Angelica Balabanoff, „schienen sich Rechenschaft davon zu geben, was der Arbeiterklasse harrte.“ Über die Brüsseler Tagung erschien kein Bericht. Erst in den 60er Jahren konnte Georges Haupt das relativ knapp gefaßte Protokoll veröffentlichen. Rosa Luxemburg ergriff in der Diskussion zweimal das Wort. Sie drängte am 29. Juli auf rasches und entschlossenes Handeln und bezeichnete den Kampf gegen den Krieg als wichtigstes Thema des bevorstehenden Internationalen Sozialistenkongresses. Und am Schluß schlug sie eine Resolution vor, die dem russischen Proletariat für sein revolutionäres Verhalten tiefe Anerkennung aussprach und es im Kampf gegen den Zarismus bestärken sollte, die einstimmig angenommen wurde.

Zu Beginn gestand Victor Adler offen die Ohnmacht gegenüber dem Krieg mit Serbien ein. Dem nationalistischen Taumel der Massen könne die Sozialdemokratie Österreichs nichts entgegensetzen. Die bestehenden Arbeiterorganisationen und in erster Linie die eigene Partei zu retten sei das einzige, was man unter den gegebenen Umständen tun könne.

Der damals bereits schwerkranke Mann glich nur noch dem Schatten jenes Politikers, in dem Kautsky nach dem Tod Bebels den geistigen und moralischen Führer der Internationale gesehen hatte. Wie sein Sohn Friedrich, der ihn nach Brüssel begleitet hatte, später erzählte, war er mit der Überzeugung gekommen, „daß es unmöglich war, irgendetwas gegen den Krieg zu unternehmen“. In Brüssel teilte diese dramatisierende und zugleich völlig passive Anschauung nur der tschechische Delegierte Nemec. Aber Adlers völlige Kapitulation vor dem Krieg zeigte in nuce das Schicksal, das fast alle sozialdemokratischen Parteien in wenigen Tagen ereilen sollte: Der Opportunismus und Nationalismus in den eigenen Reihen hatten sie aktionsunfähig gemacht.

Rosa Luxemburg war wie viele der Anwesenden erschüttert über so viel hoffnungslose Perspektive. Wie Fabra Ribas notierte, bat sie andere Teilnehmer, auf die Worte Adlers „mit energischeren Worten (zu) antworten und mit Tatsachen, die mehr sagen als alle Reden; Morgari und Axelrod müssen über die Kampagnen berichten, die unsere italienischen und russischen Freunde gegen den Krieg unternommen haben. Erzählen auch Sie, was sich in Spanien im Juli 1909 ereignet hat.“ Die Sitzung könne nicht in einer solchen Atmosphäre fortgesetzt werden. Doch nur Haase wagte es, vor Resignation und Passivität zu warnen. Wie er und Jaurès berichteten, waren die französischen und deutschen Sozialisten nach Aussprachen mit den leitenden Männern ihrer Regierungen überzeugt, daß diese keinen Krieg wollten.

Was zu tun sei, wenn der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien sich, wie auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Basel vor zwei Jahren vorausgesagt, zu einem Weltkrieg ausweite, wurde nicht erörtert. Die einstimmig angenommene Resolution verpflichtete die Proletarier der betroffenen Länder lediglich, „Demonstrationen gegen den Krieg und für den Frieden und eine schiedsgerichtliche Regelung des österreichisch-serbischen Konfliktes ... noch zu verstärken“. Nur ein konkreter Beschluß wurde gefaßt: den Internationalen Sozialistenkongreß von Wien nach Paris zu verlegen und für den 9. August 1914 einzuberufen.

Am Abend des ersten Sitzungstages fand im Cirque Royal in Brüssel ein großes internationales Meeting statt, auf dem die Delegierten der wichtigsten Länder den Frieden in leidenschaftlichen Reden verteidigten. Besonders ergreifend wirkte die Beteuerung von Jean Jaurès, das von der Internationale vertretene Proletariat fühle seine Macht und werde auf dem bevorstehenden Kongreß in Paris das Verlangen nach Gerechtigkeit und Frieden zum Ausdruck bringen. Rosa Luxemburg war so müde und erschöpft, daß sie das Wort nicht ergreifen konnte.

Jaurès ließ es sich nicht nehmen, sie vor allen als tapfere Frau zu begrüßen, „die die Flamme ihres Gedankens ins Herz des deutschen Proletariats versetzt“, dessen zahlreiche Friedenskundgebungen der letzten Tage er besonders hervorhob.

Am Schluß der Sitzung herrschte zwar gedämpfte, doch zuversichtliche Stimmung. Gewiß müßten, wie Jaurès erklärte, noch Höhe- und Tiefpunkte durchlebt werden. „Aber diese Krise wird sich wie die anderen lösen.“ Troelstra hingegen sagte zu Rosa Luxemburg: „Wissen Sie, was wir jetzt getan haben? Wir haben die Sache in die Hände der vielgeschmähten Diplomaten gelegt.“

Ein Weltkrieg, vor dem sie seit Jahren warnten, schien nach Ansicht der Führer der Sozialdemokratie in den letzten Julitagen nicht akut zu drohen. Als er wenige Tage später Realität war, mußte Rosa Luxemburg zu ihrem Entsetzen erleben, daß sich die sozialistische Bewegung als ohnmächtig und ihre Überzeugung von der alles entscheidenden Kraft der Massen als eine große Illusion erwies.“

 

Der Krieg ist da

 

„Noch am 31. Juli 1914 hatte Rosa Luxemburg Paul Levi gebeten, nicht so verzweifelt zu sein: „frisch und schneidig“ sollte er ihr schreiben - „trotz alledem!“ Am folgenden Tag vermochte sie herzlichen Grüßen an Kostja Zetkin nur verbittert hinzuzufügen: „Bin tief erschüttert.“ Die Nachricht von der Ermordung Jean Jaurès' am 31. Juli in Paris versetzte ihr einen Schrecken, den sie nie zu verwinden glaubte. Ihm war sie in Brüssel am stärksten verbunden gewesen.

Ab 1. August setzten Schlag auf Schlag die verhängnisvollen Schritte der Mächtigen Europas ein, durch die die Völker in den ersten Weltkrieg gestürzt wurden, waren sich die Regierungen doch nunmehr fast sicher, daß sie von den Parteien der II. Internationale kaum Widerstand zu befürchten hatten.

Am 1. August befahl Wilhelm II. die Mobilmachung des deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine und erklärte Rußland den Krieg. Unter Völkerrechtsbruch, ohne jede Kriegserklärung, marschierten deutsche Truppen in das neutrale Luxemburg ein. Auch Frankreich erließ den allgemeinen Mobilmachungsbefehl. Zusammen mit Camille Huymans fuhr Hermann Müller, Mitglied des deutschen Parteivorstandes, nach Paris, um mit den französischen Sozialisten zu verhandeln - nicht etwa über Aktionen gegen den Krieg, sondern über das Verhalten bei den parlamentarischen Abstimmungen über die Kriegskredite in beiden Ländern. Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie veröffentlichte am 1. August einen Aufruf, in dem er sich vom Klassenkampf gegen den Krieg lossagte und an die Arbeiter appellierte, sich nicht zu Unbesonnenheiten, nutzlosen und falsch verstandenen Opfern hinreißen zu lassen. Deutschland befände sich in einem Verteidigungskrieg, erklärten führende Funktionäre der Partei und der freien Gewerkschaften.

Am 2. August einigte sich der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion mit vier gegen zwei Stimmen darauf, den Abgeordneten eine positive Haltung zu den Kriegskrediten vorzuschlagen. Ähnlich verhielten sich die Führungen der meisten Parteien der II. Internationale. Eine für den 2. August von der Generalkommission der Gewerkschaften einberufene Konferenz der Verbandsvorstände beschloß, die Maßnahmen der Regierung bei der Mobilmachung zu unterstützen und während des Krieges keine Lohnkämpfe zu führen.

Auf den Straßen sehe man nur noch eilende Reservisten mit Köfferchen und Mengen von Weibern und Kindern, die bis in die späte Nacht herumstehen, schrieb Rosa Luxemburg am 2. August an Kostja Zetkin nach Stuttgart. „Die ganze Welt ist plötzlich ein Irrenhaus geworden. Über Dein ‚Austreten aus der Partei‘ habe ich gelacht. Du großes Kind, willst Du vielleicht aus der Menschheit auch ‚austreten‘? Über geschichtliche Erscheinungen von diesem Maßstab vergeht einem jeder Ärger, und es bleibt nur Platz für kühle Überlegung und hartnäckiges Handeln. In einigen Monaten, wenn Hunger kommt, wird sich das Blatt allmählich wenden. Bleib frisch und heiter wie ich.“ Auch gegen Paul Levis pessimistische Stimmung schrieb sie weiter energisch an. „Wir erleben so Großes und Neues, daß man alle früheren alltäglichen Maßstäbe zum alten Eisen werfen muß.“ Einer solchen weltgeschichtlichen Wendung dürfe man nicht niedergeschlagen begegnen.“

 

1. Kriegskredit: keine Gegenstimme

 

„Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg; in Berlin stritt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion über ihr Verhalten in der Abstimmung der Kriegskredite am nächsten Tag, und der Reichskanzler beschwor in einer Vorbesprechung für die Reichstagssitzung die Vertreter aller Parteien und der Regierung, Einmütigkeit zu beweisen und die Mittel für die „Vaterlandsverteidigung“ zu bewilligen. Die anwesenden Sozialdemokraten Hugo Haase und Philipp Scheidemann versicherten, die Entscheidung der Fraktion vorwegnehmend, daß die sozialdemokratischen Abgeordneten die Kredite bewilligen würden. In der Fraktion kam es zwar noch einmal zu heftigen Auseinandersetzungen, doch die Mehrheit der Befürworter setzte sich durch, denn, so erklärte der mit tonangebende Eduard David, „der Augenblick gebiete, sich von überkommenen Vorstellungen loszusagen und umzulernen“. Obwohl sie geahnt hatte, was bevorstand, brachte der Fraktionsbeschluß vom 3. August Rosa Luxemburg völlig aus der Fassung. „Als ich die Botschaft meinen Redaktionskollegen überbrachte“, berichtete Heinrich Ströbel, der an der Sitzung für die Redaktion des „Vorwärts“ teilgenommen hatte, „waren sie zerschmettert. Rosa Luxemburg, die gleichfalls den Bescheid erharrte, wurde von konvulsivischen Wein- und Wutkrämpfen geschüttelt.“ Am Abend ging Hugo Eberlein mit Rosa Luxemburg vom „Vorwärts“-Gebäude in der Lindenstraße nach Südende. Sie kamen aus der erweiterten Vorstandssitzung des Sozialdemokratischen Wahlvereins für Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg, wo sie vom Vorsitzenden nur „leere Redensarten“ hörten. „Rosa drängte den alten Zubeil, den Reichstagsabgeordneten unseres Kreises, über die Beschlüsse und Festlegungen der Fraktion zu der morgigen Reichstagssitzung zu berichten. Auf der Tagesordnung standen die Kriegskredite. Der Abgeordnete Zubeil machte ein hilfloses Gesicht und berief sich auf die Schweigepflicht der Fraktion. Wir verlangten Mobilisierung der Massen, Massenversammlungen, Massendemonstrationen gegen den Krieg und Ablehnung der Kriegskredite. Umsonst. Die Leitung verbarg sich hinter dummen organisatorischen Kompetenzfragen. Die Sitzung verlief wie das Hornberger Schießen. Auf dem Heimweg erklärte Rosa: ‚Wir haben das Schlimmste zu befürchten. Die Reichstagsfraktion wird uns morgen verraten. Sie wird sich nur der Stimme enthalten!‘“

Am 4. August marschierten ohne Kriegserklärung deutsche Truppen in das neutrale Belgien ein. Diesen Völkerrechtsbruch nahm England zum Anlaß, Deutschland am selben Tage den Krieg zu erklären. Am Nachmittag stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion mit allen übrigen Abgeordneten unter dem Slogan „patriotische Pflichterfüllung“ und mit erzwungener Disziplin der 14, die in der Fraktionssitzung dagegen opponiert hatten. Keine Rede war mehr vom Kampf gegen den Krieg. Millionen Proletarier leisteten der Einberufung Folge. Viele Sozialdemokraten gehörten zu den ersten, die eingezogen wurden. Nationalistische und chauvinistische Stimmungen hatten Hochkonjunktur. „Bis weit in die Kreise selbst des linken Flügels der sozialdemokratischen Partei ging diese Kriegsbegeisterung“, erinnerte sich Alfred Grotjahn. „Konrad Haenisch, der Radikalsten einer, und Paul Lensch, genannt der ‚Jakobiner‘, wurden zu glühenden Patrioten. Der russische Bohemien Heinhand gar, der seit Jahren die Parteipresse mit den revolutionären Parvus-Leitartikeln versah, erglühte in besonderer Weise für den Kampf gegen den Zarismus: er spekulierte in Getreide und anderen nützlichen Waren und wurde durch den Krieg zum Multimillionär. Ganz unentwegt auf der alten Bahn wandelten eigentlich nur Karl Liebknecht und die beiden radikalen Parteigenossinnen Luxemburg und Zetkin, die ‚Rosa‘ und die ‚Klara‘.“

Als Hugo Eberlein Rosa Luxemburg nach der Reichstagssitzung aufsuchte, erwog sie demonstrativen Selbstmord. Ihre Freunde brachten sie von dem Gedanken ab. Rosa Luxemburg selbst erzählte es Luise Kautsky.

Noch am Abend des 4. August trafen sich in Rosa Luxemburgs Wohnung Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck. In der Frage, was man dem Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus entgegensetzen müsse und könne, erzielten sie keine Übereinkunft. Der Vorschlag, als sichtbaren Protest aus der Partei auszutreten, wurde abgelehnt, auch von Rosa Luxemburg. Hugo Eberlein erinnerte sich: „... wir einigten uns, sofort alle uns bekannten Genossen, von denen wir überzeugt waren, daß sie gleich uns den Verrat am deutschen Proletariat nicht mitmachen würden, zu einer Besprechung zusammenzurufen, über 300 Telegramme trug ich am nächsten Tag zur Post. Das Resultat war katastrophal. Clara Zetkin war die einzige, die sofort und uneingeschränkt ihre Zustimmung sandte. Die wenigen anderen, die überhaupt antworteten, gebrauchten dumme und faule Ausreden. Der Kriegskoller hatte sie alle gepackt. Wir beschlossen, in der Partei zu bleiben und den Kampf gegen den Krieg in der Organisation zu führen und zu organisieren.““

 

Trümmer

 

„Rosa Luxemburg beschrieb als eine der ersten mit eindringlichen Worten die grauenhaften materiellen und ideellen Verwüstungen des Krieges. Am 30. September 1914 hieß es in ihrem Beitrag „Trümmer“: „Der zermalmende Zug des gegenwärtigen Weltkrieges hinterläßt allüberall auf weiten Länderstrecken und Meeren zunächst nichts hinter sich als Trümmer.

Trümmer von Städten und Dörfern, Trümmer von zerschmetterten Festungen, Geschützen und Gewehren, Trümmer von riesigen Schlachtschiffen und kleinen Torpedobooten. Und dazwischen Trümmer von zerschmettertem Menschenglück. Hekatomben zerfetzter Menschenleiber, gemischt mit grauenhaftem Aas verendeter Pferde, Hunde und verhungertem, verkohltem Vieh ... Der gegenwärtige Weltkrieg übertrifft jedoch alles bisherige an Dimensionen, an Wucht, an tiefgreifender Wirkung. Nie waren so viele Völker, Länder, Weltteile von den Flammen des Krieges auf einmal umfaßt, nie waren so gewaltige technische Mittel in den Dienst der Vernichtung gespannt, nie waren so reiche Schätze der materiellen Kultur dem höllischen Sturm ausgesetzt. Der moderne Kapitalismus heult in dem jetzigen Weltorkan sein satanisches Triumphlied: Nur er vermochte in wenigen Jahrzehnten die schimmernden Reichtümer und die glänzenden Kulturwerke aufzutürmen, um sie dann in wenigen Monaten mit den raffiniertesten Mitteln in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Nur er hat es fertiggebracht, den Menschen zum Fürsten der Länder, Meere und Lüfte, zum lachenden Halbgott und Beherrscher aller Elemente zu machen, um ihn dann unter den Trümmern der eigenen Herrlichkeit in selbstgeschaffener Qual wie einen Bettler elend verrecken zu lassen ... Aber jeder Krieg vernichtet nicht bloß leibliche Güter, nicht bloß materielle Kulturwerte. Er ist zugleich ein respektloser Sürmer gegen hergebrachte Begriffe. Alte Heiligtümer, verehrte Einrichtungen, gläubig nachgesprochene Formeln werden von seinem eisernen Besen auf denselben Schutthaufen geworfen, auf dem die Reste zerschossener Kanonen, Gewehre, Tornister und sonstiger Kriegsabfall lagern. Und auch in dieser Hinsicht übertrifft der gegenwärtige Krieg alle seine Vorgänger an Rücksichtslosigkeit und Wucht seiner Wirkung.“ Der Krieg wüte erst wenige Wochen, und schon flögen überall die Fetzen von Staatsverträgen, diplomatischen Bündnissen und Völkerrechtsnormen herum. Das vielgepriesene „europäische Gleichgewicht“ sei zerborsten, das Gute und das Böse habe in nationalistisch zurechtgestutzten Feindbegriffen vielfach die Plätze gewechselt. Die sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter müßten schauen, daß „ihre heiligen Ideale nicht auch in Trümmer“ gehen.“

 

2. Kriegskredit: eine Gegenstimme

 

„Für den 2. Dezember 1914 war im Reichstag die zweite Abstimmung über Kriegskredite anberaumt worden. Rosa Luxemburg versuchte vor allem über Clara Zetkins und Karl Liebknechts Beziehungen zu verhindern, daß sich noch einmal alle sozialdemokratischen Abgeordneten in Fraktionszwang nehmen ließen. Doch nur Karl Liebknecht blieb sitzen, als sich alle anderen erhoben. Mit seinem „Nein“ durchbrach er den „Burgfrieden“ und stellte, wie es Rosa Luxemburg erhofft hatte, die Ehre der aufrechten Sozialisten in Deutschland wieder her. In ihrem Artikel „Parteidisziplin“ verteidigte Rosa Luxemburg Liebknecht gegen die am 3. Dezember im „Vorwärts“ veröffentlichten Anwürfe des Vorstandes der Fraktion, er habe „Disziplinbruch“ begangen. Die Parteidisziplin sei ein Mittel, betonte Rosa Luxemburg, um den Gesamtwillen der Klasse in „geschichtsaktives Handeln“ umzusetzen. Geprägt werde diese Disziplin durch das Programm und durch die Beschlüsse der Partei. Unter dem Schutz des Belagerungszustandes habe die Reichstagsfraktion auf eigene Faust den Gesamtwillen der Partei und der Klasse vergewaltigt und sich damit des „denkbar flagranten“ Disziplinbruchs schuldig gemacht. Die große Masse der Parteigenossen werde, wenn sie wieder ihren Willen zur Geltung bringen könne, Rechenschaft fordern. Liebknecht habe im Sinne des Parteiprogramms gehandelt, die Fraktion habe es verraten.

Karl Liebknechts „Nein“ wirkte über die Grenzen Deutschlands hinaus wie ein Signal, in Deutschland ermutigte es vor allem junge Sozialdemokraten. Entsetzt notierte Eduard David im Dezember 1914 in sein Kriegstagebuch: „Montag, 14., Freitag, 18., Montag, 21. Dezember: Versammlung der Charlottenburger Funktionäre. Karl Liebknecht Referent, ich Korreferent über die Frage der Kreditbewilligung. In der Diskussion Rosa Luxemburg, Paul Hirsch, S. Katzenstein u. a. Der Eindruck ist niederschmetternd. Die ‚Funktionäre‘ sind in Berlin fast durchweg junge Leute in den 20er Jahren, die die Mühe der Flugblattverteilung noch nicht scheuen. Jugendliche Unerfahrenheit und doktrinäre, durch eine ganz einseitige ‚Erziehung‘ seitens der radikalen Größen verbissene Geister … vor allem aber wollen sie den Frieden haben um jeden Preis … Rosa Luxemburg erntet mir ihrer Meisterleistung der feinen und groben Demagogie den stürmischsten Beifall.“

Nach einem Disput zwischen Rosa Luxemburg und Robert Schmidt am 15. Dezember in Berlin-Mariendorf nahmen die Versammelten ebenfalls gegen die Fraktion Stellung.“

 

Geistiges Oberhaupt der Opposition

 

„Weder die Reichsregierung noch die sozialdemokratischen Leitungsgremien bezweifelten, daß Rosa Luxemburg das geistige Oberhaupt der Opposition war.“

Also: für ein paar Monate ab ins Gefängnis.

 

Bankrotterklärung der SPD

 

„Es fiel ihr gewiß schwer, festzustellen, daß am 4. August 1914 die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt und die sozialistische Internationale zusammengebrochen war. Schließlich war sie in ihren Reihen seit vielen Jahren aktiv tätig gewesen und hatte sich als kritische Theoretikerin, streitbare Journalistin und versierte Rhetorikerin engagiert. „Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt“, schrieb sie nun, „hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hätte wie die deutsche Sozialdemokratie. An ihr, gerade weil sie der bestorganisierte, bestdisziplinierte, geschulteste Vortrupp der Internationale war, läßt sich der heutige Zusammenbruch des Sozialismus am klassischsten nachweisen.“ Eine detaillierte Beweisführung behielt sie sich für eine spezielle Studie vor. In dem Artikel kam es ihr erst einmal darauf an, gegen die Kriegskreditbewilliger und „Burgfriedens“-Politiker Position zu beziehen und eine intensivere Auseinandersetzung mit ihnen zu entfachen. Denn mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten sei die deutsche Sozialdemokratie zum „Schildknappen des Imperialismus im gegenwärtigen Kriege“ geworden. Die Partei- und Fraktionsvorstände erstickten von vornherein jeden Zweifel und jede Kritik mit dem Hinweis, jetzt seien Reden, Broschüren und Artikel „von echtestem deutsch-nationalem Patriotismus“ gefordert, die es prompt hagelte. Die Internationale, so die Kapitulanten, habe nur die Frage der Verhütung des Krieges ventiliert, im Krieg müßten andere Verhaltensmaßregeln gelten, da müsse jede Nation ihr Dasein behaupten. Im übrigen habe Karl Kautsky schon seit Jahren „die Theorie zur willfährigen Magd der offiziellen Praxis der ‚Parteiinstanzen‘ degradiert“ und dadurch zum „Zusammenbruch der Partei redlich beigetragen“. Verglichen mit den Diensten, die die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften dem vaterländischen Imperialismus leisteten, seien die französischen Sozialisten, die Ministerposten angenommen haben und „das ungewohnte Handwerk des Nationalismus und der Unterstützung der Kriegführung ausüben“, Stümper. Heraus käme letztlich: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch im Frieden, und schneidet Euch die Gurgel ab im Kriege!“ Vorherrschend seien momentan zwei Richtungen: zum einen die Politik von „Scheidemann und Konsorten“, die auf Durchhalten bis zum Sieg setze, und zum anderen die Versuche von Kautsky und Haase, die baldige Beendigung des Krieges an fromme Wünsche bzw. schlau ersonnene Rezepte für Friedensgarantien zu knüpfen.

Nach Meinung Rosa Luxemburgs konnte nur eine Mobilisierung der Massen den Frieden garantieren. Die Initiative dafür müsse von den sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder ausgehen. Der erste Schritt sei die „Umkehr auf der Bahn des Sozialimperialismus“. Es gebe nur ein Entweder-Oder: „Entweder der Klassenkampf oder die Klassenharmonie“ - „entweder Bethmann Hollweg oder - Liebknecht. Entweder Imperialismus oder Sozialismus, wie ihn Marx verstand.“ Im Sinne von Marx hieße, die Einheit von Gedanke und Tat, von scharfer historischer Analyse und kühnem revolutionärem Handeln herzustellen und die sozialistische Bewegung vor Deformationen zu schützen. Nur durch Kritik und Selbstkritik in den eigenen Reihen, durch Besinnung auf die eigene Macht und durch Klassenkampf gegen den Krieg könne die Internationale neu aufgebaut werden.

Zu Recht prangerte Rosa Luxemburg die Politik der Kriegskreditbewilligung und des Stillhaltens im Krieg als Verrat an und rief zum Widerstand auf. Der von ihr verabscheute Nationalismus hatte im ersten Kriegsjahr den bis dahin in der Arbeiterbewegung verfochtenen Internationalismus nahezu ausgelöscht.“

 

Junius

 

„Als Mathilde Jacob im April über Ostern nach Thüringen reiste, versorgte Marta Rosenbaum Rosa Luxemburg mit allem, was sie benötigte und was sie erfreute. Rosa Luxemburg war dieser Frau sehr zugetan und unterhielt sich mit ihr wie mit einer seit langem Vertrauten. Ihr ginge es gut, denn sie nutze ihre ganze „freie Zeit“ von 5.40 Uhr morgens bis 9 Uhr abends „zum Lesen, Denken und Schreiben“. Sie könne jetzt wohl am ehesten nützlich sein, wenn sie eine größere Abhandlung über den Krieg und die Partei schreibe.

Schon seit Oktober 1914 dachte Rosa Luxemburg über ein solches Vorhaben nach. Mit Erschrecken hatte sie um die Weihnachtszeit registriert, daß der Krieg alles beherrschte – selbst auf den Märkten und in den Kaufhäusern „nichts als Militärsachen, so roh und gemein alles, daß einem schlecht wird“. Im Kaufhaus Wertheim hatte die Verkäuferin in so barschem Ton auf die in einem verlassenen Winkel liegenden französischen und englischen Bücher verwiesen, als wolle sie Rosa Luxemburg schon für die Frage nach der Literatur der „Erzfeinde“ ohrfeigen. Rosa Luxemburg spürte wieder kalten Haß „gegen das Menschenpack“, unter dem sie leben mußte, hatte sie Kostja Zetkin mitgeteilt. „Ich fühle, jetzt muß über das, was vorgeht, ein Buch geschrieben werden, das weder Mann noch Weib gelesen, auch nicht die ältesten Leute, ein Buch, das mit Keulenschlägen auf diese Herde einschlüge“, die sich für diesen entsetzlichen Krieg begeistern ließ, an die Front zog und in der Heimat alles für den schnellen „Sieg“ mobilisierte.

Im April 1915 verfaßte sie in einem Zug eine über hundert Druckseiten starke Broschüre mit dem Titel „Die Krise der Sozialdemokratie von Junius. Anhang: Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“, die im Februar 1916 in der Verlagsdruckerei Union in Zürich erschien und als Junius-Broschüre illegal verbreitet wurde. Mit dieser Schrift trat sie, die durch die Inhaftierung isoliert und ausgeschaltet werden sollte, den Zerstörern menschlicher Zivilisation als unversöhnliche Anklägerin entgegen. Es gebe nur eine „Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg“. Bereits nach wenigen Monaten zeige sich der Krieg in seiner ganzen menschenverachtenden Grausamkeit. „Das im August, im September verladene und patriotisch angekochte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt ... Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als das Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hungertumulte in Venetien, in Lissabon, in Moskau, in Singapur, und Pest in Rußland und Elend und Verzweiflung überall. Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend - so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt - als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“

Die Junius-Broschüre gehört zu den ersten Arbeiten, die die Ursachen des Weltkrieges analysierten. Rosa Luxemburg geißelte den verbrecherischen Anteil des deutschen Imperialismus an Ausbruch und Verlauf des Krieges und erhellte zugleich die Krise der deutschen Sozialdemokratie sowie den Zusammenbruch der II. Internationale. Wie in ihren ersten Stellungnahmen 1914 kritisierte sie die Kriegskreditbewilliger und deren Wortführer Ebert, David, Heine, Noske und Scheidemann. Einige frühere Mitstreiter wie Haenisch und Lensch entpuppten sich in Kriegspamphleten als „erbärmliche Umlerner“. In Widerstreit begab sich Rosa Luxemburg aber auch erneut mit Karl Kautsky und seinen Anhängern. Lenin unterzog die Junius-Broschüre einer besonders heftigen Kritik, bemängelte ihre Aussagen zum Imperialismus, Opportunismus und Kautskynismus, zur nationalen Frage und zum Antikriegsprogramm, obwohl er einräumte, daß sie „im großen und ganzen eine ausgezeichnete marxistische Arbeit“ sei.“

Hier Auszüge davon:

„Die gesamte sozialdemokratische Presse schrie eine Woche vorher, daß das österreichische Ultimatum eine verbrecherische Provokation des Weltkrieges wäre, und hoffte auf die hemmende, mäßigende Einwirkung der deutschen Regierung auf die Wiener Kriegshetzer. Die gesamte Sozialdemokratie und die gesamte deutsche Öffentlichkeit war überzeugt, daß die deutsche Regierung seit dem österreichischen Ultimatum im Schweiße ihres Angesichts für die Erhaltung des europäischen Friedens arbeitete. Die gesamte sozialdemokratische Presse nahm an, daß dieses Ultimatum für die deutsche Regierung genau so ein Blitz aus heiterem Himmel war, wie für die deutsche Öffentlichkeit. Das Weißbuch erklärte nun klipp und klar: 1. daß die österreichische Regierung vor ihrem Schritt gegen Serbien Deutschlands Einwilligung eingeholt hatte; 2. daß die deutsche Regierung sich vollkommen bewußt war, daß das Vorgehen Österreichs zum Kriege mit Serbien und im weiteren Verfolg zum europäischen Kriege führen würde; 3. daß die deutsche Regierung Österreich nicht zur Nachgiebigkeit riet, sondern umgekehrt erklärte, daß ein nachgiebiges, geschwächtes Österreich kein würdiger Bundesgenosse mehr für Deutschland sein könnte; 4. daß die deutsche Regierung Österreich vor dessen Vorgehen gegen Serbien auf alle Fälle den Beistand im Kriege fest zugesichert hatte, und endlich 5. daß die deutsche Regierung sich bei alledem die Kontrolle über das entscheidende Ultimatum Österreichs an Serbien, an dem der Weltkrieg hing, nicht vorbehalten, sondern Österreich „völlig freie Hand gelassen hatte“.

Dies alles erfuhr unsere Reichstagsfraktion am 4. August. Und noch eine neue Tatsache erfuhr sie aus dem Munde der Regierung am gleichen Tage: daß die deutschen Heere bereits in Belgien einmarschiert waren. Aus alledem schloß die sozialdemokratische Fraktion, daß es sich um einen Verteidigungskrieg Deutschlands gegen eine fremde Invasion, um die Existenz des Vaterlandes, um Kultur und einen Freiheitskrieg gegen den russischen Despotismus handle.

Konnte der deutsche Hintergrund des Krieges und die ihn notdürftig verdeckende Kulisse, konnte das ganze diplomatische Spiel, das den Kriegsausbruch umrankte, das Geschrei von der Welt von Feinden, die alle Deutschland nach dem Leben trachten, es schwächen, erniedrigen, unterjochen wollen, konnte das alles für die deutsche Sozialdemokratie eine Überraschung sein, an ihr Urteilsvermögen, an ihren kritischen Scharfsinn zu hohe Anforderungen stellen? Gerade für unsere Partei am allerwenigsten! Zwei große deutsche Kriege hatte sie bereits erlebt und aus beiden denkwürdige Lehren schöpfen können.“

Jeder Abc-Schütze der Geschichte weiß heute, daß der erste Krieg von 1866 gegen Österreich von Bismarck planmäßig von langer Hand vorbereitet war, daß seine Politik von der ersten Stunde an zum Bruch, zum Krieg mit Österreich führte. Der Kronprinz und nachmalige Kaiser Friedrich selbst hat in seinem Tagebuch unter dem 14. November jenes Jahres diese Absicht des Kanzlers niedergeschrieben:

Er (Bismarck) habe bei Übernahme seines Amtes den festen Vorsatz gehabt, Preußen zum Krieg mit Österreich zu bringen, aber sich wohl gehütet, damals oder überhaupt zu früh mit Seiner Majestät davon zu sprechen, bis er den Zeitpunkt für geeignet angesehen …

Aber nicht genug. Im Jahre 1870 folgte der Krieg mit Frankreich, und mit dessen Ausbruch ist in der Geschichte ein Dokument unauflöslich verknüpft: die Emser Depesche, ein Dokument, das für alle bürgerliche Staatskunst im Kriegmachen ein klassisches Erkennungswort geworden ist und das auch eine denkwürdige Episode in der Geschichte unserer Partei bezeichnet. Es war ja der alte Liebknecht, es war die deutsche Sozialdemokratie, die damals für ihre Aufgabe und ihre Pflicht hielt, aufzudecken und den Volksmassen zu zeigen: „Wie Kriege gemacht werden.“

Das „Kriegmachen“ einzig und allein zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes war übrigens nicht Bismarcks Erfindung. Er befolgte nur mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit ein altes, allgemeines, wahrhaft internationales Rezept der bürgerlichen Staatskunst. Wann und wo hat es denn einen Krieg gegeben, seit die sogenannte öffentliche Meinung bei den Rechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, in dem nicht jede kriegführende Partei einzig und allein zur Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen gerechten Sache vor dem schnöden Überfall des Gegners schweren Herzens das Schwert aus der Scheide zog? Die Legende gehört so gut zum Kriegführen wie Pulver und Blei. Das Spiel ist alt. Neu ist nur, daß eine sozialdemokratische Partei an diesem Spiel teilgenommen hat.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil2.htm

„Eine Episode sollte nämlich die Befreiung der europäischen Kultur doch nur werden. Die unbequeme Maske wurde von dem deutschen Imperialismus gar bald gelüftet, die Front wendete sich offen gegen Frankreich und namentlich gegen England. Ein Teil der Parteipresse machte auch diese Wendung hurtig mit. Sie begann statt des Blutzaren das perfide Albion und seinen Krämergeist der allgemeinen Verachtung preiszugeben und die Kultur Europas statt von dem russischen Absolutismus von der englischen Seeherrschaft zu befreien.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil5.htm

„Die Art und Weise, wie in Deutschland die Aufhebung der Preßfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des öffentlichen Lebens, wie der Belagerungszustand nun lange Monate ohne jeden Kampf, ja mit teilweisem Beifall gerade von sozialdemokratischer Seite ertragen wird, ist beispiellos in der Geschichte der modernen Gesellschaft. In England herrscht völlige Preßfreiheit, in Frankreich ist die Presse nicht entfernt derart geknebelt wie in Deutschland. In keinem Lande ist die öffentliche Meinung derart völlig verschwunden, einfach durch die offiziöse „Meinung“, durch den Befehl der Regierung ersetzt wie in Deutschland. Auch in Rußland kennt man bloß den verheerenden Rotstift des Zensors, der die oppositionelle Meinung vertilgt, gänzlich unbekannt ist dagegen die Einrichtung, daß die oppositionelle Presse von der Regierung gelieferte fertige Artikel abdrucken, daß sie in eigenen Artikeln bestimmte Auffassungen vertreten muß, die ihr von Regierungsbehörden in „vertraulichen Besprechungen mit der Presse“ diktiert und anbefohlen werden …

Und es mußte erst die vaterländische Sozialdemokratie mit ihren 4¼ Millionen Wählern, das rührende Versöhnungsfest des Burgfriedens und die Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion zu den Kriegskrediten kommen, damit über Deutschland die härteste Militärdiktatur verhängt wurde, die je ein mündiges Volk über sich hat ergehen lassen. Daß derartiges heute in Deutschland möglich, ja nicht nur von der bürgerlichen, sondern von der hoch entwickelten und einflußreichen sozialdemokratischen Presse völlig kampflos, ohne jeden Versuch eines namhaften Widerstandes hingenommen wird, diese Tatsache ist für die Schicksale der deutschen Freiheit von verhängnisvollster Bedeutung. Sie beweist, daß die Gesellschaft in Deutschland für die politischen Freiheiten heute in sich selbst keine Grundlagen hat, da sie die Freiheit so leicht und ohne jede Reibung entbehren kann …

Die Gefahren für die „freiheitliche Entwicklung Deutschlands“ liegen nicht, wie die Reichstagsfraktion meinte, in Rußland, sie liegen in Deutschland selbst. Sie liegen in diesem besonderen konterrevolutionären Ursprung der deutschen Verfassung, sie liegen in jenen reaktionären Machtfaktoren der deutschen Gesellschaft, die seit der Gründung des Reiches einen ständigen stillen Krieg gegen die kümmerliche „deutsche Freiheit“ geführt haben; und das sind: das ostelbische Junkertum, das großindustrielle Scharfmachertum, das stockreaktionäre Zentrum, die Verlumpung des deutschen Liberalismus, das persönliche Regiment und die aus alle den Faktoren zusammen hervorgegangene Säbelherrschaft, der Zabernkurs, der just vor dem Kriege in Deutschland Triumphe feierte. Das sind die wirklichen Gefahren für die Kultur und „freiheitliche Entwicklung“ Deutschlands. Und alle jene Faktoren stärkt jetzt der Krieg, der Belagerungszustand und die Haltung der Sozialdemokratie in höchstem Maße. Es gibt freilich eine echt liberale Ausrede für die heutige Kirchhofsruhe in Deutschland: das sei ja nur „zeitweiliger“ Verzicht für die Dauer des Krieges. Aber ein politisch reifes Volk kann so wenig „zeitweilig“ auf die politischen Rechte und das öffentliche Leben verzichten, wie ein lebender Mensch auf das Luftatmen „verzichten“ kann. Ein Volk, das durch sein Verhalten zugibt, während des Krieges sei Belagerungszustand notwendig, hat damit zugegeben, die politische Freiheit sei überhaupt entbehrlich. Die duldende Zustimmung der Sozialdemokratie zum heutigen Belagerungszustand – und ihre Kreditbewilligung ohne jeden Vorbehalt wie die Annahme des Burgfriedens bedeutet nichts anderes –, muß im gleichen Maße auf die Volksmassen, diese einzige Stütze der Verfassung in Deutschland, demoralisierend wirken, wie sie auf die herrschende Reaktion, den Feind der Verfassung, ermutigend und stärkend wirkt.

Durch den Verzicht auf den Klassenkampf hat sich unsere Partei aber zugleich eine wirksame Beeinflussung der Dauer des Krieges und der Gestaltung des Friedensschlusses abgeschnitten. Und hier schlug sie ihrer eigenen offiziellen Erklärung ins Gesicht. Eine Partei, die sich feierlich verwahrte gegen alle Annexionen, d. h., gegen unvermeidliche logische Konsequenzen des imperialistischen Krieges, sofern er militärisch glücklich verläuft, lieferte zugleich durch Annahme des Burgfriedens alle Mittel und Waffen aus, die geeignet wären, die Volksmassen, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu mobilisieren, durch sie einen wirksamen Druck auszuüben und so den Krieg zu kontrollieren, den Frieden zu beeinflussen. Umgekehrt. Indem sie durch den Burgfrieden dem Militarismus Ruhe im Rücken sicherte, erlaubte ihm die Sozialdemokratie, ohne jede Rücksicht auf andere Interessen als die der herrschenden Klassen seinen Bahnen zu folgen, entfesselte sie seine ungezügelten inneren imperialistischen Tendenzen, die grade nach Annexion streben und zu Annexionen führen müssen. Mit andern Worten: die Sozialdemokratie verurteilte durch die Annahme des Burgfriedens und die politische Entwaffnung der Arbeiterklasse ihre eigene feierliche Verwahrung gegen jede Annexion dazu, eine ohnmächtige Phrase zu bleiben.

Aber damit ist noch ein anderes erreicht: die Verlängerung des Krieges! Und hier ist es mit Händen zu greifen, welcher gefährliche Fallstrick für die proletarische Politik in dem jetzt geläufigen Dogma liegt: unser Widerstand gegen den Krieg könne nur solange geboten werden, als erst Kriegsgefahr bestehe. Ist der Krieg da, dann sei die Rolle der sozialdemokratischen Politik ausgespielt, dann heiße es nur noch: Sieg oder Niederlage, das heißt der Klassenkampf höre für die Dauer des Krieges auf. In Wirklichkeit beginnt für die Politik der Sozialdemokratie die größte Aufgabe nach dem Ausbruch des Krieges. Die unter einmütiger Zustimmung der deutschen Partei- und Gewerkschaftsvertreter angenommene Resolution des Stuttgarter Internationalen Kongresses von 1907, die in Basel 1912 nochmals bestätigt wurde, besagt:

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.

Was tat die Sozialdemokratie in diesem Kriege? Das direkte Gegenteil von dem Gebot des Stuttgarter und Baseler Kongresses: sie wirkt durch die Bewilligung der Kredite und die Einhaltung des Burgfriedens mit allen Mitteln dahin, die wirtschaftliche und politische Krise, die Aufrüttelung der Massen durch den Krieg zu verhüten. Sie „strebt mit allen Kräften“ darnach, die kapitalistische Gesellschaft vor ihrer eigenen Anarchie im Gefolge des Krieges zu retten, damit wirkt sie für die ungehinderte Verlängerung des Krieges und die Vergrößerung der Zahl seiner Opfer. Angeblich wäre – wie man von den Reichstagsabgeordneten oft hören kann –, kein Mann weniger auf dem Schlachtfeld gefallen, ob die sozialdemokratische Fraktion die Kriegskredite bewilligt hätte oder nicht. Ja, unsere Parteipresse vertrat allgemein die Meinung: wir müßten gerade die „Verteidigung des Landes“ mitmachen und unterstützen, um für unser Volk möglichst die blutigen Opfer des Krieges zu verringern. Die betriebene Politik hat das Gegenteil erreicht: erst durch das „vaterländische“ Verhalten der Sozialdemokratie, dank dem Burgfrieden im Rücken, konnte der imperialistische Krieg ungescheut seine Furien entfesseln. Bisher war die Angst vor inneren Unruhen, vor dem Grimm des notleidenden Volkes der ständige Alpdruck und dadurch der wirksamste Zügel der herrschenden Klassen bei ihren Kriegsgelüsten. Bekannt ist das Wort von Bülows, daß man jetzt hauptsächlich aus Angst vor der Sozialdemokratie jeden Krieg möglichst hinauszuschieben trachte.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil6.htm

„Ja, die Sozialdemokraten sind verpflichtet, ihr Land in einer großen historischen Krise zu verteidigen. Und darin gerade liegt eine schwere Schuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, daß sie in ihrer Erklärung vom 4. August 1914 feierlich verkündete: „Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich“, ihre Worte aber im gleichen Augenblick verleugnete. Sie hat das Vaterland in der Stunde der größten Gefahr im Stiche gelassen. Denn die erste Pflicht gegenüber dem Vaterland in jener Stunde war: ihm den wahren Hintergrund dieses imperialistischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war; laut und vernehmlich auszusprechen, daß für das deutsche Volk in diesem Krieg Sieg wie Niederlage gleich verhängnisvoll sind; sich der Knebelung des Vaterlandes durch den Belagerungszustand bis zum äußersten zu widersetzen; die Notwendigkeit der sofortigen Volksbewaffnung und der Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden zu proklamieren; die permanente Tagung der Volksvertretung für die Dauer des Krieges mit allem Nachdruck zu fordern, um die wachsame Kontrolle der Regierung durch die Volksvertretung und der Volksvertretung durch das Volk zu sichern; die sofortige Abschaffung aller politischen Entrechtung zu verlangen, da nur ein freies Volk sein Land wirksam verteidigen kann; endlich dem imperialistischen, auf die Erhaltung Österreichs und der Türkei, das heißt der Reaktion in Europa und in Deutschland gerichteten Programm des Krieges das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle: die Losung der einigen großen deutschen Republik entgegenzustellen. Das war die Fahne, die dem Lande vorangetragen werden mußte, die wahrhaft national, wahrhaft freiheitlich gewesen wäre und in Übereinstimmung mit den besten Traditionen Deutschlands wie mit der internationalen Klassenpolitik des Proletariats.

Die große geschichtliche Stunde des Weltkrieges heischte offenbar eine entschlossene politische Leitung, eine großzügige umfassende Stellungnahme, eine überlegene Orientierung des Landes, die nur die Sozialdemokratie zu geben berufen war. Statt dessen erfolgte von der parlamentarischen Vertretung der Arbeiterklasse, die in jenem Augenblick das Wort hatte, ein jämmerliches, beispielloses Versagen. Die Sozialdemokratie hat – dank ihren Führern – nicht eine falsche Politik, sondern überhaupt gar keine eingeschlagen, sie hat sich als besondere Klassenpartei mit eigener Weltanschauung völlig ausgeschaltet, hat das Land kritiklos dem furchtbaren Verhängnis des imperialistischen Krieges nach außen und der Säbeldiktatur im Inneren preisgegeben und obendrein die Verantwortung für den Krieg auf sich geladen. Die Erklärung der Reichstagsfraktion sagt: nur die Mittel zur Verteidigung des Landes hätte sie bewilligt, die Verantwortung hingegen für den Krieg abgelehnt. Das gerade Gegenteil ist wahr. Die Mittel zu dieser „Verteidigung“, das heißt zur imperialistischen Menschenschlächterei durch die Heere der Militärmonarchie brauchte die Sozialdemokratie gar nicht zu bewilligen, denn ihre Anwendung hing nicht im geringsten von der Bewilligung der Sozialdemokratie ab: dieser als Minderheit stand die kompakte Dreiviertelmajorität des bürgerlichen Reichstags gegenüber. Durch ihre freiwillige Bewilligung hat die sozialdemokratische Fraktion nur eines erreicht: die Demonstration der Einigkeit des ganzen Volkes im Kriege, die Proklamierung des Burgfriedens, das heißt die Einstellung des Klassenkampfes, die Auslöschung der oppositionellen Politik der Sozialdemokratie im Kriege, also die moralische Mitverantwortung für den Krieg. Durch ihre freiwillige Bewilligung der Mittel hat sie dieser Kriegführung den Stempel der demokratischen Vaterlandsverteidigung aufgedrückt, die Irreführung der Massen über die wahren Bedingungen und Aufgaben der Vaterlandsverteidigung unterstützt und besiegelt.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil7.htm

Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/109-platz-an-der-sonne.html

 

Schafe im sozialistischen Löwenfell

 

„Zum kritischen Selbstbesinnungsprozeß in der Sozialdemokratie gehörte für Rosa Luxemburg auch die Überwindung des „Offiziösentums der Theorie“. Der Marxismus sollte nicht wie bisher für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer Tagesgeschäfte zurechtgestutzt und mißbraucht werden. Es dürfe kein genereller Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zugelassen werden. Nicht an Forderungen nach Demokratie, Frieden und Sozialismus habe es gefehlt, sondern an der Fähigkeit, am Willen und an Taten, die Grundsätze der Politik und die entsprechenden Beschlüsse von Parteitagen und internationalen Kongressen in praktisches Handeln umzusetzen. Dogmatismus, Formalismus, Bürokratismus und das Lavieren des „marxistischen Zentrums“ im sozialdemokratischen Vereinsleben hätten viele Widersprüche in der Parteistruktur und -arbeit hervorgebracht, Opportunitätsstreben in der Politik und Nurparlamentarismus in der Taktik den kämpferischen Geist und die revolutionäre Handlungsfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie weitgehend vernichtet.

Rosa Luxemburg hatte das „marxistische Zentrum“ als zentristischen Sumpf schon seit einigen Jahren wegen der latenten Widersprüche zwischen Wort und Tat kritisiert und reagierte auch weiterhin empört auf Halbheiten der sich um Hugo Haase, Georg Ledebour, Adolph Hoffmann und Wilhelm Dittmann formierenden Opposition und speziell auf alle Äußerungen Karl Kautskys. Im Frühjahr 1916 schrieb sie: „Mit halben Mitteln, mit Hin- und Herschwanken, mit zaghafter Schaukelpolitik kann uns nimmermehr geholfen werden. Jetzt muß sich jeder sagen: entweder - oder. Entweder sind wir nationalliberale Schafe im sozialistischen Löwenfell, dann lassen wir auch jedes Spiel mit der Opposition. Oder aber wir sind Kämpfer der proletarischen Internationale in voller Bedeutung dieses Wortes, dann muß eben mit der Opposition ganze Arbeit gemacht, dann muß die Fahne des Klassenkampfes und des Internationalismus rücksichtslos und offen entfaltet werden.“

Allerdings hatte Rosa Luxemburg selbst keine detaillierten Vorstellungen darüber, wie die Partei in Hinblick auf einen konsequenten Antikriegskampf reaktiviert werden könnte. Immer wieder betonte sie, es käme auf den Willen der Massen zur Tat an, der durch Organisation und Disziplin auszubilden sei, und die Selbstkritik der Bewegung müsse sich auch auf den Organisationsfetischismus richten. Ihr Parteiverständnis pendelte zwischen einer nach Programm und beschlossener Taktik einheitlich agierenden Massenpartei und einer im Kampf sich selbst disziplinierenden Massenbewegung.

In der Junius-Broschüre stellte sich Rosa Luxemburg die Frage nach der vagen Rolle der Massen in historisch bewegten und schwer einzuschätzenden Situationen. Schließlich zogen ja auch viele Sozialdemokraten mit in den Krieg - fürs Vaterland, wie sie meinten, obwohl sie vordem den Antikriegslosungen der Arbeiterbewegung gefolgt waren. Sie beobachtete die demoralisierende Wirkung des „burgfriedlichen“ Verhaltens der sozialdemokratischen Parteiführung, der Reichstagsfraktion und der Presse und des von vielen Seiten hochgepeitschten Nationalismus. Sie wußte, ohne spürbare Oppositionspolitik der Sozialdemokratie konnten Selbstwertgefühl, Protest- und Widerstandswille der Massen nicht rasch genug gefördert werden.

Daß die Kriegskreditbewilliger und Burgfriedenspolitiker in totalem Widerspruch zum Mehrheitswillen handelten und ihren Standpunkt fälschlich als Mehrheitswillen ausgaben, setzte Rosa Luxemburg voraus. Letztlich vertraute sie immer wieder darauf, die Massen würden die moralische Kraft zur Auflehnung gegen den Krieg selbst aufbringen."

 

3. Kriegskredit: 18 Gegenstimmen

 

„Eine neue Situation ergab sich, als am 24. März 1916 die 18 Abgeordneten, die am 21. Dezember 1915 den Kriegskrediten nicht zugestimmt hatten, aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossen wurden. Sie bildeten daraufhin am 30. März 1916 die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und wählten Wilhelm Dittmann, Hugo Haase und Georg Ledebour zum Vorstand. Hugo Haase legte sein Amt als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei nieder. Hätte sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft nicht gebildet, kommentierte Karl Kautsky, „wäre Berlin von den Spartacusleuten erobert und stünde außerhalb der Partei“.

Rosa Luxemburg fürchtete, der Klärungsprozeß in der Opposition könnte sich verlangsamen. Zusammen mit Ernst Meyer verfaßte sie das illegal verbreitete Flugblatt „Die Lehre des 24. März“. Darin bezeichnete sie den Ausschluß der Etatverweigerer unmißverständlich als „Bankrott der kleinen Schritte und der Politik des Ausweichens vor Entscheidungen, der Politik der Schwächlichkeiten, Halbheiten und Konzessionen an die Rechte“. Die Achtzehn hätten in falsch verstandener Disziplin um der „Einheit“ willen zwei Jahre lang ein Schattendasein voller Widersprüche geführt. Alles Abrücken von Liebknecht, alles Zurückweichen vor Entscheidungen habe sie nicht vor der Alternative bewahrt, entweder mit den Verrätern am Sozialismus und an der Internationale mitschuldig zu werden oder in konsequenter Interessenvertretung des Friedenswillens sich dem Diktat der Mehrheitssozialdemokraten zu widersetzen.

Da die Dezembermänner noch immer an dem Standpunkt festhielten, der Krieg sei anfangs ein Verteidigungskrieg zur Sicherung der Landesgrenzen gewesen und ihr „Nein“ Ende 1915 erkläre sich aus einer neuen Beurteilung der militärischen Lage, appellierten die Spartakusführer: „Genossen und Genossinnen, steift dieser zaghaften Minderheit den Rücken, treibt sie vorwärts! Stellt den Haase-Ledebour stets die Forderung: 1. daß sie in Zukunft alle Kriegskredite ohne Rücksicht auf die militärische Situation unter grundsätzlicher sozialistischer Begründung ablehnen; 2. daß sie der Regierung des Belagerungszustands und des Weltkriegs jegliche wie immer geartete Steuern verweigern; 3. daß sie die Kleinen Anfragen und sämtliche Mittel der parlamentarischen Geschäftsordnung zur ständigen Bekämpfung der imperialistischen Parteien, zur Aufrüttelung der Volksmassen ausnutzen.“ Konsequenz in der parlamentarischen Aktion gegen den Krieg müßte Konsequenz in der außerparlamentarischen Aktion zur Folge haben.“

 

Spartakus agiert

 

„Zu Massenaktionen für Frieden, Freiheit und Brot überzugehen, darin sah die Spartakusgruppe im Frühjahr 1916 die entscheidende Aufgabe im Kampf gegen den Krieg. Im Zusammenhang damit müsse die Partei für den grundsätzlichen Klassenkampf und die Beendigung des Völkermords zurückerobert und die proletarische Internationale wiederhergestellt werden. Mit ihrer Losung von der Zurückeroberung der Partei wollte Rosa Luxemburg im Unterschied zu den Dezembermännern nicht zur „alten bewährten Taktik“ mit den „glänzenden Siegen“ von Reichstagswahl zu Reichstagswahl zurückkehren, sondern den von ihr seit Jahren geführten Streit um die Anwendung neuer Kampfmittel und -formen forcieren. Nach wie vor war sie dagegen, „den allgemeinen Austritt aus der Partei (zu) proklamieren“.“

Mit Karl Liebknechts Flugblatt „Auf zur Maifeier!“ bereitete die Spartakusgruppe ihre erste große Massenaktion vor. „Am 1. Mai“, hieß es darin, „rufen wir vieltausendstimmig: Fort mit dem ruchlosen Verbrechen des Völkermordes! Nieder mit seinen verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische oder englische Volk, das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuß: die deutsche Regierung! Auf zum Kampfe gegen diese Todfeinde jeglicher Freiheit, zum Kampfe um alles, was das Wohl und die Zukunft der Arbeitersache, der Menschheit und der Kultur bedeutet! Schluß mit dem Kriege! Wir wollen den Frieden!“ Nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland fanden Maidemonstrationen für den Frieden statt, so in Braunschweig, Bremen, Dresden, Duisburg, Jena, Kiel, Leipzig, Magdeburg, Pirna und Stuttgart. In Berlin nahmen die Sozialdemokraten um Haase und Ledebour nicht teil, obwohl man sie um Mitwirkung gebeten hatte.

Die Atmosphäre am 1. Mai in Berlin war gespannt, das Polizeiaufgebot gewaltig. Schon um 19 Uhr waren der Potsdamer Platz und seine Zugänge mit Schutzleuten überfüllt. Pünktlich 20 Uhr sammelte sich eine dichte Menge demonstrierender Arbeiter, und alsbald begannen die üblichen Scharmützel mit der Polizei. Insgesamt 10.000 Demonstranten waren erschienen. Da erschallte mitten auf dem Potsdamer Platz Karl Liebknechts Stimme. „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“

Ihr Echo war unüberhörbar. Karl Liebknecht wurde sofort verhaftet und in die Polizeiwache des Potsdamer Bahnhofs gebracht. Rosa Luxemburg lief mit, kam zurück, demonstrierte weiter und ging anschließend mit Mathilde Jacob in die Redaktion des „Vorwärts“. Sie wollten Parteifreunde bitten, Karl Liebknecht von der Polizei herauszufordern, trafen aber niemand an, der helfen konnte. Als sie endlich Hugo Haase telephonisch erreicht hatten und sich mit ihm zum Alexanderplatz-Gefängnis begaben, erhielten sie keine Auskunft mehr, denn es war inzwischen Mitternacht geworden. Mathilde Jacob erinnerte sich: „Müde und erschöpft fuhren wir heim. - In der Frühe des nächsten Morgens begab sich Rosa Luxemburg zu Sonja Liebknecht, um sie von der Verhaftung ihres Mannes in Kenntnis zu setzen. Wie immer hatte Karl Liebknecht sein Arbeitszimmer abgeschlossen. Während beide Frauen noch beratschlagten, wie sie in das Zimmer gelangen könnten, um alles ‚Kompromittierende‘ fortzuschaffen, erschienen Kriminalbeamte. Das Zimmer wurde gewaltsam erbrochen, und man beschlagnahmte zurückgebliebene 1. Mai-Flugblätter.“ Rosa Luxemburg wäre um ein Haar ebenfalls gefangengenommen worden, schrieb Käte Duncker aufgeregt an ihren Mann.

Die Verhaftung Karl Liebknechts war ein schwerer Schlag für die Spartakusgruppe. Auf einer Zusammenkunft von etwa 15 Mitgliedern am 4. Juni 1916, die die Polizei überwachte, sprach Otto Rühle von einem wochenlangen Scheintod. Es sei ein großer Fehler gewesen, daß sämtliche Verbindungen allein durch Liebknecht aufrechterhalten wurden. Jetzt irrten alle umher. Um wieder Kontakte zu den Gruppen herzustellen, wurde aus Käte Duncker, Franz Mehring, Ernst Meyer, Albert Regge und Regina Ruben ein Aktionsausschuß gebildet, mit dessen Vorsitz Otto Rühle betraut wurde. Das wichtigste Bindeglied blieben die Spartakusbriefe, für deren Herausgabe, Druck und Verteilung sich Leo Jogiches aufopferte.“

 

Erster politischer Massenstreik im Krieg

 

„Am 28. Juni sollte die Hauptverhandlung im Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht beginnen. An diesem Tage erhoben sich 55.000 Arbeiter aus den wichtigsten Berliner Rüstungsbetrieben sowie viele Arbeiter in Braunschweig, Bremen und anderen Städten zum ersten politischen Massenstreik während des ersten Weltkrieges. Am Tag zuvor hatten bereits etwa 25.000 Bürger auf dem Potsdamer Platz für die Freilassung Karl Liebknechts demonstriert.

Angst und Wut über die Antikriegsbewegung veranlaßten die Militärbehörden zu neuen Schlägen gegen die Führung der Spartakusgruppe. Über Rosa Luxemburg, „die bekannte radikal-sozialistische Agitatorin“, wurde am 8. Juli 1916 „im Interesse der öffentlichen Sicherheit bis auf weiteres die militärische Sicherheitshaft verhängt“. Sie sei die geistige Urheberin einer Anzahl von Flugschriften, habe zu Streiks aufgefordert, mit Karl Liebknecht am 1. Mai auf dem Potsdamer Platz demonstriert und Verbindung mit radikalen Elementen wie Emil Eichhorn, Franz Mehring und Ernst Meyer, schrieb das Oberkommando in den Marken an den Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei.

Zwei Tage später wurde Rosa Luxemburg am Morgen in ihrer Wohnung von zwei Beamten verhaftet …

Am 3. August 1916 wurde Ernst Meyer und am 15. August Franz Mehring in „Sicherheitshaft“ genommen.“

 

Sumpfige Froschgesellschaft

 

„Nicht jeder erhielt von Rosa Luxemburg freundliche Nachrichten. Mathilde Wurm wurde im Neujahrsbrief mit Wut über die Schwächlinge und Feiglinge in der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft überschüttet. Emanuel Wurm, ihr Mann, Hugo Haase, Wilhelm Dittmann, Karl Kautsky, Arthur Stadthagen u. a. schienen ihr in der Auseinandersetzung in der Partei und mit dem Krieg viel zu wenig „draufgängerisch“. „Sumpfige Froschgesellschaft“ nannte Rosa Luxemburg sie und setzte hinzu: „... nie war mir Euer griesgrämiges, sauertöpfisches, feiges und halbes Wesen so fremd, so verhaßt wie jetzt. Das ‚Draufgängertum‘ würde Euch schon passen, meinst Du, bloß wird man dafür ins Loch gesteckt und ‚nutzt dann wenig‘ … Ein Glück, daß die bisherige Weltgeschichte nicht von Euresgleichen gemacht war, sonst hätten wir keine Reformation und säßen wohl noch im Ancien regime. Was mich anbelangt, so bin ich in der letzten Zeit, wenn ich schon nie weich war, hart geworden wie geschliffener Stahl und werde nunmehr weder politisch noch im persönlichen Umgang auch die geringste Konzession machen … Ich sage Dir, sobald ich wieder die Nase hinausstecken kann, werde ich Eure Froschgesellschaft jagen und hetzen mit Trompetenschall, Peitschengeknall und Bluthunden - wie Penthesilea, wollte ich sagen, aber Ihr seid bei Gott keine Achilleus.“

Wogegen richtete sich Rosa Luxemburgs heftige Kritik? Sie war ungehalten darüber, daß die führenden Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft nicht entschiedener gegen das autoritäre Vorgehen des Parteivorstandes und gegen die Durchhaltepolitik der Mehrheitssozialdemokraten auftraten und Ende 1916 , als die kriegführenden Regierungen der Welt Friedensschlußabsichten vorgaukelten, Illusionen über die Beendigung des Krieges durch Schiedsgerichte und diplomatische Abkommen verbreiteten. In dem mit Gracchus gezeichneten Beitrag „Offene Briefe an Gesinnungsfreunde. Von Spaltung, Einheit und Austritt“, der in dem linken Organ „Der Kampf“ (Duisburg) am 6. Januar 1917 veröffentlicht wurde, erklärte sie, es sei rückwärtsgewandte Opposition, politische Einfalt, „mit der die Führer des Sumpfes, die Haase, Ledebour, Dittmann, vermeinen, die alte ruhmreiche Sozialdemokratie, die sie erst zu verscharren mitgeholfen haben und auf deren Grabe sie anderthalb Jahre lang selbst mitgetanzt hatten, nunmehr in der Weise von den Toten aufzuerwecken, daß sie sich mitten im heutigen Weltkrieg, ‚treu der alten bewährten Taktik‘, wieder genauso gebärden wie vor dem Kriege und genau die gleichen Reichstagsreden schmettern wie Anno Tobak, als wäre nichts geschehen.““

 

Gründung der USPD

 

„Der Parteivorstand (der SPD) gab dies am 20. Januar bekannt und rief dazu auf, in allen Parteiorganisationen die Opposition auszuschließen. Das heißt, die organisatorische Spaltung erfolgte durch die rechtsopportunistischen Kräfte, die die leitenden Instanzen mehrheitlich beherrschten. Damit trat eine neue Situation im schwierigen Kampf um den Ausweg aus der Krise der Sozialdemokratie ein. Aus der Konferenz der Opposition vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha ging schließlich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands hervor, an die sich die Spartakusgruppe unter Wahrung ihrer politisch-ideologischen Selbständigkeit und des Rechts auf organisatorische Eigenständigkeit anschloß. Das Bündnis stand unter der Devise: „Wir sind mit Euch, wenn Ihr ernstlich kämpft. Wir werden ohne Euch handeln, wo Ihr versagt, wir werden gegen Euch sein, wenn Ihr Eure Pflicht vernachlässigt.“

Hauptakteure bei der Gründung dieser neuen Partei waren Wilhelm Dittmann, Hugo Haase, Karl Kautsky und Georg Ledebour. Rosa Luxemburg zweifelte nicht an ihrem aufrichtigen Friedensstreben und Einsatz für bürgerlich-demokratische Verhältnisse, aber sie kritisierte ihre unentschiedene Opposition und ihr ständiges Zurückweichen vor Massenaktionen, die sich hemmend auf den Klärungsprozeß innerhalb der Opposition auswirkten. Tatsächlich beeinflußten diese Funktionäre die Mehrheit der aufbegehrenden Mitglieder der USPD weit mehr als die Spartakusgruppe.

Den Linken um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die durch „Sicherheitshaft“ und Zuchthaus bewußt von ihren Anhängern getrennt worden waren, fiel es schwer, eine eigene tragfähige Parteikonzeption für die Belebung und Orientierung der sozialistischen Antikriegsbewegung zu entwickeln und weitere Mitstreiter zu finden.

Lenin beobachtete die Spaltung in der deutschen Sozialdemokratie aufmerksam, brandmarkte den Sozialchauvinismus der Ebert und Scheidemann und den Sozialpazifismus der Kautsky und Haase und kritisierte das Zögern der Linken, sich konsequent vom Opportunismus abzukoppeln und eine eigene Partei zu gründen. Seine Gedanken stimmten mit manchem kritischen Einwand Rosa Luxemburgs überein, doch sie sah in den von ihm geführten Bolschewiki als einer konspirativ agierenden Minderheitspartei von Berufsrevolutionären kein Vorbild. Rosa Luxemburg war der Meinung, die deutsche Sozialdemokratie müsse im Kampf gegen den Krieg und in Auseinandersetzung mit den Rechten durch die Masse der Mitglieder zurückerobert und in der Politik auf klassenkämpferischen Kurs gebracht werden. Dazu müßten die direkten Kriegsunterstützer ausgeschlossen und die Zögernden zur Konsequenz gedrängt werden. Diese Konzeption übertrug sie auf das Verhältnis zur USPD, die sie als Abklatsch der alten Sozialdemokratie betrachtete, in der das „marxistische Zentrum“ beherrschenden Einfluß besaß, die Parteivergangenheit verklärt und konserviert würde und wenig Konsequenz für eine revolutionäre Gestaltung der Zukunft zu spüren war. Wie diesem Zustand konzeptionell in der Praxis begegnet werden sollte, wußte sie vorläufig nicht. De facto befand sie sich im Nachtrab der Entscheidungsakteure in der Führung der USPD.“

Winfried Wolf: „Zwar spaltete sich die SPD 1916 noch während des Krieges. Genauer gesagt: Die SPD schloss die Kriegsgegner aus; diese versammelten sich ab diesem Zeitpunkt in der Unabhängigen Sozialdemokratie; der USPD. Doch die Mehrheitssozialdemokratie, die auch nach dem Weltkrieg die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter hinter sich wusste, unterstützte bis zum Kriegsende den Krieg und stimmte unter anderem für immer neue Kriegskredite. Sie engagierte sich auch in den Streiks gegen den Krieg – zu deren Verhinderung, Verkürzung und für deren Abwürgen. Sie bzw. sozialdemokratische Gewerkschaftsführer waren auch zu einer engen Zusammenarbeit mit den Militärs bereit und lieferten an diese Listen mit Streikführern, die darauf meist eingezogen und zum Einsatz an der Front abkommandiert wurden.“

https://www.nachdenkseiten.de/?p=47551

 

Zusammenfassung

 

Im Wesentlichen gab es in der Arbeiterschaft zum Schluss 3 Gruppen:

- die traditionelle SPD, die ihr eigenes Programm verraten hat, für den Krieg und für Kriegskredite war

- Gutmenschen innerhalb der SPD, die gegen den Krieg waren, aber wg. „Fraktionsdisziplin“ dann doch 2x für Kriegskredite gestimmt haben, dann aber bei der 3. Abstimmung doch nicht mehr mitmachen wollten. Die Reichstagsabgeordneten, die mit „nein“ stimmten, wurden zuerst aus der SPD-Fraktion und später aus der Partei ausgeschlossen. Diese gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) und waren Zwerge in Menschengestalt. Rosa Luxemburg nannte sie „sumpfige Froschgesellschaft“. Ja niemandem weh tun!

- der Spartakusbund – im Grunde nur ein paar Hansel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die aber entschlossen waren, etwas zu tun und teilweise die Massen mobilisieren konnten. Mit Gründung der USPD schlossen sich die Spartakus-Leute dieser an, bewiesen viel Geduld mit ihr und als schließlich gar nichts mehr mit ihr anzufangen war, gründeten sie die Kommunistische Partei KPD

 

Das Ende

 

Sebastian Haffner: „Als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am Abend des 15. Januar 1919 vom Berliner Eden-Hotel aus, mit Kolbenschlägen betäubt, in Automobilen in den Tiergarten geschafft wurden, um dort ermordet zu werden, änderte das am Ablauf der politischen Ereignisse zunächst so gut wie gar nichts. Die letzte Stunde der Revolution, in der Liebknecht nur ganz am Rande, Rosa Luxemburg überhaupt nicht handelnd tätig geworden war, hatte bereits geschlagen. Ihre blutige Liquidation stand in jedem Fall bevor. Der Mord an ihren beiden Symbolfiguren gab vielleicht das Signal dazu; im Gesamtverlauf der Dinge aber schien dieses Verbrechen damals nicht mehr als eine grelle Episode zu sein …

Als Liebknecht am 23. Oktober 1918 aus dem Zuchthaus kam, war er für ganz Deutschland und weit über Deutschland hinaus der verkörperte Protest gegen den Krieg und die verkörperte Revolution.

Rosa Luxemburg kam erst am 9. November 1918 aus dem Gefängnis. Sie hatte fast den ganzen Krieg hinter Gittern verbracht, erst ein Jahr auf Grund eines politischen Vorkriegsurteils, dann zweieinhalb Jahre in „Schutzhaft“. Sie war in diesen Jahren, in denen sie die klassischen Kritiken an der deutschen Sozialdemokratie und an der bolschewistischen Revolution verfaßt hatte, grau geworden, aber ihr Geist hatte nichts von seiner funkelnden Souveränität eingebüßt.

Von nun an hatten die beiden noch gut zwei Monate zu leben, die zwei Monate, in denen die deutsche Revolution ausbrach und scheiterte.

Wenn man fragt, was Liebknecht und Rosa Luxemburg zu dem Drama dieser zwei Monate beigetragen haben, dann heißt die ehrliche Antwort: wenig oder nichts. Es wäre alles genauso verlaufen, wenn es sie gar nicht gegeben hätte. Selbst Eintagsfiguren wie die Matrosen Artelt und Dorrenbach haben, momentweise, das Geschehen stärker beeinflußt als die beiden großen Revolutionäre. Auf die eigentlichen Hauptakteure - Ebert und seine Mannschaft, die Revolutionären Obleute, die Matrosen, die Berliner Truppen, die beiden sozialistischen Parteiorganisationen, die Räteversammlungen, die immer wieder unberechenbar in die Handlung eingreifenden Massen - haben Liebknecht und Luxemburg nie wirklich Einfluß gehabt. Liebknecht hatte ein paar Auftritte; Rosa Luxemburg nicht einmal das.

Was sie in diesen siebenundsechzig Tagen getan haben, ist bis in die Einzelheiten rekonstruierbar. Sie gründeten und redigierten, unter vielen Schwierigkeiten und Hemmnissen, eine Zeitung, die Rote Fahne, und schrieben täglich ihre Leitartikel. Sie nahmen - erfolglos - an Sitzungen und Versammlungen der Revolutionären Obleute und der Berliner USPD teil. Sie entschlossen sich schließlich, angesichts dieses Mißerfolgs, zur Gründung einer eigenen Partei, bereiteten den Gründungskongreß der KPD vor, hielten ihn ab, hielten die Hauptreferate; Rosa Luxemburg entwarf das Parteiprogramm. Auch dieser Gründungskongreß war übrigens kein persönlicher Erfolg für Liebknecht und Luxemburg: In wichtigen Fragen wurden sie überstimmt. Das war bereits in den allerletzten Tagen des Jahres 1918. Liebknecht beteiligte sich dann noch, auf eigene Faust, vom 4. Januar 1919 ab an den fruchtlosen Sitzungen des Revolutionsausschusses der dreiundfünfzig im Berliner Polizeipräsidium. Rosa Luxemburg redigierte in dieser Zeit die Rote Fahne allein. Und dann war die knappe Ration Leben, die beiden noch zugemessen war, auch schon erschöpft.

Nimmt man die Beteiligung an Demonstrationen dazu, die dabei improvisierten Reden, die ständigen Diskussionen mit Gesinnungsgenossen, dann ergibt sich das Bild einer mehr als ausgefüllten, einer hektischen, schlaflosen Zeit. Gearbeitet haben Liebknecht und Rosa Luxemburg in diesen Tagen vom 9. November 1918 bis zum 15. Januar 1919, die ihnen noch gegönnt waren, wie Besessene, bis zum Rand ihrer Kräfte. Bewirkt haben sie nichts. Sie waren nicht die Führer einer deutschen bolschewistischen Revolution, nicht die Lenin und Trotzki Deutschlands. Sie wollten es nicht einmal sein: Rosa Luxemburg nicht, weil sie das Gewaltsame der Leninschen und Trotzkischen revolutionären Zangengeburt aus prinzipiellen Gründen verwarf und immer wieder fast feierlich erklärte, daß die Revolution natürlich und demokratisch aus dem Bewußtsein der proletarischen Massen herauswachsen müsse und in Deutschland noch ganz am Anfang stehe. Liebknecht nicht, weil er überzeugt war, daß die Revolution sich selbst mache, ja, sich eigentlich schon gemacht habe und keiner Organisation und keiner Manipulation mehr bedürfe. Lenin hatte, kaum daß er im April 1917 nach Rußland zurückgekehrt war, die Parole ausgegeben: „Organisation, Organisation und nochmals Organisation!“ Liebknecht und Luxemburg organisierten nichts. Liebknechts Parole war: Agitation; Rosa Luxemburgs: Aufklärung.

Die allerdings hat sie geleistet. Niemand hat die Wirklichkeit der deutschen Revolution und die Gründe ihres Scheiterns - die Unaufrichtigkeit der SPD, die Zerfahrenheit der USPD, die Konzeptionslosigkeit der Revolutionären Obleute - vom ersten Augenblick an so hellsichtig und so rückhaltlos öffentlich analysiert wie Rosa Luxemburg Tag für Tag in der Roten Fahne. Aber das war eine - in ihrer Art gloriose - journalistische Leistung, keine revolutionäre. Die einzige Wirkung, die Rosa Luxemburg damit erzielte, war, den tödlichen Haß der Durchschauten und Bloßgestellten auf sich zu ziehen.

Tödlich war dieser Haß im wörtlichen Sinne, und von Anfang an. Es ist beweisbar, daß die Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs von spätestens Anfang Dezember an geplant und systematisch betrieben wurde. Bereits in diesen ersten Dezembertagen prangten Plakate an allen Berliner Anschlagsäulen, die folgenden Wortlaut hatten: „Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es! Es wird bedroht nicht von außen, sondern von innen: von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben! Die Frontsoldaten.“

Frontsoldaten waren zu dieser Zeit noch keine in Berlin. Die Mordaufforderung kam aus einer anderen Quelle.

Aus welcher, dafür gibt es Anhaltspunkte. Der damalige Stellvertreter des Stadtkommandanten Wels, ein gewisser Anton Fischer, hat 1920 schriftlich niedergelegt, daß es im November und Dezember 1918 die Politik seines Amtes gewesen sei, Liebknecht und Luxemburg „bei Tag und Nacht aufzustöbern und zu jagen, so daß sie weder zu einer agitatorischen noch organisatorischen Tätigkeit kommen“. Bereits in der Nacht vom 9. zum 10. Dezember drangen Soldaten des Zweiten Garderegiments in die Redaktion der Roten Fahne ein mit der - später zugegebenen - Absicht, Liebknecht zu ermorden. In dem Prozeß über diesen Vorgang hat dann ein halbes Dutzend Zeugen bekundet, daß damals bereits auf Liebknecht und Rosa Luxemburg ein Kopfpreis von je 50.000 Mark ausgesetzt war, und zwar von Scheidemann und Georg Sklarz, einem mit Scheidemann eng befreundeten neureichen Kriegsmillionär.“

Winfried Wolf: „Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wird in der Regel als ein gesondertes – isoliertes – Ereignis „in den Revolutionswirren“ dargestellt. Als Mörder werden dabei die Freikorps-Soldaten genannt. Wenn in diesem Zusammenhang der Name Gustav Noske fällt, dann wird auch dies in der Regel als eine individuelle Angelegenheit dargestellt. Die SPD als solche taucht dabei oft nicht oder nur am Rande auf; die Namen Ebert und Scheidemann ebenfalls nicht. Tatsche ist, dass die SPD-Führung als die in Berlin die Macht ausübende Kraft zuließ, dass seit Wochen in der Stadt Hunderttausende – Müller schreibt: „Millionen“ – Flugblätter zirkulierten und Plakate verklebt waren, die offen zum Mord an Luxemburg und Liebknecht aufforderten. „Tötet Liebknecht!“ „Schlagt Rosa Luxemburg tot!“, so lauteten die Parolen. Plakate mit solchen Aufforderungen waren auch in öffentlichen Gebäuden und in den Kasernen angeschlagen. In der SPD-Parteizeitung Vorwärts wurde am 13. Januar 1919 ein „Gedicht“ mit einem offenen Mordaufruf abgedruckt. In diesem heißt es:

Vielhundert Tote in einer Reih´-

Proletarier!

Es fragten nicht Eisen, Pulver und Blei,

ob einer rechts, links oder Spartakus sei,

Proletarier!

 

Wer hat die Gewalt in die Straßen gesandt,

Proletarier?

Wer nahm die Waffe zuerst in die Hand

Und hat auf ihre Entscheidung gebrannt?

Spartakus!

 

Viel hundert Tote in einer Reih´-

Proletarier!

Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –

Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei:

Proletarier!

 

Vor allem ist der Zusammenhang zwischen der unglaublichen Brutalität, die die konterrevolutionären Truppen zur Niederschlagung des Umsturzversuchs – nicht zuletzt bei der Rückeroberung des Verlagsgebäudes des Vorwärts – ausgeübt hatten, und den Morden an den beiden führenden Personen der deutschen Arbeiterbewegung offenkundig. Der Mord wurde von jenem neuen Hauptquartier der Konterrevolution im Hotel Eden aus orchestriert, das Teil des Angriffs auf die Arbeiterinnen und Arbeiter war. Gustav Noske als Mann der Reichsregierung stand bei all diesen mörderischen Aktionen im Zentrum. Waldemar Pabst, der den direkten Mordauftrag an Luxemburg und Liebknecht erteilt hatte, hatte zuvor, nach der Gefangennahme der beiden und nach deren Überstellung ins Hotel Eden, Noske angerufen und von diesem – so Pabst – gesagt bekommen, er „müsse selbst verantworten, was zu tun sei.“ Klaus Gietinger: „Pabst verstand dies zu Recht als Freibrief zur Ermordung der beiden ehemaligen Parteigenossen Noskes.““

https://www.nachdenkseiten.de/?p=47597

 

Standpunkte

 

„An dem Grundsatz, nationale, ethnische und religiöse Komponenten dem Kampf gegen den Kapitalismus unterzuordnen, hielt Rosa Luxemburg konsequent fest: Was wolle sie mit den „speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe.““

Die Themen, mit denen sich Rosa Luxemburg auseinandersetzte, sind heute noch aktuell. Eines der Themen ist die Aufsplitterung der Themen, so dass das Große und Ganze außer acht gerät. Durch das Hochhalten von nationalen, ethnischen, religiösen und weiterer Komponenten lassen die heutigen Pseudo-Linken die soziale Komponente außen vor und wundern sich, dass die Verdammten dieser Erde sich von ihnen abwenden und in demokratischen Wahlen gerne „rechts“ wählen.

 

Nationalismus

 

Selbst heute noch wird Rosa Luxemburg von vielen Polen geschmäht, weil sie sich nicht für einen polnischen Nationalstaat eingesetzt hat. - Dafür hatte sie aber auch ihre Gründe und die lagen nicht im anti-Polnischen.

„1900 erschien die Studie „Zur Verteidigung der Nationalität“ in polnischer Sprache im Verlag von Gogowski in Posen. Das befriedigte sie tausendmal mehr als dieses „praktische“ Kobolzschießen in Gesellschaft von Morawski und Trusiewicz, momentanen Mitstreitern der PPS im Posenschen Gebiet.

In dieser Broschüre analysierte Rosa die Situation der Polen im deutschen Kaiserreich. Sie enthüllte die preußische Schul-, Kultur- und Siedlungspolitik als verwerfliche Gewaltakte, das Polentum zu entwurzeln und alle Polen einzudeutschen. Es gelte aber, sich als Polen nicht gegen die Deutschen aufzulehnen, sondern gegen die Schuldigen an dieser zivilisatorischen Schande: die preußische Regierung und die herrschende Schicht der deutschen Gesellschaft, die Hakatisten, die „Germanisierungs“-Politiker in den konservativen, liberalen und freisinnigen Parteien und Vereinen aus Kreisen des Adels, der Industriemillionäre, der Kohlenbarone und der Großgrund- und Gutsbesitzer, die auch auf die katholischen Zentrumsabgeordneten von Einfluß seien. Die Sozialdemokratie sei die einzige Partei in Deutschland, die gegen die Germanisierung der nationalen Minderheiten und gegen jegliche Rechtlosigkeit kämpft.“

In „Zur Verteidigung der Nationalität“ schreibt sie:

„Wenn die deutsche Regierung, wenn die preußischen Minister es sich erlauben, die Polen so offen zu verfolgen, und das Hakatistengesindel es wagt, uns laut anzukeifen, so tragen die Verantwortung dafür gerade alle die Klassen des deutschen Volkes, die entweder durch ihren Beifall oder ihr Schweigen oder durch heuchlerische Verteidigung des Polentums nur den Druck der Germanisierung aufrechterhalten. Es ist ihre Schuld, daß es die Regierung wagt, drei Millionen deutscher Bürger wie Wesen zweiter Klasse zu behandeln, denen es nicht einmal erlaubt ist, eine eigene Sprache zu haben und, wie man sagt, Gott auf ihre Weise zu preisen! Gegen das polnische Volk halten der Adel, die Magnaten, Fabrikanten, Bankiers und Kohlengrubenbesitzer, mit einem Wort, diese ganze Klasse der Reichen und Begüterten, die von fremder Hände Arbeit und der Ausbeutung des armen Volkes lebt, mit der deutschen Regierung zusammen. Ob Protestanten, ob Katholiken, ob Juden – uns gegenüber sind sie alle gleich, ebenso wie die preußische Regierung, die uns entnationalisiert.

Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Solche Leute wie der Adel, die Industriellen, die Kapitalisten kennen in der Politik nur ein Ziel – den Geldprofit, ihr Götze ist das goldene Kalb und ihr Glaube die Ausbeutung. Alle anderen Losungen und Phrasen, die ihre verschiedenen Parteien verkünden, wie „Patriotismus“, „katholischer Glaube“, „Freisinn“, „Antisemitismus“, „Fortschritt“, das sind nur Mäntelchen von verschiedener Farbe und Form, hinter denen sich immer ein und dasselbe Ziel verbirgt: Gewinnsucht und Gier nach Bereicherung ...“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1900/nat/teil2.htm

„Als die Sozialdemokraten in Posen als erste für den polnischen Religionsunterricht eintraten, den Herr Studt aufgehoben hatte, und eine große Volksversammlung einberiefen, auf der sie das ganze arbeitende Volk zum Verteidigungskampf aufriefen, was taten da die anderen Parteien unserer Gesellschaft? Unsere „Creme der Nation“, der Adel, der Gutsbesitzerstand ließen sich nicht einmal hören. Sie, die immer und überall die Führer, der Kopf der Nation heißen, die angeblich die nationalen Interessen wahrnehmen, die ihren Patriotismus immer und überall laut verkünden – wo waren sie, wo sind sie, wenn das Volk, wenn seine Muttersprache verteidigt werden muß? Sie sind nicht da! Wenn Abgeordnetenmandate zum Parlament oder zum Landtag zu raffen sind, dann sind alle die Kwilecki, Chlapowski, Czartoryski, Radziwill, Koscielski wie gerufen da und halten „bürgerliche“ und „patriotische“ Reden. Die Repräsentation in der Hauptstadt, in Berlin – das lassen sie sich gefallen! Aber wo bleibt der ganze Vorrat an „bürgerlichem Bewußtsein“ und „Patriotismus“, wenn diese Herren, gewählt mit den Stimmen des Volkes, in den Abgeordnetensesseln im Parlament Platz nehmen? Was haben sie bisher durch ihre Abgeordnetentätigkeit Gutes für das polnische Volk getan? Rein gar nichts …

Wer hätte übrigens etwas anderes von ihnen erwarten können? Sind doch unsere polnischen Abgeordneten lauter Magnaten, lauter Wappenträger, von denen das Volk schon vor hundert Jahren gesungen hat: „Ehre sei euch, ihr Fürsten, Prälaten, für unsere Sklaverei und Fesseln, Ehre sei euch, ihr Grafen, Fürsten, ihr Hundsfötter für unser mit Bruderblut beflecktes Land.“ So wie damals das Vaterland für sie nur der persönliche Profit war und das Volk nur der Fußschemel, um zu hohen Stellungen vorzudringen, so verhält es sich auch heute. Fast alle sind sie vor allem Besitzer großer Güter und leben als solche genauso von der Mühe des polnischen Knechtes wie der deutsche Agrarier. Fast alle halten und ernähren sie ihre „Mitbrüder, die Bäuerlein“ ebenso wie die deutschen Magnaten – schlechter, als Schweine gehalten werden, denken sie ebenso vor allem daran, das Getreide, das Vieh und den Schnaps, den sie brennen, teuer zu verkaufen, sie wollen also hohe Zölle, obwohl durch die Teuerung und Trunksucht das eigene Volk leiden wird. Im Grunde genommen gehören sie zu ganz derselben Sorte von Menschen wie der deutsche Adel und die deutschen Kapitalisten; sie sind einander wert. Obwohl die einen die Hakatisten begünstigen und die anderen als Polen das Polentum angeblich verteidigen, so verbindet sie dennoch das Band der gemeinsamen Gier nach Gewinn stärker, als sie der nationale Haß trennt. So, wie für die deutschen, so ist auch für die polnischen Agrarier und Fabrikanten die Ausbeutung des für sie arbeitenden Volkes die wichtigste Sache im ganzen „Vaterland“. Da aber eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, so halten es unsere Abgeordneten, die zur Verteidigung des polnischen Volkes in das Parlament geschickt werden, im Grunde mit unseren erbitterten Gegnern – mit der Regierung und den herrschenden deutschen Klassen. Es ist kein Wunder, daß der Hakatismus immer mächtiger wird, das polnische Volk aber eine Niederlage nach der anderen erleidet.

Die sogenannte Volkspartei, d. h. unser Bürgertum, hat nicht viel mehr zum Schutze des polnischen Volkes getan. Schon eine ziemlich lange Reihe von Jahren ist diese Partei im Posenschen tätig; sie hat mehrere Zeitungen zu ihrer Verfügung, sie kann öffentliche Versammlungen einberufen, denn die Saalbesitzer schlagen es ihr nicht ab, wie sie es bei den Sozialisten tun. Und was sind die Ergebnisse? Diese, daß im Parlament dieselben Wappenträger wie eh und je Abgeordnete sind und sie die „Volks“bewegung nicht einmal juckt, daß der Hakatismus immer größere Fortschritte macht, das polnische Volk aber in derselben Armut und Unwissenheit versunken ist wie auch früher.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1900/nat/teil4.htm

„Für die in einem geteilten und national unterdrückten Land aufgewachsene Politikerin besaßen eigenständige Wurzeln, Sprache und Lebensweise jedes Volkes, d. h. alle Faktoren, die nationale Geschichte, Kultur, Traditionen und nationale Gefühle prägen, hohen Wert. Sie wußte und hatte es selbst erlebt: „Sogar die unmenschlichste Unterdrückung der materiellen Interessen“ könne keinen „so fanatischen, flammenden Aufruhr und Haß“ hervorrufen „wie Unterdrückung im Bereich des geistigen Lebens, wie religiöse oder nationale Unterdrückung“. Da jedoch „die Tatsache bestehen bleibt, daß dieses Unrecht nur ein Tropfen im Meer der ganzen gesellschaftlichen Not ist“, müsse die Formel vom Recht auf nationale Selbstbestimmung im Geist der Arbeiterpolitik und sozialistischer Zielstellung präzisiert werden: „Freiheit des Lebens und der national-kulturellen Entwicklung, bürgerliche Gleichberechtigung und Beseitigung jeder nationalen Unterdrückung“. Die völlige Gleichberechtigung der Bürger, das Recht auf die eigene Sprache und die Bezirks- und Stadtselbstverwaltungen als sozialdemokratische Postulate hatten für Rosa Luxemburg mindestens einen ebensohohen Stellenwert für die Lösung der Nationalitätenfrage.

Wie 1896 in der Londoner Resolution der II. Internationale formuliert, könne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen erst im Zuge der Realisierung sozialistischer Grundsätze und Ziele gesichert werden. Für die praktische Politik besitze die Losung vom nationalen Selbstbestimmungsrecht keine bzw. nur negative Bedeutung. Rosa Luxemburg wollte nicht anerkennen, daß z. B. polnische Arbeiter an der Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit größeres Interesse haben könnten als an der Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung. Das Proletariat war ihrer Meinung nach „gegen das kunstvolle Verflechten seiner Klasseninteressen mit nationalen Traditionen“ genügend gewappnet und fähig, sich nationalistischer Tendenzen zu erwehren. Die Solidaritätsaktion der 350.000 Polen für die Opfer des Petersburger Blutsonntags schien diese Einschätzung zu bestätigen.“

 

Revisionismus

 

Friedrich Voßkühler: „Ich werde im Folgenden ausgiebig aus den Originaltexten zitieren. Mein Ziel ist es, den Leser mit letzteren so weit als möglich bekannt zu machen, damit dieser sich selbst ein halbwegs verlässliches Bild machen kann. Deswegen lasse ich auch Eduard Bernstein zu Wort kommen, von dem man letztlich zu wenig weiß, der aber - obwohl er später politisch isoliert war und als Person vereinsamt lebte - eine bedeutende Wirkung in der Arbeiterbewegung erzielte. Der auf sein Plädoyer für den Reformismus (1897/98) zurückgehende und in der Sozialdemokratie heftig geführte "Revisionismusstreit" schien zwar bis spätestens 1905 zugunsten einer marxistischen Position beigelegt worden zu sein, der Revisionismus hatte aber schon so viele Anhänger gewonnen, dass die Sozialdemokratie zwar auf der einen Seite marxistisch argumentierte, aber auf der Seite der politischen Praxis zunehmend im Sinne des reformistische Revisionismus agierte. Kurz und gut: Die Sozialdemokratie redete noch lange mit marxistischer Zunge, dachte und werkelte aber schon ebenso lange unter revisionistischer Flagge. Rosa Luxemburgs "Sozialreform oder Revolution?" war bereits 1899 der Versuch, dem, was sich da mit verheerenden Folgen anbahnte, entgegenzutreten. Ich werde - was sich von selbst versteht - auch sie ausgiebig zitieren, um so genau als möglich ihre Position zum sich Bahn brechenden Revisionismus zu skizzieren. Ich will dadurch auch das Bild korrigieren, das aus ihr eine soziale Demokratin zu machen wünscht und die Augen davor verschließt, dass sie eine kommunistische Revolutionärin war, wie es im Buche steht. Wenn sich DIE LINKE auf sie berufen zu können glaubt, sollte sie nicht vergessen, dass Rosa Luxemburg mit der hier besprochenen Schrift ein Manifest gegen den Reformismus geschrieben hat und nicht von letzterem als Kronzeugin in eigener Sache in den Zeugenstand gerufen werden kann ...“

https://www.derfunke.de/index.php/rubriken/theorie/1887-rosa-luxemburg-sozialreform-oder-revolution-teil-i

https://www.derfunke.de/index.php/rubriken/theorie/1888-rosa-luxemburg-sozialreform-oder-revolution-teil-i-2

Die Diskussion ist nicht nur in der Linken-Partei aktuell, sondern generell. Allerdings scheint ein gesunder Mittelweg nicht in Sicht. Seit den 1990er Jahren ist der Kapitalismus immer mehr auf dem Vormarsch zu Lasten des Gemeinwohls. Was ist sinnvoll? Das Gute im Kapitalismus sehen und Vorteile der Zusammenarbeit mit ihm suchen? Ein energisches „bis hierhin und nicht weiter“? Oder gleich die Abschaffung des Kapitalismus, weil er früher oder später ja doch wieder nur die Ausbeutung der Massen will?

Hier Rosa Luxemburg im Original: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1899/sozrefrev/index.htm

 

Massenstreik, Partei und Gewerkschaften

 

Willy Hämmerle: „Anfang des 20. Jahrhunderts brachte eine Reihe von Massenstreikbewegungen, insbesondere die Russische Revolution von 1905, die Debatte auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung wieder ins Rollen. Gegenüber standen sich in erster Linie die reformistische Gewerkschaftsführung, die den Massenstreik ablehnte, und weite Teile der SPD, die zu der Zeit offiziell noch auf einem revolutionären Programm fußte.

Der hauptsächliche Einwand der Gegner des Massenstreiks war die Furcht vor der Zerschlagung der Gewerkschaften. Der Massenstreik sei eine Utopie und ein zu großes Risiko für die Gewerkschaftsorganisationen, die einen großen Zusammenstoß nicht unbeschadet überleben könnte. So beschloss der Gewerkschaftskongress von 1905: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongress für indiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“

Ungeachtet der ausbrechenden Streikbewegungen stellt die Gewerkschaftsbürokratie die Strohpuppe des einmaligen, von Anfang bis Ende durchgeplanten Streiks auf, an dessen Ende die Erlösung der Arbeiterklasse stehen soll. So wurde ein künstlicher Gegensatz zwischen der „Stärkung der Arbeiterorganisationen“ und dem Massenstreik hergestellt.

Diese Argumentation entspringt derselben Haltung, der auch der heutigen Orientierung auf die Sozialpartnerschaft zugrunde liegt: Die Arbeiterklasse ist nur als stumme Verschubmasse vorstellbar, deren Kampfbereitschaft nach Bedarf ein- und ausgeschaltet werden kann, um bessere Verhandlungsbedingungen herzustellen.

Die Befürworter des Massenstreiks, allen voran der linke Flügel um Rosa Luxemburg, zogen die Frage von der anderen Seite auf. Sie argumentierten, dass der Massenstreik längst Einzug in das Repertoire des Klassenkampfs gehalten hat, am eindrücklichsten zeigte dies die Russische Revolution von 1905. Der Reihe nach brachen Streikbewegungen aus, die mal politischen, mal ökonomischen Charakter hatten, mal auf eine Stadt beschränkt waren oder sich über das ganze Reich ausbreiteten, mal wie ein Vulkan ausbrachen oder sich über längere Zeit hinzogen, die aber alle zwei Gemeinsamkeiten hatten: Sie waren der Ausdruck des lebendigen Kampfes der Massen, nicht des starren Streikbefehls von Oben und sie zeigten auf, dass der Massenstreik nicht im Gegensatz zur Organisierung und Schulung der Massen stand, sondern ganz im Gegenteil, der aktive Kampf der Massen ihre Organisierung und Schulung erst ermöglichte und vorantrieb.

In ihrer Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ von 1906 spitzte Rosa Luxemburg diese Debatte zu und unterzog die Argumente ihrer Gegner, wie auch die gesellschaftlichen Bewegungen, einer gründlichen Untersuchung.“

https://derfunke.at/theorie/marxismus-basics/10992-rosa-luxemburg-massenstreik-partei-gewerkschaft

Rosa Luxemburg: „In der Tat: Was konnte der Generalstreik im Januar weiter erreichen? Nur völlige Gedankenlosigkeit durfte eine Vernichtung des Absolutismus auf einen Schlag, durch einen einzigen „ausdauernden“ Generalstreik nach dem anarchistischen Schema erwarten. Der Absolutismus muß in Rußland durch das Proletariat gestürzt werden. Aber das Proletariat bedarf dazu eines hohen Grades der politischen Schulung, des Klassenbewußtseins und der Organisation. Alle diese Bedingungen vermag es sich nicht aus Broschüren und Flugblättern, sondern bloß aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in den fortschreitenden Verlauf der Revolution anzueignen. Ferner kann der Absolutismus nicht in jedem beliebigen Moment, wozu bloß eine genügende „Anstrengung“ und „Ausdauer“ erforderlich, gestürzt werden. Der Untergang des Absolutismus ist bloß ein äußerer Ausdruck der inneren sozialen und Klassenentwicklung der russischen Gesellschaft. Bevor und damit der Absolutismus gestürzt werden kann, muß das künftige bürgerliche Rußland in seinem Innern, in seiner modernen Klassenscheidung hergestellt, geformt werden. Dazu gehört die Auseinandergrenzung der verschiedenen sozialen Schichten und Interessen, die Bildung außer der proletarischen, revolutionären auch nicht minder der liberalen, radikalen, kleinbürgerlichen, konservativen und reaktionären Parteien, dazu gehört die Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis und das Klassenbewußtsein nicht bloß der Volksschichten, sondern auch der bürgerlichen Schichten. Aber auch diese vermögen sich nicht anders als im Kampf, im Prozeß der Revolution selbst, durch die lebendige Schule der Ereignisse, im Zusammenprall mit dem Proletariat sowie gegeneinander, in unaufhörlicher gegenseitiger Reibung zu bilden und zur Reife zu gedeihen. Diese Klassenspaltung und Klassenreife der bürgerlichen Gesellschaft sowie ihre Aktion im Kampfe gegen den Absolutismus wird durch die eigenartige führende Rolle des Proletariats und seine Klassenaktion einerseits unterbunden und erschwert, anderseits angepeitscht und beschleunigt. Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die inneren Widersprüche der Revolution, im Resultat beschleunigen und potenzieren [sie] aber damit nur ihre gewaltigen Ausbrüche.

So erfordert das anscheinend so einfache und nackte, rein mechanische Problem: der Sturz des Absolutismus, einen ganzen langen sozialen Prozeß, eine gänzliche Unterwühlung des gesellschaftlichen Bodens, das Unterste muß nach oben, das Oberste nach unten gekehrt, die scheinbare „Ordnung“ in ein Chaos und aus dem scheinbaren „anarchischen“ Chaos eine neue Ordnung umgeschaffen werden. Und nun in diesem Prozeß der sozialen Umschachtelung des alten Rußlands spielte nicht nur der Januarblitz des ersten Generalstreiks, sondern noch mehr das darauffolgende große Frühlings- und Sommergewitter der ökonomischen Streiks eine unersetzliche Rolle. Die erbitterte allgemeine Auseinandersetzung der Lohnarbeit mit dem Kapital hat im gleichen Maße zur Auseinandergrenzung der verschiedenen Volksschichten wie der bürgerlichen Schichten, zum Klassenbewußtsein des revolutionären Proletariats wie auch der liberalen und konservativen Bourgeoisie beigetragen. Und wie die städtischen Lohnkämpfe zur Bildung der starken monarchischen Moskauer Industriellenpartei beigetragen haben, so hat der rote Hahn der gewaltigen Landerhebung in Livland zur raschen Liquidation des berühmten adelig-agrarischen Semstwo-Liberalismus geführt …

Freilich werden die Konzessionen vielfach bald hier, bald dort wieder zurückgenommen. Dies gibt aber nur den Anlaß zu erneuten, noch erbitterteren Revanchekämpfen, und so ist die Streikperiode des Frühlings 1905 von selbst zum Prolog einer unendlichen Reihe sich immer weiter ausbreitender und ineinanderschlingender ökonomischer Kämpfe geworden, die bis auf den heutigen Tag dauern. In den Perioden des äußerlichen Stillstandes der Revolution, wo die Telegramme keine Sensationsnachrichten vom russischen Kampfplatz in die Welt tragen und wo der westeuropäische Leser mit Enttäuschung seine Morgenzeitung aus der Hand legt, mit der Bemerkung, daß in Rußland „nichts passiert sei“, wird in Wirklichkeit in der Tiefe des ganzen Reiches die große Maulwurfsarbeit der Revolution ohne Rast Tag für Tag und Stunde für Stunde fortgesetzt …

Die anscheinend chaotischen Streiks und die „desorganisierte“ revolutionäre Aktion nach dem Januargeneralstreik wird zum Ausgangspunkt einer fieberhaften Organisationsarbeit. Madame Geschichte dreht den bürokratischen Schablonenmenschen, die an den Toren des deutschen Gewerkschaftsglücks grimmige Wacht halten, von weitem lachend eine Nase. Die festen Organisationen, die als unbedingte Voraussetzung für einen eventuellen Versuch zu einem eventuellen deutschen Massenstreik im voraus wie eine uneinnehmbare Festung umschanzt werden sollen, diese Organisationen werden in Rußland gerade umgekehrt aus dem Massenstreik geboren! Und während die Hüter der deutschen Gewerkschaften am meisten befürchten, daß die Organisationen in einem revolutionären Wirbel wie kostbares Porzellan krachend in Stücke gehen, zeigt uns die russische Revolution das direkt umgekehrte Bild: Aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie die Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe – Gewerkschaften.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap3.htm

Anders ausgedrückt ist es die Aufgabe, die Menschen zu bilden, zu eigenständigem Denken zu bewegen. Dann werden sich früher oder später automatisch die positiven Ergebnisse zeigen. Und jene Hunde, die ansonsten zum Jagen getragen werden müssten, sehen sich gezwungen, vorneweg zu rennen. Trotzki hatte dies im Fall der Russischen Revolution geschrieben, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/304-erschuetterung-der-welt.html

Aktuell beschämen die nicht-organisierten Gelbwesten die Gewerkschafts-Führungen in Frankreich.

Auf der anderen Seite ist der Versuch zu sehen, die Massen abzulenken und zu verdummen. Mit unwichtigen Dingen sie von Wichtigem abzulenken oder sich zur Gänze ihrer eigen Unterhaltung preiszugeben. Leider sehr erfolgreich.

 

Zur russischen Revolution

 

„… Rosa Luxemburg empörte sich gegen diese Verfahrensweise und sandte Meyer einen noch kritischeren Artikel zur Taktik der Bolschewiki, der ihm für eine Veröffentlichung völlig ungeeignet schien. Auf seine Bitte hin fuhr Paul Levi, der Meyers Meinung teilte, nach Breslau, um sich mit Rosa Luxemburg zu verständigen. Daraufhin plante Rosa Luxemburg eine ausführliche Darstellung ihrer Meinung zur Innen- und Außenpolitik der Bolschewiki. „Sie teilte mir den Inhalt aus dem Gefängnis in großen Zügen durch eine vertraute Freundin mit“, schrieb Paul Levi später, „wobei sie bemerkte, sie sei eifrig an der Arbeit, eine ausführliche Kritik über die Vorgänge in Rußland zu schreiben. ‚Ich schreibe diese Broschüre für Sie - fügte Rosa Luxemburg hinzu - und wenn ich nur Sie damit überzeugt haben werde, so habe ich diese Arbeit nicht vergeblich geleistet.‘ Als Material dienten ihr nicht nur die deutschen Zeitungen, sondern die gesamte bis dahin erschienene russische Zeitungs- und Broschürenliteratur, die damals durch die Russische Botschaft nach Deutschland kamen, und die ihr von vertrauten Freunden ins Gefängnis geschmuggelt wurden.“

So entstand das umstrittene, unvollendet gebliebene Manuskript „Zur russischen Revolution“, das zu Lebzeiten Rosa Luxemburgs außer Paul Levi niemand bekannt wurde, auch den Adressaten ihrer Kritik - Lenin, Trotzki und der Partei der Bolschewiki - nicht. Erstmalig veröffentlicht wurde es 1922 von Paul Levi, den die Kommunisten 1921/22 des Verrats bezichtigten und aus der KPD sowie der Kommunistischen Internationale ausschlossen. Nachdem Ossip K. Flechtheim die Arbeit 1963 herausgegeben hatte und weitere Drucke erschienen waren, wurde es auch in der DDR publiziert. In russischer Sprache erschien es in Moskau erstmalig 1990.“

Hier ein paar Auszüge.

a) Propaganda des deutschen Imperialismus und der SPD

„Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. Ihr Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig ideologisch bemäntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen Bajonette, den Zarismus zu stürzen und seine unterdrückten Völker zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Rußland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenverhältnisse erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik voranbewegt hat – wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe eine Lappalie geblieben ist –, all dies zeigt auf flacher Hand, daß die Befreiung Rußlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlage des Zarismus war, nicht das Verdienst „deutscher Bajonette in deutschen Fäusten“, wie die Neue Zeit unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern daß sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen Sozialdemokratie hat die Revolution in Rußland nicht herbeigeführt, sondern nur für eine Zeitlang, anfänglich – nach ihrer ersten steigenden Sturmflut in den Jahren 1911–1913 – unterbrochen und dann – nach ihrem Ausbruch – ihr die schwierigsten, abnormalsten Bedingungen geschaffen.“

b) Über die Trägheit der deutschen Massen

„Es wäre ebenso verfehlt, zu befürchten, eine kritische Sichtung der bisherigen Wege, die die russische Revolution gewandelt, sei eine gefährliche Untergrabung des Ansehens und des faszinierenden Beispiels der russischen Proletarier, das allein die fatale Trägheit der deutschen Massen überwinden könne. Nichts verkehrter als dies. Das Erwachen der revolutionären Tatkraft der Arbeiterklasse in Deutschland kann nimmermehr im Geiste der Bevormundungsmethoden der deutschen Sozialdemokratie seligen Angedenkens durch irgendeine fleckenlose Autorität, sei es die der eigenen „Instanzen“ oder die des „russischen Beispiels“, hervorgezaubert werden. Nicht durch Erzeugung einer revolutionären Hurrastimmung, sondern umgekehrt: nur durch Einsicht in den ganzen furchtbaren Ernst, die ganze Kompliziertheit der Aufgaben, aus politischer Reife und geistiger Selbständigkeit, aus kritischer Urteilsfähigkeit der Massen, die von der deutschen Sozialdemokratie unter verschiedensten Vorwänden jahrzehntelang systematisch ertötet wurde, kann die geschichtliche Aktionsfähigkeit des deutschen Proletariats geboren werden. Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil1.htm

c) Die Revolution schreitet vorwärts oder sie geht unter

„Die wirkliche Situation der russischen Revolution erschöpfte sich nach wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt und die sich in Rußland aus den konkreten brennenden Fragen nach dem Frieden und der Landfrage ergab, für die im Rahmen der „bürgerlichen“ Revolution keine Lösung vorhanden war.

Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muß sie sehr rasch und entschlossen vorwärtsstürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt. Ein Stillstehen, ein Trippeln auf demselben Fleck, ein Selbstbescheiden mit dem ersten einmal erreichten Ziel gibt es in der Revolution nicht. Und wer diese hausbackenen Weisheiten aus den parlamentarischen Froschmäusekriegen auf die revolutionäre Taktik übertragen will, zeigt nur, daß ihm die Psychologie, das Lebensgesetz selbst der Revolution ebenso fremd wie alle historische Erfahrung ein Buch mit sieben Siegeln ist …

Dadurch erklärt sich, daß in jeder Revolution nur diejenige Partei die Führung und die Macht an sich zu reißen vermag, die den Mut hat, die vorwärtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Daraus erklärt sich die klägliche Rolle der russischen Menschewiki, der Dan, Zereteli u. a., die, anfänglich von ungeheurem Einfluß auf die Massen, nach längerem Hin- und Herpendeln, nachdem sie sich gegen die Übernahme der Macht und Verantwortung mit Händen und Füßen gesträubt hatten, ruhmlos von der Bühne weggefegt worden sind.

Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution gesichert hat.

Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der „Mehrheit des Volkes“ gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine „Mehrheit“. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d. h. vorwärtszutreiben versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mußten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht …

Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil2.htm

d) Fehler der Agrarreform

„Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muß auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muß zum mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.

Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern, mußte geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken. Sie ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.

Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmet euch das Land! führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet. Nicht genug: durch diese Maßnahme und die chaotische, rein willkürliche Art ihrer Ausführung wurden die Eigentumsunterschiede auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft. Obwohl die Bolschewiki die Bauernschaft aufforderten, Bauernkomitees zu bilden, um die Besitzergreifung der adligen Ländereien irgendwie zu einer Kollektivaktion zu machen, so ist es klar, daß dieser allgemeine Rat an der wirklichen Praxis und den wirklichen Machtverhältnissen auf dem Lande nichts zu ändern vermochte. Ob mit oder ohne Komitees, sind die reichen Bauern und Wucherer, welche die Dorfbourgeoisie bildeten und in jedem russischen Dorf die tatsächliche lokale Macht in ihren Händen haben, sicher die Hauptnutznießer der Agrarrevolution geworden. Unbesehen kann jeder sich an den Fingern abzählen, daß im Ergebnis der Aufteilung des Landes die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Schoße des Bauerntums nicht beseitigt, sondern nur gesteigert, die Klassengegensätze dort verschärft worden sind. Diese Machtverschiebung hat aber zuungunsten der proletarischen und sozialistischen Interessen stattgefunden ...

Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der „Besitzergreifung“ steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Rußland, zur Gegensatz- und Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden. Wie scharf der Gegensatz schon jetzt geworden ist, beweist der Boykott der Bauern den Städten gegenüber, denen sie die Lebensmittel vorenthalten, um damit Wuchergeschäfte zu machen, genau wie die preußischen Junker. Der französische Parzellenbauer war zum tapfersten Verteidiger der großen französischen Revolution geworden, die ihn mit dem konfiszierten Land der Emigranten ausgestattet hatte. Er trug als napoleonischer Soldat die Fahne Frankreichs zum Siege, durchquerte ganz Europa und zertrümmerte den Feudalismus in einem Lande nach dem anderen. Lenin und seine Freunde mochten eine ähnliche Wirkung von ihrer Agrarparole erwartet haben. Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Rußland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiß sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.

Die Leninsche Agrarreform hat dem Sozialismus auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen Großgrundbesitzer war.“

e) Nationalismus

„Daß sich die militärischen Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Rußlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte, den staatlichen Zerfall Rußlands. Die mit doktrinärer Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der verschiedenen Nationalitäten des Russischen Reichs, ihre Schicksale selbständig zu bestimmen „bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Rußland“, war ein besonderer Schlachtruf Lenins und Genossen während ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie den Kerenskischen Krieg, sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.

Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch zu der Haltung [steht], die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. Während sie gegenüber der konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz dem ganzen Apparat der demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen das „Selbstbestimmungsrecht“ in Rußland selbst bildeten, eine sehr kühle Geringschätzung an den Tag legten, behandelten sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als ein Kleinod der demokratischen Politik, dem zuliebe alle praktischen Gesichtspunkte der realen Kritik zu schweigen hätten. Während sie sich von der Volksabstimmung zur konstituierenden Versammlung in Rußland, einer Volksabstimmung auf Grund des demokratischsten Wahlrechts der Welt und in voller Freiheit einer Volksrepublik, nicht im geringsten hatten imponieren lassen und von sehr nüchternen, kritischen Erwägungen ihre Resultate einfach für null und nichtig erklärten, verfochten sie in Brest die „Volksabstimmung“ der fremden Nationen Rußlands über ihre staatliche Zugehörigkeit als das wahre Palladium jeglicher Freiheit und Demokratie, unverfälschte Quintessenzen des Völkerwillens und als die höchste entscheidende Instanz in Fragen des politischen Schicksals der Nationen.

Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist.

In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum Abc der sozialistischen Politik, daß sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.

Wenn trotz alledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, daß es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen. Es war dies eine Analogie zu der Politik der Bolschewiki den russischen Bauern gegenüber, deren Landhunger die Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt und die dadurch an die Fahne der Revolution und der proletarischen Regierung gefesselt werden sollten. In beiden Fällen ist die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, daß sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar „bis zur staatlichen Absonderung“, Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen „Nationen“ benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. Das Zwischenspiel mit der Ukraine in Brest, das eine entscheidende Wendung jener Verhandlungen und der ganzen inner- und außenpolitischen Situationen der Bolschewiki herbeigeführt hatte, ist dafür ein Musterbeispiel. Das Verhalten Finnlands, Polens, Litauens, der Baltenländer, der Nationen des Kaukasus zeigt überzeugendsterweise, daß wir hier nicht etwa mit einer zufälligen Ausnahme, sondern mit einer typischen Entscheidung zu tun haben.

Freilich, es sind in allen diesen Fällen in Wirklichkeit nicht die „Nationen“, die jene reaktionäre Politik betätigen, sondern nur die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die im schärfsten Gegensatz zu den eigenen proletarischen Massen das „nationale Selbstbestimmungsrecht“ zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären Klassenpolitik verkehrten. Aber – damit kommen wir gerade zum Knotenpunkt der Frage – darin liegt eben der utopisch-kleinbürgerliche Charakter dieser nationalistischen Phrase, daß sie in der rauhen Wirklichkeit der Klassengesellschaft, zumal in der Zeit aufs äußerste verschärfter Klassengegensätze, sich einfach in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft verwandelt. Die Bolschewiki sollten zu ihrem und der Revolution größten Schaden darüber belehrt werden, daß es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine Selbstbestimmung der Nation gibt, daß sich in einer Klassengesellschaft jede Klasse der Nation anders „selbstzubestimmen“ strebt und daß für die bürgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit hinter denen der Klassenherrschaft völlig zurücktreten. Das finnische Bürgertum wie das ukrainische Kleinbürgertum waren darin vollkommen einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen, wenn diese mit den Gefahren des „Bolschewismus“ verbunden werden sollte.

Die Hoffnung, diese realen Klassenverhältnisse etwa durch „Volksabstimmungen“, um die sich alles in Brest drehte, in ihr Gegenteil umzukehren und im Vertrauen auf die revolutionäre Volksmasse ein Mehrheitsvotum für den Zusammenschluß mit der russischen Revolution zu erzielen, war, wenn sie von Lenin-Trotzki ernst gemeint war, ein unbegreiflicher Optimismus, und wenn sie nur ein taktischer Florettstoß im Duell mit der deutschen Gewaltpolitik sein sollte, ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Auch ohne die deutsche militärische Okkupation hätte die famose „Volksabstimmung“, wäre es in den Randländern zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmasse und großer Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktionären Tendenz des Kleinbürgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt hätten. Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen über die nationale Frage als unverbrüchliche Regel gelten, daß die herrschenden Klassen sie entweder, wo ihnen eine solche nicht in den Kram paßt, zu verhindern wissen oder, wo sie zustande käme, ihre Resultate durch all diese Mittel und Mittelchen zu beeinflussen wüßten, die es auch bewirken, daß wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einführen können.

Daß überhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und Sondertendenzen mitten in die revolutionären Kämpfe hineingeworfen, ja, durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum Schibboleth der sozialistischen und revolutionären Politik gestempelt wurde, hat die größte Verwirrung in die Reihen des Sozialismus getragen und die Position des Proletariats gerade in den Randländern erschüttert. In Finnland hatte das sozialistische Proletariat, solange es als ein Teil der geschlossenen revolutionären Phalanx Rußlands kämpfte, bereits eine beherrschende Machtstellung; es besaß die Mehrheit im Landtag, in der Armee, es hatte die Bourgeoisie völlig zur Ohnmacht herabgedrückt und war der Herr der Situation im Lande. Die russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des „ukrainischen Nationalismus“ mit den Karbowentzen und den „Universals“ und das Steckenpferd Lenins von einer „selbständigen Ukraine“ noch nicht erfunden waren, die Hochburg der russischen revolutionären Bewegung gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiet flossen die ersten Lavaströme der Revolution (schon um das Jahr 1902–04) und entzündeten ganz Südrußland zu einem Flammenmeer, so den Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen Revolution, in der das südrussische Proletariat die Elitetruppen der proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenländer waren seit 1905 die mächtigsten und zuverlässigsten Herde der Revolution, in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte.

Wie kommt es, daß in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, daß sie es von Rußland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. Statt gerade im Geiste der reinen internationalen Klassenpolitik, die sie sonst vertraten, die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, die Integrität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Nationen im Bereiche der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen, haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie von dem „Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung“ gerade umgekehrt der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten, glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre konterrevolutionären Bestrebungen geliefert. Statt die Proletarier in den Randländern vor jeglichem Separatismus als vor rein bürgerlichem Fallstrick zu warnen und separatistische Bestrebungen mit eiserner Hand, deren Gebrauch in diesem Falle wahrhaft im Sinne und Geist der proletarischen Diktatur lag, im Keime zu ersticken, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert. Sie haben durch diese Forderung des Nationalismus den Zerfall Rußlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stoßen sollten.

Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne „die deutschen Gewehrkolben in deutschen Fäusten“, wie die Neue Zeit Kautskys schrieb, wären die Lubinskys und die anderen Schufterles der Ukraine sowie die Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden. Aber der nationale Separatismus war das trojanische Pferd, in dem die deutschen „Genossen“ mit Bajonetten in den Fäusten in alle jene Länder eingezogen kamen. Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionärromantischen Gedichten Schewtschenkos. Es ist förmlich, als wenn eines schönen Morgens die von der Wasserkante auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche Nation und Staat gründen wollten. Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem „Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich usw.“ künstlich zu einem politischen Faktor auf. Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution! Aus diesem Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.

Diese Phrasen haben in der Geschichte der Klassenkämpfe zu Zeiten eine sehr reale Bedeutung. Es ist das fatale Los des Sozialismus, daß er in diesem Weltkrieg dazu ausersehen war, ideologische Vorwände für die konterrevolutionäre Politik zu liefern. Die deutsche Sozialdemokratie beeilte sich beim Ausbruch des Krieges, den Raubzug des deutschen Imperialismus mit einem ideologischen Schild aus der Rumpelkammer des Marxismus zu schmücken, indem sie ihn für den von unseren Altmeistern herbeigesehnten Befreierfeldzug gegen den russischen Zarismus erklärte. Den Antipoden der Regierungssozialisten, den Bolschewiki, war es beschieden, mit der Phrase von der Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die Mühle der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern. Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird. Es liegt klar zu Tage, daß die Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung, die gegenwärtig die größte Gefahr für den internationalen Sozialismus bildet, gerade durch die russische Revolution und die Brester Verhandlungen eine außerordentliche Stärkung erfahren haben. Wir werden uns mit dieser Plattform noch eingehend zu befassen haben. Die tragischen Schicksale dieser Phraseologie in der russischen Revolution, in deren Stacheln sich die Bolschewiki verfangen und blutig ritzen sollten, muß dem internationalen Proletariat als warnendes Exempel dienen.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil3.htm

f) Druck der Massen

„Hier haben wir schon den „Mechanismus der demokratischen Institution überhaupt“. Demgegenüber ist zunächst hervorzuheben, daß in dieser Einschätzung der Vertreterinstitutionen eine etwas schematische, steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade aller revolutionären Epochen nachdrücklich widerspricht. Nach Trotzkis Theorie widerspiegelt jede gewählte Versammlung ein für allemal nur die geistige Verfassung, politische Reife und Stimmung ihrer Wählerschaft just in dem Moment, wo sie zur Wahlurne schritt. Die demokratische Körperschaft ist demnach stets das Spiegelbild der Masse vom Wahltermin, gleichsam wie der Herschelsche Sternhimmel uns stets die Weltkörper nicht wie sie sind zeigt, da wir auf sie blicken, sondern wie sie im Moment der Versendung ihrer Lichtboten aus unermeßlicher Weite zur Erde waren. Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung zwischen beiden wird hier geleugnet.

Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns umgekehrt, daß das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt. Wie wäre es sonst möglich, daß wir in jedem bürgerlichen Parlament zu Zeiten die ergötzlichsten Kapriolen der „Volksvertreter“ erleben, die, plötzlich von einem neuen „Geist“ belebt, ganz unerwartete Töne hervorbringen, daß die vertrocknetsten Mumien sich zu Zeiten jugendlich gebärden und die verschiedenen Scheidemännchen auf einmal in ihrer Brust revolutionäre Töne finden – wenn es in den Fabriken, Werkstätten und auf der Straße rumort?

Und diese ständige lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und Wahllisten versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in wunderbarster Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. Gerade darauf beruhen ja immer die bekannten effektvollen Szenen aus dem Anfangsstadium aller Revolutionen, wo alte reaktionäre oder höchst gemäßigte unter altem Regime aus beschränktem Wahlrecht gewählte Parlamente plötzlich zu heroischen Wortführern des Umsturzes, zu Stürmern und Drängern werden. Das klassische Beispiel bietet ja das berühmte „Lange Parlament“ in England, das, 1642 gewählt und zusammengetreten, sieben Jahre lang auf dem Posten blieb und in seinem Innern alle Wechsel-Verschiebungen der Volksstimmung, der politischen Reife, der Klassenspaltung, des Fortgangs der Revolution bis zu ihrem Höhepunkt, von der anfänglich devoten Plänkelei mit der Krone unter einem auf Knien liegenden „Sprecher“ bis zur Abschaffung des Hauses der Lords, Hinrichtung Karls und Proklamierung der Republik [widerspiegelt].

Und hat sich nicht dieselbe wunderbare Wandlung in den Generalständen Frankreichs, im Zensusparlament Louis Philipps, ja – das letzte frappanteste Beispiel liegt Trotzki so nahe – in der vierten russischen Duma wiederholt, die im Jahre des Heils 1912, unter der starrsten Herrschaft der Konterrevolution gewählt, im Februar 1917 plötzlich den Johannistrieb des Umsturzes verspürte und zum Ausgangspunkt der Revolution ward?

Das alles zeigt, daß „der schwerfällige Mechanismus der demokratischen ...“ ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.“

g) Innere Freiheit

„… Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, daß ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist.

Lenin sagt: der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse enggezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.

„Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt ...“ Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffentlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müßte man annehmen, daß die Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins: Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!)

In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.

Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, daß sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren mußten und daß ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt. So muß und wird es uns allen gehen, wenn wir daran gehen – wenn auch nicht überall so schwierige Verhältnisse herrschen mögen.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil4.htm

 

Verleumdung

 

Nun kann Rosa Luxemburg ein Vorbild für viele Menschen sein. Vor allem für eine Gruppe von Menschen ist sie es nicht: Gutmenschen aus der SPD. Von hier kommt die größte Kritik (wenn mensch mal „Rechte“ außen vor lässt). Wie lauten die Verleumdungen?

1. „linke Spinnerin“, die die Realpolitik nicht einsehen will

2. völlig unnötige und boshafte Spaltung der „Linken“

3. Blut klebt an ihren Händen

Jan Sternberg in der „Märkischen Allgemeinen“: „Seit 100 Jahren spaltet der Geist von Rosa Luxemburg die Linke. Ob es um Hartz IV geht oder um die innere Sicherheit, immer erhebt sich irgendwo die Erinnerung an den Januar 1919: Staatsräson oder Revolution, Verantwortung oder Radikalität, Staat oder Massen

Am Ende traf der Fluch sie alle: Die Republik ging zugrunde, weil die Linke sich lieber gegenseitig bekämpfte. Die Nazis triumphierten. „Umgekommen sind Kommunisten und Sozialdemokraten im Konzentrationslager gemeinsam“, erinnert Ramelow. „Die Toten mahnen uns zu einem konstruktiven Umgang mit dem Thema.“

Doch der Geist der toten Rosa Luxemburg spukt weiter durch die deutsche Linke. Am Sonntag zogen wie jedes Jahr Tausende beim „Luxemburg-Liebknecht-Marsch“ durch Berlin, alle linken Splittergruppen waren vertreten. Würde man in dieser Runde um Verständnis für staatstragende Sozialdemokraten werben, für Hartz IV oder die leider nötige Niederschlagung des Spartakusaufstands 1919, es wäre schnell vorbei mit dem stillen Gedenken

Luxemburg glaubt, jetzt sei die Stunde endlich gekommen. Ihre Artikel in der „Roten Fahne“ werden immer schärfer, Tag für Tag trommelt sie für den Aufstand. „Sie war einer der hitzigsten Köpfe in dieser Woche“, meint Jones. „Damit hat sie entscheidend zur Radikalisierung in diesen Tagen beigetragen. Wegen ihrer Texte sind Menschen gestorben. Auch Frauen und Kinder, die sich zum Beispiel im falschen Augenblick aus dem Fenster gelehnt haben und von einer Kugel erwischt wurden“ …

Zehn Tage lang war sie eine tragisch irrende Putschistin – die eine große Bewegung für hundert Jahre gespalten hat.“

http://www.maz-online.de/Nachrichten/Politik/Rosa-Luxemburg-Die-entzauberte-Heldin

Immerhin ist diesem Text die Manipulation und Boshaftigkeit leicht anzusehen. Übrigens gab es keinen „Spartakus-Aufstand“ - dieser ist ein Werk der Propaganda. Dazu mehr im nächsten Beitrag des Wurms.

Auf moderateren Sohlen, wenn auch mit vergifteten Pfeilen kommt Armin Pfahl-Traughber daher, dem seine Leserschaft, folgt man zumindest den Kommentaren, größtenteils auf den Leim geht.

Der 4. Teil der Verleumdung gegenüber Rosa Luxemburg ist, an und für sich positiven Standpunkten eine schlechtere Bedeutung zu geben:

„Auch das Freiheitsverständnis von Rosa Luxemburg ist anders orientiert als vielfach gemeint, lässt sich hier doch als vierter Aspekt eine Begrenzung statt eines Grundwerts bei ihr ausmachen. Dem steht der erwähnte "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden"-Satz entgegen. Doch darf dabei nicht der Kontext für diese Worte ignoriert werden. Sie finden sich in den Kommentaren zur Russischen Revolution. Rosa Luxemburg lobte in diesem erst nach ihrem Tod veröffentlichten Text sowohl Lenin wie Trotzki für ihre Politik, die bereits früh zur Diktatur nur einer Partei führte. Die Bolschewiki verboten dabei auch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, also andere sozialistische Parteien. Genau dagegen stellte sich Rosa Luxemburg mit diesem Zitat. Ihr ging es nicht um Freiheit für konservative oder liberale Parteien. In Deutschland hätte sie diese noch nicht einmal der damaligen Mehrheitssozialdemokratie zuerkannt. Insofern beschränkte sich ihr Freiheitsverständnis eben auch nur auf andere Sozialisten.“

https://hpd.de/artikel/rosa-luxemburg-demokratische-sozialistin-16357

Wer Rosa Luxemburgs Text nicht kennt, glaubt das vielleicht. Wer den Text jedoch kennt, wie ihn der Wurm weiter oben zitiert hat und Rosa Luxemburgs Gedankenwelt halbwegs kennt, wird den manipulativen Charakter des Textes von Armin Pfahl-Traughber durchschauen. Dessen Text schließt mit „Von Anfang an war sie auch eine Feindin der Weimarer Republik. Daran legte sie auch die Axt, zerstört wurde sie aber aus dem politischen Kontext ihrer Mörder.“

Zum Zeitpunkt ihrer Ermordung gab es die Weimarer Republik übrigens noch gar nicht.

 

Trotz alledem

 

Auch wenn mensch nicht immer ihrer Meinung sein mag, muss er doch anerkennen, dass es sich bei Rosa Luxemburg um eine große Analytikerin und eine große Humanistin handelte, die stets das größte Glück der größten Zahl von Menschen anstrebte, für ihre Überzeugung kämpfte, dafür ins Gefängnis ging und schließlich von ihren Gegnern ermordet wurde.

Während rings um sie herum Wahn und eigener Vorteil Oberhand gewannen, blieb sie ihren Standpunkten treu.

Was sollte von ihr heute noch übrig bleiben?

- Standhaftigkeit, selbst dann, wenn mensch damit in die Minderheit gerät und verleumdet wird

- ein Ziel vor Augen: das Soziale, keine Aufteilung in Randerscheinungen

- Bildung, auch politische Bildung der breiten Massen

- Druck der breiten Massen auf Parlamente und Institutionen

- Freiheit auch der Andersdenkenden

 

Walter Jens:

„Die Humanität in unserer Gesellschaft wird sich

auch danach bemessen, inwieweit wir das Erbe

Rosa Luxemburgs in Ehren halten“

http://www.bundesstiftung-rosa-luxemburg.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Rosalux_Endfassung.pdf

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm