Upton Sinclair

„Während er in das Filmabenteuer mit Eisenstein eintrat und mit Mental Radio (1931) eine Aufsehen erregende Studie über Telepathie schrieb, wurde er von 770 Persönlichkeiten aus 55 Ländern der schwedischen Akademie zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur vorgeschlagen. Im Begründungstext hieß es u. a.: „Er ist der Verfasser von rund vierzig Bänden Romane, Dramen, Wirtschaftswissenschaft, Gesellschafts- und Literaturkritik und ist ohne Frage der meistgelesene lebende Autor. Seine Bücher sind in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden und haben das Denken der Massen und des kritischen Potentials der kulturellen Welt entscheidend beeinflußt. Wir halten seine größten Romane, wie The JungleLove's Pilgrimage, Oil!, Boston für eine außergewöhnliche Leistung in der Weltliteratur der Gegenwart, wegen ihrer Meisterschaft im Faktischen, der gesellschaftlichen Vision, wegen ihrer Geschlossenheit, Ehrlichkeit und Tapferkeit im Denken, ihrer leidenschaftlichen Menschlichkeit, wegen der Originalität in der Darstellungstechnik, der Vitalität und schwungvollen Kreativität.“

Der englische sozialkritische Dramatiker George Bernard Shaw versuchte mit einem zusätzlichen Schreiben, eine positive Entscheidung des Nobel-Komitees herbeizuführen, indem er darauf hinwies, daß weder die Anerkennung in akademischen Kreisen noch die Bewertung als hohe Literatur Kriterien einer weitreichenden internationalen Wirkung seien. „Schriftsteller, die in literarischen Zirkeln große Lieblinge sind und vielleicht exquisite literarische Arbeiten hervorbringen, haben womöglich überhaupt keinen Einfluß auf den Geist ihrer Zeit. Dagegen können gröbere Begabungen von Schreibern, denen die literarische Grazie nicht Selbstzweck, sondern Köder ist, um Leser für ihre Ideen einzufangen, sehr wohl die Bedeutsamkeit haben, die des Nobelpreises würdig ist. Da Upton Sinclairs Begabung dieser Art ist, habe ich mich denen angeschlossen, die seine Kandidatur unterstützen, während die Professoren vor Entsetzen aufschrien.“

Der Auswahlausschuß in Stockholm hielt es wohl mit den Professoren. Den Preis 1932 errang John Galsworthy, dessen High Society-Chronik der Londoner Familie Forsyte dort eher Anklang fand als ein Muckraking im Interesse des internationalen Proletariats.“ 

Der zu seiner Zeit meistgelesene Autor heisst Upton Sinclair, der vor 50 Jahren gestorben ist. Da dieser Jahrestag von den meisten deutschen Medien ignoriert bzw. totgeschwiegen wurde, ist es dem Wurm eine besondere Freude auf ihn hinzuweisen. Wenn es einen Menschen gibt, dessen Werke und dessen Lebenserfahrungen gerade heute wichtig und aktuell sind, dann ist es Upton Sinclair. 

Der Anfang stammt aus dem Buch „Upton Sinclair – amerikanischer Radikaler: Eine Einführung in Leben und Werk“ aus dem Jahr 1978 von Dieter Herms. Sofern nicht anders angegeben, stammen die weiteren Zitate des Beitrags aus diesem Buch.

Leben und Werk Upton Sinclairs beschreiben sehr deutlich die Geschichte der USA und der internationalen Politik, die jeder kennen sollte. Der Beitrag des Wurms beschreibt zuerst Upton Sinclair und die Gesellschaft der USA im Wandel der Zeit, geht dann auf seine wichtigsten Werke ein und zieht schließlich sein Fazit.

 

Beginn

 

Karl-Heinz Schönfelder aus dem Nachwort von „Der Dschungel“ (1974): „Der im Jahre 1878 in Baltimore geborene, einer verarmten bürgerlichen Familie entstammende. Upton Sinclair wurde früh mit dem für die Gesellschaftsordnung der Vereinigten Staaten typischen Gegensatz zwischen Arm und Reich konfrontiert. Teils im Haushalt der notleidenden Eltern, teils in der Obhut vermögender Verwandter aufwachsend, lernte er sowohl das Elend der Besitzlosen wie auch das Wohlleben der saturierten Bourgeoisie kennen. Drei Faktoren, so erklärte er später, hätten sein Bewusstsein geformt: die Entbehrungen der Kindheit, die Lehren des armen Zimmermannssohns Jesus von Nazareth sowie das Vorbild des revolutionären englischen Dichters Shelley. In der Folgezeit sei der Einfluss von Karl Marx hinzugekommen.

Sinclair, der während seiner Jugend aus dem harten Alltag der kapitalistischen Wirklichkeit in die Welt der Bücher geflüchtet war und sich in dem irrigen Glauben wiegte, der Dichter sei das Maß aller Dinge, besaß keinerlei direkte Verbindung zum amerikanischen Proletariat. Er kam auf intellektuellem Wege mit marxistischem Gedankengut in Berührung. Eine Freundschaft mit sozialistisch gesinnten Publizisten,die ihm einige der Grundzüge des Marxismus nahebrachten, bewirkte einen Wandel in seiner Auffassung von der Funktion der Kunst und der Verantwortung des Künstlers. Hatte er noch um die Jahrhundertwende die Meinung vertreten, der Dichter solle, fern vom Weltgetümmel, der Poesie um der Poesie willen dienen, so beschloss er nunmehr, sein Talent in den Dienst humanistischer Ideen zu stellen, die Kunst als Waffe zu gebrauchen und mit der Feder für eine bessere Gesellschaftsordnung zu streiten.“

 

Muckracker

 

Karl-Heinz Schönfelder: „Die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rasch fortschreitende Industrialisierung der Vereinigten Staaten, die Konzentration der Produktion in ständig größer werdenden Betrieben, die Bildung von Syndikaten und Trusts, die Verflechtung von Industrie- und Bankkapital, die Verschärfung des mit gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln geführten Konkurrenzkampfes, die sich häufenden zyklischen Wirtschaftskrisen, die Verelendung des städtischen und des ländlichen Proletariats, die mit größter Erbitterung geführten Streiks und die immer krasser zutage tretenden sozialen Gegensätze warfen Probleme auf, die von den amerikanischen Schriftstellern bislang ignoriert worden waren. 

Erst Ende der Neunzigerjahre begann eine Gruppe von Journalisten - sie kamen zumeist aus den unteren Schichten des Bürgertums -, sich mit den ökonomischen, sozialen und politischen Fragen auseinanderzusetzen. Dem Monopolkapitalismus gegenüber kritisch eingestellt, erblickten diese Berichterstatter ihre Hauptaufgabe darin, systematisch Missstände in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der Vereinigten Staaten aufzudecken. Die vom damaligen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt verächtlich als Muckrakers (Schmutzaufwirbler, Dreckfinken) Beschimpften bedienten sich vorwiegend liberaler Zeitschriften, um der Bevölkerung die Ergebnisse ihrer oft langwierigen Untersuchungen vorzulegen. Sie enthüllten die Machenschaften einzelner Trusts, prangerten die in den Stadtverwaltungen herrschende Korruption an, wiesen auf die Käuflichkeit hoher Senatoren hin, überführten renommierte Versicherungsgesellschaften des Betrugs und zeigten, auf welch unehrenhafte Weise einige der einflussreichsten Milliardäre in den Besitz ihrer Vermögen gelangt waren. Um die Jahrhundertwende folgten Dutzende von Romanschriftstellern dem Beispiel der Journalisten. Obwohl es unter diesen literarischen „Schmutzaufwirblern“ auch Mitläufer gab, die lediglich die Gunst der Stunde zu nutzen gedachten, hielt sich die Mehrzahl für berufen, im Interesse des Fortbestands der bürgerlichen Demokratie Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben. Den Stoff für ihre Enthüllungsromane wählten sie aus dem zeitgenössischen Leben aus. Mit den neuen Sujets fanden neuartige Charaktere und Typen Eingang in die amerikanische Literatur: der rücksichtslose Unternehmer, der allgewaltige Finanzmagnat, der Landspekulant, der Börsenjobber, der käufliche Politiker, der bestechliche Abgeordnete, der lautere bürgerliche Reformer, der unerschrockene Gewerkschaftsorganisator, der klassenbewusste Sozialist, der streikende Industriearbeiter, der osteuropäische Einwanderer.

Da den Repräsentanten der Muckraking-Bewegung der Marxismus fremd blieb, behandelten sie lediglich die Oberfläche der Erscheinungen, ohne bis zum Kern der von ihnen kritisierten Missstände vorzudringen. Zu den wenigen Schriftstellern, die klar erkannten, dass die Ursachen für den zunehmenden Fäulnischarakter des Monopolkapitalismus nicht im Versagen Einzelner, sondern im System begründet lagen, gehörte Upton Sinclair, einer der eigenwilligsten und produktivsten Vertreter der amerikanischen Literatur, ein Mann, der sich als entschiedener Gegner der kapitalistischen Ausbeutung und als Verteidiger der entrechteten Klassen unter der Arbeiterschaft aller Länder jahrzehntelang großer Sympathie erfreute …

Während sich die meisten „Muckrakers“ vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs politisch unverfänglichen Themen zuwandten, blieb Upton Sinclair seiner Überzeugung und seinen Zielen treu. Er setzte als Einziger der bedeutenden „Schmutzaufwirbler“ den Feldzug gegen das amerikanische „Big Business“ ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile fort. Von diesem fast vier Jahrzehnte währenden Kampf legen mehr als 100 Romane, Dramen, Essays, Pamphlete und soziologische Untersuchungen Zeugnis ab. In „The Moneychangers“ (Die Börsenspieler, 1908) stellte er die Intrigen von Wallstreetmagnaten bloß, er verurteilte in „Metropolis“ (1908) Laster und Müßiggang der oberen Zehntausend, schrieb in „King Coal“ (König Kohle, 1917) über den Bergarbeiterstreik von Colorado, wies in „The Profits of Religion“ (Der Nutzen der Religion, 1918) auf den Klassencharakter der Religionsgemeinschaften hin, wandte sich in „Jimmie Higgins“ (1919) gegen die Versuche der westlichen Alliierten, die junge Sowjetmacht durch eine militärische Intervention zu stürzen, prangerte in „The Brass Check“ (Die Messingmarke, 1919) die Käuflichkeit der amerikanischen Presse an, zeichnete in „100%: The Story of a Patriot“ (Hundert Prozent, 1920) ein realistisches Bild von der Tätigkeit eines Arbeiterspitzels, geißelte in „The Goose-Step“ (Der Parademarsch, 1923) und „The Goslings“ (Die Küken, 1924) das Schul- und Hochschulwesen seines Landes, setzte sich in „Money Writes“ (Das Geld schreibt, 1927) kritisch mit der zeitgenössischen Kunst auseinander, schilderte in „Oil“ (Petroleum, 1927) den Konkurrenzkampf der Erdölmagnaten, kämpfte in „Boston“ (1928) für die Rehabilitierung der widerrechtlich zum Tode verurteilten Sozialisten Sacco und Vanzetti, befasste sich in „The Wet Parade“ (Alkohol, 1931) mit den Auswirkungen der Prohibition und den Korruptionsskandalen der Harding-Coolidge-Hoover-Administrationen, enthüllte in „William Fox“ (1933) Geheimnisse der Filmindustrie von Hollywood und deckte in „The Flivver King“ (Das Fließband, 1937) die in den Fordwerken üblichen Ausbeutungsmethoden auf."

Dieter Herms: „Die „Muckraking“-Bewegung im engeren Sinne bestand zwischen 1903 und 1912 und entwickelte sich aus den antimonopolistischen Strömungen der späten 90er Jahre. Muckrakers - das war zunächst eine Gruppe engagierter Journalisten, die Enthüllungen über Ausbeutung und Unterdrückung in den großen Industriemonopolen und über Korruption in staatlichen und kommunalen Administrationen publizierte. Damit sollte zu den üblichen Verfälschungen der „gelben“ Presse, die im Dienste der Monopole stand und sich in ihrer eigenen Struktur selbst immer mehr monopolisierte, ein Gegengewicht geschaffen werden. Den Journalisten schlossen sich Wissenschaftler und Schriftsteller an. Das Lesepublikum war weniger die Arbeiterklasse als das kleine und mittlere Bürgertum. Die wichtigsten Muckraker waren: Lincoln Steffens, David Graham Philipps (Korruption in Stadtverwaltungen und Regierungen), Ida M. Tarbell, Ray S. Baker (Monopolisierung), Thomas W. Lawson, Alfred H. Lewis (Finanzkapital), Christopher P. Connolly (Justizwesen), Will Irwin (Pressewesen), George K. Turner (Alkoholismus, Prostitution), Samuel H. Adams (Gesundheitswesen). Ihre wichtigsten Organe waren Arena, Munsey's, Century, Cosmopolitan, McClure's, Everybody's und schließlich Appeal to Reason. Neben den Tatsachenberichten hatten auch die fiktionalen und halbfiktionalen Schriften eine wichtige aufklärerische Funktion; hier tritt vor allem Upton Sinclair ins Bild, neben Charles Edward Russell.

Politisch war im „Muckraking Movement“ ein ganzes Spektrum von Positionen vereinigt, ähnlich wie in der antiimperialistischen Bewegung. Die Anhänger der sozialistischen Partei machten nur einen kleinen Teil davon aus. Beherrschend war das Moment der Anprangerung, der Aufdeckung bestimmter Auswüchse des Kapitalismus in seiner monopolistischen Phase. Gemeinsam war allen Fraktionen das Bekenntnis zum bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus. Auch die Sozialisten stellten die Grundlagen des amerikanischen Staatswesens und die demokratischen Spielregeln nicht in Frage. Soweit sie sich im „Muckraking Movement“ engagierten, kämpften sie für die Übertragung der Prinzipien politischer Demokratie auf die Organisation ökonomischer Abläufe, setzten sich für eine Sozialgesetzgebung im Interesse der Masse der arbeitenden Menschen und eine allmähliche Humanisierung des Arbeitsplatzes ein. Nur weil die Zustände eben noch so unglaublich rückständig waren, erhalten ihre Aufdeckungen und Forderungen bisweilen den Anschein einer extremen Radikalität …

Meisterwerke dieses Typs ökonomischer Literatur waren die realistischen Romane von William Dean Howells, Frank Norris und Theodore Dreiser. Howells, der sich mit A Traveller from Altruria (1894) auch im Genre des utopisch-sozialistischen Romans versuchte und so in doppelter Form als ein Vorläufer Sinclairs gelten kann, schrieb 1885 The Rise of Silas Lapham, den ersten Roman in der amerikanischen Literaturgeschichte mit einem Geschäftsmann und Millionär als durchgängiger Hauptgestalt. Silas Lapham, der als neureicher Aufsteiger den Sektor der Farbenindustrie in Massachusetts beherrscht, versucht sich auch gesellschaftlich in der aristokratisch-blaublütigen High Society Bostons durchzusetzen. Angetrieben durch die „protestantische Ethik“ (Max Weber) des Profitmotivs, wird Lapham von Howells als einer der „Räuberbarone“ des amerikanischen Kapitalismus konturiert.

Der raschen Konzentrationsentwicklung in der US-Ökonomie trägt Norris mit The Octopus (1901) Rechnung. Es sind jetzt nicht mehr in erster Linie einzelne Räuberbarone, sondern riesige anonyme Trusts, welche die Geschicke der Amerikaner bestimmen. Norris exemplifiziert das im Eisenbahnsektor, wenn die Southern Pacific Railroad Company ihre Tentakeln ausstreckt, um die kleinen Weizenbauern im kalifornischen San Joaquin Valley zu ersticken. Das wird ergänzt durch den Fortsetzungsroman The Pit (1902), wo mit Warentermingeschäften an der Weizenbörse Chicagos Spekulation und Wirtschaftskrise im Vordergrund des Geschehens stehen. The Pit bietet zudem eine interessante Variante zu Sinclairs Jungle als Stadtroman über Chicago.

Einen der Höhepunkte des Genres bildet die Cowperwood-Trilogie Theodore Dreisers, deren letzter Band The Stoic postum 1947 erschien. Zwar sind The Financier (1912) und The Titan (1914) - die beiden Titelbegriffe umschreiben bildlich Größe und Einfluß der Hauptgestalt Cowperwood - den realhistorischen Taten des Magnaten und Räuberbarons Charles T. Yerkes nachgebildet. Doch zeichnet Dreiser zugleich das panoramische Gemälde der politisch-ökonomischen Prozesse der beiden Städte Philadelphia und Chicago, in denen sich Cowperwood-Yerkes vorwiegend betätigt. Er beschreibt minutiös jene Abhängigkeiten, Kontrollmechanismen, Konzernzusammenlegungen, Kredittransaktionen, Betrügereien, politischen Intrigen, Justizskandale, Liebschaften, persönliche Racheakte, die insgesamt das komplizierte Geflecht eines aggressiv-expansiven Kapitalismus ausmachen, der sich rapide zur monopolistischen Stufe hin entwickelt. Indem die erzählte Zeit seiner beiden Romane sich über mehrere Jahrzehnte streckt, kann Dreiser die historische Dimension des Prozesses sichtbar machen.“

 

Nach dem 1. Weltkrieg

 

„Die Intervention der USA in der Sowjetunion machte das Maß voll. Die Operation Archangelsk figuriert als häßliche Aktion der kapitalistischen Politik in den Romanen Jimmie Higgins und Oil!. In der letzten Nummer von Upton Sinclair's forderte er den Rückzug der amerikanischen Truppen von russischem Boden, da sonst für die Welt klar wäre, daß hier in Wahrnehmung der internationalen Kapitalinteressen die bolschewistische Regierung zerschlagen werden sollte.

Nach der Verführung durch die liberale Rhetorik des lavierenden höchsten Amtsträgers der nunmehr international führenden kapitalistischen Großmacht kehrte Upton Sinclair nun wieder auf den Boden der sozialistischen Grundposition zurück, die den Sozialismus auf demokratischem Wege für Amerika forderte und eine gewaltmäßige Umwälzung der Verhältnisse in Rußland und Deutschland tolerierte. So war seine Verbundenheit mit Lenin und Debs zugleich wieder hergestellt. Was sich in den Jahren des Ersten Weltkriegs als problematische Grundhaltung im Denken Sinclairs etablierte, ist die Vorstellung der Revolution von oben. Sie sollte in den 30er Jahren sein eigenes Programm „End Poverty in California“, mit dem er für Gouverneurswahlen kandidierte, ebenso bestimmen wie seine Fehleinschätzung des Rooseveltschen New Deal als partieller Verwirklichung des Sozialismus in den USA. Sie war schließlich auch ein dominierender Faktor bei Sindairs Unterstützung der Politik des kalten Krieges in den 40er und 50er Jahren, als er die Truman Doktrin (Rolle der USA als antikommunistischer Weltgendarm) guthieß und aktiv unterstützte.“

„Die Epoche, in der diese Werke entstanden, ist eine der widersprüchlichsten der amerikanischen Geschichte. Die USA waren aus dem ersten Weltkrieg zweifelsfrei als die Führungsmacht der Neuzeit hervorgegangen. Entsprechend gestärkt leitete das Großkapital eine Ära des ungehinderten wirtschaftlichen Booms, der hemmungslosen Börsenspekulation und einer Prosperitätsideologie ohnegleichen ein.

Andererseits brodelte es im Inneren. Der Widerstand gegen den Kriegseintritt der USA durch politische Organisationen und Parteien und individuelle Kriegsdienstverweigerer, der Unmut über die Versailler Verträge und Wilsons Invasion der Sowjetunion, schließlich die ideologische Rückwirkung der Oktoberrevolution auf die linke politische Szene in den USA führten eine massive politische Unterdrückung durch die Staatsapparate herbei, die für die Legitimierung ihrer Hexenjagd (verglichen mit der der McCarthyismus der 50er Jahre ein Kinderspiel war) Deportationsgesetze und „criminal syndicalist laws“ schufen. So kam es zu einer Offensive, deren sichtbarster Ausdruck die berüchtigten „Palmer Raids“ waren, vom Justizminister Palmer und seinem Gehilfen Hoover inszenierte Razzien und Überfälle, die Elisabeth Gurley Flynn beschreibt: „Am 2. Januar 1920 wurde das Superding ausgeführt: Brutale Überfälle ohne Vorwarnung und Durchsuchungsbefehle, auf Versammlungen, Gewerkschaftsbüros und Privatwohnungen in rund siebzig Städten von Küste zu Küste. Rund 10.000 Männer und Frauen wurden in jener Nacht als inhaftiert gemeldet, ca. 700 allein innerhalb der Stadtgrenzen New Yorks. Etliche wurden aus ihren Betten gerissen.“

Die Offensive, aus der die „Palmer Raids“ nur ein Ausschnitt sind, richtete sich in einer oftmals Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft setzenden protofaschistischen Weise primär gegen Gruppierungen wie die revolutionär-syndikalistische IWW und die sich formierende kommunistische Partei der Vereinigten Staaten (C. P.), gegen Sozialisten und zunehmend gegen die liberal-fortschrittlichen Kräfte des bürgerlich-demokratischen Spektrums sowie Mitglieder der auf Partnerschaft und Kooperation abzielenden Gewerkschaften der “American Federation of Labor“. Den Streiks und Demonstrationen der etablierten Vertretungen der US-amerikanischen Arbeiterschaft wurde in den ersten Jahren des Jahrzehnts mit außergewöhnlicher Härte begegnet; die beabsichtigte Folge war ein Absinken in der AFL-Mitgliedschaft von rund 4,2 Mill. (1920) auf 2,9 Mill. (1923).

Die Strategie des Großkapitals bezweckte einmal mehr die Ablösung der großen Zentral-Gewerkschaften durch überschaubare und leicht zu kontrollierende „company unions“, die Abschaffung von Klassenbewußtsein und die Kooptierung der arbeitenden Massen hinein in den Traum der unbegrenzten kapitalistischen Prosperität. Unter der konservativen Administration des Präsidenten Calvin Coolidge blühte der Boom der amerikanischen Nachkriegswirtschaft. Zwischen 1913 und 1929 erhöhten die USA ihre Gesamtproduktion um 70% und setzen sich 1928 vor Europa. Die Automobilherstellung stieg von rund 0,9 Millionen in 1915 auf 5,4 Millionen in 1929. Die Gewinnung von Benzinkraftstoff verdreifachte sich. Monopole und Trusts wuchsen rapide in gigantische Größenordnungen. Das Kredit- und Ratenkaufwesen blähte sich ungeheuer auf. Eine rasche Aufeinanderfolge technischer Innovationen führte zu Rationalisierungen und Akkordarbeit bisher nie gekannten Ausmaßes. Fiebrige Aktienspekulation erfaßte weite Kreise der US-Bevölkerung bis hinein in das Heer der kleinen Angestellten und der Arbeiterklasse selbst.

Es will nur logisch erscheinen, daß politische Minderheiten, die weiterhin ihr Engagement für Gerechtigkeit und Demokratie mit einer Bekämpfung des kapitalistischen Systems verknüpften, eines Systems, das doch so augenscheinlich seine besondere Leistungsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit tagtäglich unter Beweis stellte, - daß diese unter noch mehr Druck seitens der mächtigen Kapitalfraktionen gerieten, die ihrerseits Polizei, Justiz, politische und geheimdienstliche Instanzen als willige Werkzeuge vorfanden zur Zerschlagung mißliebiger Organisationen, zur Einschränkung bürgerlich-freiheitlicher Rechte, für Gesinnungsterror, Bespitzelung, Provokation, Gewalt und staatlich sanktionierten Mord. Sacco und Vanzetti, 50 Jahre nach ihrer Ermordung auf dem elektrischen Stuhl vom Gouverneur von Massachusetts schließlich und endlich rehabilitiert (der Vorgang in sich grenzt ans Groteske), im August des Jahres 1977, - dieser völlig unbekannte italienische Fischhändler und sein Genosse, der Schuhmacher, wurden mittels einer gigantisch-aufwendigen Staats- und Justizmaschinerie zu internationalen Helden und Märtyrern der Arbeiterklasse. Die konservativ-reaktionären Kräfte hatten über den Sacco und Vanzetti-Fall ungewollt eine nationale und internationale Solidarität der demokratischen und sozialistischen Kräfte hervorgerufen, die als gewichtiges Potential in die Massenbewegung der 30er Jahre in den USA einmündeten. Sinclair hat dieser Bewegung und den beiden Märtyrern in Boston ein Denkmal gesetzt.“

 

Sozialistische Partei

 

„In Pasadena bei Los Angeles gab Sinclair 1918-19 das Magazin Upton Sinclair's heraus. Hier nahm er auch, nach dem Ende des politischen Flirts mit Präsident Wilson, wieder die Arbeit für die Sozialistische Partei auf.

Die kalifornische Sektion der Sozialistischen Partei, der Sinclair 1920 beitrat, hatte drastische Entwicklungen hinter sich. Auf Grund der Kriegsfrage, der bolschewistischen Revolution, der Frage der Anbindung an die dritte Internationale war es 1919 national und regional zur Spaltung der Sozialistischen Partei gekommen. Die Kommunistische Arbeiterpartei, die Worker's Party, die Industrial Workers of the World und die Sozialistische Partei lagen im Wettstreit um die Unterstützung durch radikale Kreise im „goldenen Staat“ Kalifornien, und Sinclair gelang es mit seinem Interesse an der Einheitsfront der zersplitterten Linken, für seine Aufstellung als Kongreßkandidat der Sozialistischen Partei im Juli 1920 eine Koalition hinter sich zu bringen.

Sinclair wandte bei diesen Kandidaturen für die Sozialistische Partei nie seine gesamten Energien auf. Er hielt ein Dutzend Wahlreden, schrieb regelmäßig für sozialistische Zeitungen, schrieb Protestbriefe an Organe der bürgerlichen Presse. Trotzdem gelang es ihm, in seinem Wahlbezirk den sozialistischen Stimmenanteil der vorherigen Wahl zu verdoppeln.“

 

Sinclair als Politiker: EPIC

 

„Kalifornien, der „Sonnenschein-Staat“, war von der Depression besonders stark betroffen. Seine Landwirtschaft, die Besitzer der großen Obst- und Gemüseplantagen und Weinfelder, hatten vor der Krise hauptsächlich ausländische Wanderarbeiter, Mexikaner, Chinesen, Japaner und Filippinos ausgebeutet. Doch jetzt wurden es immer mehr Weiße, vor allem Zugewanderte, die in anderen Teilen der USA verarmt waren. John Steinbeck beschreibt in seinem Roman Früchte des Zorns (1939) die Zwangsauswanderung der kleinen Farmer aus Oklahoma nach Kalifornien und das Elend und die Arbeitslosigkeit, die sie dort vorfanden. Es bewahrheitete sich auch für das Kalifornien der frühen 30er Jahre die These Marx' und Engels', daß in der extremen Krise das Kleinbürgertum und die Mittelschichten in die Verelendung des Proletariats fallen.

Sinclair begann, nachdem die außergewöhnliche Belastung durch die Eisenstein-Episode vorüber war, nachdem er seine erste Autobiographie American Outpost (1932) geschrieben und mit Upton Sinclair Presents William Fox (1933) das Muckraking der Filmindustrie vorerst abgeschlossen hatte, die wirtschaftliche und soziale Lage seines Heimatstaates genauer zu beobachten. Ausgehend von der Einsicht, daß die Krise mehr umfaßte als nur die Arbeiterklasse im engeren Sinn und daß Sozialismus sich zur Not auch innerhalb einer großen Mehrheitspartei propagieren ließe, richtete er sein Buch The Way Out: What Lies Ahead for America an Arbeiter und Angestellte, kleine Geschäftsleute und Kapitalisten und ermahnte sie alle, daß das freie Spiel der Kräfte des laissez-faire-Kapitalismus sie nie wieder aus dieser Krise befreien würde.

Im August 1933 wandte sich Gilbert Stevenson, ein Geschäftsmann und Mitglied der Demokratischen Partei aus Santa Monica, an Sinclair und legte ihm nahe, sich den Vorwahlen zur Nominierung des Gouverneurskandidaten der Demokratischen Partei zu stellen. In einem Gespräch mit einer Delegation des Unterbezirks Los Angeles der Demokratischen Partei wurden der Wahlkampfslogan „End Poverty in California“ (Armut in Kalifornien beenden) und das Kürzel EPIC geboren. Sinclair, der sich 30 Jahre lang für Gouverneurs- Senats- und Kongreßwahlen als Kandidat der Sozialistischen Partei Amerikas aufstellen ließ, begab sich am 7. September 1933 schlicht zum Rathaus von Beverly Hills und ließ seine Parteizugehörigkeit von Sozialist auf Demokrat umändern. (Alle Wähler, die an den parteiinternen Vorwahlen in Amerika teilnehmen, müssen ihre Parteizugehörigkeit auf einem Amt eintragen lassen.)

Als die Entscheidung bekannt wurde, brach bei den Sozialisten der Sturm los. Sinclairs Sohn David beschuldigte ihn in einem Telegramm aus New York des „wahnwitzigen Opportunismus“ und beschimpfte ihn als Renegat. Doch hinter Sindairs Entscheidung stand die Einschätzung, daß seit der Übernahme gewisser Elemente des sozialistischen Programms durch den linken Flügel der Demokraten, seit dem Tode von Debs, dem legendären Führer der Sozialisten und seit der Abwanderung vieler linker Sozialisten in die Kommunistische Partei, ein Aufschwung der Sozialistischen Partei zu tatsächlicher politischer Verantwortung nicht mehr zu erwarten war. Die Sozialisten (und sich selbst) begriff er immer mehr als Lehrer und Erzieher, die daran arbeiten müßten, ihre Ziele innerhalb der großen Parteien zu verwirklichen, diese Parteien gleichsam von innen her zu reformieren.

Sinclair erklärte ungerührt: „Ich bin ein Demokrat aufgrund desselben Rechts, das uns Amerikaner entweder zu Demokraten oder zu Republikanern macht - ich wurde als solcher geboren. Wenn mit Demokrat ein Anwalt gemeint ist, der das Recht des Volkes, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln, vertritt, dann bin ich immer noch der Demokrat, als der ich geboren wurde.“

Sinclair eröffnete den Wahlkampf mit einem Programm sozialistischer Reform innerhalb der Demokratischen Partei vermittels eines Buches: I, Governor of California - and How I Ended Poverty. A True Story of the Future. Das Buch berichtet in der dritten Person als Fiktionsform der Vergangenheit von einer hoffentlich realen Zukunft. Sinclair legt einleitend den Teufelskreis von Depression als Ergebnis der Überproduktion, von Arbeitslosigkeit und Kaufkraftschwund dar, der über die Zahlung öffentlicher Unterstützungsgelder notwendig im Bankrott der öffentlichen Hand enden muß. „Das erste Brett einer politischen Plattform muß heute sein, den Beschäftigungslosen produktive Arbeit zu verschaffen und sie autark zu machen.“ Gebrauchswertproduktion statt kapitalistischer Warenproduktion, das war der Kern des Programms.

Sinclair schlug vor, landwirtschaftliche Kolonien oder Produktionsgenossenschaften einzurichten, in denen Obst und Gemüse für den eigenen Konsum und den der anderen Arbeitslosen angebaut und Vieh gezüchtet werden sollte. Der Staat sollte das notwendige Land erwerben und außerdem ein Minimaleinkommen garantieren, genossenschaftliche Wohnungen, Läden, Restaurants, Kulturzentren und Kinos aufbauen. Das Pendant zu den Landkolonien sollten staatseigene Betriebe werden.

„Wir wollen ein in sich geschlossenes industrielles System errichten, eine neue und selbsterhaltende Welt für unsere Arbeitslosen, in der sie leben. Und sie sollen so wenig wie möglich zu tun haben mit unserer gegenwärtigen Welt der Spekulanten und Ausbeuter.“

Eine California Authority for Land (CAL) und eine California Authority for Production (CAP) würden den Austausch der Güter zwischen den Kolonien und Fabriken überwachen, z.B. durch die Organisation eines öffentlichen Lastwagendienstes Sorge tragen, daß die Gewinne der Spekulanten und Mittelsmänner ausgeschaltet würden. Eine California Authority for Money (CAM) würde ein spezielles genossenschaftliches Zahlungsmittel ausgeben, den berühmten „Sinclair Dollar“, der in der Presse bespöttelt und lächerlich gemacht wurde.

Staatsanleihen von zehn Dollar aufwärts zu niedrigem Zinssatz sollten die Macht der Banken untergraben, um das verhaßte private Kreditwesen zum Zusammenbruch zu führen, das Sinclair für das größte Verbrechen des Systems und die Wurzel allen Übels hielt. Er prophezeite: „Es wird dann nicht lange dauern, so meine ich, bis die Privatbankiers den Staat anbetteln, ihnen ihre schönen Marmorpaläste zum Tagespreis abzukaufen, und damit wäre der privaten Kontrolle des Kreditwesens ein Ende gemacht.“

Im Steuerbereich sah der EPIC-Plan eine progressive Einkommenssteuer vor, die bei einem Jahresgehalt von 5.000 Dollar begann und bei Gehältern über 50.000 die Höchstgrenze von 30 Prozent erreichte; eine progressive Erbschaftssteuer mit 50 Prozent bei Erbschaften über 50.000 Dollar. Arme, Alte, Witwen und Behinderte sollten besonders begünstigt werden; Anwesen unter einem Gesamtwert von 3.000 Dollar würden steuerfrei sein; eine Mindestrente für Pensionäre und Witwen von 50 Dollar im Monat war geplant.

Der leicht eingängige Erzählstil des Buches reflektiert auch die Schritte mit, die der Gegner unternehmen wird, um EPIC zu zerschlagen. Gegen das Geld dieser „Männer der Habgier“ helfe nur „Glaube, Heldentum und aufgeschlossener Bürgersinn“. Mit der Entstehung der EPIC-Klubs, dem ganzen Aufbau der EPIC-Bewegung als Massenformation würde sich auch die ideologische Gegenkampagne verschärfen, in deren Zentrum vor allem der Atheismusvorwurf und Kommunismusvorwurf stünden: „EPIC sei Teil der kommunistischen Infiltration, sagten die Reaktionäre. Sinclair hatte damit geprahlt, in welchem Ausmaß in Rußland seine Bücher gelesen würden, daß er das große Geld mache mit dem Film eines russischen Regisseurs, daß er überhaupt ein russischer Jude wäre, in Riga geboren, mit Namen Sinklerovitch, daß er in bezahlten Diensten der 3. Internationale stünde und einen Wahlkampffonds von 100.000 pro Monat direkt von Stalin erhielte“ …

Die „Lügenfabrik“ der Medien ließ sich bisher auf folgende Punkte zusammenfassen, die Sinclair in der Schrift The Lie Factory Starts und wiederholt in EPIC News entkräftet hatte: er sei Atheist und habe blasphemische Äußerungen getan; er sei Kommunist und Agent Moskaus; er sei Millionär und verdiene noch dazu am Wahlkampf; er sei kein Demokrat; wer eine eigene Ranch besitze, dem werde Sinclair sie wegnehmen; Armut könne man nicht abschaffen. Im übrigen wurde Helicon Hall ausgegraben - Sinclair habe dort Vielweiberei getrieben.

Bisher liefen aber die Aktivitäten der Presse nur auf halber Kraft, da niemand ernsthaft an eine Nominierung Sinclairs geglaubt hatte. Nachdem nun aber die mögliche Wahl als reale Bedrohung am Horizont stand, wurden alle verfügbaren finanziellen Ressourcen und alle denkbaren Verrenkungen des menschlichen Gehirns in eine Verunglimpfungs- und „Beschmierungs“kampagne ohnegleichen geworfen, die als der „erste totale Publicityblitzkrieg in der amerikanischen Politik“ apostrophiert worden ist (Arthur Schlesinger, jr.). Die gegnerische Front war gigantisch. Nicht nur hatte Sinclair die Republikaner zu bekämpfen und die sich dahinter verschanzenden Kapitalinteressen und konservativ-reaktionäre Kreise, sondern auch einen großen Teil der Demokraten, die Sozialisten und Kommunisten …

Nach den Vorwahlen sagte sich eine Reihe prominenter Demokraten von Sinclair los und unterstützte offen den republikanischen Kandidaten Merriam. Personen aus dem Umkreis des unterlegenen Kandidaten Wardell organisierten sogar ein “Democratic Merriam-for-Governor Campaign Committee“ und behaupteten in einem Pamphlet: „Sinclair will Kalifornien russifizieren und den Fluch des Kommunismus über unser Volk bringen“ …

Die Pressekampagne eröffnete am Tage nach den Vorwahlen der San Francisco Chronicle: „Der Staat ist mit einem Notstand konfrontiert, dem nur entschlossene geeinte Aktion begegnen kann. Die Bedrohung ist real und in gleicher Weise ernst, ob nun Upton Sinclair tatsächlich zum Gouverneur gewählt wird oder nicht, ob er nun tatsächlich eine Legislative zur Verfügung hat für die Phantasterei seines Programms oder nicht.“ Damit wird die Gefährlichkeit der ganzen Epic-Bewegung unterstellt, so als seien die kommunistischen Horden über Kalifornien hereingebrochen. Nicht alle Presseorgane ergingen sich in platten und wütenden Diffamierungen und Denunziationen. Es gab durchaus ernstzunehmende Kritik, die sich inhaltlich mit dem Programm auseinandersetzte, die ökonomisch-politische Naivität rügte und die Undurchsetzbarkeit einzelner Punkte nachwies. Von außerhalb der Grenze des Bundesstaates kamen auch vereinzelt positive Reaktionen: „Mag sein, daß die Kalifornier lieber einen Gouverneur wollen, der Ideen hat, als einen, der doch nur eine aufgeblasene Null oder ein Strohmann ist.“ (Connecticut Post)

Doch das Gros zog mit Artikeln und Karikaturen auf der niedrigsten Ebene der böse Emotionen schürenden Beschimpfungen gegen Sinclair zu Felde. Dabei schälten sich immer wieder der angebliche Atheismus und der angebliche Kommunismus als zentrale Motive heraus. Diese Presse zog an einem Strang mit zahllosen Organisationen, die aus dem Boden schossen und mit Gegenveranstaltungen und wahren Flugblattfluten die Wähler überschwemmten. Die beliebteste Strategie war es, aus Sinclairs überreichlich vorhandenen Büchern und Schriften Zitate aus dem Kontext zu reißen und in einseitiger Weise zu kommentieren. Oft wurden Passagen schlicht verfälscht.

Die „United for California League” zitierte - falls man es so nennen kann - aus The Goslings, Love's Pilgrimage, 100% und The Industrial Republic und „bewies“, daß der Kandidat ein Atheist sei, der Revolution, Kommunismus, freie Liebe und Vergesellschaftung der Kinder propagiere. Eine „California League Against Sinclairism” nahm sich The Profits of Religion vor und publizierte ein Pamphlet mit dem Titel „Upton Sinclair Attacks All Churches”. Die Los Angeles Times, neben San Francisco Chronicle die größte und einflußreichste Tageszeitung des Bundesstaates, hatte im letzten Monat des Wahlkampfes täglich einen schwarz gerahmten Kasten auf der Titelseite mit gekappten Zitaten. Sinclair selbst schrieb diesem Verfahren eine entscheidende Rolle zur Vorbereitung der Niederlage zu.

Es war in den Niederungen der ländlichen Zeitungen und Kleinstadtzeitungen, wo vor allem mit Karikaturen und Cartoons gearbeitet wurde. Am häufigsten waren solche, die Sinclair mit den „anderen Diktatoren“ Hitler, Stalin und Mussolini zeigten oder solche, auf denen die „bums“, die Nichtstuer und Faulenzer, scharenweise in Sinclairs Paradies einreisen. Die San Mateo Times vom 20. Oktober brachte unter der Überschrift „Soll der stampfende Schritt des Sinclairismus Kalifornien zertreten?“ das Bild eines überdimensionalen Stiefels, der mit dem Wort „Kommunismus“ beschriftet ist, oberhalb einer friedlichen Landschaft; der winzige Zusatztext warnt vor Sinclair als demjenigen, der „deinen Besitz“ und „deine Religion“ gefährdet. Die Zeitung Fresno Bee vom 10. Oktober brachte Sinclair mit der „EPIC-Flöte“ als Rattenfänger von Hameln.

Häufig wurde die Abkürzung EPIC dazu benutzt, einen anderen Spruch zu kreieren, etwa „Empty Promises in California“ (leere Versprechungen in Kalifornien) oder „End Pictures in California”, womit auf die Drohung Hollywoods angespielt wurde, Kalifornien zu verlassen und die Filmindustrie nach Florida zu verlegen. Hollywoods Materialschlacht gegen EPIC ist als entscheidender Faktor für Sinclairs Niederlage gewertet worden. Die Produzenten, an der Spitze Louis B. Mayer, Chef der Metro-Godwyn-Mayer, verordneten ihren Spitzenverdienern, Stars und Drehbuchautoren die Abgabe eines Tagesverdienstes, um einen pro-republikanischen, „Anti-Sinclair-Wahlkampffonds“ von einer halben Million Dollar aufzubauen. Nicht alle ließen sich das gefallen. Die Stars Jean Harlow und James Cagney initiierten eine Schauspielerrevolte gegen die Verfügung von oben und Gene Fowler organisierte sogar ein Schriftstellerkomitee für Sinclair. Die Filmgesellschaften fabrizierten sogenannte „newsreels“, angeblich Tatsachenberichte vermittelnde Kurzfilme oder Features (Beispiel: „Der interviewende Reporter“), die als Vorfilme in allen größeren Lichtspielhäusern der kalifornischen Städte gezeigt wurden. In diesen Filmen sprachen saubere und ordentliche Darsteller (als Stimme des Volkes) für Merriam und finster dreinblickende Typen mit russischem Akzent für Sinclair. So sagt etwa ein altes Frauchen, befragt, warum sie Merriam wähle, „Ich möchte mein kleines Eigenheim retten. Es ist alles, was ich auf der Welt noch habe.“ Und in einem anderen Film sagt ein bärtiger Mann, der sich für Sinclair entschieden hat, „Vell, das System gut gehen in Rußland, warum nicht auch hier?“ Die Filme wurden den Kinos kostenlos zur Verfügung gestellt. - Man sollte solche Kuriosa eigentlich zu den Akten legen können, wenn nicht heutzutage immer wieder Dinge passierten, die einen daran erinnern; beispielsweise die bekannte „Freiheit statt Sozialismus“-Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland …

Mittlerweile wurden Telefone von EPIC angezapft, Post gestohlen, und Sinclair warnte seine Anhänger vor gefälschten Erklärungen mit seinem Namen: „Tausende von Leuten haben meinen Briefkopf und meine Unterschrift. Die kann man leicht vervielfältigen. Seid also nicht überrascht, wenn ihr in den letzten Tagen der Schlacht Faksimiles oder Fotokopien von Briefen seht, in denen ich den Umsturz der Regierung, die Abschaffung der christlichen Religion, die Verstaatlichung unserer Jungfrauen oder die Verarbeitung von Säuglingen in Suppenfleisch fordere.“ Der letzte Schlag wurde gegen EPIC am 3. November geführt, als Literary Digest eine Meinungsumfrage veröffentlichte, die Sinclair 25 Prozent, Merriam aber über 60 Prozent voraussichtlicher Stimmen zuerkannte. Nachforschungen ergaben später, daß rund 75 Prozent der Fragebogen an registrierte Republikaner geschickt worden waren und daß ein Unternehmer in Los Angeles ca. 200 an seine Beschäftigten verteilt hatte. „Das falsche Umfrageergebnis“, so führte Sinclair aus, „hat uns irreparablen Schaden zugefügt. Es ermutigte unsere Gegner und schwächte unsere Freunde, es führte zu einem Umschlag und eröffnete eine Kettenreaktion ungünstiger Geschehnisse. Viele Wähler waren ja noch unschlüssig, auf welchen Zug sie springen sollten. Aber jetzt wußten sie es.“ Die Wahl war am 6. November und hatte folgendes Ergebnis:

Frank Merriam, Republikaner 1.138.620

Upton Sinclair, Demokrat 879.537

Raymond L. Haight, Commonwealth Party 302.519

Wie leicht ersichtlich, hatten die beiden unterlegenen Kandidaten gemeinsam mehr Stimmen auf sich vereinigen können als der Sieger. Angesichts der Diffamierungskampagne ohnegleichen, der Obstruktion selbst durch die demokratische Führung, der Tatsache, daß Kalifornien seit Jahrzehnten eine Hochburg der Republikaner war, ein respektables Ergebnis für Sinclair, den politischen Amateur, und seine kraftvolle, jugendbewegte, engagierte und fleißige EPIC-Truppe.“

Ein lesenswerter Artikel stammt von Shannon Jones aus dem Jahr 2003 mit dem Titel „Die Lehren aus dem Wahlkampf Upton Sinclairs 1934“ https://www.wsws.org/de/articles/2003/12/sinc-d27.html

 

Upton Sinclair und Roosevelts New Deal

 

„Die oft widersprüchliche und schwankende Haltung Sinclairs zum New Deal ist abzuklären, weil sie ein Schlüssel ist zur Erklärung seines zukünftigen politischen und ideologischen Wegs, weil sie insbesondere bedeutsam ist für das Verständnis des monumentalen historischen Romanzyklus, dessen Hauptgestalt Lanny Budd ist, und für Sinclairs politische Position in der Periode des Kalten Krieges. Roosevelts Amtszeit (1933-1945) mit zwölf Jahren die längste Amtszeit eines Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten, war durch zwei historische Aufgaben gekennzeichnet: den Versuch der Behebung der Folgen der schwersten Wirtschaftskrise in der neueren Geschichte des Kapitalismus und die Führung der antifaschistischen Allianz im mörderischsten Krieg der neueren Weltgeschichte. Dieser liberalste Präsident der USA des 20. Jahrhunderts war Mitgestalter einer Epoche im Innern, die ein höheres Maß an bürgerlichen Freiheiten gewährte, die Position der Gewerkschaften als Sozialpartner des Kapitals stärkte, ein größeres Netz sozialer Sicherheiten für die arbeitende Bevölkerung schuf und mit der Organisation staatlich subventionierter Arbeitsbeschaffungsprojekte, auch im Kulturbereich, zu einem Aufblühen einer demokratischen und realistischen Kunst, Literatur, Musik, des Theaters und Films beitrug. Dadurch ergab sich von Fall zu Fall eine Atmosphäre des Liberalismus, in der sich auch marxistische Positionen Gehör verschaffen konnten - die durch ein Anwachsen der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Partei in dieser Phase der „roten Dreißiger“ eine gewisse Breite der Popularität erlangten - ohne sofortige physische Ausrottung zu riskieren.

In der Zeit nach Roosevelts Amtsantritt im März 1933 war Sinclairs Haltung zunächst durch kritisches Abwarten und die Aufstellung von Forderungen gekennzeichnet, die Monate später Eingang in das EPIC-Konzept finden sollten. So propagierte er in der Schrift The Way Out kollektive Landwirtschaft und die Verstaatlichung von Banken und Eisenbahnen. Die ersten Notprogramme des New Deal erschienen ihm wie „eine Rauschgiftspritze, die einem Kranken verabreicht wird. Sie bringt ihn für einen Augenblick auf Touren. Doch hernach ist sein Zustand schlimmer als zuvor.“

Des öfteren äußerte er sein Mißtrauen, daß diese Maßnahmen des New Deal letzten Endes nur der kapitalistischen Klasse auf die Beine halfen.

Nach EPIC kritisierte Sinclair die Roosevelt-Administration tiefgreifend bis 1939. Gerade in jenem Jahr häuften sich noch einmal grundlegende ökonomische Arbeiten. Die unveröffentlichte Schrift American Plutocracy bezweifelte ganz grundsätzlich die Chancen der politischen Demokratie unter den Bedingungen des Kapitalismus. Sinclair erzählt - auch seine expositorischen Texte haben meistens eine „Story“ -, wie ihn nach dem Erfolg des EPIC-Feldzuges kalifornische Kapitalisten für ihre Zwecke „einzukaufen“ versuchten. Dieses Problem der öffentlichen Bestechung („public graft“) war ja seit den Tagen des ersten Muckraking Hauptthema Sinclairs; auch unter den Bedingungen des New Deal war ein Ende offenkundig nicht absehbar.

„Man sieht, was die Story bedeutet. Ein gewisser unabhängiger Ölproduzent hat Geld aufgebracht, um Mr. X zum nächsten Gouverneur von Kalifornien zu machen, und Mr. X hat einen Freund zu mir geschickt, der um ein Gespräch bat, damit wir einen Handel abschließen, dergestalt, daß mir ein Teil des Geldes gezahlt wird, wenn ich unseren Hunderttausenden von EPIC-Wählern sage, Mr. X ist ihr Freund und er wird ihren Interessen als Gouverneur dienen. Dann würde Mr. X gewählt und als Gewählter dem Ölmann dienen, der das Geld für den Wahlkampf aufbrachte. Man sieht darüber hinaus, warum ich die Geschichte erzähle. Sie zeigt klar und über jeden Zweifel erhaben, was Demokratie im kapitalistischen Staat heißt. Die Situation, die ich für Kalifornien beschrieben habe, gilt für die meisten der 48 Staaten dieser Union. Im Süden Kaliforniens geht der kontrollierende Einfluß von der Ölindustrie aus. In anderen Teilen des Staates ist es die Wasserenergie. In benachbarten Bundesstaaten ist es Holz, Kupfer oder andere Metalle. In Staaten des mittleren Westens sind es die Eisenbahnen oder die Getreidespekulanten. In Michigan ist es die Automobilindustrie. In den Staaten des Ostens sind es andere Formen der Großindustrie und das Finanzkapital.

Das Volk wählt seine Repräsentanten, die in der Regel schon vor der Wahl ‚gekauft‘ sind. Vielleicht sind es ‚Strohmänner‘, Männer, die von spezifischen Interessen ausgewählt sind … die gut reden können und die Massen einwickeln, die, wenn sie das Amt dann haben, tun, was man ihnen sagt.“

Die Passage (deren Länge als Zitat gerechtfertigt sein mag, da sie einem unveröffentlichten Text entstammt) ist wichtig für das Problem, wie die Prinzipien der verfaßten politischen Demokratie etwa auf die Organisation des industriellen Komplexes angewandt werden können, jene Grundvoraussetzung, um „production for use“ als allmähliche Evolution der kapitalistischen Produktionsweise zu erreichen. Sinclair bringt hier zum Ausdruck, daß „political democracy“ gar nicht als gesicherter Ist-Befund reklamiert werden kann, vielmehr wird sie durch die Prinzipien und die Praxis der ökonomischen „Plutokratie“ nach wie vor ständig korrumpiert und annulliert …

Im einzelnen geht Sinclair von Brief 3 an auf die Programme des New Deal ein. Zuvor erfolgt im Stil des „muckraking“ die Abrechnung mit Hoover, Roosevelts Vorgänger im Amt, „der die Dinge aus dem Blickwinkel des Geschäftsmannes betrachtete, der eine Wiederaufbau-Finanzierungsgesellschaft errichtete, die das Geld über die Banken, die Eisenbahnen, die Versicherungen und die großen Industrien schüttete. Die Theorie des Geschäftsmannes war, daß das Geld, das oben in die soziale Pyramide hineingeschüttet würde, unten als Lohn und Kaufkraft wieder herauskommen würde. Das tat es aber nicht; es ging direkt in die Tresore der großen Wall Street Banken und blieb da.“ Mit einem derartigen Konzept richtete Hoover in einem Zeitraum von 40 Monaten nichts aus. Dann kam Roosevelt! Er sah ganz klar, daß die wenigen Reichen das viele Geld nicht ausgeben konnten. Um Massenkaufkraft zu produzieren, mußte das Geld an die Massen gehen. So resultierte das Modell des „pump-priming“, der Einspritzpumpe: Die Regierung etabliert einen Kredit bei den Großbanken und zahlt kleine Schecks an die Arbeiter der zahlreichen New Deal Projekte. Die Arbeiter gehen mit ihren Schecks in die Kettenläden, die reichen sie weiter an die Großhändler und Fabrikanten, die an ihre Banken, d. h. „die Geschäfte Amerikas werden heutzutage in Gang gehalten durch Regierungshilfen, sie würden wie ein Stein in den Brunnen fallen, wenn diese Unterstützung zurückgezogen wurde.“ Und in ähnlich plastischer Bildlichkeit faßt Sinclair das Fazit dieses Prozesses, das dem Hooverschen nicht unähnlich ist: „Beim Versuch, die ungleiche Verteilung des Reichtums abzustellen, leiht die Regierung Geld und verteilt das geliehene Geld ungleicher als zuvor. Präsident Roosevelt fängt mit dem Einspritzen an, aber nur wenig Wasser gerät in die Pumpe; der Rest fließt über den Rand und spült zurück in den Tank, aus dem er gekommen ist - die großen Banken von Wall Street.“

Sinclair weist darauf hin, daß 1939 trotz der „Einspritzpumpe“ Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut in den Vereinigten Staaten herrschten. Der New Deal habe eine große Menge Geld und Mühen ergebnislos verpulvert. Roosevelts gute Absichten seien lobenswert, die Taten müßten aber noch folgen. Nicht seine Reden und Ansprachen, sondern die tatsächlichen Maßnahmen gelte es zu beurteilen. Er schildert seinem Briefpartner „Joe“ seine Begegnung mit Roosevelt im September 1934, als er dessen Unterstützung suchte für die Gouverneurskandidatur. Es kommt die deutliche Kritik, daß Roosevelt das Konzept der Kooperativen nicht nur nicht akzeptierte, sondern seinen New-Deal-Bürokraten freie Hand ließ, das Selbsthilfesystem zu sabotieren und zu zerstören …

Insgesamt ist nicht auszuschließen, daß bei einem politisch zunehmend isolierten Kämpfer ohne nennenswerte Klassenbasis, der Sinclair 1939/40 zweifellos war, die persönliche Faszination, die Roosevelt für ihn besaß, eine Tendenz der Harmonisierung der politischen Meinungsunterschiede beförderte.

In Your Million Dollars macht Sinclair jedenfalls dezidierte Ausführungen zur Verstaatlichung der Schlüsselindustrien: „Du fragst skeptisch, ob ich will, daß die gesamte Industrie in Regierungsbesitz übergeht? Ich antworte: Wir wollen mit den grundlegenden Dingen anfangen und sehen, was sich tun läßt … Auf jeden Fall sollten wir ein Elektrizitätssystem haben, eine Eisenbahn, eine Stahl- und eine Ölindustrie in öffentlichem Besitz und unter öffentlicher Kontrolle.“

Ob auch kleinere und weniger zentrale Industrien folgen sollen, läßt er offen. Warum nicht, „if it works“! Von dieser Position distanziert er sich in späteren Jahren: „Ich habe niemals die Verstaatlichung sämtlicher Industrien gefordert. Nur die Theoretiker und Dogmatiker unter den Sozialisten taten das; und die meisten von ihnen sind jetzt bei den Kommunisten.“

Die Briefe an Joe lassen klar erkennen, daß Sinclair sich 1939 vom Co-Op-Konzept als Allheilmittel distanzierte; „… diese Methode scheint sich nur auf den Kleinhandel und die Produktion bestimmter einfacher Güter anwenden zu lassen. Wir können keine kooperativen Eisenbahnen oder Telefone, Stahl- oder Automobilfabriken haben … Kooperativen sind in England bestens entwickelt, waren aber machtlos gegenüber dem Monopolkapitalismus und der Konzentration des Reichtums.“ Sinclair weist darauf hin, daß ein republikanisches Alternativprogramm zum einmal begonnenen New Deal die Gefahr des Faschismus in sich berge. Die Kritik an den grundsätzlichen Versäumnissen des New Deal ist präzise herausgearbeitet. Eine weitere Chance, im „trial and error“-Verfahren, neue Maßnahmen zu testen, ergab sich nicht. Bekanntlich mußte der Präsident auf Rüstungsproduktion umstellen, da der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg bevorstand.

Sinclair hat später harmonisierend zugedeckt, daß die Reform unfertig war. Er hat vor allem in verklärter Rückschau übersehen, daß die Macht der Konzerne, Monopole und Kartelle keineswegs gebrochen war, daß die mächtigen Gewerkschaften sich anschickten, reaktionäre Werkzeuge in den Händen des Großkapitals zu werden. Insgesamt sind um 1939 seine Vorstellungen der Wiederankurbelung der Wirtschaft als ein Gemisch verschiedener Richtungen zu sehen, wo die Proudhonsche Tauschproduktion eine Rolle spielt, das Konzept Keynes zur Wirtschaftslenkung durch den Staat eingeht und schließlich reformistische Positionen zur Arbeiterautonomie von Belang sind.

Im 11. Band der Lanny-Budd-Serie gerät Sinclair groteskerweise das New-Deal-Programm rückschauend zum quasi kampflos erwirkten Sozialismus in den USA. Nur der Zwang zur Rüstungsproduktion, zuerst provoziert durch den Hitlerfaschismus, nach 1945 durch den Kalten Krieg der UdSSR, verhindere die tatsächliche Durchführung im einzelnen. Lanny erklärt Fritz Meissner: „Das ganze Gleichgewicht der Macht im Lande wurde vom New Deal verschoben. Da wurde viel geschimpft und getobt, aber es gab keine bewaffnete Auseinandersetzung; die Verschiebung wurde durch Besteuerung erzielt, und die gibt es nicht mehr. Riesige staatliche Unternehmungen wurden entwickelt, wie z. B. Tennessee Valley Authority … Wir könnten unsere großen Industrien auf dieselbe Weise verstaatlichen und ohne jegliche Gewalt: Das einzige, was uns zurückhält, ist die drohende Kriegsgefahr.“

Dieses Wunschdenken einer grandiosen historischen Fehlinterpretation bildet praktisch die Prämisse der Ideologie des späten Sinclair …

Sinclairs Haltung zum Kommunismus ist in dieser Zeit durch kritische Loyalität gegenüber der Sowjetunion, aber Ablehnung der amerikanischen Kommunistischen Partei - mit Ausnahme des reformistischen Kurses Earl Browders - gekennzeichnet. Während er einerseits - z. B. in Grußworten an das sowjetische Volk zum 20. Jahrestag der Revolution - die Leistungen und Errungenschaften der Arbeiterrepublik würdigte, ja sogar stalinistischen Terror und den Hitler-Stalin-Pakt gegenüber den Gegnern der Sowjets im eigenen Lande verteidigte, verhielt er sich ablehnend zu der Politik der CPUSA und gegenüber Mitgliedern der Partei, tolerierte sie allenfalls in unabdingbaren Aktionseinheiten (New Deal, antifaschistische Allianz etc.) …

Nach seinem ersten und einzigen, eher mittelmäßigen Kinderbuch The Gnomobile (1936) schrieb Sinclair in der zweiten Hälfte der 30er Jahre noch vier Romane, die legitimerweise keine Bestseller waren, da sie den literarischen Vergleich mit Werken wie The Jungle, Oil! und Boston nicht aushalten, nicht einmal mit Jimmie Higgins oder The Wet Parade. Ihr Stellenwert im Gesamtwerk und ihr Dokumentcharakter für die politische Entwicklung ist aber nicht unbedeutend. Co-Op (1936) hat eine Funktion als Niederschlag des Gegensatzes zwischen der Kooperative-Bewegung in Kalifornien und der New-Deal-Politik der zentralen Administration; damit werden auch gewisse Züge des EPIC-Feldzuges widergespiegelt. The Flivver King, ein Gewerkschafts-und Muckraking-Roman über das Autoimperium Henry Fords erschien ebenso 1937 wie Sinclairs Beitrag zur internationalen Solidarität für die spanische Republik, No Pasarán. Von dem letzten Roman läßt sich eine direkte Verbindungslinie zu Wide is the Gate (1943) ziehen, dem vierten Band der monumentalen Lanny-Budd-Serie, wo der Protagonist in seinem Kampf gegen den internationalen Faschismus auch auf dem spanischen Kriegsschauplatz zu finden ist. Little Steel (1938) ist schließlich Sinclairs letzter Roman im literarischen Stil des Muckraking, der gegen eine Schlüsselindustrie (schon im Titel) zu Felde zieht.“

 

Der Antikommunist zur Zeit des kalten Krieges

 

„Das Jahr 1949 wirkte anscheinend wie eine Befreiung. Der Zwang, im 10. Band des Lanny-Budd-Epos die Frage des Kommunismus sozusagen historisch getreu noch aus der Sicht des Jahres 1945 behandeln zu müssen, entlud sich nun 1949/50 in einer Reihe von politischen Essays und Zeitungsartikeln, in denen Sinclair nicht nur voll auf die ideologische Linie des Kalten Krieges einschwenkte, sondern mit demselben missionarischen Elan, der zuvor seinen Kreuzzug gegen Kapitalismus und Faschismus gekennzeichnet hatte, gegen den neuen „zaristischen Imperialismus“ der Sowjetunion und gegen die angebliche Funktion des „trojanischen Pferdes“ ihrer „Steigbügelhalter“, der Kommunistischen Partei der USA, zu Felde zog.

Wie war diese Entwicklung möglich? Noch zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution hatte Sinclair mit einem Artikel in der Isvestija enthusiastisch gratuliert. Er äußerte sich glücklich darüber, daß es dem Imperialismus nicht gelungen sei, die erste „Arbeiterregierung der Welt“ zu zerschlagen, unterstützte die Notwendigkeit einer schlagkräftigen Armee gegen den Faschismus und zählte als besondere Errungenschaften die Abschaffung des Analphabetentums, die kulturelle Gleichberechtigung der Völker und Stämme, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Gleichberechtigung der Frau auf - Errungenschaften, die 1949 nicht rückgängig gemacht und die weder 1937 noch 1949 in seinem eigenen Land, den USA, erreicht waren.

Sinclair erntete in den USA 1937 mit seiner Haltung herbe Kritik; denn die US-Linke begann sich allmählich von der Vorstellung der UdSSR als Modell einer sozialistischen Gesellschaft zu lösen. Eugene Lyons hatte in seinem Buch Assignment in Utopia (1938) den Prozeß seiner eigenen Desillusionierung festgehalten, angesichts Unterdrückung, Hungersnot und politischen Mordes unter stalinistischer Herrschaft. John Dos Passos vollzog seine Abkehr vom Sowjetkommunismus unter dem Eindruck der angeblichen Exekution zweier trotzkistischer Teilnehmer im Spanienkrieg auf Geheiß der stalinistischen Bürokratie, die seine persönlichen Freunde gewesen waren.

Doch solche Ereignisse brachten den Stein der amerikanischen Renegatenszene erst ins Rollen. Die massenhafte Abkehr (und zumeist Umkehr von 180 Grad zu einer Haltung aggressiver Verurteilung) vollzogen die US-Linken (und dies war zugleich der Anfang vom Ende einer gewissen politischen Rolle der Kommunistischen Partei in den USA) angesichts des Hitler-Stalin-Pakts und des sowjetischen Überfalls auf Finnland. Daß Sinclair sich hier der Mehrheit seiner Freunde und Kollegen angeschlossen hätte, wäre inhaltlich und psychologisch voll einsichtig gewesen, denn er war bekanntermaßen nie auch nur in der Nähe der Mitgliedschaft der CPUSA und hatte dies oft genug öffentlich erklärt. Stattdessen beharrte er auf seiner bisherigen Position, nicht etwa indem er schwieg und im Gegensatz zu vielen Kollegen einen Meinungsumschwung schlicht nicht kundtat, sondern in einer beispiellosen Kampagne der Vorwärtsverteidigung, indem er sich in einer Reihe von Briefwechseln öffentlich mit den Renegaten auseinandersetzte.

Demnach bedauerte er zwar die stalinistischen Terrormaßnahmen gegenüber politisch Mißliebigen, hielt sie aber letztlich für gerechtfertigt, da ein zu großes Ausmaß linksradikaler Kritik den Bestand der SU gefährden könne; und der Pakt mit Nazideutschland erschien ihm als ein besonders gelungener Trick Stalins, seine beiden Todfeinde, den Imperialismus und den Faschismus gegeneinander aufzubringen, während unterdessen die UdSSR in Ruhe ihre eigene militärische Schlagkraft aufbauen könne. Überhaupt war das oberste Bewertungskriterium für Sinclair die außenpolitische Leistung der SU; somit ist klar, daß er ihr während der Dauer des Zweiten Weltkriegs höchstes Lob zollte ob ihres heroischen Kampfes in der antifaschistischen Allianz. Hierin traf er sich - wenn auch für viele eher notgedrungen aufgrund der weltpolitischen Lage - mit breiten Schichten der amerikanischen Öffentlichkeit. Die Aufnahme der Lanny-Budd-Romane bewies es ihm. Und wer gäbe schon gern die Rolle eines Publikumslieblings auf?

Die Truman-Administration hatte erwartet, die Sowjetunion würde auch nach der Beseitigung des gemeinsamen Feindes Faschismus den USA freundschaftlich verbunden bleiben. Sie übersah dabei (und mit ihr Sinclair wider besseres Wissen), daß Faschismus nur ein besonderer Auswuchs des Monopolkapitalismus gewesen war. Eine uneingeschränkte Freundschaft der sozialistischen Großmacht war also kaum möglich, angesichts eines umgehend in Angriff genommenen Wiederaufbaus Europas, der nicht nur den US-Monopolen weitere Profite sichern sollte, nachdem das Instrument des Krieges vorerst ausgefallen war, sondern der sich auf dem europäischen Schauplatz just derjenigen Kräfte bediente, die für den Aufschwung des Faschismus weitgehend mitverantwortlich gewesen waren.

Das Problem in Sinclairs widersprüchlicher Position seit 1948 war, daß er einerseits die zwielichtige Rolle des US-Großkapitals durchaus sah und auch kritisierte, daß er aber andererseits von dem optimistischen Glauben beseelt war, der New Deal hätte Amerika soweit vorbereitet, daß gleichsam aus der Asche der nächsten kapitalistischen Krise der demokratische Sozialismus ungehindert emporsteigen könnte. Wieso aber die geifernde Schärfe seines emotionalen Feldzugs gegen die SU und die intolerant undemokratische Haltung gegenüber einem Häufchen amerikanischer Kommunisten?

Das Alter des Autors, seine spiritistischen Neigungen und vor allem das Unvermögen, sich aus dem angenehmen Zustand der Übereinstimmung mit der Masse der Mitmenschen, die ihm zum ersten Mal zuhörten und massenhaft kontinuierlich seine Werke kauften, so ohne weiteres zu entfernen, liegen als Teilantworten auf der Hand. Daß seine neue Agitation in so aggressiver Form geschah, hatte zweifellos mit dem Temperament des Autors zu tun, der nie in seinem bisherigen Leben eine Überzeugung einfach nur besaß; immer auch mußte er sie in massiven Formen der Lehre und Predigt anderen nahebringen. Im Falle der antikommunistischen Kampagne hatte sich bei ihm die Überzeugung festgesetzt, von der SU ginge die Gefahr eines dritten Weltkriegs aus. Wie war das möglich? Der persönlich-psychologische Effekt einer kontinuierlichen Hysterie des Kalten Krieges darf nicht unterschätzt werden; Yoder schreibt: „… als die Bedrohung dessen, was Stalin repräsentierte, angeblich direkt über Pasadena (Sinclairs Wohnort, D. H.) schwebte, da nahm Sinclair den zornigen Aufschrei auf, der immer dann in den letzten 25 Jahren rituell ausgestoßen wurde, wenn amerikanische Liberale fürchteten, ihr persönlicher Lebensstil sei in Gefahr...“

Das Gefühl, persönlich bedroht zu sein, ging Hand in Hand mit der subjektiv festen Überzeugung, die Gefahr eines neuen Krieges ginge in der Tat von der Sowjetunion aus. Warum innerhalb von wenigen Jahren, womöglich nur Monaten, ein solcher Umschwung im Denken eines Mannes erfolgen konnte - die Beantwortung dieser Frage ist aufgrund des vorliegenden Materials nicht eindeutig zu leisten und ist letztlich auf Spekulation gegründet. Historisch gab es für Sinclair keine Anhaltspunkte: noch nie in der Geschichte der Sowjetunion war von ihr ein nennenswerter Konflikt begonnen worden. Theoretisch operierte der späte Sinclair unsauber: es ging nicht an, etwas als Rückkehr zum zaristischen Imperialismus zu fassen, was proletarischer Internationalismus war oder im ungünstigen Fall wie machtpolitischer Expansionismus zur Absicherung des sozialistischen Systems der SU aussah. Nach der Theorie des Imperialismus als höchster Stufe des Kapitalismus barg das, was unter dem Vorwand der Entwicklungshilfe an industrieller Expansion und militärischer Aufrüstung seitens der USA betrieben wurde, viel eher den Keim kriegerischer Auseinandersetzung und sogar faschistischer Restauration (die Geschichte über die Stationen Korea, Vietnam, Chile, um nur die augenfälligsten zu nennen, hat die Richtigkeit dieser Theorie bis auf den heutigen Tag bewiesen).

Sinclairs verbohrter Antikommunismus ist letztlich nur erklärbar aus seinem eigenen utopischen, spezifisch amerikanisch gefaßten Sozialismuskonzept. Je detaillierter er es für sich entwickelte, desto ablehnender stand er der marxistisch-leninistischen Theorie gegenüber, die er zunächst noch eklektizistisch akzeptiert hatte, später immer widersprüchlicher einerseits zur Erklärung bestimmter von ihm bekämpfter Erscheinungen im Sozialismus heranzog, andererseits durch den Sozialismus verzerrt oder entstellt fand. Die amerikanische Nachkriegswirklichkeit war ihm einerseits ganz klar als Phase einer monopolkapitalistischen Konzentration erkennbar, andererseits mißverstand er sozialdemokratische Reformen als den Sozialismus partiell und schrittweise herstellende Maßnahmen, und unterlag der Propaganda der herrschenden Ideologie, die dieses Werk als von den Sowjets extrem gefährdet hinzustellen nicht müde wurde und sich innenpolitisch der Hexenjagd des McCarthyismus als flankierender Maßnahme bediente.

Zwar hat Sinclair die Verfolgung politisch Andersdenkender nach Maßgabe der Gesetze und Verordnungen des McCarthyismus wie etwa die Aktivitäten des Kongreßausschusses für „unamerikanische Umtriebe“ nicht explizit befürwortet, wohl aber eingestimmt in den Chor derjenigen, die in undemokratischer und antiliberaler Weise gegen eine bestimmte politische Gesinnung zu Felde zogen. Außenpolitisch liefen seine Aktivitäten der Jahre 1949-56 de facto auf eine Unterstützung der Truman-Doktrin hinaus, wonach den USA die aktive Rolle eines antikommunistischen Weltpolizisten zukam. Sinclair wurde also zum Propagandisten der herrschenden Ideologie, in deren Dienst er seine literarische und politische Kulturarbeit stellte. Insoweit verwandelte er sich von einem Exponenten einer „zweiten“ Kultur, der zeit seines Lebens für die Unterdrückten und die Sache der Arbeiterklasse, für das „andere Amerika“ gestritten hatte, nunmehr zum Exponenten der „ersten“ Kultur, die daran Interesse hatte, in der Literatur und in anderen Formen der Kunstproduktion die herrschende Ideologie zu verbreiten.

Als die Schärfe des Kalten Krieges nach 1955 in den USA abnahm, ließ auch Sinclairs aktiver Antikommunismus nach. Sein Verhalten war an das offiziell gesteuerte Denken der Masse der amerikanischen Öffentlichkeit angekoppelt. Begonnen hatte dieser Prozeß mit der Lanny-Budd-Serie und ihrer Rezeption, als sich im gemeinsamen antifaschistischen Kampf sowohl die sozialistischen und kommunistischen Strömungen als auch die Interessen der liberaldemokratischen Administration Roosevelts trafen. Und dieses Zusammengehen war historische Notwendigkeit; denn die Bedrohung der Welt durch den Faschismus war blutig und real. Als dann die herrschende Ideologie aufgrund des verkürzenden Totalitarismusvergleichs die Bedrohung der Welt durch den Kommunismus suggerierte, war das „Erbe“ der „zweiten“ Kultur in Sinclairs eigenem Denken nicht mehr kraftvoll genug, um ihn noch einmal gegen den „Hauptstrom“ des amerikanischen Denkens anschwimmen zu lassen. Kraftvoll genug war indessen noch sein missionarischer Eifer, der, statt sich womöglich nur der herrschenden Ideologie passiv zu unterwerfen, ihn zum aktiven Eintreten für diese antrieb, wobei er oft über das Ziel hinausschoß.

Überblickt man die Gesamtheit seiner antikommunistischen Schriften, so beeindruckt zunächst (wie eigentlich schon immer bei Sinclair) ihre Quantität. Von 1949-56 entstanden rund 40 Beiträge zu diesem Thema; längere und kürzere, vom Leserbrief oder Tageszeitungsartikel über Essays und Reden für die US-Propagandasender in Europa bis hin zum wahrscheinlich hervorragendsten Zeugnis einer Literatur des Kalten Krieges überhaupt im amerikanischen Kulturbereich, dem Roman The Return of Lanny Budd. Auf ihn und die Schrift Reds I Have Known soll die folgende kurze Erörterung konzentriert werden. Alle übrigen lassen sich summarisch charakterisieren. Insgesamt fallen drei Tendenzen der „Argumentation“ ins Auge: die direkte denunzierende Anklage, der Versuch, aus der neu gewonnenen Perspektive die eigene politisch-ideologische Biographie zu nivellieren und zu harmonisieren und die eigene Einflußnahme auf politische Vorgänge. Kurze Statements der direkten Anklage und Denunziation sind in Form und Inhalt oft redundant und lassen sich auf zwei zentrale Argumente reduzieren: keine Freiheit der Rede in der Sowjetunion und Tod für abweichende Meinung; Expansionsdrang der Sowjetunion als andere Form des zaristischen Imperialismus. Kommunisten in den USA sind Sowjetagenten, die durch Infiltration den Expansionismus flankieren. Der Denunziation folgt die Belobigung der US-Verhältnisse auf dem Fuß mit besonderen Akzentuierungen der individuellen Freiheitsrechte: „Ich will nicht, daß Stalin mir sagt, was ich in meinen Büchern zu schreiben habe, so wie er Schostakovitsch befiehlt, wie man komponiert oder den Biologen, welche Gesetze der Vererbungslehre sie entwickeln müssen.“

Entsprechend unterstützte Sinclair die Außenpolitik der Truman- und Eisenhower-Administrationen, sah Marshall-Plan und NATO als die geeigneten Instrumente der Eindämmung des Sowjet-Expansionismus. Besonders ärgerlich war ihm der Mißbrauch seiner Bücher im sowjetischen Einflußbereich; nicht so sehr, daß sie nach wie vor gedruckt und vertrieben, sondern, daß sie als Darstellung der modernen USA etikettiert wurden. Nimmermüde versicherte dann der greise Autor, daß diese Verhältnisse längst überwunden seien. „Seitdem haben wir den ‚New Deal‘ und den ‚Fair Deal‘ gehabt; die Arbeiter in den Schlachthöfen haben starke Gewerkschaften und soviele soziale Vergünstigungen, daß man darüber ein neues Buch schreiben könnte.“

Der Beschönigung der US-amerikanischen Gegenwart entsprach ein „streamlining“ der eigenen Vergangenheit mit dem Ziel, die gegenwärtige Position als kontinuierlich-logische Fortsetzung des gesamten Rasten seines Denkens auszuweisen, ein problematischer Vorgang insoweit, als er die Tendenz einer Verzerrung der historischen Zusammenhänge einschloß. Die Schrift Reds I Have Known kann dafür als Beispiel dienen. Reds I Have Known (1950), als zusammenhängendes Ganzes nie publiziert, ist eine Art Generalabrechnung mit amerikanischen Kommunisten oder solchen, die er dafür hielt, aus seinem persönlichen Bekanntenkreis. Es besteht aus elf Kapiteln von insgesamt rund 100 Schreibmaschinenseiten und ergäbe in gedruckter Form ein schmales Bändchen …

Ein anderes Beispiel der nachträglichen Harmonisierung ist der Systemvergleich. Die Sowjetgesellschaft baue auf Haß auf und das Ergebnis sei Lüge, Furcht, Mißtrauen und Verrat. „Es ist schwer für Amerikaner zu verstehen, was da vor sich geht, denn wir haben nicht solche Traditionen des Despotismus in unserer Geschichte oder solche Impulse der Grausamkeit in unseren Herzen.“ Hier entgehen dem alternden Autor seine eigenen scharfsinnigen und in realistische Bildlichkeit gefaßten Analysen der US-Gesellschaft in The Jungle, King Coal, Singing Jailbirds, Oil!, Boston usw., wo gerade die haßerfüllte Gewalt staatlicher Instanzen, die physische Brutalität der Herrschenden und ihrer Handlanger und der staatlich sanktionierte Mord als charakteristische Elemente kapitalistischer Willkür gegeißelt werden …

Die Grundthese der Schilderung der „Roten, die er kannte“, läuft auf den Versuch des Nachweises eines moralischen Zusammenbruchs und der inneren wie äußeren Korruption hinaus. Da Lenin ihnen befahl zu lügen, mußten sie unehrlich und schlecht werden, manchmal eben Homosexuelle oder Trinker. Und deswegen tilgte Sinclair auch ihre Adressen aus seinem Notizbuch - Aussätzige. „Finished with them“.

Die Rigidität und Verbissenheit der „Abrechnung“ mit tatsächlichen Personen setzte sich fort in der potenzierten Unmenschlichkeit des fiktiven Handlungsablaufs von The Return of Lanny Budd (1953). Zielstrebig auf Massenwirksamkeit bedacht, nahm Sinclair den Erzählfaden des an sich abgeschlossenen populären Zyklus wieder auf …

Der Roman verdreifacht das bisherige Agentenschema. Lanny selbst hat sich aus dem antifaschistischen Agenten Roosevelts in den antikommunistischen Agenten Trumans verwandelt. Hansi Robin wird vom FBI auf seine Frau als Agent angesetzt (indem er als neu gewonnenes CP-Mitglied posiert), um Beweise für die Vermutung zu liefern, daß Bess ihrerseits eine Agentin der Sowjets ist, getreu dem McCarthyistischen Schema: jeder amerikanische Kommunist ist ein Sowjetspion. Da Lanny und Laurel sehen, daß die Hansi-Bess-Ehe zerrüttet ist, verkuppeln sie Hansi an Rose Pippin, Bestsellerautorin eines Buches über Kaninchen.

Lanny und Laurel sind aber zugleich eifrig damit beschäftigt, die Radiostation in Edgmere, New Jersey zu einem Zentrum antikommunistischer Propaganda. auszubauen. Jeder Sprecher, der am Kommunismus oder der Sowjetunion noch ein gutes Haar läßt, wird von Lanny als Interviewer ins Kreuzverhör genommen. Lanny qualifiziert sich mit derlei Praxis ganz besonders für den amerikanisch-deutschen Sender in Berlin, RIAS.

In Berlin wird Lanny von den Sowjets entführt und gefoltert. Man bezichtigt ihn, er habe eine Verschwörung gegen Stalin anzetteln wollen. Die Besuche im Auftrage Roosevelts und Trumans (in vorhergegangenen Bänden des Zyklus) hätten der Ausspionierung der persönlichen Lebensumstände des Parteichefs gedient. Geschwächt und gebrochen von der Tortur wechselnder extremer Temperaturen und geblendet vom Scheinwerfer einer Stablampe macht Lanny seinen Peinigern den Vorschlag (die Sowjetrussen sprechen übrigens im Roman Sinclairs wie in den Filmen, die Hollywood gegen Sinclairs Gouverneurskandidatur eingesetzt hatte), die Anklage gegen ihn fallen zu lassen im Austausch für eine Information aus der CPUSA: Bess Budd, seine Halbschwester, sei Spionin des FBI …

Die Perfidie ist perfekt. Budd setzt eine geniale Lüge in die Welt, wodurch seine Schwester in eine Lage gebracht wird, in der er sie dem Feind entreißen kann; und sich selbst hat er mit derselben Lüge auch noch gerettet. Wer ist nun eigentlich der größere Schurke, Stalin oder das FBI? Die ideologische Umkrempelungsszene mit der Schwester empfand das voll auf Kalten Krieg programmierte Publikum als besonders überzeugend …

The Return of Lanny Budd kann als totale Umkehrung von Jimmie Higgins betrachtet werden. War dies die engagiert parteiliche literarische Verbreitung der Oktoberrevolution und ihrer Gefährdung durch die Machenschaften des Imperialismus, so ist jenes das literarische Loblied auf die Sendung der USA, die Welt vom Kommunismus zu befreien, als logische Fortsetzung der manifest destiny, jener alten imperialistischen Konzeption von der geschichtlich vorherbestimmten Auserwähltheit der USA. Sinclairs Antikommunismus war haßerfüllt und böse, er war platt und klischeehaft in der Form, fiel aber keineswegs aus dem Rahmen. Es war der Antikommunismus amerikanischer Sozialisten wie deutscher Sozialdemokraten, reaktionär gewordener Liberaler wie integrierter Gewerkschaftsführer. Es war nicht der Fanatismus der John Birch Society, der bereits Regierungsprogramme eines Truman oder Eisenhower und schüchterne Versuche von Sozialgesetzgebung als kommunistische Unterwanderung erscheinen ließ.

Das Wesen des Sinclairschen Antikommunismus bestand auch nicht primär im manisch-negativen Stalinkult oder im Kreuzzug gegen die amerikanischen Kommunisten. Das Wesen bestand vielmehr darin, den grundlegenden Frieden gemacht zu haben mit dem amerikanischen Imperialismus, trotz periodischer rhetorischer Ausfälle."

 

The Jungle 1906 (Der Sumpf, Roman aus Chicagos Schlachthäusern, später Der Dschungel)

 

Karl-Heinz Schönfelder: „Zu den Romanen, die bis heute in aller Welt gelesen werden und immer wieder Neuauflagen erleben, gehört „Der Dschungel“. Die erste Anregung zu diesem Werk erhielt Sinclair von Fred D. Warren, dem Herausgeber der sozialistischen Zeitschrift „Appeal to Reason“. Der progressive Publizist forderte ihn, nachdem er „Manassas“ gelesen hatte, auf, dem Roman über die Negersklaverei in den Südstaaten ein Buch über die Lohnsklaverei in den Nordstaaten folgen zu lassen. Sinclair akzeptierte diesen Vorschlag und fuhr im Oktober 1904 nach Chicago. Er entschied sich für die Metropole des Mittleren Westens, weil er glaubte, das Proletariat dieser riesigen Industriestadt befinde sich in einer besonders schlechten Lage. Zudem interessierte ihn das Los der 20.000 Schlachthofarbeiter, die im selben Jahr einen Streik organisiert hatten, der von der Leitung des Philip-Armour-Trusts brutal gebrochen worden war.

In Chicago sammelte Sinclair sieben Wochen lang Informationen aus erster Hand. Tagsüber hielt er sich, als Angestellter getarnt, in den verschiedensten Abteilungen der Schlachthöfe auf und studierte die Arbeitsbedingungen sowie die hygienischen Verhältnisse an Ort und Stelle. Die Abende verbrachte er in den armseligen werkeigenen Wohnungen, in denen mitunter zehn bis 15 Personen auf engstem Raum zusammengepfercht leben mussten, oder er sah sich in den zahlreichen Kneipen von Packingtown um, wo allzu viele Arbeiter ihr Elend im Alkoholrausch zu vergessen suchten. Sinclair begnügte sich nicht damit, die berufliche und häusliche Situation der Arbeiter kennenzulernen. Um sich einen gründlichen Überblick über den gesamten von den Armours beherrschten Industriezweig zu verschaffen, sprach er mit Hunderten von Personen: mit Politikern, Rechtsanwälten, Grundstücksmaklern, Journalisten, Schankwirten, Polizisten, Ärzten, Fürsorgerinnen, Gewerkschaftsfunktionären, Streikbrechern, Anarchisten, liberalen Reformern und Angehörigen von Wohltätigkeitsorganisationen. Er lauschte erschütternden Berichten, hörte sich eine Vielzahl von Argumenten an, verglich unterschiedliche Aussagen, prüfte das gesammelte Material und wertete es aus …

Als besonders wirksam erwies sich die von Jack London gewährte Hilfe. Der damals auf dem Gipfel seines literarischen Ruhms stehende Romancier pries Sinclairs Buch enthusiastisch als „Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei“. Hierdurch ermutigt, akzeptierte das angesehene Verlagshaus Doubleday-Page das Manuskript in unveränderter Form. Nachdem Juristen des Verlags - um mögliche Verleumdungsprozesse zu vermeiden, die vom Verfasser dargestellten Sachverhalte überprüft und ihre Richtigkeit bestätigt hatten, kam „Der Dschungel“ im Februar des Jahres 1906 auf den Markt.

Der Roman - er wurde in 17 Fremdsprachen übersetzt - machte den Autor weltberühmt. In den Vereinigten Staaten löste er eine leidenschaftliche öffentliche Diskussion aus, er veranlasste den amerikanischen Präsidenten, eine Untersuchungskommission einzusetzen, und nötigte den Kongress, ein neues Lebensmittelgesetz vorzulegen. Zur großen Enttäuschung Sinclairs richtete sich der heftige Protest der Bevölkerung jedoch nicht in erster Linie gegen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Schlachthofarbeiter, sondern gegen die in den Schlachthäusern herrschenden unhygienischen Zustände. Es zeigte sich, dass der amerikanische Bürger stärker an einwandfreien Fleischkonserven interessiert war als am Schicksal der Arbeiter. Nachdem die Regierung gegen den Widerstand des Trusts ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Armours zwang, die erforderlichen hygienischen Vorschriften zu beachten und alle Bestimmungen einzuhalten, nahm die Erregung der Öffentlichkeit rasch wieder ab. Voll Bitterkeit äußerte sich Upton Sinclair: „Ich zielte mit meinem Roman auf das Herz und auf das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf nur ihren Magen.“

„Der Dschungel“, vom Verfasser der amerikanischen Arbeiterklasse gewidmet, ist ein Entwicklungsroman im weitesten Sinne des Wortes. In ihm gestaltet Sinclair den äußeren Lebensweg und die innere Entwicklung des Helden vom unwissenden, politisch indifferenten und opportunistischen Arbeiter zum bewussten Sozialisten. Fast lehrbuchhaft werden am Schicksal von Jurgis Rudkus wesentliche Punkte der Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels, insbesondere der Prozess der Verelendung des Proletariats im Kapitalismus, künstlerisch verdichtet. Die einzelnen Etappen des physischen und psychischen Niedergangs der Einwandererfamilie gaben Sinclair die Möglichkeit, nahezu alle Übel aufzuführen, die das kapitalistische System um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten hervorgebracht hatte: vielfältige Arten der Ausbeutung und des Betrugs, Überproduktionskrisen und Massenarbeitslosigkeit, die Existenz einer industriellen Reservearmee, die durch eine gelenkte Einwanderung billiger Arbeitskräfte stets erneuert wurde, die verschiedenartigen Methoden, mit deren Hilfe Streiks gebrochen wurden, die Bespitzelung der Gewerkschaften, das System der schwarzen Listen, die Bestechlichkeit von Politikern, Prostitution und Verbrechen. Sinclair weist auf die enge Verflechtung von Industriekapital und Parteipolitik hin, entlarvt die „demokratischen Wahlen“ als Schwindel und legt anhand vieler Beispiele den Charakter des staatlichen Machtapparats dar, der im Interesse der herrschenden Klasse brutal zur Unterdrückung des Volkes eingesetzt wird.“

Dieter Herms: „Stellvertretend für die Sinclair-Rezeption in der demokratischen und sozialistischen Kultur der ersten deutschen Republik soll Brechts Aneignung des Dschungel-Romans knapp umrissen sein. Er las ihn zum ersten Mal, während er im Frühjahr 1920 an einer Don Carlos-Kritik für das USPD-Organ Volkswille in Augsburg schrieb.

„Ich habe den Don Carlos weiß Gott eh und je geliebt. Aber in diesen Tagen lese ich in Sinclairs Sumpf die Geschichte eines Arbeiters, der zu Tode gehungert wird. Es handelt sich um einfachen Hunger, Kälte, Krankheit, die einen Mann unterkriegen, so sicher, als ob sie von Gott eingesetzt seien. Dieser Mann hat einmal eine kleine Vision von Freiheit, wird dann mit Gummiknüppeln niedergeschlagen. Seine Freiheit hat mit Carlos' nicht das mindeste zu tun, ich weiß es: aber ich kann Carlos' Knechtschaft nicht mehr ernst nehmen.“

Die Ausführung zeigt, daß Sinclairs Roman eine Etappe beeinflußt in der Entfaltung der Brechtschen Anti-Klassik-Position und entscheidend beiträgt zur Formulierung des dramaturgischen Gegenentwurfs zum aristotelischen Theater. Für den Johanna-Stoff bedeutet es letztinstanzlich die Umfunktionierung der Jungfrau von Orleans in eine Heldin der Schlachthöfe, ein Prozeß, über dem freilich noch fast zehn Jahre vergehen. Mit Sicherheit wird The Jungle so etwas wie ein Filter des sich wandelnden Amerikabildes Brechts, wie man es vom Dickicht der Städte (1923) über Joe Fleischhacker und Die Heilige Johanna der Schlachthöfe (1930) bis zum Dreigroschenroman (1934) verfolgen kann.

Im Johanna-Stück selbst übernimmt Brecht eine Fülle von Einzelmotiven und Beispielen aus Sinclairs Roman, die er häufig präzisiert und zuspitzt. Insbesondere wird die innere Gesetzlichkeit der kapitalistischen Akkumulationsweise zur Trust- und Monopolbildung genauer herausgearbeitet als im Jungle. Der Antagonismus der gesellschaftlichen Verhältnisse ist klassenspezifisch schärfer gefaßt.“

 

The Moneychangers 1908 (Die Börsenspieler)

 

„Auch The Moneychangers, das bei Dodge and Company herauskam, war kein Erfolg. Dies ist um so erstaunlicher, als das Buch direkt an die historische Erfahrung einer Wall Street-Börsenkrise anknüpft, deren Ursachen es zu erklären beansprucht und, geringfügig verhüllt oder verschlüsselt, die tatsächlichen Finanzmagnaten Pierpont Morgan (als Romanfigur Dan Waterman), Andrew Carnegie und Henry Clay Frick auftreten läßt.

Der Roman vertritt und expliziert die These, daß die Börsenpanik von 1907 durch den Großfinanzier Pierpont Morgan und seine Kohorten bewußt herbeigeführt wurde. Neuere historische Forschungen haben die Richtigkeit der These erhärtet; damals wagte es niemand außer Sinclair zu behaupten. Im Gegenteil: wie auch heute in Wirtschaftskrisen wurden Großindustrie und Hochfinanz von Regierungsseite mit besonderen Samthandschuhen angefaßt. Im Gefolge dieser Taktik konnte sogar Morgans US Steel Corporation mit der Tennessee Coal and Iron Company fusionieren. Die Konkurrenz des freien Marktes wurde dadurch unterdrückt; die Südstaatenfirmen wurden gezwungen, ihre Preise auf das Niveau der Pittsburgher Muttergesellschaft anzuheben.

Sinclair läßt seinen „Helden“ nicht nur zuschauen und lernen, sondem selbst am Wirtschaftsleben teilhaben, als Aktionär und Aufsichtsratsmitglied einer kleineren Eisenbahngesellschaft, wo er versucht, eine ehrliche Politik im Sinne der freien Konkurrenz zu betreiben. Erst als er sieht, wie hier Betrügerei, Korruption und Ausverkauf statthaben, Scheinfirmen gegründet, Schmiergelder gezahlt werden, zieht er sich zurück …

„Es gab einen Faktor bei dem Problem, den wenige einkalkuliert hatten, die riesige Öffentlichkeit; die das ganze Geld für das Spiel bereithielt - die Menschen, für die Dollars nicht bloß Spielmarken waren, sondern Lebensnotwendigkeiten darstellten; Geschäftsleute, die sie brauchten, um ihre Angestellten am Samstagnachmittag auszuzahlen; Arbeiter, die sie benötigten für Miete und Lebensmittel; hilflose Witwen und Waisen, denen sie Sicherheit vorm Verhungern gewährten …“

Den Verlauf der Krise selbst, aus der Waterman alias Morgan als der große Retter der Nation hervorgeht, schildert Sinclair in direkter Reportage, wobei Allan Montagues Perspektive ständig durchschimmert.

„Er wandte sich ab, ärgerlich und verbittert. War überhaupt eine tragischere Ironie vorstellbar als diese -, daß derjenige Mann, der für diese schreckliche Kalamität verantwortlich war, auch noch im ganzen Land gefeiert wurde dafür, sie abgewendet zu haben. Hätte es eine widerlichere Demonstration der Methode geben können, mit der die Führer der Metropole ihre blinde und hilflose Bevölkerung hinters Licht führen?“

 

King Coal 1917 (König Kohle)

 

King Coal ist Ergebnis persönlicher Recherchen und intensivsten politischen Engagements. Mit dem Kohlebergbau in Colorado hat sich Sinclair darin eine weitere große Schlüsselindustrie vorgeknöpft in einem Jahrzehnt, als in den USA allenthalben der Kampf um die Durchsetzung und Anerkennung der zentralen Industriegewerkschaften brandete. Das Gegenmodell der Konzerne waren die sogenannten „company unions“, deren erste von der Colorado Fuel and Iron Company 1912 in die Welt gesetzt wurde. In diesen „Firmengewerkschaften“ sollten nur Beschäftigte ein und desselben Betriebs organisiert sein. Ein Exklusivvertrag regelte die Beziehung zum Unternehmer. Die Einbindung in einen überregionalen Dachverband war nicht möglich. Damit schufen sich die Konzernherren ein Instrument der Kontrolle und des Zugriffs. Erst mit dem National Labor Relations Act 1935 erfolgte der Niedergang der „company unions“, was nicht ausschließt, daß es sie in gewerkschaftlich „unterentwickelten“ Bereichen heute noch gibt.

Der unmittelbare Anstoß zu King Coal ergab sich für Sinclair, als im April 1914 auf dem Höhepunkt eines lang hingezogenen Bergarbeiterstreiks in Ludlow, Colorado, von Miliztruppen ein Zeltlager in Brand gesteckt wurde, wobei zwei Frauen und elf Kinder umkamen. Sinclair erfuhr von dem schändlichen Mord, der als „Ludlow Massacre“ in die Geschichte eingegangen ist, auf einer Massenveranstaltung in New York eine Woche später. Zutiefst betroffen und von heiligem Zorn erfüllt, organisierte er einen Trauerzug in Form einer Streikpostenkette vor dem Gebäude der Standard Oil Company in New York. Deren Hauptanteilseigner, John D. Rockefeller, Jr., besaß auch einen hohen Prozentsatz an Aktien bei der Fuel and Iron-Gesellschaft in Colorado, die letztlich für das Massaker verantwortlich war. Außerdem hatte er sich persönlich für die Einführung der „company union“ dort eingesetzt.

Die Aktion, vorbereitet durch eine Pressekonferenz am Vorabend, zog eine große Menschenmenge an, die von Tag zu Tag wuchs. Sinclair wurde festgenommen und wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu drei Dollar Geldstrafe, ersatzweise drei Tage Haft verurteilt, die er demonstrativ absaß. Sinclair hatte Ansprachen vor dem Rockefeller-Gebäude gehalten, die seine Position zu den Gewerkschaftskämpfen des Jahrzehnts erkennen lassen, die er als Vertreter einer amerikanischen Öffentlichkeit artikulierte:

„Die Öffentlichkeit hat kein Verständnis dafür, daß die ganze Geschichte der Bergarbeiterstreiks eine Geschichte der Versprechungen und Konzessionen ist, die widerrufen und zurückgezogen wurden, sobald die Gesellschaft erkannte, daß sie die Sprecher der Arbeiterschaft nach einer Friedensregelung Mann für Mann beseitigen konnte, statt sich im offenen Konflikt des Streiks mit ihnen auseinanderzusetzen.“

Sinclair schrieb auch Briefe an Rockefeller, die sämtlich unbeantwortet blieben. In einem heißt es: „Wir bewegen uns in eine Ära hinein, Mr. Rockefeller, die Sie als Angehöriger der jungen Generation verstehen lernen müssen. Die älteren Mitglieder Ihrer Familie haben sich durch List und Betrug und manchmal durch tatsächliche physische Gewalt natürlichen Reichtum im Wert von Hunderten von Millionen Dollar angeeignet, Reichtum, der für das Leben der Menschen unentbehrlich ist. Die Menschen wissen, daß sie beraubt wurden und immer noch beraubt werden. Es wird unvermeidlich sein, daß sie den Namen Rockefeller hassen. Diesen Namen können Sie nicht abstreifen, wohl aber können Sie so rasch wie möglich denjenigen gestohlenen Reichtum vergesellschaften, der sich unter Ihrer tatsächlichen Kontrolle befindet.“

Damit hatte Sinclair eine der zentralen Forderungen der Sozialistischen Partei Amerikas einem der Hauptfeinde direkt ins Gesicht geschleudert. Die Partei ihrerseits war von Sinclairs Aktionen überhaupt nicht angetan. Ihre Führung sprach von billiger Effekthascherei und Selbstreklame Sinclairs, vermochte den öffentlichen Aufruhr, an dem eines ihrer prominenten Mitglieder entscheidenden Anteil hatte, nicht im Sinne der Partei zu nutzen. Sie lehnte die von Sinclair angeregte Unterstützung einer bundesweiten Demonstration ab.

Am 12. Mai 1914 traf Sinclair im Bundesstaat Colorado ein, um ähnlich wie in den Schlachthöfen Chicagos Recherchen vor Ort durchzuführen, wo Streiks und Demonstrationen neuen Höhepunkten zustrebten. Mother Mary Jones war dort, die legendäre Heldin der Arbeiterklasse, die 1930 hundertjährig starb und der Nachwelt mit einer 1925 geschriebenen Autobiographie ein beredtes Zeugnis von 60 Jahren lebendiger Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung hinterließ. Differenzen gab es mit den Vertretern der revolutionär-syndikalistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) und den anarchistischen Gruppierungen um Emma Goldmans Magazin Mother Earth, denen Sinclair zu angepaßt, versöhnlerisch und kompromißbereit war. Sinclair führte zahllose Interviews, arbeitete Kongreß- und Kommissionsberichte durch und las so ziemlich jeden Artikel über den Streik, den er finden konnte.

Erst ein Jahr später begann er mit der tatsächlichen Abfassung des Romans King Coal, der ohne die Widerstände und Ratschläge des Verlagsleiters von Macmillan, George Brett, eher zu einem rein historischen Dokument geraten wäre. Der Prozeß der Aufteilung des Stoffes in die beiden Werke markiert eine interessante Zwischenstufe in der Entwicklung des Autors auf den historischen Roman zu, wie er dann in Boston und der monumentalen World's End-Serie zu einer gewissen Meisterschaft gelangte. So wurde das Werk zu einer lebendigen Erzählung, behielt aber zugleich die systematische Struktur eines Traktats, einer Untersuchung über die vielfältigen Erscheinungen des Bergbau-Trusts, romanhaft gewendet als „Reich“ des „König Kohle“. Entsprechend gliedert sich das Buch in vier Teile, die alle auf den Titelbegriff bezogen sind: das Reich, die Sklaven, die Henker und der Wille des „König Kohle“.

Hauptfigur ist Hal Warner. Er wird eingeführt als Arbeitsuchender, der sich die steile Bergstraße heraufgeschleppt hat und zuerst abgewiesen wird, ganz im Widerspruch zum Plakat, welches Jobs angeboten hatte. Der Marschall des konzerneigenen Camps verdächtigt ihn als Gewerkschaftsorganisator. Bei einem zweiten Versuch wird er zusammengeschlagen und ausgeraubt. Wanderarbeiter lehren ihn, daß er nur durch Schmiergeld hinein käme. Er wird eingestellt als Aufseher der Maultierställe unter Tage. Diese Tiere ziehen die Loren mit der Kohle. Hal entpuppt sich nach und nach für den Leser als College-Student und Sohn eines Minenbesitzers, der incognito die Verhältnisse im Bergwerk von Percy Harrigan, einem Kollegen seines Vaters, von unten her erkunden möchte.

Hal findet heraus, daß man einen besseren Job bekommen kann; wenn man den Vorarbeiter mit der Hälfte der Lohnerhöhung schmiert. Unterdrückung am Arbeitsplatz, der permanente Betrug durch den werkseigenen Einkaufsladen, Alkoholismus als Folge von Elend und Armut - diese Erfahrungen führen konsequent zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer Gewerkschaft. Weit davon entfernt, ein Revolutionär zu sein, besteht seine schlichte Forderung darin, geltende Gesetze hinsichtlich Arbeitszeit, Sicherheitsbestimmungen, Recht auf gewerkschaftliche Organisation durchzusetzen. War The Jungle Sinclairs sozialistischer Roman, so ist King Coal sein Gewerkschaftsroman. Nicht mehr die Wahlurne, sondern gewerkschaftliche Politik gegen die Konzerne können die Verhältnisse ändern, denn als Ausländer, Wanderarbeiter, Frauen und Schwarze sind die arbeitenden Menschen in den USA oft gar nicht wahlberechtigt.“

Die Handlung und die Charaktere des Romans sind um ein zentrales Ereignis gruppiert: ein Feuer im Stollen. Die Werksleitung beschließt, den Stollen zu versiegeln, was das baldige Ende des Feuers, die Rettung von Material, aber den sicheren Tod der eingeschlossenen Arbeiter bedeutet. Hal Warner versucht, die Ungeheuerlichkeit durch die regionale Presse publik zu machen; die will es sich mit dem mächtigen Konzern des Distrikts nicht verderben; ein Leitmotiv im Schaffen Sinclairs seit seinem eigenen Pressekrieg anläßlich des Jungle und systematisch dargelegt zwei Jahre nach King Coal in seinem „muckraking“-Werk gegen das bürgerlich-kapitalistische Zeitungswesen, The Brass Check.

Schließlich kommt zufällig ein Sonderzug durch die Stadt, auf dem sich der Juniorchef Percy Harrigan mit feuchtfröhlichen Gästen befindet. Ihm trotzt Hal die Entscheidung ab, den Schacht zu öffnen, und die Männer werden gerettet. Zur Gewerkschaftsgründung kommt es lediglich auf konspirativem Wege als Geheimorganisation; die Zeit ist noch nicht reif. Erst müssen die United Mine Workers auch in den umliegenden Konzernen Fuß gefaßt haben.“

 

The Profits of Religion 1918 (Religion und Profit)

 

„Dabei ging es Sinclair nicht nur um die entlarvende Darstellung der etablierten Kirchen in der eigenen amerikanischen Gegenwart, sondern um die Rolle der kirchlichen Institutionen und Persönlichkeiten in einem Prozeß der Verhinderung des historischen Fortschritts.

Luthers Rolle in der Niederwerfung der Bauernaufstände ist ihm ebenso erwähnenswert wie die Funktion der Kirchen bei der Erhaltung und Verschärfung der Sklaverei und der Unterdrückung der Frau. Sein besonderer Groll gilt dem Katholizismus, einem Erziehungssystem, das Erziehung verhinderte. Katholiken besetzten Bibliotheksausschüsse, um zu verhindern, daß aufklärende Werke der Wissenschaft angeschafft wurden. Katholiken besetzten Schulaufsichtsbehörden, damit die Kinder nichts erfuhren über Galilei und Bruno. Unter dem Stichwort „unheilige Allianz“ wird die Kollaboration von Katholizismus, Kapital, politischer Administration und Geheimdienst aufgedeckt.

Doch die protestantischen Kirchen der Geschichte und der amerikanischen Gegenwart, deren besondere Affinität zum „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber) vielfach nachgewiesen ist, entgehen ebensowenig der prüfenden Analyse des Muckrakers. „Die These dieses Buches ist der Kausalzusammenhang von Dogma und geistiger Lähmung, und die Nutzbarmachung dieser geistigen Lähmung in der Sphäre ökonomischer Ausbeutung. In dieser Hinsicht schneiden die verschiedenen protestantischen Sekten besser ab als die katholische, aber nicht viel besser.“ Von der preußischen Staatskirche wird eine Linie gezogen zur amerikanischen Sklaverei, von den Sklavenhaltern zum Industriekapital des Nordens.

„Es ist für mich keine Frage, daß das Los des Sklaven um 1860 im Durchschnitt dem unserer modernen Sklaven des Rindfleischtrusts, des Stahltrusts oder des Kohletrusts vorzuziehen war. Es lag in des südstaatlichen Eigentümers geschäftlichem Interesse, seinen Sklaven bei guter Gesundheit zu halten. Niemand hat ein geschäftliches Interesse an der Gesundheit des Lohnsklaven … es ist die höchste Ironie der Geschichte, daß Jesus von Nazareth als Kronzeuge dieses blutrünstigen Systems herhalten mußte ...“

Ein Kapitel widmet Sinclair den exzentrischen, kultischen und fanatischen Sekten, den Siebentagsadventisten, Mormonen, den schwarzen Magiern und anderen Formen des Spleens und Nonsens, wo sich bis auf den heutigen Tag die totale Freiheit des amerikanischen Eskapismus auslebt. Den Abschluß bildet das Kapitel „Die Kirche der sozialen Revolution“, das Sinclair mit einem Trick einleitet. Er bringt angebliche Zitate von Sozialisten und Anarchisten - Debs, Bill Haywood, Emma Goldman, Alexander Berkman -, um dann mit dem Nachweis, daß sie entweder aus der Bibel oder von frühchristlichen Autoren stammen, um so eindrücklicher die revolutionäre Komponente der Geschichte des Christentums und die soziale Verpflichtung der Kirchen zu zeigen. Die soziale Revolution werde die Formalisten und Traditionalisten aus den Kirchen vertreiben – „und wer weiß, vielleicht sehen wir auch in Amerika jene wundervolle Sache, die in Rußland geschah, als christliche Mönche ihre heiligen Bücher verbrannten und den Staat ersuchten, sie als Bürger und Menschen aufzunehmen. Es ist meine Überzeugung, daß, ist einmal die Macht der Ausbeutung gebrochen, die tote Hand in Staub zerfallen wird wie eine Mumie, die der Luft ausgesetzt wird.“

 

Jimmie Higgins 1919

 

Jimmie Higgins entstand in einem Zeitraum, als Sinclair unmittelbar die Ereignisse des US-Eintritts in den Ersten Weltkrieg und sein Verhältnis zur Politik Präsident Wilsons aufarbeitete …

Jimmie ist der Prototyp des unermüdlichen und aufopferungsbereiten „rank and file“-Gewerkschafts- und Parteimitglieds, der die mühevolle tägliche Kleinarbeit in Betriebsgruppe und Ortsverband leistet, das „Salz der Arbeiterklasse“, wie ihn William Foster genannt hat. Sozialistenführer Eugene V. Debs, der offensichtlich die historische Vorlage abgab für den „Kandidaten“, auf den Jimmie im ersten Kapitel trifft, beglückwünschte Sinclair zur Wahl seiner Titelgestalt: „… der Mann, der stets an der Arbeit ist; der die notwendigen Aufgaben erfüllt, die kein anderer verrichten will; der sich nie beklagt, nie meckert, sich nicht entmutigen läßt … Die Freude über den Dienst an der Sache ist sein einziger Lohn.“

Jimmie wird eingeführt als der ehemalige „Hobo“ und Wanderarbeiter, der die gutherzige ehemalige Prostituierte Lizzie geheiratet hat, die am Abend ins Kino will, aber er muß helfen bei der Herrichtung des Saales für die Rede des „Kandidaten“. Debs als „der Kandidat“ entwickelt die These, daß der Kapitalismus neue Märkte für seine Überschußprodukte und Rüstungsindustrie für die Beschäftigung seiner Lohnsklaven braucht. Er überzeugt Jimmie, daß die angemessene sozialistische Position zum europäischen Krieg die der Neutralität ist. Jimmie nimmt teil an lokalen Demonstrationen und Streiks, die aber auf die weltwirtschaftliche und politische Situation bezogen sind.

Sein und der Genossen Zusammenstoß mit der Polizei ist gestaltet als Form der „IWW Free Speech Fights“, eine von den Industrial Workers of the World über Jahre hinweg praktizierte Kampfmethode, um das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Versammlungs- und Redefreiheit zu erzwingen. Die „wobblies“ stiegen an Straßenecken auf Seifenkisten und begannen eine Rede mit dem Satz „fellow workers and friends“, worauf sie nacheinander von Polizisten abgeführt wurden.“

„‘Mitbürger‘, rief er, ‚wir sind hier in Ausübung unserer Rechte als amerikanische Bürger! Wir führen eine friedfertige und ordentliche politische Versammlung durch; wir kennen unsere Rechte und wollen sie erhalten. Wir –‘ ‚Komm von der Kiste runter, Bürschchen,‘ befahl der Polizist, und die Menge johlte und buhte. ‚Mitbürger‘ begann Gerrity erneut, doch weiter kam er nicht, denn der Polizist packte seinen Arm … Im Nu war die Genossin Mabel Smith auf die Kiste gesprungen. ‚Genossen‘, rief sie aus, ‚ist dies Amerika oder Rußland?‘ ‚Das reicht, meine Dame‘, sagte der Polizist … Dann kam Genosse Stankewitz, ‚Arbeiter, wird sind hier, um für die Rechte der Arbeiter zu kämpfen!‘ Auch er wurde heruntergerissen. Dann kam ‚Wild Bill‘ … und dann Johnny Edge.“ Und so weiter; sie werden abgeführt. Ihre Untersuchungshaft absolvieren sie in der berüchtigten Massenzelle des „tank“, die Sinclair einige Jahre später im IWW-Drama Singing Jailbirds zum Handlungsschauplatz macht.

Jimmies von Debs inspirierte Haltung gerät mit dem US-Eintritt in den Krieg ins Wanken. Die Politik des Präsidenten wird ihm über unmittelbare Erfahrungen am Ort vermittelt: Die Bundesregierung zwingt eine große Fabrik in seiner Heimatstadt, eine überregionale Gewerkschaftsorganisation anzuerkennen und ihren Arbeitern höheren Lohn zu zahlen. Ein einflußreicher Bankier in der Stadt hält eine Rede, in der er seine „Konversion“ zu industrieller Demokratie verkündet. Darauf ist Jimmie besonders stolz, hatte er doch diesem Mann einige Jahre zuvor ein Ticket für die Debs-Rede verkauft. Er fühlt sich nun an der politischen Erziehung des Mannes beteiligt, der die Notwendigkeit der Rüstungsproduktion vertritt. Auch die Erfahrung der zunehmenden Einschränkung demokratischer Rechte erschwert das Festhalten am Neutralitätsgedanken. Was war der Sinn des Kampfes für eine Demokratie irgendwo in Europa, wenn dafür zu Hause jeglicher Rest von Demokratie geopfert werden mußte?

Das Maß war voll, als die deutschen Sozialisten auf Geheiß ihrer preußischen Generäle das Feuer eröffneten auf die Bannerträger der Revolution in Rußland. Frustriert und wütend läßt sich Jimmie einziehen, obgleich er sich voll darüber im Klaren ist, daß der Kampf gegen die Deutschen, die die Bolschewisten bekämpfen, letztlich den französischen Bankiers zugute kommt, die dem Zar Milliardenkredite gewährt hatten. Er wird als Motorradschlosser an der französischen Front eingesetzt, muß selbst schießen und wird verwundet. Das bringt ihm militärische Ehrung, und der genesene Held kommt aus dem Hospital als Sergeant Jimmie Higgins.

Mit einer US-Expeditionstruppe gelangt er nun nach Archangelsk in den Norden Rußlands. Sinclairs szenische Darstellung der Erkenntnis Jimmies, daß der Angriff nicht auf die dort eingefallenen Deutschen, sondern auf die Bolschewisten gerichtet ist, ist mit gefühlssozialistischer Emphase der internationalen Solidarität dargestellt.

„‚Du gehörst zur Gewerkschaft in Amerika?‘ fragte der andere.

‚Na klar!‘ sagte Jimmie.

‚Welche Gewerkschaft?‘

‚Maschinisten!‘

‚Warst vielleicht auf Streik?‘

‚Na klar!‘

‚Hast welche in Fresse gekriegt?‘

‚Na klar!‘

‚Warst nie Streikbrecher?‘

‚Kaum!‘

‚Du was heißt Klassenbewußtsein hast?‘

‚Na klar. Ich bin Sozialist.‘ Der andere sah ihn an, vor plötzlicher Erregung zitternd. ‚Hast du rote Karte?‘

‚Na klar‘, sagte Jimmie, ‚hier im Mantel‘.

‚Guter Gott‘, rief der andere aus. ‚Ein Genosse!‘ Er steckte Jimmie beide Hände entgegen, die mit altem Jutesacktuch umwickelt waren. ‚Tovarish!‘ rief er. Und in der arktischen Kälte fühlten diese beiden die auflodernde Wärme in ihren Herzen. In der Wildnis von Einsamkeit und Eis wirkte der Geist internationaler Brüderlichkeit. Doch dann, immer noch vor Aufregung zitternd, packte der kleine Jude Jimmie mit seinen umwickelten Händen. ‚Wenn du bist Sozialist, warum du dann kämpfst russische Arbeiter?‘ ‚Ich kämpfe nicht gegen sie!‘ ‚Du aber trägst Uniform!‘ ‚Ich bin bloß Motorradspezialist!‘ ‚Aber du helfen töten russische Volk. Du zerstören die Sowjets. Warum?‘ ‚Ich wußte es nicht‘, bat Jirnrnie um Verständnis. ‚Ich wollte den Kaiser bekämpfen, und sie brachten mich hierher ohne zu sagen, was gespielt wird.‘“

So wird Jimmie zum Verbündeten der Bolschewisten und verteilt deren Propagandaliteratur unter den US-Soldaten. Er hat damit wieder zu sich selbst gefunden, ist sich letztlich treu geblieben. Als er die Namen seiner Kollaborateure nicht verraten will, wird er auf Befehl seiner militärischen Vorgesetzten gefoltert. Ein Experte dieser Branche unterwirft ihn der „Wasserkur“, der an der Heimatfront in Amerika bei der Befragung von „wobblies“ praktizierten Spezialfolter, bei der der Körper bis zum Bersten mit Wasser vollgepumpt wird. Jimmie erträgt diese unendlichen Leiden; Sinclair erhöht seinen Helden zum Märtyrer, läßt ihn im Wahnsinn enden.

Die Tragik seiner psychischen und physischen Deformation ist zugleich der Triumph seiner politischen Loyalität. In der totalen Selbstaufgabe vollendet sich das Bild des Jimmie Higgins, des „Salzes der Arbeiterklasse“. In der literarischen Vollendung seines Helden markiert Sinclair den Abbruch seiner eigenen Kollaboration mit dem Kapital, wie sie sich in der mehrjährigen Unterstützung der Politik Wilsons ausgedrückt hatte. Er markiert hier zugleich seine Sympathien mit den Errungenschaften und Zielen der Oktoberrevolution, die zwar nicht als Modell für Amerika, wohl aber als historische Leistung für die Völker Rußlands gewürdigt wird, mit der sich die Sozialisten in der Welt produktiv-kritisch auseinanderzusetzen haben.“

 

The Brass Check 1920 (Der Sünderlohn, eine Studie über den Journalismus)

 

„… Eigenschaften, die in stärkerem Maße noch auf das zweite Buch der Reihe, The Brass Check (1919), zutreffen, wo der Gegenstand, das kapitalistische Pressewesen und sein korrupter Journalismus, vermittels des Titelbegriffs, direkt aussagekräftig charakterisiert werden. „Brass check“, das ist eine metallene Münze, die in billigen Freudenhäusern als Zahlungsmittel diente.

The Brass Check ist in vorsichtiger Einschätzung das beste Buch aus der „Dead Hand Series“, packend geschrieben, weil von eigenen Erlebnissen zu Genüge durchsetzt, keine trockene Abhandlung. Sinclair hatte seit The Jungle (und früher) regelmäßig Materialien über die Praktiken der herrschenden Presse, über Zensur, Kollaboration und direkten Interventionismus des Kapitals, über die Finanzsituation der großen bürgerlichen Zeitungen, über die Unterdrückung von Nachrichten gesammelt. The Brass Check ist die Auswertung. In der Sinclair eigenen fundierten Weise der Dokumentierung ist hier so etwas wie eine ausgewählte Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Presse der USA entstanden. Naturgemäß kommt seinen persönlichen Erfahrungen zentrale Bedeutung zu. So beschäftigen sich die ersten zehn Kapitel mit dem Kampf gegen die Zeitungsmonopole im Zusammenhang der Aufdeckung der hanebüchenen Verhältnisse in den Schlachthöfen, seinen Schwierigkeiten, Aufrufe und Aufdeckungen in Briefen und Artikeln, und auch den Jungle selbst, zu publizieren. Sinclairs Analysen sind nicht immer frei von moralisierenden larmoyant-egoistischen Tönen (sein persönliches Erleiden der unerhörtesten Praktiken). Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert: „The Evidence“ (dokumentarische Darstellung der Sachverhalte) – „The Explication“ (Ableitung der Phänomene aus den ökonomischen und Klassenzusammenhängen) – „The Remedy“ (eigene Vorschläge zur Behebung des Übels).

Das Hauptübel, die dauernde große Lüge in den etablierten Nachrichtenorganen, läßt sich nach Sinclair nur beheben durch ein freies Pressewesen in einer sozialistischen Gesellschaft. Sinclair propagiert „industrial democracy“, d. h. Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien; dies wäre letztlich auch dafür die Voraussetzung, daß sich eine freie Konkurrenz der Gedanken entfalten könnte; daß der Zugriff der Privatinteressen auf die Organe der freien Meinungsäußerung ein Ende haben könnte.“

Sinclair fordert Gesetze, durch die Presseorgane auf den Wahrheitsgehalt ihrer Nachrichten kontrolliert werden, möchte die Zeitungen in den Besitz der Kommunen überführen, empfiehlt den Aufbau einer nationalen Gewerkschaft der Journalisten und die Einrichtung einer bundesweiten Wochenzeitung, die - frei von Editorials und Werbung - eine Chronik der tatsächlichen Ereignisse bringen sollte.“

 

100%, The Story of a Patriot 1920 (Hundert Prozent: Roman eines Patrioten)

 

„Im Jahr 1920 schrieb Sinclair 100%, The Story of a Patriot, einen satirischen Roman mit dem Gewerkschafts- und Polizeispitzel und professionellen Betrüger Peter Gudge als Hauptfigur. In sechs Wochen rasch hingeschrieben und ohne besondere literarische Verdienste, legte das Werk gleichwohl Zeugnis ab von der Brutalisierung der Hetze auf das, was als „red menace“, als die angebliche rote Bedrohung denunziert wurde. Es handelt von den Verbrechen, die Schergen des Kapitals und staatliche und regionale Instanzen an Gewerkschaftern, arbeitenden Männern und Frauen, an linken Intellektuellen und Kritikern der bestehenden Verhältnisse verübten. Der Roman war insgesamt eine scharf formulierte Kritik an der staatlichen Gesetzgebung zur Verfolgung von Sozialisten und Demokraten …

Doch als der Hafenarbeiterstreik in San Pedro, Kalifornien, im April - Mai 1923 immer schlimmere Formen der Unterdrückung durch die Herrschenden offenbarte, gelang ihr dies nicht mehr. „Der 44jährige Romancier fand es schwierig, sich aufs Schreiben zu konzentrieren, während in nur geringer Entfernung Männer in den von Läusen wimmelnden Massenzellen der Gefängnisse von Los Angeles zusammengetrieben wurden, unter der Anklage, den Verkehr blockiert zu haben oder dem Verdacht des kriminellen Syndikalismus. Er war überzeugt, daß die Polizei als Agentur des Verbandes der Kaufleute und Unternehmer fungierte.“ Der Streik der Marine Transport Workers war eingebunden in nationale Aktionen der IWW für die Freilassung politischer Gefangener und erhob auf lokaler Ebene die zusätzlichen Forderungen der gewerkschaftlichen Kontrolle von Einstellungen und Entlassungen, höherer Löhne, der Verbesserung von Arbeitsbedingungen und der Zurücknahme des „Criminal Syndicalist“-Gesetzes. Auf dem Höhepunkt der Masseninhaftierungen nahm der Streik den typischen Verlauf von IWW Free Speech Fights mit Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen, die prompt von den örtlichen Behörden verboten wurden. Als daraufhin eine Sympathisantin ihr Privatgrundstück mit dem sprechenden Namen „Liberty Hill“ für diese Versammlungen zur Verfügung stellte, gab es auch hier Übergriffe der Polizei.

Auf demselben Grundstück organisierte nun seinerseits Sinclair mit Erlaubnis des Bürgermeisters eine weitere Versammlung. Sie wurde freilich noch im Vorfeld durch den Polizeichef Oaks vereitelt, der Sinclairs Vorlesung aus der amerikanischen Verfassung im Polizeipräsidium bereits so provokativ fand, daß er ihm Gefängnis ohne Kautionshinterlegung androhte und „Liberty Hill“ vollkommen abriegelte. Als Sinclair mit wenigen Getreuen, u. a. seinem Schwager Kimbrough und den „sozialistischen Millionären“ Kate Crane Gartz und Prince Hopkins den Hügel erklomm, erwartete ihn bereits die Polizei. Vier der Männer wurden beim ersten Sprechversuch unverzüglich festgenommen.

Die ungewöhnliche Polizeiaktion, die des farcenhaften Zuschnitts nicht entbehrte, legitimierte Oaks mit der Einschätzung, Sinclair sei „gefährlicher als 4.000 wobblies“ und der „schlimmste Radikalinski im Lande“.“

 

They Call me Carpenter 1922 (Man nennt mich Zimmermann)

 

„Die Grundlagen eines christlichen Sozialismus läßt der Autor bereits in seinem radikalsten Roman, The Jungle, von den beiden Diskutanten Lucas und Schliemann entwickeln, mit Jurgis Rudkus als erstauntem Zuhörer. Hier wird – sicherlich in der Hitze der Debatte übersteigert - Christus als der erste Revolutionär, als der vom Haß auf allen Reichtum angespornte Begründer der sozialistischen Bewegung gefaßt: „Dieser klassenbewußte Arbeiter, dieser Gewerkschaftstischler! Dieser Agitator, Gesetzesbrecher, Flammenleger und Anarchist! Dieser souveräne Herr und Meister einer Welt, die Körper und Seele der Menschen zu Dollars zermahlt - käme er heute in diese Welt und sähe, was die Menschen in seinem Namen getan haben, würde seine Seele nicht vor Entsetzen zerbersten?“ Die herausgeschleuderte Frage hat Sinclair 1922 zu einem ganzen Roman verarbeitet: They Call Me Carpenter.

Der Ich-Erzähler Billy wird beim Verlassen eines Kinos von einem Mob niedergeschlagen und verletzt, weil er sich einen deutschen Film angesehen hatte, damit deutsche Propaganda akzeptiert und die deutsche Filmindustrie unterstützt hätte. Er flüchtet in eine Kirche und hat im Halbbewußtsein der Erschöpfung und des Blutverlusts die Halluzination, daß die Christusfigur vom Altar herabgestiegen ist und vor ihm steht. Als sie zu sprechen beginnt, verwandelt sich die Vision in Romanwirklichkeit. Damit ist der „Welt größter revolutionäre Märtyrer, der Begründer der ersten proletarischen Partei der Welt“ (Sinclair im Nachwort) als Anachronismus in die Welt der Gegenwart, d.h. Los Angeles und Hollywood 1921 übersetzt. Anachronismus, d.h. der Aufeinanderprall zweier unvereinbarer historischer Perioden, erzeugt als literarisches Mittel Humor. Genau das wollte Sinclair vermeiden: „Es kann geschehen, daß Millionen Menschen diese Geschichte lesen und denken, es sei ein bloßer Witz … Für diejenigen, deren historische Bildung vernachlässigt wurde, füge ich eine Reihe von bibliographischen Nachweisen an. Die Ziffern links sind Seitenzahlen dieses Buches. Die Ziffern rechts bezeichnen die entsprechende Textstelle in einem Band voll alter Berichte, üblicherweise Bibel genannt ...“

Was in The Profits of Religion als Demonstration geschah, wird nunmehr als literarische Technik wiederaufgenommen, der Nachweis des revolutionären Charakters von Bibelstellen: die Evangelien als proletarische Literatur. Aus Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, vereinzelt auch aus den Propheten baut Sinclair Passagen in die Handlung und den Dialog des Romans ein, wobei es mit der Texttreue nicht immer so genau genommen wird. Oft sind es nur knappe hingeworfene Bemerkungen, oft längere Reden …

Jesus, der im Roman als Mr. Carpenter (Herr Tischler) vorgestellt wird, trifft zunächst auf die Filmgrößen Hollywoods, Stars, Kritiker, Produzenten; heilt Kranke in den Armenvierteln; nimmt an Streikversammlungen teil, wird von der Presse des Bolschewismus und der Blasphemie angeklagt und aus einer Kirche geworfen. Seine besondere Sympathie gilt den verfolgten Genossen der !WW; in Singing Jailbirds, wenig später geschrieben, sollte die Hauptfigur Red Adams den Genossen noch einmal als eine Art Heilsfigur aus dem Jenseits erscheinen.

So wie Christus in der biblischen Vorlage als König der Juden verspottet wird, denunziert ein Lynchmob Carpenter im Roman als „Bolsheviki prophet“, verfolgt ihn durch die Straßen, schlägt und steinigt ihn. Das Buch endet, wo es begann, in der Kirche des heiligen Bartholomäus, wohin der Tischler von seinem Ausflug in die böse Welt an seinen angestammten Platz oberhalb des Altars zurückkehrt. Der Erzähler Billy erwacht in der Kirche und das Ganze erweist sich als ein Traum, den er in seiner Ohnmacht träumte.“

 

The Goose-Step 1923 (Der Parademarsch, eine Studie über amerikanische Erziehung) /

The Goslings 1924 (Der Rekrut, eine Studie über amerikanische Erziehung)

 

„Die beiden Bücher The Goose-Step (1923) und The Goslings (1924) liegen in ihren Erscheinungsdaten weniger als ein Jahr auseinander; sie gehören inhaltlich zusammen, da sie nur unterschiedliche Sparten ein und desselben Erziehungs- und Bildungssystems behandeln; The Goose-Step, die Colleges und Universitäten, also den tertiären Bereich, The Goslings den Sektor des sekundären Schulwesens. Auch die gemeinsame Aussage der Titelbildlichkeit verklammert beide Bände; die kleinen Gänse, das sind die unschuldig und schutzlos dem Zugriff der Schule Preisgegebenen; später an der Universität marschieren sie dann im ideologischen Gleichtritt der Angepaßtheit. Sinclair benutzte für beide Werke dieselbe Forschungstechnik, die ihn einmal mehr als Muckraker kennzeichnet. Neben der Lektüre zahlloser Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Pamphlete, Vorlesungsverzeichnisse und Kurzcurricula, Lehr- und Lesebücher, bereiste er eine ausgewählte Anzahl von Institutionen im ganzen Land, führte hunderte Interviews mit Lehrern, Direktoren, Professoren, Kuratoriums- und Behördenvertretern, Mitgliedern von Ausschüssen, Komitees und Beratungsgremien, mit Präsidenten, Kanzlern und Gouverneuren, mit Eltern, Schülern und Studenten und offiziellen Vertretern deren jeweiliger Organisationen. Die Besuchsreise versuchte er mit einer Vortragsreise zu verknüpfen; an manchen Institutionen erhielt er Redeverbot, schon wieder ein Beweis für die Richtigkeit der aufgestellten Thesen über einseitige Information und Unterdrückung der Redefreiheit.

Die jeweilige zentrale These wird in den Vorworten knapp umrissen: „Nehmen wir einmal an, daß diese Maschine der (nationalen) Ausbildung gestohlen wäre. Daß eine Gruppe von Banditen sich ihrer bemächtigt, sie in Bewegung gesetzt hätte, nicht um eures Vorteils willen, oder des Vorteils eurer Söhne und Töchter, sondern zu Zwecken, die davon weit entfernt sind. Daß unseren sechshunderttausend jungen Menschen bewußt und in klarer Absicht nicht Weisheit, sondern Wahn beigebracht wird, nicht Gerechtigkeit, sondern Habgier, nicht Freiheit, sondern Sklaverei, nicht Liebe, sondern Haß.“

Und: „Absicht dieses Buches ist zu zeigen, wie die ‚unsichtbare Regierung‘ des Big Business, die den Rest Amerikas kontrolliert, die Betreuung eurer Kinder an sich gerissen hat. Im Verlauf einer öffentlichen Diskussion mit mir im Civic Club von New York im Mai 1922 gab Dr. Tildsley, der städtische Bezirksaufsichtsbeamte für das öffentliche Schulwesen, die nachfolgende Erklärung ab: ‚Ich kenne kein einziges Schulsystem in den Vereinigten Staaten, das den Interessen der Kinder dient. Sie alle dienen den Interessen der Bande.‘ Diese Erklärung von höchster Stelle ist die These des Buches The Goslings.“ Eine zusätzliche Verklammerung der beiden Bücher ergibt sich, indem in den Schlußkapiteln des zweiten bereits über die Wirkung des ersten auf die Öffentlichkeit und die betroffenen Institutionen berichtet wird.

So zitiert Sinclair z. B. aus einem Zeitungsartikel, der über die Verleihung eines Ehrendoktorats in Harvard an den Finanzmagnaten J. P. Morgan berichtet. In der Verleihungszeremonie sagte demzufolge der verantwortliche Fakultätsdekan: „Für John Pierpont Morgan, einen Sohn Harvards, den Erben der Macht und Verantwortung eines großen Bankhauses. Er hat von beidem Gebrauch gemacht mit großem Mut in der dunklen Krise des Weltkrieges und zu aller Zeit in Aufrichtigkeit, öffentlichem Geiste und Großzügigkeit.“ Den Vorgang kommentierte der berichtende Journalist: „De facto erhielt Mr. Morgan seinen Ehrendoktor für die Vervielfachung von Dollars in seinem internationalen Bankhaus. Einen definitiveren und klareren Beweis für Sinclairs Behauptungen konnte es nicht geben.“

In der Tat gilt der Löwenanteil des Buches - nicht ohne eine gewisse Monotonie - dem Nachweis der Verfilzung zwischen Kapital und Ausbildung. Der halböffentliche oder private Charakter der Hochschulstruktur in den USA begründet bis auf den heutigen Tag die Bildung von „Boards of Regents“ oder „Boards of Trustees“, Kuratorien, die überwiegend mit Persönlichkeiten des „öffentlichen Lebens“, also außeruniversitär besetzt sind. Es ist klar, daß hier die geldgebende Großindustrie der jeweiligen Region maßgeblich vertreten ist. Die „Boards“ entscheiden über den Haushalt der Hochschulen, damit über Anstellung und Entlassung auch des wissenschaftlichen Personals, damit mittelbar über die Inhalte von Forschung und Lehre. Es ist klar, daß Opportunismus und Duckmäusertum das Bild bei den Hochschullehrern bestimmen. In der Schilderung von „Berufsverboten“ bekommt Sinclairs Buch eine neue, auch speziell deutsche, Aktualität.

Sinclair fordert mehr Arbeiteruniversitäten und den Aufbau und Ausbau einer Hochschullehrergewerkschaft. Das letzte hatte er bereits für die Journalisten in The Brass Check verlangt. Die Rezepte beginnen sich zu wiederholen. Doch begründet er sehr einleuchtend die strukturelle Notwendigkeit, daß sich Professoren gegenüber ihren öffentlichen und privaten Arbeitgebern organisieren müssen, und kritisiert zugleich die Strategie der Abspaltung des bestehenden Hochschullehrerverbandes von den Gewerkschaften:

„Das erste Ziel des Verbandes war es anscheinend, sich von den Industriegewerkschaften abzugrenzen, wo es doch Tatsache ist, daß auch er eine Gewerkschaft ist, eine Organisation intellektueller Proletarier, die nichts besitzen außer der Freiheit, ihre Intelligenz als Arbeitskraft zu verkaufen. Lehrer an der Universität von Kalifornien beginnen mit einem Monatsgehalt von 150 Dollar, an der Universität von Chicago mit 130 Dollar, ebenso an der Universität von Illinois, in Yale und Michigan kriegen sie 125 Dollar und in Harvard 50 bis 100, für den Ruhm und die Ehre Harvards. Männer, die mit solchen Gehältern Familien ernähren, sich wie Gentlemen einkleiden und die Werkzeuge eines hochgradig spezialisierten Jobs erwerben müssen, sind Proletarier, und die Masse von ihnen wird ihr Leben lang Proletarier bleiben, und je eher sie es wissen, um so besser.“

In rund 90 Kurzkapiteln handelt das Buch auf knapp 500 Seiten eine Vielzahl von einzelnen Colleges und Hochschulen ab, die sich alle wie Mosaiksteinchen zu einem Panorama der Verfilzungen, Abhängigkeiten und Interessen zusammenfügen zu einer Ideologiefabrik des Kapitals. The Goslings ist systematischer aufgebaut; nicht die Institutionen bestimmen die Kapiteleinteilung, sondern die Formen der Abhängigkeit und Einflußnahme. Stärker als The Goose-Step betont das zweite Buch die Einbettung des Schulwesens in die anderen Ebenen der Ideologieproduktion: Religion und Kirche, politische Administration, Presse- und Verlagswesen, militärische Erziehung, Patriotismus und Antisozialismus. Die Schulbuchanalyse spielt eine gewichtige Rolle. Eine Zurücknahme der Intensität der Anklage, die sich öfter mit Humor, Ironie und Satire verbindet, schadet dem Buch nicht.

Jede Argumentationskette wird zurückgeführt auf die ökonomischen Verhältnisse als letztinstanzliche Ursache und oberstes Ziel. „Zusätzlich zu den Patrioten, die am rechten Inhalt unserer Schulbücher interessiert sind, gibt es die große Gruppe der Geschäftsleute, die an diesen Büchern als Ware interessiert sind. Jedes Jahr brauchen und lesen unsere 23 Millionen Schulkinder und siebenhunderttausend Studenten Millionen neuer Bücher. Da haben wir also eine riesige Industrie, wie jede andere in Amerika, ein Schlachtfeld der Bestechung und des Betrugs. Das ist die Grundlage der politischen Maschinerie an unseren Schulen, einer der Gründe, warum wir keine ehrlichen und fähigen Erzieher für unsere Kinder bekommen können.“

Folglich auch hier am Schluß der Aufruf, die Lehrergewerkschaft zu festigen, Gegenschulen zu gründen, die zukünftige Welt der Kooperation und Brüderlichkeit zu bauen. Das Buch schließt mit einer Skizze der Klassenlage in Amerika und den Hoffnungen, die daraus zu schöpfen sind; als solche ist sie ein Appell an die Massen von „Middle America“, sich auf ihre wahren Potenzen zu besinnen:

„Was könnt ihr selbst tun? Zunächst müßt ihr eure Lage selbst begreifen; lest die Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, die eure Oberen um jeden Preis von euch fernhalten wollen, in denen ihr vielleicht die Ökonomie des Klassenkampfes erklärt findet und jener Mächte, die die Menschheit in den Abgrund ziehen. Wißt ihr das erstmal, dann ist euch ein für allemal klar, daß auf die Ausbeuterklasse keine Hoffnungen gesetzt werden können. Einzelne Unternehmer mögen freundlich und liberal sein, aber mit wenigen Ausnahmen sind sie eingebunden in die Psychologie der eigenen Tätigkeit … Die Mittelschicht, in der ihr zu verbleiben hofft, wird zwischen den oberen und unteren Mühlsteinen zermahlen … mehr und mehr werden die Umrisse des weltweiten Kampfes deutlich, auf der einen Seite die Plutokratie, auf der anderen die Arbeiter. Allein die Arbeiter können uns davor retten, geschlachtet zu werden. Sie haben die Zahlen, die potentielle Macht, und sie allein haben die nötige Moral, denn sie sind die Produzenten und nicht die Spieler, die Spekulanten und Verschwender …

 

Singing Jailbirds 1924 (Singende Galgenvögel)

 

„Der Autor schrieb das Drama unmittelbar im Anschluß an die skizzierten Ereignisse, aufgeführt wurde es auf einer professionellen Bühne New Yorks erst mehr als vier Jahre später; und das, nachdem es im Piscator-Theater Berlins bereits eine erfolgreiche Inszenierung in deutscher Sprache erlebt hatte. Unter dem Titel Singende Galgenvögel wurde das Stück in Berlin aufgeführt. Vor dem Hintergrund des San Pedro-Streikgeschehens gibt Sinclair in Singing Jailbirds eine exemplarische Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der IWW. Der kollektive Held ist die Gesamtheit dieser Gewerkschaft, die als die „einzige Arbeiterorganisation, die singt“ (John Reed) in die Geschichte eingegangen ist.

Der Liederschatz der IWW wurde in dem „kleinen roten Liederbuch“ gesammelt. Der Autor eines Großteils der Lieder war der unvergeßliche Sänger und Dichter Joe Hill (eigentlich Joseph Hillstrom), der als gebürtiger Schwede 1910 sich genau jenem IWW-Ortsverband anschloß, dem Sinclairs Drama zugrunde liegt, nämlich San Pedro. Hier schrieb er 1911 sein erstes Lied über Casey Jones, den Streikbrecher. Joe Hill bereicherte die unrühmliche Geschichte der Justizskandale in den USA um eine weitere Etappe. Er wurde 1915 in einem parteiischen Prozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet, wegen angeblichen Mordes. In seinen Liedern wurde er unsterblich als einer der ganz großen Arbeiterdichter in der amerikanischen Kultur. Stellvertretend machen die Lieder aufmerksam auf das große Gewicht kultureller Betätigung und Produktion im Rahmen der politischen Arbeit der IWW.

In Sinclairs Theaterstück wird das Lied zum Leitmotiv. Die Chöre der IWW begleiten, untermalen, unterbrechen und interpunktieren den gesamten Handlungsablauf. Sie werden gesungen in der Massenzelle des „tank“ und zwar im Wechselgesang mit den Massen draußen, die damit den eingeschlossenen Genossen Mut zusprechen wollen. Sie brechen herein in die Vorstellungswelt der Hauptgestalt Red Adams; sie sind im Hintergrund unüberhörbar, wenn Adams in der Eingangsszene vom Bezirksrichter vernommen wird. Ein Rezensent der Berliner Inszenierung des Dramas schrieb über die Funktion der Songs:

„Es ist das Hohelied der proletarischen Klassensolidarität, das die Galgenvögel Sinclairs singend durch die vier Akte und die ungezählten Bilder des Dramas tragen. Es ist die Melodie, die im Herzen jedes Arbeiters klingt, wenn er im Kampf für die Interessen seiner Klasse steht, wenn er täglich, stündlich sein Einzelschicksal hintan setzt gegenüber den großen Fragen seiner Klasse.

Dieses tiefste Problem des proletarischen Klassenkampfes, die Zusammengehörigkeit der vielen, das Aufgehen des Einzelnen in der Masse und die unverrückbare Solidarität der Masse mit dem Einzelnen, wenn er im Klassenkampf auf der Strecke bleibt, wenn er eingekerkert wird, - das ist es, worum es in den Singenden Galgenvögeln geht“ …

Im Nachwort zu Singing Jailbirds hatte Sinclair angemerkt: „Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte der Autor feststellen, daß er kein Mitglied der IWW ist und niemals war; als Sozialist mißbilligt er das Programm der IWW und hat nie gezögert, die Mißbilligung auch bekannt zu machen. Er verteidigt aber das Recht aller Gruppen auf freie Äußerung ihrer politischen und gesellschaftlichen Meinungen; das Stück ist daher ein Appell an das amerikanische Volk, die fundamentalsten verfassungsmäßigen Rechte, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit wiederherzustellen.“

Das Problem des Unterschieds zwischen Sozialisten und IWW geht letztlich zurück auf die Entfernung des IWW-Führers Big Bill Haywood aus dem nationalen Exekutivkomitee der Sozialistischen Partei im Jahre 1913. Haywood hatte die Situation, die Sinclair auch zum Ausgangspunkt des Stückes nimmt, damals polemisch so formuliert:

„Die Gefängnisse im ganzen Land sind hier und heute angefüllt mit Leuten aus der Arbeiterklasse, angefüllt jedoch nicht mit politischen Sozialisten, sondern mit den Männern und Frauen, den Sozialisten der Industrial Workers of the World.“

Der Hauptunterschied in der politischen Strategie beider Organisationen lag darin, daß die Socialist Party den Sozialismus über die Wahlurne suchte, während die IWW die „direkte ökonomische Aktion“ propagierten, schon aus der Einsicht heraus, daß eine große Gruppe derer, die in der Wobbly-Gewerkschaft organisiert waren (ungelernte Arbeiter, Wanderarbeiter, Ausländer, Schwarze, Frauen) aufgrund der komplizierten Wahlgesetzgebung in den Bundesstaaten ohnehin nicht wählen konnten: „die Zahl der Wähler, die nicht wählen kann, übersteigt bald die Zahl derer, die tatsächlich wählen.“ (Solidarity, Zeitschrift der IWW, 1911) Sinclair engagierte sich also hauptsächlich als Kämpfer gegen den Abbau demokratischer Rechte, hatte er doch gerade aktiv mitgewirkt bei der Begründung der American Civil Liberties Union in Kalifornien. Darin berührte er sich eng mit einer zentralen inhaltlichen Konzeption der Wobblies, die in der Kontinuierlichkeit und Zähigkeit der Free Speech Fights zum Ausdruck kam; die großen Streiks fanden zudem auch seine Unterstützung, so daß in der Frage der faktischen realen Auseinandersetzungen keine weit auseinanderklaffenden Positionen herauskamen, sondern er mit der Sozialistischen Partei eben die „politische Aktion“ als die notwendige strategische Ergänzung propagierte“ …

Jedenfalls war damit klar, daß im Berliner Theater bessere Voraussetzungen herrschten für die Aufnahme der Singing Jailbirds als in New York. Der genannten ausführlichen Kritik in der Roten Fahne dient Sinclairs Drama zum Anlaß grundsätzlicher Überlegungen dazu, was proletarische Kunst beinhalte. Drei Forderungen werden erhoben und in Sinclairs Drama erfüllt vorgefunden:

1) Tagesprobleme der Arbeiterklasse, Lebensfragen des Arbeiters werden abgebildet (proletarische Solidarität, Standhaftigkeit gegen Klassenjustiz, Leid der proletarischen Ehe, Grausamkeit des Gebärzwangs werden als Beispiele genannt). 2) „Auch das Stück des Proletariats kann ein Einzelschicksal gestalten, kann eine Hauptfigur haben“. Es werde am Beispiel Red Adams das Klassenproblem aufgezeigt. Das Stück sei also kein Individualdrama im Sinne des klassischen bürgerlichen Theaters. 3) Da es in der Klassenkunst des Proletariats um die Schilderung sehr realer Probleme und Gegebenheiten gehe, müsse der proletarische Stil realistisch sein. Das heißt freilich nicht „vulgärer Naturalismus“, sondern: „durch besondere Kunstmittel, z. B. durch die Ausdrucksmittel des Theaters, Bewegung, Farbe, Klang, Raumgestaltung, Sprache und Mimik, im Zuschauer den Eindruck, das Bild jener Realität, jener Wirklichkeit zu erzeugen, die gestaltet werden soll.“ Und, so heißt es später, man könne sogar mit „künstlichen Mitteln Wirklichkeit gestalten“. Im vorliegenden Stück legitimiere sich das Kunstmittel der Vision, des Traums eben gerade dadurch, daß es „Wirkliches, Alltägliches, Reales zum Leben erweckt“. Die Abtreibungsszene und die Gerichtsszene werden dafür als Beispiele genannt. In der anschließenden Würdigung heißt es, daß die „Neuaufführung der Piscator-Bühne ein Stück Neuland im Kampf um das proletarische revolutionäre Theater“ erschlossen habe.

Ganz auffällig im positiven Sinne ist, daß hier ausschließlich vom Text her, von seiner Realisierung auf der Bühne und seiner Wirkung auf den proletarischen Lebenszusammenhang her argumentiert wird; die spezifische Klassen- oder Parteizugehörigkeit des Autors erscheint dabei nicht als relevant. Das Drama wird als weiterführender Beitrag zur Arbeiterkunst, zum Gesamtschaffen proletarischer und sozialistischer Kultur gewertet und gewürdigt.“

 

Mammonart 1925 (Die Goldene Kette oder Die Sage von der Freiheit der Kunst) /

Money Writes 1927 (Das Geld schreibt, eine Studie über die amerikanische Literatur)

 

„Ähnlich wie The Goose-Step und The Goslings eng aufeinander bezogen und miteinander verzahnt sind, bilden auch Mammonart (1925) und Money Writes (1927) eine thematische Einheit, selbst wenn zwischen den Erscheinungsdaten der beiden Bücher eine längere Zeitspanne verstrichen ist. Wie die „sprechenden“ Titel bereits ausdrücken, geht es um die Attacke auf die Kapitalabhängigkeit von Kunst und Literatur. Das zweite Buch ist die direkte Fortsetzung des ersten: Mammonart versucht eine ökonomische Analyse der Weltliteratur und der Kulturgeschichte der Menschheit, Money Writes ist eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Literatur der Gegenwart. Der Rundschlag gerät eine Nummer zu groß: Fehleinschätzungen sind häufig. So taucht Shakespeare auf Sinclairs Liste der reaktionären literarischen Bösewichte auf. Sinclair übersieht die Verdienste des großen Engländers um die Bereicherung des Volkstheaters; die positive Darstellung der unteren Schichten der elisabethanischen und anderer Gesellschaften; die demokratische und humanistische Dimension in den Massenszenen. Neben Shakespeare werden etwa Sophokles, Aischylos, Aristophanes, Corneille, Coleridge, Raphael negativ verbucht. Auf dem Positivkonto erscheinen neben Shelley, der die absolute Spitzenstellung hält, z. B.: Dante, Cervantes, Milton, Swift, Tolstoi, Michelangelo.

Sinclairs frühere Position zum Problem „Kunst und Propaganda“, damals explizit an Harriet Beecher Stowe ünd Edward Bellamy dargestellt, wird aufgrund eigener Erfahrungen revidiert. Der Vorwurf, daß die Didaxe und Moral die literarische Qualität einschränken, wird nicht mehr erhoben. Vielmehr entwickelt Sinclair im Rahmen dieser Kategorien seine eigene literaturtheoretische Konzeption in Mammonart. Es ist die positive Theorie propagandistischer Kunst:

„Kunst ist Spiel, insoweit sie instinktiv ist; sie wird Propaganda, wenn sie reif und bewußt wird.“ Und große Kunst entsteht, wenn Propaganda von „Vitalität und Bedeutung“ mit „technischer Kompetenz“ vermittelt wird.

Technische Kompetenz, das bedeutet die Fähigkeit, eine Aussage so zu formulieren und einzukleiden, daß auch „der Ungebildete sie verstehen kann“. Dies ist eine implizite Antwort auf die Vorwürfe, Sinclairs Botschaft sei zu schlicht, seine Rezepte seien zu gradlinig und simpel. Insgesamt ergibt sich als Definition „echter“ Kunst in Sinclairs Sicht: „Eine Darstellung des Lebens, modifiziert durch die Persönlichkeit des Künstlers, zum Zwecke der Modifizierung anderer Personen, wodurch sie zu einem Wandel ihrer Gefühle, ihres Glaubens und ihrer Handlungen angehalten werden.“

Money Writes ist ein Buch nicht nur über Autoren und Werke, sondern über Institutionen, Verlagshäuser, Promoter und Mäzene, jene Instanzen also, die mit Geld Literaten auf eine bestimmte Weltanschauung verpflichten. Unter den Autoren werden die Muckrakers weitgehend positiv bewertet, aber auch ihre Abhängigkeit vom Publikumsgeschmack und den Publikationsorganen wird kritisiert. Das Bemühen der New Playwrights um ein fortschrittliches Theater wird gewürdigt. Als besonders gelungen kann das Kapitel über den jungen O'Neill gelten, wo differenziert zwischen einer unaufdringlichen proletarischen Kunst und dem Pessimismus des Zweiflers, der sich „im Nebel der Metaphysik“ verirre, abgewogen wird.

So wird O'Neills Drama Bound East for Cardiff noch eindeutig im Sinne einer engagierten Kapitalismuskritik verstanden: „Hier ist ein Mann, der über die See schreibt, aus der Sicht der Lohnsklaven der See, kenntnisreich, voller Einsicht und Mitleid. Dennoch ist nirgends, soweit ich mich erinnere, ein Wort der direkten Propaganda, nicht einmal indirekter, zu finden.“ The Emperor Jones nimmt er gegen die Kritik der Linken in Schutz: „… entspricht meiner Vorstellung von großer Dichtung und großem Drama, ein Satz nach vorn, den hier die dichterische Einbildungskraft tut, eine Bereicherung der Möglichkeiten des Theaters.“ In The Hairy Ape entdeckt er eine Szene, die in einem IWW-Hauptquartier spielt, die realitätsgetreu gestaltet ist. Mit The Great God Brown vollziehe sich die Wandlung zum Pessimismus, wodurch freilich nur der generelle Zustand der kapitalistischen Gesellschaft widergespiegelt sei.“

„Kapitalistische Kunst, wenn sie von intelligenten und redlichen Künstlern produziert wird, ist pessimistisch; denn der Kapitalismus liegt im Sterben. Er hat keine Moral, kann keine haben; denn er ist die Negation der Moralität in seiner Gesellschaftsstruktur. Proletarische Kunst ist optimistisch; nur durch Hoffnung können die Arbeiter handeln - oder vom Handeln träumen. Proletarische Kunst hat die Moral der Brüderlichkeit und des Dienens. Nur durch diese Eigenschaften gelangen die Massen zur Freiheit.“

Kurt Tucholsky über „Money Writes“: „… aber wie sieht die amerikanische Literatur von innen aus?

Das zeigt uns einer, dem ich das nie zugetraut hätte: Upton Sinclair. ›Das Geld schreibt‹; eine Studie über amerikanische Literatur (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin).

Sinclair steht bei mir unter den Aussortierten; ich mag ihn nicht. Seine Romane sind, je neuer sie sind, um so altbackner; seine Dialoge aus Pappe, seine Gesinnung untadlig und recht langweilig ausgedrückt. Er hat oft recht, aber ich schlafe dabei ein. Dieser Band kleiner Essays jedoch ist quicklebendig von der ersten bis zur letzten Zeile, amüsant, bunt, bewegt und bewegend; etwas außerordentlich Interessantes.

Sinclair nimmt seine Kollegen durch. Was uns das angeht? Sehr viel. Er tut es nämlich mit so grundsätzlichen Erwägungen, so lehrreich und so kritisch, auch da, wo er irrt, grade da, wo er irrt, dass man den deutschen Schriftstellern nur wünschen kann, dergleichen mit eben so wenig Pose, mit so wenig Brille und mit so wenig Aspekt auf Olympisches zu tun, das bei uns die Leute über vierzig so leicht befällt. Dieser Band ist in kurzen Hosen geschrieben.

Sinclair macht also nicht den fatalen Fehler, subjektive Abneigungen in scheinbar objektive Historie zu kleiden – das ist ein alter Trick. Er sagt vielmehr: diesen mag ich nicht, und jenen liebe ich, und dieser ist mir ein Greul und ein Scheul, und jener ist korrumpiert. Wodurch?

Dies ist die These des Buches:

»Die Künstler, die heute unsern Luxusklassen dienen, erscheinen mir wie Affen in einem Käfig, die nichts andres zu tun haben, als sich gegenseitig nach Läusen abzusuchen und das Publikum mit unzüchtigen Vorführungen zu beglücken.« Gar nicht übel formuliert, und ganz nebenbei: wahr.

Fast ganz ohne Beispiel ist zunächst, was Upton Sinclair über Upton Sinclair sagt. »Als der Weltkrieg ausbrach, ergoß sich der Idealismus Amerikas in einen neuen Kanal. Die amerikanischen Schriftsteller wurden – wie die übrige Bevölkerung auch – organisiert und militärisch gedrillt. Wir nannten uns die ›Erwachenden‹. Vielen von uns wäre es heute peinlich, an die Possen jener Zeit erinnert zu werden. Zehn Jahre sind indessen verflossen; einer dieser amerikanischen Schriftsteller nimmt sich hier vor, in kurzen Worten von seiner Schande zu berichten und die Tausende von jungen Menschen um Vergebung zu bitten, die er ins Schlachthaus hinüberlocken half.« Wir haben in Deutschland und Österreich eine literarische Gesinnungspolizei; ich möchte mal sehen, ob einer von diesen Jungens jemals so über sich selbst zu schreiben imstande wäre.

Er nimmt also amerikanische Schriftsteller durch, und da wir viele davon kennen, so ist das auch für uns wichtig. Er steht ihnen ja näher als wir. 

Er macht das mit sehr viel Witz; mit so viel Witz und Humor, wie sie in keinem seiner Romane zu finden sind. Dieses kapitalistische System, sagt er, »verlangt, dass jeder Mensch so aussieht wie eine Schneiderreklame und so denkt wie der Mann, der den Text dazu gemacht hat«. Nach dieser Melodie kritisiert er sie.

Hergesheimer zum Beispiel: sehr böse und fast ganz negativ. Ein Snob! und: Elfenbeinturm! und so über viele Seiten. Alles zugegeben: aber ›Tampico‹? Dieses Buch Hergesheimers ist von einem Mann für Männer geschrieben und für kluge Frauen, ist das auch snob? Das ist nicht snob.

Dreisers ›Amerikanische Tragödie‹ sei eine komplette Sonntagsschulpredigt; dreimal Ja! Obgleich und weil Galsworthy uns das Gegenteil einreden will. Einmal führt Sinclair anläßlich eines Romans von Reverend Wright die »Just-Technik« vor, wie Kerr das genannt hat (»Just in diesem Augenblick trat der langersehnte Sohn ins Zimmer«), und Sinclair, der ein Amerikaner ist, macht das mit Zahlen. Er rechnet nämlich die Wahrscheinlichkeit aus, mit der sich die Handlung des kritisierten Buches begeben könnte. Also etwa so: »Der Held, ein Verbrecher, gelangt auf seiner Flucht vor der chicagoer Justiz in ein Dorf der ozarker Gegend, wo ›Tante Sue, das goldene Mutterherz mit dem Silberhaar‹ wohnt. Da es schätzungsweise dreitausend Dörfer gibt, in die er hätte fliehen können, so haben wir hier eine Anfangswahrscheinlichkeit von 1:3000.« Schlußergebnis: die Handlung des Romans kann im Leben vorkommen, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 345600 Quatrillionen.

Dies aber ist der Grundgedanke des Buches: Die herrschende Klasse hält sich ihre Künstler, wie man sich einen Kanarienvogel hält. Singt er, ists gut; singt er nicht oder, was noch schlimmer ist, nicht die gewünschte Melodie: dann wird er abgeschafft. Das ist so selbstverständlich, sollte man meinen, dass das jeder Künstler erkennen müßte. Dem ist aber nicht so. Viele von uns bilden sich noch immer ein, vom Mond heruntergefallen zu sein und dort selbst, wenn auch möbliert, zu wohnen; sie sehen die Zusammenhänge nicht. Die Abhängigkeit des erfolgreichen, rege produzierenden, durch seine Arbeit lebenden Schriftstellers von der herrschenden Klasse ist überall gleich groß. Das Geld schreibt? Man sollte viel mehr sagen: »Das Geld verhindert, zu schreiben.« Denn der Angelpunkt, um den sich ganze Literaturen drehen, ist das, was nicht in ihnen steht. Hier ist Sinclair ganz und gar im Recht, ganz und gar.

Wenn Sinclair nun ein wenig naiv fordert, man müsse »die Geschäftsleute aus der Literatur ausschalten«, so entspricht das seinem etwas vormärzlichen sozialen Standpunkt: er ist ein sauberer Individualist, sein Herz schreit auf über »das, was unrecht ist in der Welt«, – aber seine Gegenvorschläge sind oft leer und manchmal ganz und gar unwirksam. Das werfen ihm die Kommunisten mit Recht vor.

Die Rolle des Künstlers in dieser Gesellschaft aber hat er klar erkannt. Er sollte nur nicht das Geld allein dafür verantwortlich machen; er sollte die Geltung hinzufügen, den Drang nach Geltung. Ein bißchen verschweigen, um das Entscheidende herumschweigen, ist so leicht und so verführerisch, wenn man dafür die Geltung eintauschen kann, den Erfolg, den Ruhm und die Beachtung der Welt, in der man lebt. Sicherlich hat keiner der kapitalistischen Staaten auch nur das leiseste Recht, sich über die geistige Unfreiheit in Rußland aufzuhalten; in keinem dieser Staaten, wenn man vom Balkan absieht, hat der Schriftsteller mehr Recht als dies: nicht körperlich verbrannt zu werden. In keinem dieser Staaten läßt die Industrie der periodischen Literatur jene zu Worte kommen, die den Interessen der Kapitalisten schädlich werden können, das ist ein natürlicher Vorgang: es ist Krieg. Die Russen tun genau dasselbe, nur mit dem Unterschied, dass sie ihren legalisierten Terror für die Proletarier ausüben wollen. Welches Resultat das haben wird, bleibt abzuwarten. Der Schriftsteller aber, der sein Wirken für unabhängig hält, nur, weil er geschickt laviert, ist genau so eine lächerliche Figur wie jener, der seinen Unterhaltungskram für Dichtung hält, und welcher Macher täte das heute nicht! Seit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 besteht der Kapitalismus aus Angst und bösem Gewissen, also ist er noch grausamer als er vorher schon gewesen ist. Daher auch die maßlose Überschätzung der Musik, weil die keinem etwas tut. Und nichts wirkt komischer als die Wichtigtuerei, mit der der geduldete Künstler sein Werk betrachtet. Was ist er denn? Er hat, wie die Hühner, einen Auslauf aus seinem Käfig und mehr nicht. Sinclair hat tausendmal recht.“ 

https://www.textlog.de/tucholsky-roman-sinclair.html

 

Oil! 1927 (Petroleum)

 

Oil! erschien 1927 und wurde in Boston - der Stadt, mit der Sinclair dann im nächsten Roman grundsätzlich „abrechnen“ sollte - von einer kommunalen Zensurbehörde verboten, es ist kaum zu fassen, wegen zu großer Offenherzigkeit in Sachen Sex. Dies mußte jemandem widerfahren, der sich in ironisierender Selbstkritik als „der oberste aller Prüden in der radikalen Bewegung“ begriff. Sinclair genoß die Situation; in einer Anzahl Exemplare ließ er die inkriminierten Seiten mit Feigenblättern bedrucken und verkaufte sie selbst im berühmten Stadtpark, Boston Common. Polizisten, die ihn festnahmen, wurden von der Menge ausgelacht. Damit hatte der Autor den Vertrieb dieses Erfolgsromans mit einem gelungenen Publicity-Gag eingeleitet …

Oil! ist ein komplexer Gesellschafts- und Raumroman der südkalifornischen Region, in der Sinclair nun bereits seit über zehn Jahren residierte, dessen augenscheinlichste Ebene freilich erneut Muckraking gegen eine Schlüsselindustrie darstellt, deren gewaltige Expansion seit Anfang des Jahrhunderts in einem Ausschnitt vorgeführt wird. Gegenüber King Coal ist die Lage insofern komplizierter, als Bunnys „Dad“ nicht dem Klischeebild des bösen Kapitalisten entspricht, sondern menschlich „größer“, den Problemen der Arbeiterklasse gegenüber aufgeschlossener ist, als noch irgendein Kapitalist in irgendeinem Roman Sinclairs je zuvor, doch er darf nicht, wie er will - die vereinigte Arbeitgeberorganisation der Ölproduzenten schreibt ihm vor, was er zu tun und zu lassen hat. Sinclair entwickelt am Öl-Beispiel in kristallener Schärfe die einzelnen Schritte der Kapitalkonzentration bis zur Bildung der Trusts. Länger als alle anderen kann sich Ross als einsamer Selbstständiger im Kampf gegen die „Großen Fünf“ behaupten, doch schließlich fusioniert er mit Verne Roscoe zu „Ross Amalgamated“. Der Einfluß des Ersten Weltkriegs auf den Öl-Boom in Kalifornien wird somit präzise in fiktionale Handlung und ästhetische Bilder gefaßt …

Eine besonders gelungene Ebene des Romans ist schließlich einmal mehr Sinclairs engagierte Darstellung der russischen Revolution. Hier zieht er alle Register seiner literarischen Gestaltungskunst, auch wenn es um die Glaubhaftmachung der Position der amerikanischen Anhänger des Bolschewismus gegenüber der ersten konzertierten Hexenjagd von Kapital und Staat in den USA um 1920 geht. Seine Enttäuschung über den Ausgang des Ersten Weltkrieges, der schmähliche Einsatz von US-Truppen gegen die sowjetischen Revolutionäre bei Archangelsk, die zunehmende Ohnmacht der Arbeiterklasse gegen die staatlich sanktionierten Übergriffe des Monopolkapitals lassen letztendlich sogar gewisse Zweifel bei Sinclair aufkommen an seiner bislang unumstößlichen Position des friedlich demokratischen Weges zum amerikanischen Sozialismus: „Theoretisch war es möglich, den Wandel vom Kapitalismus zum Sozialismus mit friedlichen schrittweisen Mitteln zu bewerkstelligen. Die Schritte waren leicht vorzuzeichnen. Aber wenn es schließlich zum ersten Schritt kam, stand man der Tatsache gegenüber, daß die Kapitalisten eine allmähliche Evolution zum Sozialismus nicht wollten und einen den Schritt nicht tun ließen. Es war eine Tatsache, daß die Kapitalisten die Arbeiter bisher bei jeder Biegung überlistet hatten; sie … wollten den Arbeitern einfach nicht erlauben, friedlich zu sein; sie griffen jedes Mal zur Gewalt und setzten die Gesetze und die Verfassung außer Kraft, wann immer es ihnen paßte.“

Ist Bunny Ross der bürgerlich sympathisierende Protagonist des Romans, so ist Paul Watkins sein proletarischer Held. Er ist der Sohn des verarmten Farmers, auf dessen felsigem Berggelände Vater Ross nach Öl bohrt, fündig wird und eine Industrie aufbaut, von deren Gewinnen die Watkins nur Prozentbruchteile sehen. Paul macht die Erfahrungen der Armut und Ausbeutung, ehe er von Wilson in den Weltkrieg rekrutiert wird. Am Fall Archangelsk lernt er, ähnlich wie Jimmie Higgins - und das ist Reflex des eigenen Lernprozesses des Autors. Paul erklärt seinerseits Bunny den Stellenwert der Oktoberrevolution im weltweiten Macht- und Klassenkampf:

„Es wäre leicht für Bunny, alles zu verstehen, sagte Paul. Falls ihn irgend etwas verwirre, brauche er sich nur an den Ölstreik zu Hause zu erinnern. ‚Überleg dir, wie es in Paradise (Ölfeld von Ross, D. H.) gelaufen wäre, und du weißt alles über Rußland und Sibirien - und über Washington, New York und Angel City. Die Petroleum-Föderation, die sich gegen unseren Streik stemmte - das sind genau die Sorte Leute, die unsere Armee nach Sibirien geschickt haben’ …

Paul, der gelernte Tischler, ist des Studenten Bunny Lehrer und Berater auf dessen beschwerlichem Weg zum Sozialismus. Neben diesem eher privaten Hobby übernimmt er immer wichtigere Aufgaben für die sozialistische und kommunistische Bewegung der USA. Schon als Gewerkschaftsorganisator sehr zuverlässig und erfolgreich, wird er nun einer der Mitbegründer der Kommunistischen Partei der USA und deren Vertreter bei der zweiten Komintern in Moskau. Unter dem „criminal syndicalist“-Gesetz Kaliforniens wird er mal mit sieben anderen der Mitgliedschaft einer kriminellen Vereinigung angeklagt, mal wird er auf einem kommunistischen Parteitag festgenommen und auf Kaution freigelassen. Sunny steht nun zwischen dem Kommunisten Paul und der Sozialistin Rachel und wünscht sich sehnlichst die Harmonie beider. Sinclair läßt seinen sozialdemokratischen Sympathisanten ein hohes Maß an Toleranz innerhalb des Spektrums der Linken - die Konstruktion des Volksfrontbündnisses ist hier immer explizit als Möglichkeit eingeschlossen.

Sogar in Frankreich wurde Paul verhaftet. Wieder zurück in Kalifornien wird er auf einer politischen Versammlung von einem Lynchmob bewußtlos geschlagen. Seinem heroischen Sterben ist der Schluß des Romans gewidmet, nachdem Bunny seine Rachel geheiratet und mit ihr ein Arbeitercollege und eine eigene Zeitung gegründet hat …

Sinclair hat die Vision einer neuen Welt, vermittelt in Paul Watkins' Delirium, literarisch überzeugend kontrastiert mit dem trunkenen Siegestaumel Amerikas über den Wahlsieg des neuen Präsidenten Coolidge, vermittelt im neuen Massenmanipulationsinstrument des Radios. Coolidge erscheint als die Kreatur des Großkapitals, als dessen Opfer Paul in seiner Todesszene vorgefühlt wird. Zugleich lebt aber die Revolution fort. Sinclair hat die globale Auseinandersetzung von Imperialismus und Kommunismus noch einmal in diesem imposanten Schlußbild zusammengefaßt.“

 

Boston 1928

 

„Es klang bereits an, daß eins der Motive des Autors, Boston zu schreiben, mit seinem Zorn auf die „blaublütige“ Neu England-Aristokratie der Stadt zusammenhing, die er reizte, als er im Stadtpark den von der Zensur verbotenen Roman Oil! verteilte, in dem ein gewisses Maß an „freier Liebe“ und die Geburtenkontrolle propagiert wurde, in dem sogar eine Abtreibung vorkommt, die Bunny Ross' Schwester Bertie an sich vornehmen läßt. Ein Teil seines „muckraking“ in Boston zielt auf die verlogene Moral der herrschenden Klasse der Stadt, die eng zusammenhängt damit, daß sie das Kapital in Händen hält. Mit seiner Darstellung der weitverzweigten Familie Thornwell im Roman werden alle Bereiche der Tätigkeit dieser Kapitalfraktionen abgedeckt: Korruption in Politik und Verwaltung, Finanzschwindel, Justizskandale, Ausbeutung in Schlüsselindustrien.

Den eigentlichen Anstoß zum Roman gab aber die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti, der krasseste Fall von Klassenjustiz in der Geschichte der USA, vor dem selbst die Ermordung der Haymarket-Sozialisten in Chicago und die Vernichtung des Dichters und Sängers Joe Hill verblassen. Und es war die Rechtsprechung des Bundesstaates Massachusetts und seiner größten Stadt Boston, die diesen Skandal zu verantworten hatte - eine ideale Möglichkeit, zwei Aspekte eines gesellschaftskritischen Großromans zu vereinen. Sinclair schrieb in seiner eigenen Einleitung zum Roman:

„Die Entscheidung, diesen Roman zu schreiben, wurde präzise um neun Uhr dreißig westlicher Zeit am 22. August 1927 gefällt; der Anlaß war die Entgegennahme der telefonischen Nachricht von einer Zeitung, daß Sacco und Vanzetti tot seien.“ Das Ergebnis war ein Werk von rund 800 Seiten, das im Herbst 1928 erschien, von dem zwei Geschichtswissenschaftler sagen: „Es ist im Detail stimmig in einem Maße, wie es von einer wissenschaftlichen Untersuchung erwartet wird, und die Ausgewogenheit des Urteils verrät sorgfältiges Nachdenken. Die Kombination von Vollständigkeit, Detailtreue und gedanklicher Durchdringung plaziert Boston ganz oben in der Rangfolge historischer Romane.“

Sacco und Vanzetti - das ist der spektakulärste in der Kette der sogenannten frame-up-Fälle der amerikanischen Justizgeschichte; „frame-up“, das heißt die Konstruktion falscher Indizienbeweise bei politisch mißliebigen Personen mit Hilfe gekaufter Zeugenaussagen und parteiisch besetzter Geschworenengerichte. Vorzugsweise hat sich diese Art des Verfahrens gegen Personen ausländischer Herkunft gerichtet - im Einklang mit der weitverbreiteten amerikanischen These, der Sozialismus sei ein „unamerikanischer Umtrieb“. In der Haymarket-Affaire von Chicago 1886 waren es deutsche Sozialisten und Anarchisten, die zum Tode verurteilt wurden, da sie angeblich eine Verschwörung gebildet hatten, die in einem Bombenwurf auf dem Haymarket-Platz aus Anlaß einer Demonstration gipfeln sollte.

Joe Hill mußte 1915 sterben, da seine Lieder ganz entschieden der politischen Arbeit der revolutionär-syndikalistischen IWW halfen, die mit ihren „Free Speech Fights“ nationale Bekanntheitsgrade erreicht hatten und von US-Geheimdienstorganisationen daher als „äußerst gefährlich“ eingestuft wurden. Dazu war Joe Hill auch Schwede von Geburt.

Sacco und Vanzetti waren „gefährliche“ italienische Anarchisten. Heute sind es vorwiegend Farbige in den USA, gegen die das „frame-up“-Verfahren angewendet wird. Die schwarze Black Panther Party wurde auf diesem Wege (unterstützt freilich durch direkten Mord) ihrer Führer beraubt. Ähnliches versucht man gegenwärtig mit Führern der Indianerorganisation „American Indian Movement” (AIM). Die Angeklagten der Gruppe der sogenannten „Wilmington Ten“ (neun Schwarze und eine weiße Frau) erhalten keinen neuen Prozeß, obwohl erwiesen ist, daß Zeugen bestochen wurden und einige Zeugen ihre Aussagen widerrufen haben. Statt einer Begnadigung hat Gouverneur Hunt von North Carolina im März 1978 die Strafmaße willkürlich abgewandelt.

Die Beispiele verdeutlichen, daß der Sacco und Vanzetti-Fall in einer amerikanischen Tradition steht, die bis auf den heutigen Tag fortdauert. Was war nun im vorliegenden Fall, der sich über sieben Jahre hinzog, der Ausgangspunkt der Anklage gegen die beiden Italiener und damit der faktische Hintergrund des Sinclair-Romans?

In dem Ort South Braintree im Bundesstaat Massachusetts wurde am 15. April 1920 ein Zahlmeister der Slater und Morril-Schuhfabrik erschossen und beraubt. Gleichzeitig liefen in Boston und Umgebung Razzien der Polizei gegen Anarchisten. Der Schuster Nicola Sacco und der Fischverkäufer Bartolomeo Vanzetti fürchteten, daß sie ebenfalls Opfer einer Razzia werden könnten und wollten mittels eines Buick-PKW eines Freundes namens Boda radikale Literatur aus ihren Wohnungen verfrachten. Dies Fahrzeug befand sich jedoch in einer Garage zur Reparatur; die Braintree-Mörder waren aber in einem Buick entkommen, ebenso wie ein gestohlener Buick in einem Wald aufgefunden worden war, mit dem im Dezember 1919 ein Raubüberfall verübt worden war. Das langte hin, um Sacco, Vanzetti und Boda festzunehmen, als sie in der Garage den Wagen abholen wollten. Der Prozeß zog sich in seinen zahlreichen Berufungen, Wiederaufnahmen und bundesstaatlichen Kommissionsuntersuchungen bis 1927 hin, als im August das Leben der beiden Italiener auf dem elektrischen Stuhl beendet wurde. Die Verteidigung wurde unterstützt von einer ganzen Serie unter größten Entbehrungen arbeitender Verteidigungskomitees. Verfahren zur Untersuchung neuer Zeugenaussagen und Geständnisse während und nach der Hinrichtung wurden von der Staatsmaschinerie unterdrückt. Auf Massendemonstrationen und Protestkundgebungen in aller Welt, die in Massachusetts und in anderen Bundesstaaten der USA bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahmen, kämpften noch während der letzten Tage und während der Hinrichtung selbst zahllose Menschen um das Leben der Angeklagten.

Die minutiöse Schilderung dieser Vorgänge - wobei man das Gefühl hat, daß in der Darstellung der letzten zwölf Tage die Zeit fast zum Stillstand kommt (erlebte Zeit und erzählte Zeit werden tendenziell deckungsgleich) - ist der Hauptstrang des monumentalen Sinclair-Romans. Damit in vielfältiger Weise verquickt und kontrastiert ist der andere Handlungsfaden: die Darstellung des Großkapitals und der Hochfinanz Bostons am Beispiel einer repräsentativen Dynastie, der Familie der Thornwells. Dieser entstammt auch Sinclairs Hauptgestalt, Cornelia, eine alte Dame, die sich nach dem Tode ihres Gatten und zweimaligen Gouverneurs sechzigjährig noch entschließt, ein eigenes Leben zu leben, in der Tauwerkfabrik schwere Arbeit verrichtet, bei Italienern zur Miete wohnt, wo sie Vanzetti kennenlernt. Damit verbinden sich die Handlungsstränge. Cornelia ist Sinclairs Sprachrohr. Sie repräsentiert die liberale demokratisch-sozialistische Gesinnung, die sich mit den linkeren Positionen - dem Anarchismus Vanzettis und seiner Freunde, dem Kommunismus der amerikanischen CP (einer ihrer Nichten) - auseinandersetzt und sie letztlich verwirft. Cornelia ist darin - und auch der großbürgerlichen Herkunft nach - Nachfolgerin der Protagonisten Hal Warner und Bunny Ross (King Coal bzw. Oil! und Vorläuferin Lanny Budds in dem großen historischen Zyklus. Sie verkörpert also eine Grundkonstante im Koordinatensystem der Sinclairschen Personenkonstellationen; sie ist die persona-Maske, hinter der der Autor sich selbst verbirgt, in deren Gesichtswinkel das Geschehen gefiltert und gewertet wird. Indem er diese Figur als großbürgerliche Sympathisantin im Zentrum des Romans hat, kann er die unversöhnlichen Klassengegensätze gleichsam in Großaufnahme vermittels der literarischen Technik des Kontrastes und der Polarität immer wieder „hautnah“ entfalten. Besonderen Spaß hat er daran, die tradierten Werte und Riten des puritanischen großkapitalistischen Boston zu dechiffrieren und zu vernichten. 

Einen der Höhepunkte des Romans bildet die Verklammerung und die Kontrastierung zweier Gerichtsverhandlungen. Alternierend mit der Faktographie des dritten und entscheidenden Sacco-Vanzetti-Prozesses erzählt Sinclair die fiktive Verhandlung gegen führende Bostoner Bankiers, darunter die Schwiegersöhne von Cornelia Thornwell selbst, wegen großangelegter Wirtschaftskriminalität gegenüber einem kleineren Fabrikanten: eine für die fortgeschrittene Phase des Monopolkapitalismus charakteristische Einverleibung der kleineren Kapitalisten durch die „Titanen“ und „Räuberbarone“. Wie dieser Vorgang durch eine gigantische Rechtsmaschinerie sanktioniert wird, ist effektvoll kontrastiert mit dem ähnlich riesigen Aufwand an Bewußtseinsmanipulation und von oben gesteuerter Rechtsprechung, um sich der sogenannten Bomben- und Dynamitwerfer Sacco und Vanzetti zu entledigen.

„Cornelia besuchte Sacco regelmäßig ein- bis zweimal monatlich im Gefängnis von Dedham. Sie ging dann ins Gerichtsgebäude und sah sich das große Justizduell mit an. Keine Wächter mit Gewehren auf der Treppe, keine barschen Polizisten, die das Handtäschchen durchsuchen, kein stählerner Käfig für die Angeklagten! Nein, dies waren nicht die kleinen Banditen, die das Gesetz übertreten, sondern die großen Banditen, die das Gesetz machen. Alles still und würdevoll, nach Harvarder Sitte.“

Dies ist in der Tat die komplettierte Dialektik der Klassenjustiz, wo die Unrechtsprechung gegenüber den Ausgebeuteten komplementär ergänzt wird durch die legalisierte Begünstigung der Ausbeuter!

Als loyaler Chronist der Ereignisse widmet Sinclair im Kontext der Darstellung der Solidaritäts- und Demonstrationsabläufe auch den engagierten Literatenkollegen breitesten Raum, u. a. Dos Passos und Michael Gold. Sinclair schildert die erboste Reaktion der Schriftsteller auf das Professoren-Gutachten, vermittels dessen der Gouverneur von Massachusetts das Gnadengesuch vor der Hinrichtung abschmettern kann …

Als ein Wunder konstatiert es Sinclair, wenn beim Begräbnis die Irin Mary Donovan im Geiste eben dieses Vermächtnisses eine Ansprache hält, wodurch Sacco und Vanzetti weiterleben werden: „In eurem Martyrium werden wir weiterkämpfen und siegen. Am 22. August wurde das Recht gekreuzigt. Denkt immer daran.“

So wird deutlich, wie durch die Machenschaften einer gigantischen korrupten Rechts- und Staatsmaschinerie bürgerlich-kapitalistischer Politik zwei namenlose Italiener zu Helden der internationalen demokratischen und Arbeiterbewegung werden. In Boston wie in Singing Jailbirds solidarisiert sich Sinclair emphatisch mit Personen und Gruppen, deren politische Position er nicht teilt, oder nicht voll teilt, deren aufrichtiges Wollen er aber mit wärmstem Engagement darstellt. Er klagt schonungslos jene Kräfte an, die in verbrecherischer Verletzung historisch erkämpfter Werte und Normen, in rücksichtsloser Ausnutzung ihrer Macht und rücksichtsloser Verfolgung ihrer Interessen foltern und morden, die dazu die rechtmäßigen Organe des Staates in ihren Dienst nehmen und beugen.“

Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/293-justiz-mord.html

 

The Wet Parade 1931 (Alkohol)

 

„Zentraler Bestandteil einer offensiven Lebenskunde, seines Kreuzzugs für Lebensqualität, ist Sinclairs Kampf gegen den Alkoholismus und diejenigen Instanzen, die ihn fördern oder nicht abbauen, gegen die Industrie, die aus der Alkoholproduktion exorbitante Profite zieht. Dieser Kampf gegen ein Phänomen, das als Geist und Körper zerstörende Krankheit gefaßt ist, zieht sich leitmotivisch durch alle Schriften und Bücher. Der Alkohol korrumpiert die Reichen und verschärft das Elend der Armen in The Jungle. Hal Warner und Bunny Ross predigen gegen die Trinkgewohnheiten ihrer reichen Freunde und Verwandten. Red Adams zertrümmert eine Ginflasche, die seine IWW-Genossen kreisen lassen wollen. Einer der gelungeneren Romane Sinclairs, der das Problem als Hauptthema aufgreift, spielt angemessenerweise in der Ära der Prohibition: The Wet Parade (1931). Daß das Werk sich besser verkaufte, als manche, für die viel mehr Zeit aufgewendet worden war, daß es das einzige war, das (auf der Grundlage eines verwaschenen Scripts) zu einem Hollywood-Tonfilm umgearbeitet wurde (der Autor verdiente 20.000 Dollar dabei), tut der Ernsthaftigkeit des Anliegens und der Qualität der literarischen Durchführung keinen Abbruch. 

Die Prohibition, d. h. die Anstrengung, durch offizielle Bundesgesetze die Produktion und den Verkauf alkoholischer Getränke zu unterbinden, hat eine lange Geschichte in den USA. Bereits 1869 wurde eine „Prohibition Party“ gegründet, die bis auf den heutigen Tag als kleine Splitterpartei für politische Wahlen kandidiert. Seit 1874 gab es in Ohio eine kämpferische christliche Frauenvereinigung gegen den Alkohol, die rasch nationalen Einfluß gewann: Women's Christian Temperance Union (WCTU). Hinzu kamen andere Organisationen, z. B. die Anti-Saloon League of America. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden im Rahmen bundesstaatlicher Gesetzgebung und lokaler Verordnungen zeitweilige Verbote des Ausschanks von Alkohol erreicht, doch erst im Zusammenhang des Eintritts der USA in den Weltkrieg sollte ein bundesweiter Einfluß der Bewegung gelingen. Zunächst verbot ein Gesetz den Verkauf von Alkoholika an Soldaten und Seeleute. Ein Prohibitionsgesetz zu Kriegszeiten sollte Produktion und Verkauf von Alkohol bis zur Demobilisierung auf den Export beschränken. Es wurde jedoch überholt durch eine im Kongreß mit der nötigen Zweidrittelmehrheit verabschiedeten Ergänzung der amerikanischen Verfassung, wonach Verkauf und Transport von Alkohol unterbunden wurde. In einem komplizierten lang hingezogenen Prozeß mußten die einzelnen Bundesstaaten den Kongreßbeschluß ratifizieren (was schließlich geschah, außer in Connecticut und Rhode Island), so daß am 16. Januar 1920 das Gesetz in Kraft trat. Was folgte, war ein ohnmächtiger Kampf der Behörden, vielfältig torpediert durch die Polizei und die Regime der Präsidenten Harding und Coolidge, dem Gesetz Durchschlagskraft zu verschaffen. 1933 endete die Ära der Prohibition, als der Kongreß die Verfassungsergänzung annullierte. Die Bewegung der Puritaner und Gesundheitsapostel war gescheitert.

Sinclair trägt das Problem im Roman auf verschiedenen Ebenen vor. Hauptakteure sind der junge verarmte Südstaatler Kip Tarleton, der in New York ein kleines Hotel für Südstaatenbesucher gepachtet hat und Maggy May Chilcote, die aus Louisiana auf Besuch in Long Island bei reichen Verwandten weilt. Beide finden u. a. über das gemeinsame Schicksal zueinander, daß ihre Väter an Alkoholismus zugrunde gingen. Während Maggy durch Vorträge in Kirchengemeinden und Arbeiterversammlungen die Frauenbewegung gegen den Alkohol neu belebt, läßt sich Kip vom Prohibition Service rekrutieren, jener Bundesbehörde, die mit der Durchsetzung des Gesetzes beauftragt ist. Er muß sich an Razzien auf Nachtclubs, Drugstores, Speakeasys etc. beteiligen, um den Tatbestand des Ausschanks zu erhärten. Bei einer solchen Aktion wird er am Ende erschossen.

Ein weiterer Strang ist der des Poeten Roger Chilcote, Maggy Mays Bruder, der die verhängnisvolle Sucht vom Vater geerbt hat und am Broadway als Stückeschreiber Triumphe feiert. Wie schon bei den Vätern wird auch bei ihm der stufenweise psychische und physische Verfall gezeigt. In Roger Chilcote gestaltet Sinclair den Fluch der Südstaatenaristokratie, wo das Trinken eine gesellschaftliche Verpflichtung bedeutet, und nimmt damit noch einmal die Vergangenheit der eigenen Familie auf.

Maggys und Rogers Verwandte in Long Island dienen dazu zu zeigen, wie das Großkapital den großangelegten Alkoholschmuggel aufnimmt Der Bankier Fessenden hat eine private Bucht, in die Rum- und Whiskyschiffe einlaufen, deren Ladungen in Nacht- und Nebel-Aktionen gelöscht werden. Aber Großkapital und große Politik arbeiten Hand in Hand … „die republikanischen Politiker wußten schon, wer in das Geschäft des Rumschmuggels einsteigen und wer das Kapital aufbringen würde. Sie hatten einen Mann fürs Präsidialamt nominiert, der einen guten Schluck zu schätzen wußte, der seine Freunde und Hintermänner kannte und ihnen beistand“.

Der Roman vermittelt einen plastischen Eindruck von der Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die organisierte Koalition von Alkoholindustrie, Politik, Polizei, Vergnügungsindustrie und Unterwelt, den Kip und seine Abteilung führen. Dennoch steht am Schluß der Aufruf zum Handeln in der Form der Organisation der Frauen, die Maggy May initiiert, die schwer gezeichnet ist vom Verlust des Vaters und des Gatten, vom neuerlichen Rückfall des Bruders, aber um so glaubwürdiger die Sache vertreten kann. Gewalt gegen Sachen wird beschlossen; eine Armee der Frauen soll in die Höhlen des Lasters eindringen und dem Gesetz zum Durchbruch verhelfen: „Denkt daran, Freunde, der Handel mit Spirituosen ist außergesetzlich, aufgrund der Verfassung der Vereinigten Staaten. Es gibt keinen Rechtsschutz für irgendeine dieser infamen Lokalitäten, noch für irgendetwas, was darin ist. Nicht für die Fässer und Flaschen voller Gift, nicht für das glänzende Silber und die polierten Theken aus Mahagoni oder die kostbaren Tafelglasspiegel - noch für diese eindrucksvollen Funktionsträger in feiner schwarzer Uniform, von Goldborte besetzt, die Türen von Limousinen öffnen und vornehme Damen zur Verdammnis geleiten. Von der Seemannskneipe im Hafen bis zum Millionärsklub an der Park Avenue - sie sind ungesetzlich, alle miteinander, und sie erzittern, wenn sie nur daran denken. Denkt daran, daß unter dem Gesetz jeder Bürger das Recht hat, eine Verhaftung durchzuführen, wenn er von einer Gesetzesübertretung weiß - und auch wir Frauen sind jetzt Bürger, so gut wie jeder Gangster!““

 

Co-Op 1936

 

„In Co-Op gründen drei ehemalige Geschäftsleute, ein Finanzmakler, ein Lastwagenunternehmer und ein Werbechef einer Seifenfabrik, eine Kooperative. Mit den Ausgangspunkten verdeutlicht Sinclair, daß in der Krise auch die kleinen und mittleren Unternehmer tendenziell dem Proletariat zu subsumieren sind. Der Kausalzusammenhang zwischen dem ökonomischen Zwang der Krise und der Notwendigkeit für das mittlere Bürgertum, gemeinsam mit den Arbeitern (die jetzt arbeitslos waren) zu Programmen der Selbsthilfe zu kommen, läßt sich an einer Textpassage aus Co-Op illustrieren, die im übrigen durch die Zwischentöne der Ironie auch von gewisser Eindringlichkeit ist:

„Es war von übler Vorbedeutung in der Stadt San Sebastian, daß ein reiner Tor, ein hundertprozentig amerikanischer Geschäftsmann, sich in einen Bolschewisten verwandeln konnte -, und zwar nicht, weil ihn agitatorische Reden dazu verführt hatten, sondern weil er es durch die reine Logik der Tatsachen, durch das bloße Spiel der ökonomischen Kräfte geworden war … So wurde Lawrence T. Peck, einst Eigentümer einer großen Garage, zu einem ‚Roten‘. Und nicht nur das, er wurde auch ein Agitator, einer, der in Versammlungen auftrat und Ansprachen an die Arbeiter hielt … Larry Peck hatte nie etwas von der Theorie des Mehrwerts gehört, er kannte nicht den Unterschied zwischen dialektischem Materialismus und dämonischer Besessenheit, aber er wußte, warum das amerikanische Volk arm war und er wußte, welche Leiden ihm die Armut zufügte.“

Auch das benötigte Startkapital für die Kooperative wird von kleineren Kapitalisten ausgeborgt, von einem begüterten Geistlichen und einer reichen Erbin. Im Verlauf des Romans kommt von der Gruppenbasis der Vorschlag, die Kooperative in eine politische Organisation umzuformen, wird von der Führung aber als taktisch unklug zurückgewiesen, da man sonst Schwierigkeiten bekäme mit den örtlichen Geschäftsleuten, auf deren Zusammenarbeit man angewiesen sei.

Das kapitalistische System wird also nicht grundlegend infrage gestellt. Vielmehr sollen die Mitglieder der Kooperative durch die Verlebendigung der „protestantischen Ethik“ (Max Weber) gerade sich das Vertrauen der Kapitalisten und der Behörden erwerben, um Unterstützung zu erhalten. Es wäre töricht, der Co-op-Bewegung dies vorzuhalten und sie zu kritisieren, weil sie nicht genügend sozialistisch war. Entscheidend ist, daß in bestimmten Phasen der kapitalistischen Krise das Co-op-System ein erfolgreiches Instrument der Selbsthilfe der Menschen gewesen ist. Daß heutzutage in sozialistischen Ländern Co-op-Initiativen sehr gefördert werden und erfolgreich zum volkswirtschaftlichen Gemeinwohl beitragen, sei nur am Rande vermerkt.“

 

The Flivver King 1937 (Das Fließband, ein Roman aus Ford-Amerika)

 

„Eine etwas ungewöhnliche Entstehungsgeschichte hatte der Roman Flivver King. Getreu seiner Devise, die sozialistische Umwälzung bedürfe des „guten“ Kapitalisten, hatte Sinclair bereits 1919 versucht, bei einem Spaziergang in den Bergen nördlich seines Wohnorts Pasadena, den Autokönig zu bekehren, zumindest zu erreichen, daß er die Gewerkschaft anerkannte. Henry Ford steht daher im Mittelpunkt des Romans; trotzdem hielt Victor Reuther, der Bruder des Vorsitzenden der Gewerkschaft United Automobile Workers (UAW) den Roman für die beste fiktionale Darstellung des Entstehens einer Arbeiterorganisation, die je geschrieben wurde. Der Weg Fords von einem vergleichsweise humanen Unternehmer in der Frühphase durch die gewaltige Explosion der Automobilindustrie in den 20er Jahren bis zum Antisemiten, Protofaschisten und Gangsterboß der 30er Jahre wird geschildert, kontrapunktiert zum Schicksal der Arbeiterfamilie Abner Shutts, der zum Vorarbeiter avanciert und dessen Sohn Tom eine wichtige Rolle beim Streik der Automobilarbeiter spielt.

Gemessen an der Blüte der Gattung des proletarischen Romans in den 30er Jahren, wo die Arbeitskämpfe kraftvoll, hautnah und meistens von der persönlichen Erfahrung der Autoren authentisch verdichtet werden, muß Sinclairs Roman merkwürdig blaß erscheinen. Immerhin: die UAW-Gewerkschafter lasen ihn und setzten die Taschenbuchausgabe direkt im Arbeitskampf ein. „Es gab eine Zeit, da konnte man in kein Gewerkschaftshaus in Michigan gehen, ohne daß man den grünen Deckel des Flivver King aus der Gesäßtasche eines Gewerkschafters hervorlugen sah. Praktisch in jedem Fall hatte der Mann das Buch gelesen. Er trug es bei sich, um sich in einer Auseinandersetzung darauf zu beziehen, um etwas zu beweisen, um sich zu vergewissern - kurz: das Buch war sein Kumpel.“

Wegen dieser direkten Funktion der Unterstützung der Kämpfe der neu gegründeten Dachgewerkschaft AFL-CIO und speziell der UAW vereinbarte Sinclair ein einzigartiges Verbreitungsverfahren für das Buch. Es wurde in 200.000 Exemplaren als billiges Taschenbuch hergestellt und direkt über die Gewerkschaft vertrieben. Dos Passos, der Schriftstellerkollege, den Sinclair wegen seines Einsatzes für Sacco und Vanzetti im Roman Boston verewigt hatte, hielt The Flivver King für eine der besten Arbeiten Sinclairs und veranschlagte das Werk relativ hoch im Vergleich zu anderen amerikanischen Publikationen der Zeit.“

 

No Pasarán 1937 (Drei Freiwillige)

 

„Sinclairs No Pasarán erzählt die Geschichte eines Sohnes aus begütertem Hause, des Studenten Rudy Messer. Doch weder das Studium an der Columbia University noch die Mitarbeit in der Firma des Onkels, die er zu Teilen erben soll, befriedigen ihn. Er erfährt die Entfremdung des kapitalistischen Arbeitsprozesses - zwar nicht am eigenen Leib, wohl aber in der Beobachtung. Und Rudy beobachtet kritisch. Sinclair hat gekonnt, gleichsam als Vorschau, die Vorwegnahme des Faschismus im kleinen dargestellt in Form der deutschen Kolonie von New York. 

Rudy hat einen Vetter namens Ernie, der ihn in die nationalsozialistische Bewegung in den USA rekrutieren will. So nimmt er an einer Veranstaltung teil (Sinclair hat in den Lanny-Budd-Bänden dann häufig solche auf dem europäischen Schauplatz geschildert), wo das bekannte Programm abläuft: Lieder, Führerkult, Paramilitarismus, Antisemitismus, Bolschewistenhaß. Das Geschehen stößt ihn ab. Wie die anderen Intellektuellen und Bürgerlichen in Sinclairs Romanen ist Rudy ein Lernender, der sich allmählich erst sein Bild von der Gesellschaft macht, und darin seine Position bestimmt. Wie Bunny Ross ist er eine Art reiner Tor, der durch eine Serie heilsamer Schockerlebnisse auf die Probleme aufmerksam wird und dann auch Lösungsmöglichkeiten erkennt.

Dazu gehören zweifellos die Erlebnisse mit Frauen. Wie in Oil! hat Sinclair auch in diesem Roman Erotik und Sexualität über das übliche Maß hinaus verwendet, als Mittel der Charakterisierurig der Gesellschaft. Rudy wird an der Erfahrung mit Marie Prince klar, daß auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt, in der kapitalistischen Gesellschaft Warenbeziehungen sind. Das macht ihm auch sein Mitbewohner, Burnside Cobb, deutlich, der nur mit dem Ziel des beruflichen Weiterkommens Kommunikation zur Umwelt hat. Aus Unzufriedenheit und Ablehnung entsteht angesichts der Not und Arbeitslosigkeit der jüdischen New Yorker Arbeiterfamilie Bloch, die er kennenlemt, politisches Engagement. Insoweit ist auch No Pasarán ein Depressionsroman, der die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Leben der Menschen in Amerika thematisiert.

Sinclair entfaltet den gesellschaftlichen Hintergrund der Hauptperson, ehe er zum Thema des Spanischen Bürgerkriegs kommt, ein Verfahren, das in vielen der Romane bereits Anwendung fand. So entwickelte er in Boston sogar über mehr als zweihundert Seiten hinweg den Hintergrund der Deportation im Ersten Weltkrieg, der Verfolgungen Linker in den Palmer Raids, der Zusammenhänge von Politik und Kapital in der Bostoner Gesellschaft am Beispiel der Familie Thornwell, ehe er mit dem Sacco- und Vanzetti-Fall begann. In Wet Parade wurde erst das Ganze der Lebensweise in den Südstaaten geschildert, ehe das Thema der Prohibition konkret einsetzte. Die Notwendigkeit einer geeinten Volksfront zur Bekämpfung des Faschismus in Spanien spiegelt Sinclair in der Zusammensetzung des Spektrums der linken Freunde Rudy Messers. Einer davon ist Izzy Bloch, mit dem Rudy den Wunsch nach Spanien zu ziehen diskutiert. „‚Ich will gegen Hitler kämpfen, Izzy.‘ ‚Ich dachte, ich tu das schon hier in New York.‘ ‚Schon richtig, aber Spanien ist der Ort, wo es darauf ankommt. Wenn wir da für ein Jahr aushalten können, verblutet er zu Tode. Die anständigen Menschen in der Welt werden aufwachen und merken, was gespielt wird. Der britischen Arbeiterschaft werden sich die Augen öffnen und sie werden das Tory-Regime brechen.‘“

Rudy erfährt die Gewalt, den Tod und die Angst nun im Kriegseinsatz selbst, erfährt aber auch die Solidarität mit der spanischen Bevölkerung und innerhalb der Internationalen Brigaden. „Unbeschreiblich das Gefühl, zu einer Elite der Revolutionäre zu gehören, bei einem geschichtlichen Ereignis dabei zu sein. Leitmotivartig stößt der Leser immer wieder auf die Internationale und den Gruß mit der geballten Faust, Symbole der weltweiten Solidarität für den Freiheitskampf der spanischen Republik.“ Im großen Erlebnis dieses gemeinsamen Kampfes um Madrid, wo der Feind noch einmal abgewehrt wird, der Mythos von der Unbesiegbarkeit der maurischen Truppen Francos auch überwunden wird, ergibt sich für Rudy jene Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung, die ihm in New York verwehrt war. In der knappen Form eines agitatorischen Kurzromans (das Bändchen umfaßte in der im Selbstvertrag publizierten amerikanischen Ausgabe nur 90 Seiten) sollte an Rudy das didaktisch demonstriert werden, was Amerikaner noch im Verlaufe des Spanienkrieges selbst nachvollziehen können sollten: demokratisches Engagement und womöglich aktive Teilnahme.

Mit No Pasarán hat Sinclair den Kampf für soziale Gerechtigkeit und demokratischen Sozialismus zum ersten Mal seit Jimmie Higgins wieder überwiegend auf einen internationalen Kriegsschauplatz verlegt. Der historische Vormarsch des Faschismus zwang ihn dazu. No Pasarán kann daher als eine Art Ouvertüre angesehen werden zum internationalen Engagement Sinclairs für die Dauer des gesamten nächsten Jahrzehnts, als er versuchte, in einem monumentalen Zyklus historischer Romane die Tragödie des 20. Jahrhunderts authentisch einzufangen.“

 

Historisches Monumentalepos: Lanny Budd 1940 - 1949

 

„Im Jahr 1949, nach Abschluß des zehnbändigen Zyklus, beschrieb der 71jährige Autor, wie ihm die Inspiration zu dem großen Wurf gekommen war: „Es war gegen Ende 1938 kurz nach dem schrecklichen Ereignis, ‚München‘ genannt. Ich lief im Garten unseres Hauses in Pasadena auf und ab, auf einem Pfad, den 22 Jahre meines rastlosen Schrittes festgetreten hatten …, als eine Story mir ins Bewußtsein schoß, eine komplette Handlung mit einem Bündel Charaktere, mit Schauplätzen, Lokalkolorit und Ereignissen. Es war wie eine atomare Explosion - wie der riesige Pilz, der aufgeht in den Himmel hinein, der kochend und siedend sich in frischen Explosionen ständig erneuert, hier, dort und überall.“ Heute, im Zeitalter atomaren Wettrüstens und des Kampfes gegen die unmenschliche Neutronenbombe, muß uns das Bild, mit dem aufgrund der Erfahrung von Hiroshima hier im nachhinein eine dichterische Eingebung eingefangen wird, als ein Bild von zynischem und barbarischem Ästhetizismus erscheinen. Es zeigt, wie ein Kämpfer für Frieden und soziale Gerechtigkeit im Zuge der Abfassung eines gigantischen Romanzyklus, täglich begleitet von den Erfahrungen eines barbarischen Krieges, selbst eine Entwicklung zur tendenziellen Inhumanität durchmachte. Seine Bildlichkeit verrät eine Position, welche die Bombe auch politisch und militärisch akzeptiert.

Zwei Tage und zwei Nächte folgten der Inspiration, in denen Sinclair, von nur kurzen Erholungspausen unterbrochen, das plante und konzipierte, was zunächst als nur ein Band, dann als Trilogie intendiert war, was sich aber mit den 1938 noch nicht erahnbaren welthistorischen Abläufen zu einem Mammutwerk von zehn Bänden von je über 600 Seiten ausweitete. Sie wurden mit der Präzision eines Uhrwerks jährlich auf den amerikanischen und internationalen Markt gebracht. Mit der Veröffentlichung der Lanny-Budd-Serie geschah endlich im Felde seiner Rezeption als Schriftsteller, was sich in der Gouverneurskandidatur politisch und der Annäherung an das New-Deal-Konzept ideologisch angekündigt hatte: das Einmünden in einen breiteren Strom der amerikanischen Erfahrung, die Anerkennung durch ein Publikum, das die Grenzen der Leserschaft sozialistischer oder liberaler Magazine überschritt. Nur bei wenigen Büchern Sinclairs verfügen wir über exakte Verkaufsziffern, doch veröffentlichten die beiden großen amerikanischen Wochenzeitungen Newsweek und Saturday Review im Sommer 1949 übereinstimmend die Zahl von rund 1.350.000 verkauften Exemplaren der Bände 1-9 (Band 10 war gerade erschienen) allein in den USA. Insgesamt können wir davon ausgehen, daß bis Ende 1950, d.h. also innerhalb von zehn Jahren nach dem Erscheinen des ersten Bandes; in den USA und Großbritannien zusammengenommen eine Verkaufsauflage von knapp drei Millionen Exemplaren erzielt wurde. Dies schließt den Vertrieb in andere englischsprachige Länder der Welt ein. Übersetzungen in mehr als 30 Fremdsprachen folgten. Natürlich gab es auch englischsprachige Neuauflagen, die jüngste 1973 als preiswerte Taschenbuchreihe des Curtis-Books Verlags in New York. 

Der enormen Verbreitung des Zyklus entsprachen ein positives Presseecho, das sich vom kommunistischen Daily Worker bis zum nationalen Nachrichtenmagazin Time erstreckte und eine weltweite Belobigung durch international renommierte Persönlichkeiten. So schrieb bereits nach dem ersten Band der berühmte Science-Fiction Autor H. G. Wells: „World's End ist von großartiger und ausgewogener Komposition und hat mich bei lebhaftem Interesse gehalten von Los Angeles bis Omaha. Das Buch ist für mich die vollkommenste und getreueste Abbildung jener Epoche, die je geschaffen wurde oder je geschaffen werden wird.“ Pearl S. Buck sekundierte: „Ich sage sehr selten etwas über Bücher; gern erkenne ich aber Upton Sinclairs World's End an, denn ich habe das Buch mit wirklichem Vergnügen gelesen. Ich halte es für Sinclairs bestes Buch überhaupt und ein sehr zeitgemäßes. Es lesen, heißt, die Zukunft in einem Spiegel sehen.“ Und Theodore Dreiser empfand World's End als „einen wirkungsvollen zeitgemäßen Roman, den jeder Amerikaner lesen sollte“. Den zweiten Band, Between Two Worlds, kommentierte Bernard Shaw: „Wenn Menschen mich fragen, was in der langen Zeitspanne meines Lebens passiert ist, verweise ich nicht auf die Zeitungen und die Autoritäten, sondern auf Ihre Romane. Man hat eingewendet, daß die Personen in Ihren Büchern nie existierten, daß ihre Handlungen niemals geschahen und ihre Aussprüche niemals getan wurden. Ich versichere denen, die das behaupten, das Gegenteil und füge hinzu, daß Upton Sinclair reale Personen besser verkörpert und ausgedrückt hat als sie es selbst vermocht hätten … Lanny ist im übrigen genau die richtige Wahl eines Hakens, an dem Weltgeschichte aufgehängt wird.“

Der dritte Band, Dragon's Teeth, ist die Geschichte des Aufstiegs des Hitlerfaschismus. Er erhielt den begehrten Pulitzer-Preis. Es schien angemessen, daß der exilierte Thomas Mann sich dazu äußern sollte: „Es ist eine schmerzhafte Lektüre, besonders für einen Deutschen, doch der Schmerz verwandelt sich in Vergnügen durch die Kunst der Darstellung - ein Vergnügen freilich, dem Zorn und Scham sich beimischen. Wer Nazideutschland kennt, wird zugeben, daß nicht ein einziges Wort Ihres Buches Übertreibung ist.“ Albert Einstein schrieb (nach Band V): „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihr letztes Buch, Presidential Agent. Ich bin überzeugt, daß Sie eine wichtige und wertvolle Aufgabe erfüllen, indem Sie der amerikanischen Öffentlichkeit lebendige Einsichten vermitteln in die psychologischen und ökonomischen Hintergründe der Tragödie, die sich in unserer Generation vollzieht. Nur ein großer Künstler kann das erreichen. Es ist meine Überzeugung, daß Sie das politische Denken wirksamer beeinflußt haben als fast alle Politiker auf der Bühne.“ Der indische Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore schrieb: „Ihr furchtloses Eintreten für die Wahrheit, für das Recht, Ihr Standpunkt, daß die Anbetung des Geldes zur Erniedrigung führt … schuf umgehend ein Band der Sympathie.“ Die Zitatenlese ließe sich beliebig fortsetzen.

Da die zehn Bücher im großen und ganzen eine wahrheitsgetreue Abbildung des historischen Details geben, erübrigt sich die Wiedergabe des Strangs der weltgeschichtlichen Abläufe, der faktographischen oder historiographischen Teile der Bücher. Interessant sind eigenwillige Interpretationen und die erzählerische Kunst Sinclairs, die fiktionale Hauptgestalt, Lanny Budd, seine Freunde, seine Familie, seine persönlichen Erlebnisse mit den historischen Abläufen zu verknüpfen, zu einer Einheit zu integrieren. Interessant sind die Techniken der Reportage Sinclairs, seine „Faktion“, d.h. die eigenwillige Verschmelzung von Faktographie und Fiktion …

Das Buch erschien zu dem historischen Augenblick, als die Schilderung der Nazigreuel mit dem Eintritt der USA in den Krieg wirksamste Propaganda bedeutete. Eine hohe Verkaufsauflage und die Verleihung des Pulitzerpreises beweisen die Wirksamkeit. Der Preis, gestiftet von dem Zeitungsgiganten ungarischer Herkunft, Joseph Pulitzer, wird seit 1917 jährlich in den Sparten Journalismus, Literatur und Musik vergeben. Zuständig für die Preisverleihung ist eine von der Columbia-Universität in New York eingesetzte Jury. Pulitzer hatte 1903 an dieser Hochschule eine Stiftung für die Gründung einer Journalismus-Fakultät eingerichtet. Im Bereich der Literatur werden jährlich fünf Preise, dotiert mit je 500 Dollar, vergeben und zwar für die Gattungen Roman, Drama, Geschichtsschreibung, Biographie und Versdichtung. Sinclair erhielt ihn 1942 für seinen Roman Dragon's Teeth - der einzige Pulitzerpreis seines Lebens …

Unter den zahlreichen uneingeschränkt positiven Stellungnahmen finden sich solche, die Sinclair zu einer „amerikanischen Institution“ erklären. Von seinem Weltruhm ist die Rede, von seiner technischen Brillianz, der Kunst des „verbalen Panoramagemäldes“. „Dieser Mann ist offensichtlich einer der literarischen Titanen, ein Gigant, dessen Kraft so unerschöpflich ist wie sein Talent.“

Eine kanadische Zeitung kommentierte: „Dieser geübte Autor hat ein fast magisches Geschick, dem Kraft und Leben zu injizieren, was vorher bloße Tinte der Schlagzeilen und Zeittafeln war.“ Zwei Provinzblätter aus Ohio sekundierten: „Die Atmosphäre hinter den Kulissen und die Charaktergestaltung sind überzeugend wie eh und je; das Tempo ist phantastisch - wenn Lanny es aushält - wir allemal.“ „Das Geheimnis des Sinclairschen Erfolgs ist, daß er ein Epos unserer Zeit in leicht zugänglichem Stil erschaffen hat, und die Größen unserer Zeit in ihrem Privatleben vorführt“ …

Trotz stärkerer Einbindung in den US-Herrschaftsapparat unter den neuen verschärften Bedingungen des Kriegseintritts bricht auch das Image des Altsozialisten Lanny immer wieder durch, so in der Bewertung DeGaulles, der ihm als Repräsentant der Aristokratie, der Armeekaste und der Klerusprivilegien tendenziell mit General Franco vergleichbar erscheint. Und nach wie vor verbindet er Imperialismuskritik mit der Kritik hoher öffentlicher US-Ämter, zumal der Auslandsvertretungen. So läßt Sinclair ihn nachdenken aus Anlaß des Zusammentreffens mit einem US-Diplomaten in Afrika: „Wann immer er auf einen Diplomaten oder Konsulatsoffiziellen gestoßen war, hatte er einen Gentleman vor sich, der Anspruch erhob auf das Beiwort „konservativ“, der mit ganzer Seele an das Prinzip des ‚freien Unternehmertums‘ glaubte, wie es nun hieß. Lanny zog die Bezeichnung ‚kapitalistisches System‘ vor, aber das sagte man in vornehmen Kreisen kaum noch. Unter diesem System war Amerika zum reichsten und florierendsten Land der Welt geworden, und wenn ein Diplomat darüber sprach, man müsse die Welt sicher machen für die Demokratie, meinte er: sicher für jenes System, und war sich der gottgewollten Aufgabe seines Landes bewußt, das System für die ganze Welt zu errichten und zu erhalten.“

Als One Clear Call (1948) erschien, stand Sinclair unmittelbar vor seinem siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlaß verband der bekannte linksliberale Kritiker Maxwell Geismar die Besprechung des Buches mit einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit: „Als Siebzigjähriger findet sich der Autor nach einem langen Leben der Sensationen, der Beschimpfungen, oft der Ächtung und sogar des Exils plötzlich in der Situation, nicht nur ein nationaler Bestseller zu sein, sondern auch ein internationaler Vertreter amerikanischer Kultur.“ Sinclair als Vertreter der amerikanischen Kultur schlechthin, einer wie Geismar weiter ausführte, der besten Traditionen des 19. Jahrhunderts verpflichteten Kultur der „Informiertheit, Moral und Tugend“. Diese Einschätzung ist wichtig, registriert sie doch, daß Sinclair mit der Lanny-Budd-Serie endlich einmündet in den „mainstream“ des amerikanischen Lebens, daß seine Anerkennung durch „Middle America“ als solche reflektiert wird. Zum Roman selbst meinte Geismar, daß man ihn genießen könne, habe man einmal die „komplette Absurdität des Erzählfadens“ akzeptiert …

Immerhin: Der Krieg ist nun endgültig zu Ende, und der Wiederaufbau soll laut Sinclair unter dem Zeichen des demokratischen Sozialismus geschehen. Das spezifisch Amerikanische des Sinclairschen Sozialismusbegriffs wird im Roman noch einmal zusammengefaßt, um den Lesermassen in den USA den Gedanken schmackhaft zu machen: „Die amerikanische Arbeiterschaft braucht weder auf Marx und Engels, noch auf Fourier und Proudhon zurückzugehen, wenn sie Ideen des gesellschaftlichen Wiederaufbaus sucht. Amerika hatte vom ersten Augenblick an seine eigenen Denker, deren Ideen im Einklang waren mit dem nationalen Charakter und unsern Institutionen. Das hieß natürlich nicht, daß man europäischen Ideen gegenüber unwissend bleiben sollte. Sie brauchte man, um europäische Probleme und Ereignisse zu verstehen. Aber um amerikanische Probleme und Ereignisse verstehen zu können, brauchte man amerikanische Ideen, und das hieß die Kenntnis der Schriften von Robert Owen und Albert Brisbane …, von Wendell Phillips und Horace Greeley, von Edward Bellamy und Henry George, von George D. Herron und Charlotte Perkins Gilman und Gaylord Wilshire und J. A. Wayland und Eugene V. Debs. Diese Schriftsteller und viele andere haben amerikanische Ideen geprägt und waren Quell unzähliger Bewegungen und Programme. Praktisch alles in Roosevelts ‚New Deal‘ war dreißig Jahre lang Bestandteil der ‚unmittelbaren Forderungen‘ der Sozialistischen Partei Amerikas gewesen“.

Die Passage enthüllt, daß ein großer Teil der genannten Vorläufer und „Väter“ des amerikanischen Sozialismus utopische Sozialisten des 19. Jahrhunderts waren, deren Denken wiederum von französischen Utopisten beeinflußt war. Owen war zudem Waliser. Gefährlicher ist jedoch der mitgeteilte Glaube, im New Deal seien de facto sozialistische Positionen verwirklicht. Dies verführte Sinclair (und mit ihm Lanny) zu der Annahme, die USA seien faktisch dem Sozialismus nahe und könnten ihrerseits dem Wiederaufbau Europas „sozialistische“ Impulse geben.

Noch fehlt in diesem Programm explizit das Element des Antikommunismus …

Lanny und Frau können sich dazu noch nicht entschließen, obgleich eine Freundin ihnen im Testament eine Million Dollar überschrieben hat mit der Auflage, den Krieg zu beenden. Sie gründen eine Stiftung zur Verhinderung eines dritten Weltkriegs und richten eine Zeitung und ein Rundfunkprogramm in den USA ein, das einer allgemeinen Friedenspropaganda im Geiste der Humanität verpflichtet ist. Die aggressiven Töne des Antikommunismus fehlen noch darin. Auch entsendet Truman Lanny ein letztes Mal zu Stalin. Sehr zum Leidwesen stramm antikommunistischer Rezensenten war dieses Interview von einer positiven Tendenz getragen, die der komplexen Situation des Jahres 1946 geschichtlich gerecht wurde. Erst im Bericht bei seinem Präsidenten geht Lanny zusehends auf Distanz: „Die Worte, die ich ihm sagte, hätten jeden echten Sozialisten gerührt; wenn sie Stalin nicht gerührt haben, ist das ein Beweis, daß die sowjetische Revolution sich in russischen Imperialismus verwandelt hat. Das würde heißen, er respektiert nur Macht, und wir sollten ihm dann klar machen, daß wir diese Sprache verstehen.“ 

Das Radioprogramm im Dienste des Friedens und Humanismus steht in Widerspruch zu einer im Zyklus der Romane ständig anwachsenden Inhumanität des Helden, die des alternden Autors eigene zunehmende Verhärtung widerspiegelt …

Sinclair beschließt den Zyklus, außer mit einem Personen- und Sachindex aller zehn Bände, mit dem stolzen Hinweis darauf, daß in Japan der Verkauf von Dragon's Teeth innerhalb von drei Monaten dieselbe Auflagenziffer erreichte wie in den USA innerhalb von sieben Jahren. Den Kritikern, die seinem Mammutwerk immer noch negativ oder zweifelnd gegenüberstanden, schleuderte er nicht ohne Eitelkeit die Frage entgegen: „Wo ist ein amerikanischer Autor mit einem derartigen Weltruhm zu Lebzeiten?““

 

Zum Schluss

 

Der für Upton Sinclair wichtigste Schriftsteller war Percy Shelley. Gerne verweist der Wurm auf seinen Beitrag http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/290-ich-bin-philanthrop-demokrat-und-atheist-percy-b-shelley.html

 

John Heartfield (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/32-staeck-brief.html ) hat für viele seiner Bücher die deutschen Schutzumschläge gestaltet: https://www.google.com/search?q=upton+sinclair+john+heartfield&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwj2rbng3PzfAhVJb1AKHYGKB4gQ_AUIDigB&cshid=1547999842794552&biw=1600&bih=789

 

Upton Sinclair heute

 

Maike Albath schreibt im „Deutschlandfunk“ unter anderem: „In Deutschland war er der meistgelesene amerikanische Schriftsteller; bis 1932 erreichte seine Gesamtauflage 700.000 Exemplare ... Seine Schilderungen gesellschaftlicher Verrohung durch einen ungebremsten Kapitalismus haben nichts an Aktualität eingebüßt.“ 

https://www.deutschlandfunk.de/vor-50-jahren-gestorben-der-schriftsteller-upton-sinclair.871.de.html?dram:article_id=434080

Wesentlich mehr als diesen Beitrag dürfte der deutsche Medien-Nutzer zum 50. Todestag eines der wichtigsten und bedeutendsten Schriftsteller der Welt nicht erfahren haben.

Trotzdem es kaum Verfilmungen seiner Bücher gibt, wird er in den USA hingegen deutlich mehr wahrgenommen. Hier ein Vortrag von Antony Arthur in Chautauqua:

 

 

Einige seiner Bücher sind (auf Englisch) zu hören: https://www.google.com/search?q=upton+sinclair+audio&lr=lang_de&tbs=lr:lang_1de&tbm=vid&ei=aXlEXI_nGorbwAKih6_AAg&start=0&sa=N&ved=0ahUKEwjPv-SsvfzfAhWKLVAKHaLDCyg4ChDy0wMIVw&biw=1600&bih=789&dpr=1

https://www.google.com/search?q=upton+sinclair+audiobook&tbm=vid&ei=5HhEXLyWDoLEwQKng6j4BQ&start=20&sa=N&ved=0ahUKEwi8mKLtvPzfAhUCYlAKHacBCl84ChDw0wMIeQ&biw=1600&bih=789&dpr=1

 

Der Glaube an das Gute im Stalinisten

 

Dass viel Positives in der Sowjetunion erreicht wurde: ja, natürlich. Aber dass Upton Sinclair den Stalinismus auch dann verteidigte, nachdem dessen Verbrechen und Morde bekannt waren, ist nicht zu entschuldigen. Seine Verbohrtheit erst im Bejahen des Stalinismus und dann im Antikommunismus, lässt sich nur mit Extremität erklären: Hauptsache mit Volldampf in eine Richtung, wobei die Richtung schon wieder zweitrangig ist. Siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/286-extrem.html

 

Das Wesen des Kapitalismus

 

Es gibt gute Kapitalisten, die nur das Beste für sich, ihre Mitarbeiter und den Rest der Menschheit wollen. Mit Götz Werner hatte der Wurm einen der solchen beschrieben http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/55-goetz-zitate.html

Allerdings handelt es sich nicht um die Mehrheit der Wirtschaftstreibenden und meistens werden solche von den weniger Guten untergebuttert.

Beim Geld hören für viele Menschen Freundschaft und Gesetzestreue auf. Wer nicht muss, wird andere über‘s Ohr hauen oder auf die Politik legal oder mit Bestechung darauf einwirken, dass für ihn günstigere Bedingungen entstehen.

In halbwegs „guten“ Zeiten wird sich der Kapitalismus (und mit ihm die Politik) zurücknehmen, zumal dann, wenn er von starken Gewerkschaften und einer starken öffentlichen Meinung dazu gezwungen wird. In den USA war das etwa in den 1930er/1940er Jahren der Fall.

Aber immer nur im erlaubten Rahmen. Wenn etwas wirklich gefährlich wird, wird aus allen Rohren geschossen. Upton Sinclair hatte diese Erfahrung unter anderem in seinem EPIC-Wahlkampf gemacht. Trotz gegenteiliger Erfahrungen ließ er sich einlullen, glaubte an das Gute im Kapitalisten und dass alles gut werde.

 

Der Glaube an das Gute im Kapitalisten

 

Karl-Heinz Schönfelder: „Trotz der bedingungslosen Ablehnung des kapitalistischen Systems vermochte sich Upton Sinclair nie zur Propagierung der Revolution und des gewaltsamen Sturzes dieser Gesellschaftsordnung durchzuringen. Er glaubte an die Macht der Vernunft, an die Kraft der Überzeugung und an die Einsicht der Vertreter der herrschenden Klasse. Er war der Meinung, es sei möglich, durch Enthüllungen, leidenschaftliche Appelle und Reformen eine Veränderung sowohl der ökonomischen wie der politischen Struktur der Vereinigten Staaten zu erreichen. Lenin nannte Sinclair deshalb schon 1915 einen „Gefühlssozialisten, ohne theoretische Bildung ... naiv in seinem Appell, obgleich dieser Appell im tiefsten Grunde richtig ist“.““

Dieter Herms: „Mit The Moneychangers wird eine Vorstellung entwickelt, die im Sinclairschen Denken von Fall zu Fall wieder auftauchen sollte: Zur Herstellung einer gerechten Gesellschaft, zur Einführung demokratischer Prinzipien im Wirtschaftsleben bedarf es des aktiven Engagements aufgeklärter und ehrlicher Kapitalisten. Beispiele der Konkretion dieses Gedankens hatte Sinclair in der historischen Wirklichkeit angetroffen: Gaylord Wilshire und Mrs. Krane-Gartz. Schon im Jungle war in der Nebenfigur des sozialistischen Hoteliers, bei dem Jurgis schließlich Arbeit findet, der Typus vorgebildet. In Weiterentwicklung dieses Gedankens findet sich seit The Metropolis im Romanwerk Sinclairs ein durchgängiger Personentyp oft als Hauptgestalt, der sozialdemokratische Sympathisant aus großbürgerlichem Hause, der an der Seite der Arbeiterklasse für Gerechtigkeit und Sozialismus streitet. Allan Montague setzt sich fort mit Hal Warner in King Coal, Bunny Ross in Oil!, Cornelia Thornwell in Boston und Lanny Budd.“

 

Aber Vorsicht!

 

Spätestens ab den 1990ern zeigt sich, dass dem Kapitalismus nicht genügend Widerstand entgegengesetzt wird: die ehemaligen sozialistischen Länder werden abgezockt, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/284-der-mit-dem-bimbes.html , in den industrialisierten Ländern werden Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und Allgemeinwohl abgebaut, Steuern für die Reichen reduziert, Kriege gegen Länder geführt, die sich nicht alles bieten lassen, Regime-Wechsel gegen unliebsame Regierungen geführt, unterentwickelte Länder noch mehr ausgebeutet. Da die Hauptmedien sich alle in kapitalistischer Hand befinden, wird ausschließlich in deren Sinne berichtet.

Am Schluss von http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/329-der-erloeser.html hatte der Wurm ausführlich darüber berichtet.

Wer diese Mechanismen nicht kennt, wer seine eigene Geschichte nicht kennt, wer sich alles gefallen lässt, kann erleben, wie seine Lage immer schlechter wird und ist dazu verdammt, seine Geschichte zu wiederholen.

Die Lektüre von Upton Sinclairs Büchern macht deutlich, was früher war, teilweise heute so ist und in ähnlicher Form kommen wird, wenn mensch sich nicht dagegen wehrt.

Karl Kraus 1920: „Der Kommunismus ... - der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genußberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen!”

https://www.textlog.de/35972.html

 

Ganz zum Schluss

 

Dieter Herms: „In der Gesamtbewertung von Persönlichkeit und Werk darf das indessen nicht zu schwer wiegen. Was wiegt, sind fünfzig Jahre Muckraking und erbarmungsloses Bloßlegen der inneren Bewegungsmechanismen des Großkapitals, sind fünfzig Jahre Kampf für die Sache der Unterdrückten und Ausgebeuteten des „anderen Amerika“, ist eine oppositionelle, alternative Literatur mit Szenen und Charakteren, die als Beispiel proletarischer Kultur in die Geschichte eingehen werden. Und so vermittelt uns die Spannweite des Sinclairschen Werks letztlich eine einmalige Kultur- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts der USA und auch der Weltgeschichte - eine Gesamtleistung titanischen Ausmaßes, die durch einige Jahre historisch begründbarer ideologischer Verirrung nicht geschmälert werden kann.“

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm