Voller Damoklesschwerter hängt der Himmel

Es scheint ein böser Wahn die ganze Welt erfaßt zu haben, der Wahn zu zerstören, der Wahn des Hasses und der Verfolgung, des Haders und des Streites auf allen Gebieten unseres Lebens. Was uns täglich die Zeitungen melden, was wir mit Augen sehen, mit unsern Ohren hören, - der Wahnwitz starrt uns überall entgegen. Ernste Männer versammeln sich, um über das Wohl der Völker und der Einzelnen zu sinnen und zu reden, um der bitteren Not zu wehren, den Wohlstand zu fördern – da wirft ein vom Wahn des nationalen Hasses erfüllter Mensch die Brandfackel in die Menge, die Leidenschaften entflammen, Haß blitzt aus den Augen, Haß schreit aus den heiseren Stimmen, jede Besonnenheit entflieht, Worte des Schimpfes fliegen hinüber, herüber, der Friede ist gebrochen, das Parlament liegt brach, und vergebens frägt der Zuschauer nach Ursache, Wurzel und – Ende dieses Wahnes …“

Der Text ist nicht von heute, sondern stammt aus dem Jahre 1898. Hier ist der 2. Teil von „Der Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges“.

 

 

Gewalt und Krieg gegen Terror

 

Es war keine „gute, friedliche Zeit“. Einzeltäter, manche davon verrückt, ermorden den König von Griechenland und einen japanischen Fürsten und verüben Attentate auf den US-Präsidenten, den König von Italien und den österreichischen Justizminister. Revolutionäre ermorden den König und den Kronprinzen von Portugal.

Richtig aktiv sind die Anarchisten, die unter anderem den Präsidenten von Frankreich, den Ministerpräsidenten von Russland, einen bulgarischen Staatsmann, einen spanischen Minister und die österreichische Kaiserin („Sissi“) ermorden.

Bertha von Suttner äußert sich deutlich gegen jede Form von Gewalt und lehnt so auch das Treiben der englischen Suffragetten ab.

 

November 1892

 

Wir Friedensfreunde, deren Hauptsehnsucht es ist, befugte Bombenplatzerei und das Prinzip der Anarchie, wie es – schon Kant hat dies bemerkt – in dem Verkehr der Staaten tatsächlich besteht, abgeschafft zu sehen, können sicher keine Sympathie für die Wiederherstellung anarchischer innerstaatlicher Zustände hegen und müssen die Methode, seine politischen Ansichten mittelst Sprengstoffen zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, jedenfalls verdammen.“

 

Dezember 1893

 

Wir sind die einzigen, die da sagen – unter allen Umständen -: das Leben der Mitmenschen ist heilig; wer sich daran vergreift, begeht ein Verbrechen. Uns kann man glauben, daß wir aufrichtig das Los der zwei oder zwanzig oder hundert schuldlosen Opfer einer Anarchistenbombe beweinen, nicht aber jenen, die den Tod und das Verderben von Millionen Mitmenschen gar nicht in Betracht ziehen, wenn es sich um das Losgehen der unzählbaren Geschosse handelt, die für die „legitime“ gegenseitige Metzelei aufgespeichert werden.“

 

Mai 1894

 

Als Friedensfreund hat der Chronist hinzuzufügen, daß ihm alle Gewaltakte, alle dem schuldlosen Mitgeschöpf angetane Todesqualen verabscheuungswürdig sind und er sieht zur folgerichtigen Verurteilung des Anarchismus der Tat, d.h. der Bombe, nur einen Weg, nämlich den siegenden Durchbruch des Grundsatzes, daß das Menschenleben heilig ist, daß es keinerlei Zwecke gibt, die das verruchte Mittel des Tötens rechtfertigen.“

 

August 1894

 

Traurig für uns Friedensfreunde ist es, daß man sowohl in der neuen Gesetzgebung als in den ausgestreuten Schlagworten die sogen. „anarchistischen Verbrechen“ (als ob Mord nicht schon an und für sich ein Verbrechen wäre), mit den Angriffen gegen den Krieg und Militarismus verquickte, und die Heilighaltung der Armee, die „Tabu“-Erklärung des Kriegerhandwerks gleichfalls zum Gesetz erhoben hat. Aengstliche Friedensfreunde werden jetzt, um nicht für Anarchisten zu gelten, um nicht für „vaterlandslos“ erklärt zu werden, die Grundsätze der Bewegung verschweigen, welche doch die sind, daß ein Zustand angestrebt wird, in welchem 1. die erdrückende Rüstungslast aufhört, 2. der Krieg zwischen zivilisierten Nationen abgesetzt, daher die Unterhaltung von Millionen Kriegern unnütz wäre, 3. die Vaterlandsliebe nichts mehr gemein hätte mit Ueberhebung der eigenen, mit Haß und Bedrohung der anderen Nationen.“

 

August 1895

 

Es ist entsetzlich, welche Gefahren der Anarchismus über unsere arme Welt verhängt!… Bomben, Mordwaffen, Sprengstoffe -, damit wollen diese Wahnwitzigen bessere Zustände schaffen? Alle Augenblicke hört man wieder von Attentaten, Verschwörungen; man findet hier und dort blecherne Büchsen und verdächtige Chemikalien … erst neulich wieder lief an die Adresse einer in wilden Bergen hausenden Bande ein Schiff ein, beladen mit 30,000 Gewehren, fünfzehn Millionen Patronen, außerdem Kanonen, Mitrailleusen und Dynamit …

Aber noch näher besehen: es sind doch die Symbole der Anarchie; nämlich der Gesetzlosigkeit im Staatenverkehr. Das Größenverhältnis ist dabei gewahrt: das gesetzverachtende Individuum droht mit einer Patrone; der sich keinem Gesetz beugenwollende Staat – mit deren fünfzehn Millionen.“

 

September 1898

 

Kaiserin Elisabeth ermordet! Ein verruchter Dolchstoß in ein stilles, stolzes, weltabgewandtes – und schönes Herz. Wieder waren die Trauer und der Schrecken durch die ganze Kulturwelt gedrungen – mit Blitzesschnelle. Wer leugnet noch, daß diese Kulturwelt nur eine Seele hat? Als ein strahlendes und poetisches Bild wird in der Geschichte das Andenken an die schmerzensreiche, schönheitsbegeisterte Fürstin fortleben. Und daß sie nicht im Bette starb, an Krankheit oder Altersschwäche, sondern zusammenstürzte, unter dem Todesstreich eines fanatischen Irren, gerade als sie den Fuß auf die Schiffsbrücke setzte, zu einer neuen Fahrt in die geliebte Naturpracht hinein – das wird, so erschütternd traurig es auch ist, so hassenswert auch die Tat ist, die es verschuldet, das wird jenes Bild mit einem eigenen tragischen Zauber umweben. Vom Grau des Alltags hebst Du Dich ab für alle Zeiten – eine Gestalt in leuchtendem Schwarz: Elisabeth von Oesterreich!“

 

August 1907

 

Wann wird man einsehen und danach handeln, daß edle Zwecke nur durch edle Mittel zu erreichen sind?“

 

Chauvinismus

 

April 1913

 

Die große Rede, mit der der deutsche Reichskanzler die neue Vorlage begründet hat, eröffnet ganz merkwürdige und für uns Pazifisten sogar erfreuliche Ausblicke. Vor allem ist der Ton zu loben, der keine trotzige Drohung enthält. Dann wird konstatiert, daß zwischen England und Deutschland die Beziehungen sich vertrauensvoll und freundlich gestalten; ferner, daß die Gefahren, gegen die man sich vorsehen muß, nicht von der französischen Regierung und nicht vom französischen Volke, auch nicht von der russischen Regierung noch dem russischen Volke zu gewärtigen seien, sondern von dem in französischen Chauvinistenkreisen verstärkt hervorbrechenden Revanchelärm und von der leidenschaftlichen panslawistischen Agitation, die in Rußland offen verkündet, daß die slawische Rasse gegen die germanische Rasse den Kampf aufnehmen will. (Daß es auch alldeutsche Kriegshetzer gib, vergaß der Herr Kanzler zu erwähnen); deutlich und klar ist also hier der Herd der Kriegsgefahr angegeben: die chauvinistisch-nationalistischen Hetzer allerorten. Und diese sollten Regierungen und Völker nicht abwehren können? Weil diese Mißtrauen säen, prahlen und drohen, sollen die Regierungen sich auf den Krieg vorbereiten und damit den Chauvinisten der andern Völker wieder Nahrung zu neuer Haß- und Mißtrauensverbreitung geben? Darum sollen die Völker – die ja den Krieg nicht wollen – sich in Rüstungen verbluten?“

 

Antisemitismus

 

Der Antisemitismus bricht aus. Ausschreitungen in Österreich, Russland und Moldau und die üble Dreyfuß-Affäre in Frankreich.

 

Österreich

 

Die Antisemiten stellen die stärkste Partei im Parlament und mit Karl Lueger den Wiener Bürgermeister. Deutschnationale und Ungarn gebärden sich als Herrenrasse und unterdrücken die anderen Völker. Deshalb kommt es immer wieder zu Zwistigkeiten bis hin zu Exzessen zwischen „deutschen“ Österreichern und vor allem Tschechen, Slowenen, Italienern.

 

Februar 1909

 

Wohin, in welche Niederung der Gesittung der Sprachenkampf führt, wenn er mit solchen Mitteln wie Straßenexzesse, Boykottierungen, Beschimpfungen geführt wird, wodurch der Haß und die Erbitterung bis zum Paroxismus gesteigert werden, das zeigt das Gebaren in unserem Parlament, dem durch Schließung der Saison (5. Februar) ein Ende gemacht werden mußte. Pfeifen, Trommeln, Nebelhörner, gleichzeitiger Gesang von tschechischen, reichsdeutschen und österreichischen Hymnen, geschwungene Fäuste, abgerissene Rockkragen, gebissene Finger … wirklich, man muß schamrot werden – und das alles, weil gesagt worden war, die tschechische Sprache sei in bestimmten Fällen „zulässig“. Es ist wirklich, als wollte der Parlamentarismus Selbstmord begehen! Warum ist man im Theater, im Hotelsaal, auf der Gasse, überall – sicher gegen Katzenmusik und Raufereien, nur im „hohen Hause“ nicht, wo sie Gesetze machen, Gesetze für alle, nur für sich selber nicht?

 

September 1909

 

Der Nationalitätenstreit in Oesterreich tobt heftiger denn je. Der Sprachenstreit, der das Land Böhmen zum Schauplatz der unerquicklichen Kämpfe gemacht hat, soll nun auch in das Land Niederösterreich und dessen Hauptstadt selber bringen. Der für Wien einberufene Katholikentag ist abgesagt worden, weil es sich zeigte, daß Slaven und Deutsche nicht einmal in ihrem Glauben eine genügende einigende Macht mehr finden, um die nationalen Gegensätze zum Schweigen zu bringen. Der Begriff „Oesterreichertum“ scheint auch sämtlichen nationalen Streitern verloren gegangen zu sein, da ja die deutschen Oesterreicher ihren Patriotismus unter schwarzrotgoldener Flagge, unter Absingung des Bismarckliedes und der „Wacht am Rhein“ betätigen. In den Nationalitätenkämpfen haben die Pazifisten nicht Partei zu nehmen, aber Stellung dazu nehmen: das sollen sie. Ihre Prinzipien, die auf Recht und Freiheit fußen, würden, wenn befolgt, gerade so den nationalen wie den internationalen Frieden herbeiführen. Fort mit allen Hemmungen und Unterdrückungen – aber auch fort mit allen Gewalttaten und Roheiten. Die Friedensgesellschaften werden die Hand dazu bieten, daß in ihrer Mitte jene Elemente der verschiedenen Nationen, die ein höheres Ideal eint, sich zusammen der Arbeit des nationalen Friedens widmen können.“

 

Deutschland

 

Februar 1907

 

Das große politische Ereignis der jüngsten Zeit waren die Neuwahlen in Deutschland. Weil das Zentrum im Verein mit den Sozialdemokraten die Mittel zur Fortsetzung des südafrikanischen Kolonialkrieges verweigert hatte, wurde der Reichstag aufgelöst, und die Neuwahlen vollzogen sich unter der vom Fürsten Bülow ausgegebenen Parole: „National“. National aber ist gleichbedeutend mit fragloser Zustimmung zu allen Forderungen für Kriegszwecke zu Lande und zu Wasser. Die Liberalen des Reiches wurden aufgerufen, um für diese Zwecke die erforderliche Mehrheit in die nächste Volksvertretung zu bringen. Das gelang. Das Ergebnis der Wahlschlacht, die ja als Feldzug gegen die Schwarzen und gegen die Roten gedacht war, brachte eine Niederlage der Roten (die Sozialdemokraten verloren eine beträchtliche Anzahl Sitze), dabei aber unverminderten Besitzstand der Schwarzen. Die Verluste der sozialdemokratischen Partei entfesselten in Regierungskreisen den höchsten Jubel, und die Massen jubelten mit unter der Devise: „Deutschland, Deutschland über alles.“ Verhehlen wir Pazifisten uns es nicht. Wir sind durch diesen Vorstoß des Nationalismus arg zurückgestoßen worden.“

Am Abend, da in Berlin das Wahlergebnis bekannt geworden, versammelte sich die Menge vor dem Palais des Kaisers und stimmte einen Huldigungsjubel an. Der Kaiser erschien – es war schon nach Mitternacht – am offenen Fenster und hielt eine Ansprache, worin er u.a. sagte: Wenn man den Deutschen in den Sattel setzt, kann er nicht nur reiten, sondern auch alles niederreiten, was sich ihm in den Weg setzt (Hurrarufe, Gesang: D., D. über alles).“

 

Deutschland und Polen

 

Dezember 1907

 

Die Polenvorlage! Zwangsgermanisierung, Enteignung. Eine mildere Form der Ausrottung. Zur Rettung des „Deutschtums“. Die National-Liberalen – und nur diese – sind entzückt davon. Diesen geht eben der nationale Begriff über alles, alles in der Welt. Die Erfordernisse des Edelmenschentums kennen die Nationalfanatiker einfach nicht. Diese Vorlage wird natürlich ein ex-alperiertes Polentum züchten. Im österreichischen Reichstag haben einige Polen Protest erhoben. Worauf die Deutschnationalen im Hause „Hoch Bülow!“ riefen. Den Protestlern wurde sowohl in Wien wie in Berlin bedeutet, daß es internationaler Brauch sei, sich nicht in die innern Angelegenheiten anderer Staaten zu mengen. „Wir wollen in unsern Pfählen die eigenen Herren sein“, hieß es im deutschen Reichstag. Mein Gott, die Welt kann sich nicht mehr so parzellenweise mit Pfählen und Mauern umgeben. Man ist ja doch nur mehr eine Kulturfamilie. Und es gibt ein internationales ethisches Gewissen. Dem kann man nicht Schweigen gebieten. Wo immer der Nationalismus brutal auftritt, wird das internationale Feingefühl dadurch beleidigt – da nützt kein schroffes und scharfes Zurückweisen. Es ist doch charakteristisch, wie gern die Nationalliberalen sich auch der Worte schrrroff und scharrf mit schnarrender Stimme bedienen; daß in ihrem Parteinamen nur ein r vorkommt, ist ein Fehler. Kraft ist ein schönes Wort und hat auch ein r; aber sollte man verstehen, daß Kraft nicht schroff und nicht scharf zu sein hat, sondern – mild.

 

März 1908

 

Die ostmärkische Enteignungsvorlage – trotz der mutigen Gegenstimmen im preußischen Herrenhaus – ist unter Dach und Fach gekommen. Kaiser Wilhelm richtete darüber ein Belobungsschreiben an Herrn von Rheinbaben. Mir wurde der Text eines offenen Briefes polnischer Frauen an deutsche Frauen überschickt. Darin werden die deutschen Schwestern gebeten, sie mögen heißen Protest erheben dagegen, „daß die Nachkommen derer, welche diese Schollen so viele Jahrhunderte lang mit ihrem Blute und Schweiße tränkten, von ihrem Lande vertrieben werden. Nicht uns, nicht unserer Sache werdet ihr dienen, deutsche edle Frauen; um der Ehre Deutschlands, um seiner Ehrenstellung in der Welt, um des Urteilsspruches der Zukunft willen, erhebt die Stimme des Protestes - -“. Unterzeichnet ist das Dokument von ungefähr 50 polnischen Frauen mit bekanntem Namen, an der Spitze Eliza Orzeszkowa, Polens größte Dichterin.“

 

Deutschland und Frankreich

 

Dezember 1894

 

Anläßlich des Todes der Fürstin Bismarck stand in einem Nachruf voll der Anerkennung und des Lobes folgende Reminiszenz:“ - Bismarck zitiert aus Briefen seiner Frau von 1870, „in welchem sie inbrünstig den Untergang der Franzosen erflehte“ ... „Nur leidet sie immer noch an ihrem grimmen Hasse gegen die Gallier, die sie samt und sonders totgeschossen und -gestochen sehen möchte, bis auf die ganz kleinen Kinder, die doch nichts dafür könnten, daß sie scheußliche Eltern hätten“ ... „Ich fürchte, daß Ihr in Frankreich keine Bibel findet, und so werde ich Dir nächstens das Psalmbuch schicken, damit Du darin die Prophezeiung gegen die Franzosen lesen kannst; ich sage Dir: die Gottlosen sollen ausgerottet werden.“

Unsere französischen Freunde sollen sich über diese Gesinnungen nicht so sehr entrüsten und bedenken, daß es auch genug französische Frauen gab und gibt, die die ganze wilde behaarte Horde der „Allemands“ vom Erdboden getilgt sehen wollten; es ist dies eben nur die Äußerung des engen, fanatischen, abergläubischen, unwissenden Nationalhaß-Geistes. Wir haben diesen Zug hier nur hervorgehoben, um auf zweierlei hinzuweisen: erstens, daß die Friedensliebe und der Kriegsabscheu durchaus nicht spezifisch weibliche Eigenschaften sind; daß die Ideale der tugendhaften Hausfrauen mit dem grimmigsten Chauvinismus behaftet sein können; zweitens, daß es notwendig ist – soll die menschliche Gesellschaft auf eine höhere Kulturstufe gelangen – daß auch die Frauen vom neuen Geist durchdrungen werden.“

 

Januar 1896

 

„… und die Frage, ob Leute sich von ihm bestechen ließen oder nicht, um ihm Dispens vom Militärdienst zu verschaffen, hat sich zu einem Monstreprozeß aufgebauscht. Was für uns an dieser Sache von Interesse ist, ist dies: Unter den kompromittierten und arretierten Personen befindet sich auch der langjährige politische Chronist des „Figaro“, Jacques St-Cere, recte Rosenthal. Der tägliche Artikel Rosenthals über die auswärtige Politik war in extrem französisch-patriotischem, mitunter chauvinistischem Stil gehalten. Kaum aber war der Unglückliche in Untersuchungshaft, so erhob sich gegen ihn die Beschuldigung, er sei ein deutscher Spion gewesen. Es ist charakteristisch für den herrschenden Nationalfanatismus, daß der Verdacht der Spionage und des Landesverrats sich mit ebensolcher Häufigkeit und Vehemenz laut macht, wie im Mittelalter die Anklage auf Hexerei und Zauberei. Die Analogie zwischen den einstigen abergläubischen und grausamen Leidenschaften finstern Glaubenseifers mit den Erscheinungen des leider heute noch lodernden Rassenfanatismus zeigt sich in jeder Richtung.“

 

August 1896

 

Die Vorgänge in Lille, wo bei der dortigen Sozialistenversammlung Bebel und Liebknecht von einem Teil der Bevölkerung insultiert wurden, zeigten so recht den Geist der sogenannten „nationalen“ Parteien. Weil Deutsche nach Frankreich kommen, so insultieren sie darob nicht allein die chauvinistischen Franzosen, sondern ebenso die chauvinistischen Deutschen; und mit Wonne zitieren die kriegerischen Blätter Frankreichs die Auslassungen der Münchener und Hamburger Nachrichten über die „vaterlandslosen“ Sozialisten. Es ist merkwürdig, wie einmütig international doch die Nationalen in der Bekämpfung des internationalen Gedankens vorgehen.“

 

Juli 1911

 

Die chauvinistischen Kreise leben noch allenthalben in dem Wahn, daß, wenn es irgendwo eine Schiffsdemonstration oder einen Grenzzwischenfall oder einen Aufruhr gibt, dann sogleich aus solchen Funken der Weltbrand entstehen wird. Auf diese Voraussetzung waren auch die verschiedenen in den letzten Jahren erschienenen Zukunftskriegsromane aufgebaut: ein Attentat am Balkan, ein Zusammenstoß an fremder Küste – hierauf allgemeine Erregung, kochende Volksleidenschaft, gegenseitige Beleidigungen: und es geht los. In letzter Zeit aber – trotz der Zwischenfälle und Wirren will‘s nicht losgehen. Es lieg nämlich etwas ganz Neues in der Luft: der Friedenswille der Völker, die Vermeidung des Kriegsrisikos seitens der Regierungen, die schon sichtbar gewordene, oft schon in Aktion getretene Friedensbewegung und das in allen großen Fragen jetzt immer häufiger, immer bestimmter hervortretende Zusammenarbeiten der Mächte.

Und ein Zusammenarbeiten, das dahin zielt, die Kriegsgefahren zu dämpfen – nicht zu schüren. Das zeigt sich auch wieder in der Marokko-Affäre. Am ersten Tag freilich, als die Agence Havas-Depesche die Entsendung des „Panther“ meldete, da waren die Kriegswitterer wieder mit Alarmrufen bei der Hand. Blätter namentlich, in deren Bezirk die Kanonenfabriken blühen, tun sich hervor. Die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ z.B. begrüßt die Ausfahrt des deutschen Kriegsschiffes als „befreiende Tat“, richtet heftige Angriffe gegen Frankreich und ruft die Erinnerung an 1870 wach, indem sie schreibt: „Wenn die Franzosen sich unterfangen, in Marokko „Ordnung zu stiften“, können wir das gleiche tun. (Die Gänsefüßchen deuten an, daß, wenn man „Ordnung stiften“ sagt, man „erobern“ meint.) Vor Agadir liegt nun ein deutsches Kriegsschiff. Die Verständigung mit uns steht ihnen noch frei. Wollen sie nicht, dann mag der „Panther“ die Wirkung der Emser Depesche haben. „Das deutsche Volk wird zeigen, daß es seine Ehre zu wahren weiß.“ In diesem grimmigen Ton pflegen die Nationalisten das Wort Ehre zu gebrauchen – hoffend, daß die andern ebenfalls das gleiche Wort zischen werden. - Es ist aber nicht so gekommen. Außer in ein paar unansehnlichen chauvinistischen Organen ward überall die Ruhe gewahrt und Verständigung aller, auch der direkt unbeteiligten Mächte wird wieder angebahnt. Die Zeit ist vorüber, wo es bei Streitigkeiten der Völker überhaupt keinen andern Ausweg gab als dreinschlagen, und wo es, wenn zwei sich stritten, dem andern überhaupt versagt war, versöhnend, beruhigend, kriegverhindernd einzugreifen. Jede Einmischung war schon an und für sich ein neuer casus belli. Das ist alles gründlich anders geworden.“

 

April 1912

 

Ueber Frankreich hat sich in den letzten Wochen plötzlich eine Woge von Chauvinismus ergossen, von heftiger „vive l‘armée“-Stimmung, die vom unversöhnten Revanchegedanken durchdrungen ist. Alle Camelots du Roy, alle Cocardièrs, Bonapartisten, Orléanisten, Nationalisten, Antisemiten, Klerikalen – kurz „toute la bande“ derjenigen, die zur Dreyfußzeit „vive l‘armée!“ riefen, sind jetzt wieder lebendig geworden, und die Sensations- und Reaktionspresse verstärkt ihren Chor. Diesmal handelt sich‘s nicht darum, Zola ins Wasser zu werfen, sondern mittels fliegender und schwarzer Truppen Deutschland zu besiegen oder doch ihm einen Mordsrespekt einzujagen. Die Intellektuellen tun da natürlich nicht mit. Hinter dem Geschrei liegt auch nicht die Gesinnung des Volkes. Kaiser Wilhelm hat mit einer wirklich schönen Geste auf diese chauvinistischen Clownereien geantwortet: er hat sich beim französischen Botschafter in Berlin zu Tische geladen. Damit hat er diese Patriotarden von hüben und drüben höchst wirkungsvoll beschämt.“

 

Juni 1912

 

Es ist in der Tat erschreckend, welche Dimensionen gegenwärtig der Chauvinismus in Frankreich annimmt. Ob in den Herzen der Bevölkerung – das weiß ich nicht und bezweifle es, aber auf der Gasse und in der Presse. Der Mob, der dem Musikzapfenstreich nachmarschiert und dabei „vive l‘armée“ und mitunter auch „à bas l‘Allemagne“ brüllt, der jeden, der nicht mitbrüllt, krumm zu prügeln droht – dieser Mob erinnert an die ärgsten Zeiten des Zolaprozesses. Und die Zeitungen! Außer Loysons „Droit de l‘homme“ und Jaurès‘ „Humanité“ blasen die gesamten gelesensten Zeitungen („Figaro“, „Journal“, „Echo de Paris“, „Matin“) förmliche Kriegsfanfaren. In jeder Spalte – sei es als Kriegsartikel, als Tagesanekdote, als Bericht – überall dieselbe Note: der Krieg kommt – es lebe die Armee. Hier sei, unter vielen, der Inhalt einer einzigen Nummer des „Echo de Paris“ (1. Juni) angeführt: An der Spitze ein leitender Artikel des ob seiner Beredsamkeit berühmten Führers der Klerikalen im Parlament, M. de Mun, worin für eine militärische Allianz mit England plädiert und gegen jegliche deutsch-englische Versöhnung polemisiert wird; ferner eine Enquete von einem Offizier: „Wie grüßen echt französische Frauen die Fahne?“ Und darauf eine Reihe von „echt patriotischen“ Antworten von Frauen, die keine höhere Hoffnung für ihr Vaterland kennen als die, die durch die Fahne symbolisiert wird, und die dem Wunsch Ausdruck geben, daß ihre Söhne für diese Fahne sterben mögen. Dann ein Bericht über ein Festbankett zur Feier der Absetzung des Präfekten von Carcassonne, der sich des Verbrechens schuldig gemacht hatte, gegen eine von militärischen Behörden eingeleitete Sammlung zugunsten der Luftflotte zu protestieren. Außerdem noch eine ganze Reihe von Berichten über technisch-militärische Fragen. - Europa ist an Bellicitis erkrankt und welcher Chirurg wird es rechtzeitig retten?“

 

April 1913

 

Und nun, während so eifrig in allen Staatsämtern und Botschafterreunionen daran gearbeitet wurde, den Frieden zu retten, während überall Entspannungen sich fühlbar machten, Vorschläge zu Verständigungen auftauchten, Kundgebungen gegen den Krieg – darunter eine höchst bedeutungsvolle im Elsaß – stattfanden, während noch hundert Schwierigkeiten überwunden werden mußten, man alle Hände, alle Köpfe und alle Herzen voll zu tun hatte, um die balkanischen Wirren zu klären und die europäischen Gefahren abzuwenden, platzte plötzlich die deutsche Milliardenwehrvorlage herein – augenblicklich beantwortet mit der französischen Wiederaufnahme der dreijährigen Dienstzeit. Als ob Hannibal schon vor den Toren stände! Ein paroxistischer Anfall des noch immer zunehmenden epidemischen Wahnsinns.“

 

Deutschland und England

 

Februar 1900

 

Eine abscheuliche Verirrung der öffentlichen Meinung in allen außer-englischen Ländern stellt der immer wachsende und immer geschürte Engländerhaß dar. Statt die ganze Entrüstung auf das Gewaltprinzip selber und auf diejenigen zu konzentrieren, die es in Anwendung gebracht, fällt das öffentliche Denken auch wieder in das alte Geleise, das immer nur nationenweise verurteilt und bewundert, haßt und liebt. Ich schließe mit den Worten Pierre de Coubertin‘s (Lettres d‘un Indépendant in der „Indépendance Belge“):

Verwechselt doch um Gotteswillen das England, das sich schlägt, nicht mit der Rotte, die es zum Schlagen getrieben hat. Gedenket der erhabenen Toten, die in Westminster schlafen und helfet lieber ihren Nachkommen, den wahren Weg, den sie verloren, wiederzufinden, den Weg, auf welchem man gestern noch die anglosächsischen Völker zu den Höhen der Kultur hat schreiten sehen.“

 

Januar 1910

 

Das Lieblingsgebilde der Chauvinisten aller Länder, der „bevorstehende deutsch-englische Konflikt“, wird jetzt anläßlich der Wahlkampagne von den englischen Konservativen mit Leidenschaft benützt, um für Schutzzoll, allgemeine Wehrpflicht und Flottenvergrößerung Stimmung zu machen …

Kürzlich hat auch der Schutzzollfreund Balfour in seiner Rede auf die deutsche Gefahr angespielt. Freilich setzte er hinzu, daß er nicht daran glaube. In unserer Presse hieß diese Rede „Kriegsrede“, das war sie nicht. Und wenn sie‘s gewesen wäre? Wie lange soll es denn noch immer so hingestellt werden dürfen, daß von den Reden und Gesinnungen einzelner kriegerisch gelaunter hoher Herren Leben oder Tod, Wohlstand oder Ruin der Völker abhängt? Von dem Ausgang der Wahlen in England hängen jetzt schicksalsschwere Fragen ab. Wir – im pazifistischen Lager – glauben fest, daß dieser schon seit fünf Jahren als unvermeidlich verkündete englisch-deutsche Krieg ebenso vermieden werden wird wie die anderen unvermeidlichen Kriege, mit denen die Kriegsliebhaber in den letzten Jahren operiert haben. Diese verbreiten Gift soviel sie nur können. Aber das verbreitete Gegengift scheint doch schon stärker zu sein.“

 

Juni 1911

 

Die künstlich geschürte Feindschaft hat weder Grund noch Zweck. Während zwischen Amerika und England vor hundert Jahren ein großer Krieg gewütet hat und seither mehrere Male (Alabama, Venezuela) vor der Tür stand, haben England und Deutschland niemals gegeneinander gekämpft, niemals einen wirklichen, substantiellen Streit geführt. Nichts, absolut nichts (außer den Interessen der beiderseitigen Kriegsparteien) steht einer vollen Verständigung und – in der Folge – dem Abschluß vorbehaltloser Verträge im Wege. Etwa die sogenannte Handelsrivalität? „Haben wird denn,“ so fragte Macdonald, „keine Handelsrivalität mit den Vereinigten Staaten?““

 

Dezember 1911

 

Der lange, lange Marokkohandel ist also glücklich zum Abschluß gekommen. Der Reichskanzler teilte dies dem versammelten Reichstag mit … Man sollte glauben, die Reden würden sich auf dem Felde des deutsch-französischen Abkommens bewegen … Nein. Der Führer der Konservativen hält eine Kriegsrede gegen – England. Und der Kronprinz nickt und klopft Beifall ...“

 

So ward die ganze Marokkofrage in raschem Dekorationswechsel in eine Frage der deutsch-englischen Beziehungen verwandelt. Am Abgrunde eines deutsch-französischen Krieges war man vorbei – jetzt wurde enthüllt, daß ein deutsch-englischer Krieg nur an „einen Faden“ gehangen (sind die Völker diese ewige Damokles-Existenz nicht schon satt?), denn ein Kapitän Faber hatte erzählt, daß in englischen Kriegshäfen bereits Torpedonetze herabgelassen worden waren. Jetzt galt es also, diese ominösen „Beziehungen“ (die trotz jahrelanger gegenseitiger Freundschaftsbesuche und -beteuerungen immer noch gespannt bleiben, weil gewisse Kreise rastlos bemüht sind, sie zu – spannen) wieder einmal zu untersuchen und zu bessern. Auf die Marokkodebatte im Deutschen Reichstag folgte eine solche im englischen Parlament und dabei war weniger von Marokko als von dem deutsch-englischen Verhältnis die Rede. Mit Spannung lauschte die Welt den Worten der britischen Staatsmänner. Diese Worte konnten ja wieder (man verzeihe das Bild, um das mich Wippchen beneiden könnte) als der Faden gelten, an dem der europäische Frieden baumelt. Zum Glück, sowohl im Unter- wie im Oberhause ist in ebenso würdevollem wie versöhnlichem Ton von der Angelegenheit gesprochen worden.“

 

Februar 1913

 

Während ich diese Chronik zur Post schicken will (8. Februar), kommt die Kunde von dem vorgeschlagenen deutsch-englischen Flottenabkommen. Das eröffnet ganz neue Perspektiven. Es ist die Betretung einer anderen Bahn. Eine vom Pazifismus längst vorgezeichnete, von der „Realpolitik“ aber bislang hartnäckig zurückgewiesene Bahn. Wir können uns des Ereignisses in tiefer Ergriffenheit freuen. Viel wird zwar von gegnerischer Seite getan werden, um den Weg durch Verdächtigungen und mit sonstigen Hindernissen zu verrammeln – aber die Massen derer, die erst an eine Sache glauben und sie unterstützen, wenn sie einmal von offizieller Seite vorgeschlagen ist, werden nun mit uns sein und nach und nach die Argumente leider entdecken, die sie so lange nicht hören wollten. Europa, das furchtbar gärende, steht vor zwei Alternativen: vor dem tiefsten Unheil, dem Weltbrand, oder dem höchsten Heil, der Einigung. Durch den Schritt der Marineämter von Deutschland und England haben sich die Zeichen gemehrt, daß das Heil obsiegen will.“

 

Winston Churchill

 

Den Einen oder die Andere dürfte interessieren, was Winston Churchill damals in unterschiedlichen Funktionen sagte:

 

Mai 1909

 

In einem Brief an den Vorsitzenden des liberalen Klubs von Dundee bekämpft der britische Handelsminister Churchill den jüngsten Flottenalarm und schreibt u.a.: 

Es gibt zweifellos eine Rivalität im Handel, es gibt aber auch eine wirkliche und wachsende Abhängigkeit. Keine kontinentale Nation ist unserem Handel notwendiger als Deutschland, es ist unser bester Kunde, wie wir es für ihn sind. Trotz der überwallenden Kräfte, die wir in allen Ländern am Werke sehen, ruht der europäische Friede von Jahr zu Jahr auf immer breiterer und tieferer Grundlage. Die Verflechtung der gemeinsamen Interessen, der Zusammenhang des modernen Lebens, die Verbesserungen in den Verkehrsmitteln, die Ausbreitung der Kenntnisse der Kultur und des Komforts – alles weist auf eine größere Sicherheit und auf ein immer deutlicher erkennbares gemeinsames Interesse zwischen allen Ländern hin, und zwischen wenigen Ländern mehr als zwischen Deutschland und England. Wenn allmählich ein ernsthafter Gegensatz zwischen beiden Völkern hervorgerufen worden ist, so wird dieser nicht zurückzuführen sein auf das Wirken irgendwelcher natürlicher oder unpersönlicher Kräfte, sondern auf die verbrecherische Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Persönlichkeiten in beiden Ländern und auf die sträfliche Leichtgläubigkeit der breiten Volksschichten.

Es wird die erste Pflicht der einsichtsvollen und führenden Männer sein, diesen wie ein Alpdruck auf uns lastenden Stimmungen entgegenzutreten und die gehässigen und täuschenden Annahmen zurückzuweisen.“

 

Oktober 1911

 

Am 4. Oktober hielt Minister Churchill in Dundee eine Rede, aus der die folgenden Sätze hier angeführt seien:

Was die marokkanischen Schwierigkeiten betrifft, kann die Politik Großbritanniens klar als eine Politik bezeichnet werden, die, wie Asquith und Schatzkanzler Lloyd George erklärten, eine vollkommen gerade und ehrliche ist. Wir wünschen ernstlich, Frankreich und Deutschland zu einem Abkommen gelangen zu lassen, das für beide befriedigend und vorteilhaft und für uns nicht nachteilig ist. Kein englischer Minister äußerte je öffentlich und geheim eine Silbe, welche einen solch glücklichen Schluß verzögern oder hemmen könnte. Wir wünschen eine Erledigung zu sehen, welche die marokkanische Frage ein für alle Male beendigt, und welche – dies ist weit wichtiger als irgend etwas, was mit Marokko geschehen könnte – diese beiden großen Nationen, die der Menschheit unschätzbare Dienste geleistet haben, in die Lage setzen würde, zusammen zu leben unter der Bedingung gegenseitiger Achtung. Das ist die einzig sichere Grundlage, auf welcher der Friede Europas aufgebaut werden kann. Der Wunsch nach einem solchen Abkommen leitet die ganze Politik Greys.“

 

April 1912

 

Der englische Marineminister Churchill hat eine klare und aufrichtige Flottenrede gehalten, in der er sagte, daß für jeden über das Programm gebauten deutschen Kiel zwei englische gebaut würden, daß, wenn aber Deutschland innehält oder gar zurückgeht, England das gleiche tut, „was für beide Länder eine Wohltat wäre.“ Es wurde hüben und drüben beleidigend gefunden, daß da Deutschland offen als der Gegner bezeichnet wurde, während es doch alter diplomatischer Brauch ist, in offiziellen Ministerreden die Rüstungen nur als gegen „alle Eventualitäten“ gerichtet auszugeben – beileibe nicht gegen den Nachbar, mit dem man schon jahrelang in gegenseitiger Heuchelei lebt, viel eher gegen einen Ueberfall aus dem Mond oder dem Mars. In Deutschland vergaß man, indem man sich über Churchills Worte ärgerte, daß vor kurzem einige Redner riefen: „England ist der Feind“, und der Kronprinz dazu von seiner Loge aus beifällig nickte. Der Weg zur Verständigung geht nur über Aufrichtigkeit. Und leicht ließe sich an Churchill die Antwort richten: Gut, hören wir beide zu bauen auf: wir wollen ja Freunde sein ...“

 

April 1913

 

Marineminister Churchill hat den Vorschlag gemacht, die englische und deutsche Marine mögen ein Jahr im Weiterbau pausieren. Die Sache wurde als „nicht konkret“ beiseite geschoben. Nun wird, wie es heißt, Mr. Churchill nach Berlin reisen und „Konkretes“ vorbringen. Der Widerstand der Rüstungsinteressenten wird sicher sich fühlbar machen. Im Wettlauf ist auch nur eine Minute stillestehen unangebracht ...“

 

Russland

 

Nach dem russisch-japanischen Krieg, der leider in jene Zeit fiel, in der Bertha von Suttner eine Schreibpause eingelegt hatte, wird Russland immer nationalistischer und antisemitischer.

Übrigens berichtet Bertha von Suttner nichts davon, dass deutscher oder österreichischer Chauvinismus sich in jener Zeit gegen Russland gerichtet hätte.

 

November 1907

 

Aus Rußland ist immer noch Schauriges und Trauriges zu berichten. Neue Gefängnisse müssen gebaut werden, der Hinrichtungsapparat hört nicht auf, zu funktionieren. Die Wahlen zur neuen Duma fallen auf zahlreiche Duma-Feinde, so daß sich befürchten läßt, daß diesmal die Duma zwar nicht aufgelöst werden, sondern sich selber erdrosseln wird. Der „Volksverband russischer Männer“ tritt immer selbstbewußter auf und der finstere Geist des Pogroms schwebt über dem Lande. Mit religiösen Emblemen, mit Absingung patriotischer Hymnen und Todesdrohungen gegen alles, was nicht orthodox und autokratisch gesinnt ist, ziehen Abteilungen des Verbandes durch die Straßen der verschiedenen Städte. Haß gegen alle Freiheit und alle Intelligenz ist die Parole dieser „echten“ Russen, wie einst die „vrais Francais“ die Parole: „Zola à l‘eau“ und „mort aux juifs“ ausgegeben hatten. Der Patriotismus, der sich selber der „wahre“ nennt, ob er nun als Antidreyfusard, als „schwarzes Hundert“, als Jingo oder als Alldeutscher auftritt, immer verbündet er sich mit Antisemitismus. Das Unglück will aber, daß auch andere große Kreise in Rußland, die sonst freiheitlich und aufgeklärt sind, und die sich zu keiner tätlichen Judenverfolgung hergäben, vom Gifte des Judenhasses angesteckt werden – und dies aus jener alten Denk- und Gefühlsgewohnheit heraus, die für jede Kalamität nur eine Ursachquelle annimmt, die für herrschendes Unglück immer einen Sündenock braucht.“

 

August 1908

 

Wie schrecklich und traurig die Uebergangszeit aus einem System ins andere sich gestalten kann, das zeigt sich in Rußland, wo es kein Ende der Hinrichtungen gibt, wo die Gefängnisse nicht mehr ausreichen, um alle „Schuldigen“ und Verdächtigen einzuschließen.“

 

Die Entwicklung der USA

 

Dezember 1896

 

Die Vorgänge auf Cuba neigen sich ihrem Ende zu … Die Vereinigten Staaten wollen nun eingreifen. Vor allem mit Vermittlungsanträgen; den Inseln sollen Konzessionen gemacht, Autonomie gewährt werden, oder aber, will Spanien durchaus weiter Krieg führen, so wollen die Amerikaner den Aufständischen zu Hilfe kommen. Also Krieg in Sicht zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten.“

 

Februar 1898

 

So ein Schreckensungetüm, mit Vernichtungsmaterial geladen, ist in die Luft geflogen – das amerikanische Kriegsschiff Maine -; das Unglück wird als nationales Unglück betrachtet … Der Verdacht war rege, das amerikanische Schiff sei von Spaniern vernichtet worden. Mein Gott, was ist zwischen Menschen, die überhaupt Haß und Totschlag als politische Dinge betrachten, nicht alles möglich? Und nun wird in Amerika firberhaft gerüstet. Ob die öffentliche Meinung schon genügend – in unserem Sinne – erstarkt sein wird, um das Unglück abzuwenden, daß wegen eines vielleicht heimtückisch und verbrecherisch zerstörten Schiffes ganze Geschwader offen und legal zerstört werden? Warten wir es ab. Aber nicht untätig. Unsere Freunde in den Vereinigten Staaten erheben laut ihre Stimme, so laut sie eben können.“

 

März 1898

 

Ein paar der mordgeladenen Ungetüme fliegen selber in die Luft: so der vor Havanna ankernde amerikanische Kreuzer „Maine“. Zweihundertfünfzig Leben sind dabei verloren. In Spanien werden anläßlich dieser Katastrophe Freudenfeuer angezündet. Amerikanische Jingoblätter schüren zur Rache, denn sie erheben den Verdacht, daß es Spanier gewesen, die die „Maine“ zerstörten.“

 

April 1898

 

Wie die Millionen zu „patriotischen“ Zwecken jetzt nur so fließen. Die spanischen Granden und amerikanischen Milliardäre wetteifern mit Spenden für Mordschiffe und Meuchelmordschiff-Ausrüstungen.“

 

Cervera‘s Flotte zerstört: Santiago de Cuba ergeben, Aufhebung der Verfassung in Spanien; weitere Ausrüstung der Häfen; ein mächtiges Emporflackern des (dort bisher unbekannten) Hurrapatriotismus und chauvinistischen Eroberungsgeistes in Amerika; das ist der weitere traurige Verlauf des Krieges.“

 

November 1898

 

Wie sehr Krieg und alles Humane und Selbstlose, in dessen Namen man ihn noch zu führen sucht, miteinander in Widerspruch stehen, das zeigen die Folgen des Krieges. Die Sieger denken nicht mehr an die anfänglichen Beteuerungen – die Logik des Gewaltsystems macht sich geltend, die natürlichen Regungen des Kriegsgeistes kommen an die Oberfläche und – die Amerikaner, welche ausgingen, Cuba zu befreien, wollen jetzt die ganzen Philippinen in Besitz nehmen. Und daraus – falls auch der alte wahnsinnige Besitzneid der andern Völker erwacht, - können wieder Kriege entstehen. Es ist eine Satanssaat ...“

 

Dezember 1898

 

Der spanisch-amerikanische Friedensschluß ist endlich in Paris unterzeichnet worden. Daß der Sieger ungroßmütig gewesen – soll uns das wundern? Eroberungsgeist und Härte ist ja der Untergrund, ist die Keimkraft des Krieges. Dem Boden und dem Keim entspringt die Frucht – ist das nicht natürlich?“

 

Januar 1899

 

Der vielfache Millionär Senator Andrew Carnegie, so meldete man am 14. Januar aus Washington, erbot sich, Mac Kinley gegenüber, die vertragsmäßige Entschädigung von 50 Millionen Gulden, die an Spanien für die Philippinen zu zahlen sind, aus eigener Tasche zu ersetzen, falls den Philippinen die Autonomie gegeben wird. - Man sieht, es gibt auch einen umgekehrten patriotischen Enthusiasmus. Carnegie wünscht sein Vaterland vor den drohenden Uebeln der Eroberungspolitik zu bewahren. Es ist überhaupt ein großer Irrtum, immer zu sagen: Die Amerikaner zeigen sich kriegerisch und militaristisch. Es gibt eine ganze Volksbewegung dort gegen die Ausbreitungspolitik. Die Anti-Imperialist League (Washington D.C., Sekretär Erving Winslow) ist weitverbreitet und sammelt in allen Staaten Unterschriften zu einer Petition an den Präsidenten und an den Kongreß, die den Text hat: „Die Gefertigten protestieren gegen jede Ausdehnung der Herrschaft der Vereinigten Staaten über die Philippineninseln und überhaupt über jegliches andere fremde Gebiet – ohne die hierzu gegebene freie Einwilligung des Volkes.““

 

Februar 1899

 

Auf den Philippinen wütet Krieg. An dem Joche der Amerikaner wird nun ebenso kräftig geschüttelt wie früher an dem spanischen. Krieg und Zwang sät Krieg und Aufruhr. Es ist ein Unglück für die Vereinigten Staaten, daß es mit dem segensreichen Grundsatz, dem es seine Wohlfahrt verdankte: niemals fremdes Gebiet erobern zu wollen, gebrochen hat. Das fühlen auch Amerikas beste Söhne und ein großer Protest gegen die neue Kriegspolitik bereitet sich in der Bevölkerung und im Senate vor.“

 

April 1899

 

Auf den Philippinen wird Frieden geschlossen. Derjenige Teil der amerikanischen Bevölkerung, der die neue, mit dem amerikanischen Geiste so sehr in Widerspruch stehenden Gewalt- und Eroberungspolitik verpönt, hat über die Jingo-Gesinnung gesiegt. Und mit erneutem Nachdruck werden die Delegierten aus Washington auf der Haager Konferenz, wie dies ihre ausgesprochene Absicht ist, das Prinzip der ständigen Schiedsgerichtsverträge vertreten, ein Prinzip, das ja amerikanischen Ursprungs ist.“

 

Dezember 1908

 

Das Netz der Schiedsverträge ward fortgesponnen: Holland mit Nordamerika; dieses mit Peru und – am wichtigsten von allen – der Vertrag Japan-Amerika, der den „unvermeidlichen“, der ganzen Welt so beliebten Zusammenstoß zwischen diesen beiden Ländern in den militärischen Kreisen vertilgt hat.“

 

Oktober 1910

 

Im Palast, der das „Bureau der amerikanischen Republiken“ beherbergt (dieser Palast ist eine Gabe Carnegies, gerade so wie der, der jetzt im Haag gebaut wird), sprach vor kurzem Präsident Taft die folgenden Worte:

 

Wir einundzwanzig Republiken können es nicht vertragen, daß irgend zwei oder drei unter uns miteinander streiten. Und Herr Carnegie und ich werden nicht ruhen, bis nicht alle neunzehn unter uns durch richtige Maßnahmen intervenieren können, um den Streit zwischen irgend zwei anderen zu unterdrücken.“

 

Könnte ähnliches nicht auch – von Europa einstweilen abgesehen – auf dem Balkan angestrebt werden?“

 

September 1912

 

Zum Glück sind hierzulande die Kriegserinnerungsstätten selten, und ich habe es als besonders genußreich empfunden, daß ich, seit ich in Amerika bin, keine einzige militärische Uniform gesehen habe – ein Phänomen, das viele meiner Landsmänninnen – besonders die jungen – unerträglich finden würden.“

 

Oktober 1912

 

Ich hatte öfters Gelegenheit, in Schulen und „colleges“ zu sprechen – einmal zu jungen Studenten, öfters zu College-Schülerinnen. Ueberall fand ich, daß der Schulvorstand und die Lehrerschaft in der pazifistischen Bewegung zu Hause sind. Als selbstverständlich scheint es ihnen zu gelten, daß die Welt dem Friedensziel entgegengeht und daß die aufwachsende Generation in dieser Richtung erzogen werden soll.“

 

November 1912

 

Am 5. November, dem Tage der Präsidentenwahl, war ich in einer öffentlichen Versammlung, wo das Publikum mit Spannung die Feuerzeichen erwartete, die von dem Ergebnis der Wahlen in den einzelnen Staaten Kunde geben. Erst am nächsten Tage war das Endresultat bekannt: Woodrow Wilson, wie erwartet, ist Präsident der Republik. Viele, die den hochgesinnten Mann persönlich kennen, versicherten mir, daß er ein warmer Pazifist ist.“

 

Mai 1914

 

„… So spricht kein „entlarvter Imperialist“, als den man bei uns den Pazifisten Wilson hinzustellen liebt. Bis man erst alle Ereignisse genau kennt, wird sich herausstellen, daß es sich dem Präsidenten wirklich nicht um „Krieg“ (gegen Mexiko) handelte, sondern um endliches Ordnungserzwingen im Nachbarhause, dessen wahnsinniges Gebaren nicht mehr zu ertragen war. Immer deutlicher stellt sich die Notwendigkeit heraus, den Streitkräften der Staaten den Charakter und das Wirkungsfeld internationaler Polizeigewalt zu geben.“

 

Weltweite Konflikte

 

Es geht recht kriegerisch zu. Bertha von Suttner beschreibt ausgiebig den Unabhängigkeitskampf der Kubaner gegen Spanien, in den sich später die USA einmischen, den Burenkrieg der Engländer in Südafrika, die Kriege Italiens in Afrika und die Aufteilung Chinas durch die Kolonialmächte incl. Boxer-Aufstand.

Aufstände werden geschildert in Madagaskar, Afghanistan, Sudan, Korea, Marokko, Persien; Revolutionen in China, Haiti, Türkei, Portugal. Australien und Norwegen werden unabhängig, Irland ist auf dem Wege dahin.

Am Brisantesten ist jedoch die Lage auf dem Balkan.

 

Balkan

 

August 1895

 

Um auf den Prinzen (vielleicht bald König …) Ferdinand zurückzukommen; daß die Balkanverwicklungen keinen Krieg zur Folge gehabt haben, zeigt wieder deutlich, wie der allgemeine Geist sich jetzt gegen das vom Zaunebrechen eines Konfliktes sträubt; vor einigen Dezennien noch hätte man solche Gelegenheit nicht unbenutzt gelassen, um einen casus belli daraus zu zimmern; die Hoffnungen der Kriegsparteien sind ja stets nach jenem „Wetterwinkel am Balkan“ gerichtet. Als der Verfasser des von „Black and White“ veröffentlichten Phantasiewerkes über einen Zukunftskrieg, den Ausbruch desselben begründen wollte, hat er sich ja eine Mordtat in Bulgarien dazu zurecht gelegt. Aber, siehe da, die Mordtat ist geschehen und die Kriegspartei muß ihr Schwert noch immer in der Scheide lassen.“

 

Oktober 1908

 

Und nun zu den Ueberraschungen – wahren Theatercoups – der letzten Tage. Der Kaiser von Oesterreich erklärt, daß er seine Souveränität auf die Länder Bosnien und Herzegowina erstreckt, und diese bisher bloß okkupierten Provinzen seiner Monarchie angliedert. Fürst Ferdinand von Bulgarien erklärt die Unabhängigkeit des Landes und läßt sich in Tirnowo zum „Zar bulgarsky“ ausrufen. Europa wird durch höfliche Handschreiben von den vollbrachten Tatsachen verständigt, und Europa ist bestürzt, denn es sieht einen zerrissenen Vertrag vor sich. Eine Konferenz soll einberufen werden, um über die Sachlage zu statuieren, und erst dann könne man seine Anerkennung aussprechen. In der Türkei größte Konsternation, denn ihre Rechte sind ignoriert worden, und der neuen konstitutionellen Regierung bieten sich nun von den reaktionären und kriegerischen Parteien bereitete Schwierigkeiten. Serbien schäumt vor Wut und schreit auf den Straßen „Nieder mit Oesterreich“ - „Krieg, Krieg!“ Montenegro erklärt, daß es mit in den Krieg ziehen wird. Oesterreich schickt Kriegsdampfer die Donau hinab. Kurz, es ist endlich da, das von allen Militärparteien so sehnsüchtig erwartete „Krieg in Sicht“; es ist da, das so lang prophezeite Gewitter am umdüsterten Balkanhimmel. Immer hieß es: der Weltkrieg wird kommen, und ein kleiner Zwischenfall in den Balkanländern wird ihn entfesseln. Nun haben wir den Zwischenfall, sogar deren zwei. Die Kriegspropheten müssen schon triumphieren, und die Freunde des „Losgehens“, des „Einmarschierens“ schnallen im Geiste schon hastig ihren Säbel um. Aber es gibt Hemmungen. Hemmungen, die es vor ein paar Jahren nicht gegeben hat. Es gibt nämlich ein Europa, das sich zu organisieren beginnt, das den Frieden will, den Frieden braucht, und das mit Blitzesschnelle handelt, um den Krieg zu verhüten. Pichon wirft das Wort „europäischer Patriotismus“ in die offizielle Welt, und dieser Patriotismus ruft ebenso laut nach Wahrung des Friedens, als der serbische Patriotismus nach Krieg schreit. Wäre Europa, wie noch vor nicht langer Zeit, nur in zwei feindliche Lager getrennt, so wären ihm die Balkanereignisse vielleicht zum willkommenen Anlaß zur Austragung dieser Feindseligkeit geworden; aber jetzt ist das Netz der Allianzen und Ententen und Freundschaften so kreuz und quer geknüpft, daß es gar kein Land mehr gibt, das nicht mit den Feinden seiner Freunde befreundet, und mit den Freunden seiner Freunde verfeindet wäre. Und schließlich sind die materiellen und kulturellen Interessen aller mit einander verknüpft und das Weltgewissen bäumt sich gegen den Weltkrieg auf. Und so wird heftig nach Recht und Vereinbarung verlangt – die Konferenz wird einberufen – man wird Kompensationen und Garantien und neue Verträge schaffen und das Riesenunglück wird abgewendet sein. So wenigstens wird es kommen, wenn der „europäische Patriotismus“ schon genug erstarkt ist; wenn das Friedensbedürfnis der Völker sich schon durchzusetzen die Kraft hat. Eine Belastungsprobe des im Bau begriffenen Pazifismus ist diese heutige Lage. Zitternd und gespannt sehen auch wir zu; wir fragen nicht: wird Serbien Bulgarien erobern, wird die Türkei Kreta festhalten – wir fragen, wer wird in dem großen Kampf zwischen alter militärischer und neuer juridischer Weltordnung die Oberhand gewinnen in der nächsten Stunde? Tatsache ist, daß die Hemmung da ist, daß sie sich energisch einsetzt und daß allerorten Kräfte am Werke sind, die unserer europäischen Welt über die Klippe hinüberhelfen wollen, an der sie jetzt zerschellen – oder doch sehr schmerzlich anstoßen könnte.“

 

November 1908

 

Was tun die Friedensvereine? Was sagen die Pazifisten? Diese Fragen stürmen auf uns ein, angesichts der mit latenten Kriegsgefahren und auch offenen Kriegsdrohungen gefüllten Zeit, die jetzt – seit den Balkanereignissen – hereingebrochen ist. Will man mit solcher Fragestellung uns zu rettenden Taten ermutigen oder einfach uns verhöhnen? Beides ist nicht am Platze. Denn eingreifende Taten in die politischen Tageszwistigkeiten liegen außerhalb unserer Rechtssphäre. Sollen wir z.B. durch eine in Wien oder Bern abgehaltene Protestversammlung die serbischen Heißsporne daran hindern, Banden auszurüsten? So wie unser Europa heute noch organisiert oder vielmehr noch unorganisiert ist, ist der Ausbruch einer Konflagration allstündlich möglich. Eben darum, weil es so ist, und weil die Pazifisten es wissen, geht ihr Streben dahin, dem ganzen Völkerverkehrssystem eine andere Grundlage zu geben. Die zivilisierte Welt braucht ein feuersicheres Gebäude. Solange sie aber bei ihrem Strohdach verharrt und noch dazu auf den Dielen Petroleum ausgießt, muß sie auf die Feuersbrunst gefaßt sein; wenn dann die Flammen züngeln, ist‘s zu spät, die Sicherheitstechniker, die Asbestfabrikanten herbeizurufen, daß sie helfen sollen; und dann ist man auch nicht berechtigt, sie zu verhöhnen, daß ihre Mittel nichts nützen – man hat ja diese Mittel nicht angewandt. Wäre schon ein verbündetes Europa vorhanden, das nicht gegeneinander Festungen und Zollschranken erhebt, das als obersten Völkermoralgrundsatz die Aufhebung der Gewalt, der Selbsthilfe und des Eroberungsrechtes proklamiert hätte, dann wären alle die heutigen Gefahren nicht vorhanden, da wäre auch jede fernere Friedensbewegung überflüssig.“

 

Januar 1909

 

Eine sehr häßliche Sache hat sich in unserer Mitte abgespielt. Ein Schlagwort hat sich verbreitet (war es eine ausgegebene Losung, war‘s ein von selber aufgestiegener Verdacht? Ich weiß es nicht), das Schlagwort „England steckt dahinter“. Alles Unangenehme und Drohende: Europäische Kritik, türkischer Boykott, serbisches Kriegsfieber: alles das soll England hervorgerufen haben, durch Hetze, durch Ermutigungen, durch Intrigen. Warum? Aus Gehässigkeit, aus Habsucht, aus Moralheuchelei – oh, man kennt es ja, das perfide Albion. Es ist überhaupt hübsch, wie sich die Leute immer eine fremde Nation vorstellen: als ein einheitliches, mit bestimmten Eigenschaften ausgestattetes Ganzes – ein nationales Individuum, am liebsten – ein Bösewicht. Ist nun die eigene Lage eine verwickelte, eine gefährliche, über die man zu Tadel und Aerger veranlaßt werden könnte, so ist es ganz gut, einen Sündenbock da zu haben, der an allem schuld ist. Der Aerger mag sich Luft machen, und die Verantwortlichen sind die Verantwortung los. Das Ding zu machen ist ganz leicht. Wie hat ein Publizist einmal die Methode, eine allgemeine Ueberzeugung wachzurufen, erklärt: „Ein paar Zeitungen brauchen nur durch eine längere Zeit eine Behauptung täglich zu lancieren. Gute Gründe, aber Tatsachen brauchen nicht angeführt zu werden, sondern nur wiederholen, wiederholen, täglich, und an die verschiedensten Anlässe anknüpfend.“ - Heute kann man in Wien, in was immer für einem Kreise, wenn das Gespräch auf die Balkanereignisse, auf die Chancen von Krieg und Frieden fällt, unfehlbar die Bemerkung hören: Ach, dieses England! Aus eigener Erfahrung und Beobachtung kann natürlich nicht jeder zu diesem Schluß gelangt sein; er hat es aber gelesen und hat es von vielen Seiten (die es ja wissen müssen!) gehört. Man sehe nach: unsere Blätter haben seit einigen Wochen täglich eine Beschuldigung Englands vorgebracht; und jetzt, da sie von englischer Seite für dieses Verhalten zur Rede gestellt werden, führen sie als Beweis ihrer Behauptung die öffentliche Meinung an, die sie selber geschaffen. Die Stimme beruft sich auf die Zeugenschaft des Echos.“

 

März 1909

 

Es ist schon schlimm genug, wenn sich am politischen Horizont die vielgenannten schwarzen Punkte zeigen, jetzt aber jagen schwarze Wolken mit wilder Hast am Himmel vorbei, in immer verschiedenen Formen, bald das ganze Firmament verdüsternd, bald blaue Streifen oder gar Sonnenstrahlen durchlassend. Bald: „Nächster Tage geht‘s los“, bald: „Der Frieden bleibt erhalten“. Zeitungen, die dreimal täglich erscheinen, können da einigermaßen den Ereignissen folgen und zutreffende Situationsbilder geben; eine Monatsschrift muß dazu verzichten. Bis der ganze Hexentanz vorüber ist, bis der erschütterte Weltteil (der annektierende Nasenstüber auf den okkupierten Provinzen hat gar ungeahnte Schwingungen hervorgebracht) wieder ins Gleichgewicht kommt – oder in Trümmer geht – da werden sich großartige Lehren ziehen lassen aus den gegenwärtigen Vorkommnissen; da wird sich deutlich beweisen lassen, daß, wenn man den Frieden will (und daß Europa ihn will, das zeigen alle diese rasenden Pourparlers), er auf ganz andere Grundlagen gestellt werden muß. Zum Seiltanzen ist er zu gut.“

 

Andere gute Nachrichten: Das Abkommen zwischen Oesterreich-Ungarn und der Türkei wird perfekt; der Boykott hört auf und zwischen den beiden Ländern entwickelt sich eine freundschaftliche Entente; der Konflikt zwischen der Türkei und Bulgarien wird auch durch finanzielle Arrangements geebnet, und die bulgarischen Rüstungen werden eingestellt. Nur eine Gefahr droht noch: das kriegsdurchfieberte Serbien; da vereinen sich alle Mächte und benehmen den Serben die Illusion, daß man ihnen im Kriegsfalle beistehen würde. Noch nie in der Geschichte hat sich eine solch einmütige Abwehrbewegung gegen den Krieg gezeigt, wie sie in diesen letzten Monaten – zum großen Aerger der Kriegsparteien – das politische Leben Europas gekennzeichnet hat. Noch sind wir nicht „über den Berg“ - aber „la civilisation est en marche“.“

 

April 1909

 

Das war eine furchtbar bewegte Zeit, die der Entscheidung vorausging. Von Tag zu Tag, beinah von Stunde zu Stunde wechselten die Prospekte. Alles schien immer an einem Faden zu hängen. Einzelne Ausbrüche, verschiedene Interpunktionen in den vorgeschlagenen Formeln sollten den Ausschlag geben. In den letzten Tagen jedoch war der Krieg schon so nahe, daß man seinen Pesthauch schon zu spüren vermeinte. Die Mobilisation war im Gang, obwohl es offiziell nicht so hieß. In allen Aemtern, allen Familien erhielten die Reservisten Order, binnen 24 Stunden einzurücken, und des Nachts fuhren die soldatengefüllten Züge zur Grenze. Jammervolle Abschiedsszenen spielten sich auf den Bahnhöfen ab. Aber die Blätter durften kein Wort davon erwähnen, harte Gefängnisstrafe stand auf Veröffentlichung aller dieser Vorbereitungen. Mitteilung ist Hochverrat. Und so werden die Völker behandelt – ein Vorhängeschloß vor den Mund, Knebel zur Erstickung der Proteste oder Klagen – und dann heißt es: Es sind ja die Völker, die den Krieg wollen. Nein, sie wollen ihn sicher nicht, aber bis zum festen, einmütigen Ausdruck des Friedenswillens haben sie es noch nicht gebracht: sie glauben, wenn das Verhängnis kommt, so kommt es eben, und dagegen murren kann feige oder unpatriotisch scheinen. Feige aber ist es – um couragiert zu scheinen – hunderttausend Mitmenschen dem Schlachtengott hinopfern zu lassen. Keine Zeitungsspalte stand während der ganzen Krise einer kriegsgegnerischen Stimme offen. Mit Ausnahme der Arbeiterzeitung.“

 

Nach sechsmonatlichem Bangen, Rüsten, „Pourparlers“, Hoffen, Verzweifeln hat sich zum Schlusse in 24 Stunden das Ganze gelöst: alle Mächte einig, Serbien gibt die diktierte Erklärung ab und es ward Frieden. Der Kelch ist vorübergegangen. Unausdenkbares Unglück abgewendet. Daß darob Jubel herrschte, läßt sich nicht behaupten. Vielleicht im stillen Kämmerlein mancher Herzen – aber ein großer offizieller, wie z.B. nach einer gewonnenen Schlacht: nein. Auch in der Presse ward kein Freudenton angeschlagen. Militärischer Geist hatte während der Krise die ganze offiziöse Presse beherrscht, und militärischer Geist sprach aus den Kommentaren zu der Friedensnachricht: Nur der entschlossenen Kampfbereitschaft Oesterreich-Ungarns und der bewaffneten Hilfsbereitschaft Deutschlands ist alles zu danken. Si vis pacem para bellum habe sich wieder einmal glänzend bewährt. Die Moral des Ganzen ist: mit verdoppeltem Eifer weiterrüsten. Rußland hat in letzter Stunde nachgegeben. Warum? Nicht etwa, weil der Zar und seine Minister für den Frieden Europas etwas tun wollten, sondern weil Rußland seiner gegenwärtigen militärischen Ohnmacht bewußt ist. Wo bleibt da die Logik? - Wäre also auch Rußland genügend gerüstet, so wär‘s zum Kriege gekommen. Wie hätte sich denn dann der altrömische Satz bewährt? Auf Folgerichtigkeit in ihren Argumenten verzichten unsere Widersacher. Und welch unnoble Geste ist es, wenn ein vermeintlicher Gegner nachgegeben, ihm damit zu danken, daß man triumphierend sagt: „Das tat er, weil er uns fürchtet.“ Und weil die Blätter nicht mehr über die Satzwendungen der „Formel“, an welchen Tod oder Leben der Völker hing, deuteln konnten, so wiesen sie gleich auf die neue Gefahr hin, die sich am Horizont erhebt – die deutsch-englische, durch die Flottendebatte wieder in den Vordergrund gerückte Gefahr.“

 

Juli 1909

 

Anlässlich der Zusammenkunft zwischen deutschem Kaiser und russischem Zaren: „Nach der Beilegung der Balkankrise hatte sich im allgemeinen die Legende gebildet, das feste Band und drohende Zusammenhalten der beiden Mittelmächte habe Rußland Angst eingeflößt, und deshalb habe es nachgegeben. Dies ergab für unsere Chauvinisten eine prächtige Sachlage: erstens den Triumph, daß das große Waffengerassel den Frieden erzwungen; zweitens, daß Rußland dies sich auf die Länge nicht werde gefallen lassen, sondern nur die Kräftigung seiner bewaffneten Macht abwarte – also für die nächsten Jahre wieder Krieg in Sicht; drittens eine reinliche Scheidung zwischen den europäischen Machtgruppen: hie die Triple-Entente, hie die Mittelstaaten. Wie gut läßt sich da weiterschüren und die Unausbleiblichkeit der kommenden Konflikte demonstrieren. Und da kommen nun alle diese Kreuz- und Quer-Freundschaftsaustausche dazwischen und zerstören das ganze scharfumgrenzte Gegensatzgebilde, an dem sich so lustig weiterrüsten läßt!“

 

Februar 1910

 

Jeden Augenblick – so schreiben die Zeitungen – kann auf dem Balkan Krieg ausbrechen. Man kennt die drohende Lage: In Griechenland Militärdiktatur, Einberufung der Volksversammlung, zu welcher Kreta vielleicht Vertreter schicken wird, für welchen Fall die Türkei ihren Einmarsch ankündigt; Bandenwesen in Mazedonien, gegen welche die Türkei mit Hinrichtungen in der Art der berüchtigten russischen Feldgerichte reagiert – darüber Entrüstung in Bulgarien. Verstärkte und beschleunigte Rüstungen hüben und drüben, Truppensendungen an die Grenzen. Dabei die üblichen offiziellen Versicherungen, daß die eigenen militärischen Maßnahmen nur gebotene Vorsichtsmaßregeln seien, weil die Maßnahmen des Nachbars offenbar provokatorisch sind; „Europa“ gibt sich wieder Mühe, durch Warnungen und Erklärungen den Krieg hintanzuhalten. Friedenswille ist auch bei der jungtürkischen und bei der bulgarischen Regierung vorhanden; überall sind es nur die Militärparteien, die zum Kriege drängen ...“

 

September 1910

 

Auf dem Balkan wird gekämpft. Die Albanesen haben sich aufgelehnt, und türkische Truppen wurden zur Niederwerfung der Insurrektion entsendet. Wenn das Ding auch nur Rebellion heißt, es ist doch Krieg. Die Nachrichten, die von dort kommen, bringen die Blätter als „Nachrichten vom Kriegsschauplatz“. Der Anlaß war Steuereintreibung. Die Albanesen sind ein wildes Gebirgsvolk, das von der Kultur bis heute nichts anderes angenommen hat als den modernsten Repetier-Karabiner. Ob es gelingen wird, ihnen mittels Maschinengewehr eine höhere Gesittung beizubringen, ist noch sehr die Frage. Die Antipazifisten triumphieren, daß es in Europa wieder einen Kriegsschauplatz gibt. Sie vergessen, daß sich diese Kämpfe nicht in dem friedensreifen zivilisierten Europa abspielen, sondern auf einem Fleckchen in unzugänglicher Gebirgsgegend, wo sich ein Stück primitivster Unkultur erhalten hat, wo fanatischer Aberglauben und grausamste Blutrache herrschen. Zum Hin- und Herschießen just der rechte Ort.“

 

Juli 1911

 

Der König von Montenegro mobilisiert. Zwar nur, wie er behauptet, mit den „friedlichsten Absichten“, aber in jene Gegenden Europas ist der pazifistische Geist noch gar nicht eingedrungen. Jene Bevölkerungen sind kriegerisch – bei ihnen sind „Soldat“ und „Held“ gleichwertige Ausdrücke, und das Waffentragen ist ihre stolzeste Freude. Auch in der Türkei ist die Kriegspartei sehr stark. Und die Greuel und Grausamkeiten, die in der Niederwerfung des Albanesenaufstandes verübt worden sind, die an die einstige Armenierverfolgung erinnert, die geben Zeugnis von dem wilden Kriegsgeist, der in jenen Ländern noch lebt. Wenn da ein Krieg aufflammen sollte, es wäre nicht zu verwundern. Beruhigend klingt aber die Nachricht, daß Rußland, Oesterreich und Italien in dieser Angelegenheit miteinander im Einvernehmen handeln wollen. Sollte es ihnen auch nicht gelingen, die Balkanbewohner am Raufen zu hindern, wenigstens werden sie nicht selber für die einen und die andern gegeneinander Partei nehmen.“

 

Mai 1912

 

Die Italiener beschossen die Außenforts der Dardanellen; aber nach einem kurzen Bombardement dampfte die Flotille wieder ab. Anfänglich schien es, als sollte der Weg nach Konstantinopel forciert werden; dann schien es wieder, als wäre nur eine Demonstration beabsichtigt gewesen. Eine Demonstration, deren Sinn besonders deutlich durch den gewählten Zeitpunkt – eben wurde wieder von den Mächten über Friedensbedingungen sondiert – hervortreten sollte: Pression. Die Folge des plötzlichen Angriffs war verstärkte Verteidigung. Die Türken legten neue Minen, und versperrten die Dardanellen. Und jetzt trat ein, was die Pazifisten stets als eine Begleiterscheinung des „Zukunftskrieges“ - nämlich des Krieges unter den modernen Handels- und Verkehrsverhältnissen – hingestellt hatten: die Störung und Aufhebung von Handel und Verkehr, nicht nur auf dem Gebiet der Kriegführenden, sondern überall. Alle werden geschädigt, auch die Neutralen, auch die Unbeteiligten. Es gibt in der neugeschaffenen Weltlage überhaupt keine „Unbeteiligten“ mehr. Das Wort wird man zu den anderen Fossilien einer vergangenen Epoche legen müssen. Groß war und ist nun die allgemeine Bestürzung. Am eigenen Leibe spüren die Neutralen die Wirkungen des Krieges. Sie versuchen die Türkei zur Freilegung des so wichtigen Verkehrsweges und Italien zu dem Versprechen zu bewegen, daß es den Versuch der Dardanellenforcierung nicht wiederholen, daß es seine Operationen auf das tripolitanische Gebiet beschränken werde.“

 

Oktober 1912

 

Brief aus den USA: „So hat denn das grausige Spiel wieder begonnen: Krieg am Balkan (Der erste Balkankrieg begann durch die am 6. Oktober 1912 seitens Montenegros an die Türkei erfolgte Kriegserklärung). Und fortgesetzte Ohnmacht der Mächte. Ob sich das übrige Europa – wo es so viele Kriegshetzer und Kriegsinteressenten gibt – der Gefahr erwehren wird, gleichfalls in Flammen aufzugehen?“

 

März 1913

 

Es brodelt und kocht und gärt weiter im europäischen Hexenkessel. Es schäumt von Krieg und Kriegsvorbereitungen und tropft von Frieden und Friedensverhandlungen. An der österreichischen und russischen Grenze soll abgerüstet, die Truppen sollen zurückgezogen werden; aber wie langsam, zögernd, widerwillig geschieht das! Nur Mobilisierungsorders werden rasch, rücksichts- und rückhaltlos ausgeführt. Aber die Demobilisierung: welche Kautelen, welche Schwierigkeiten, welche Geheimniskrämerei: nur nichts Günstiges und Beruhigendes offiziell versprechen und verkünden. Freilich, es ist ja alles unentwirrt: Der König von Montenegro erklärt, er komme ohne Skutari nicht in seine Berge zurück; Rumänien kann nicht ohne Silistria sein; Bulgarien besteht auf Kriegsentschädigung – Mediation wird verlangt und angenommen, aber unter dem Vorbehalt, daß man sich vielleicht nicht danach richten wird; Janina ist gefallen – darüber der obligate Straßenjubel in Athen. Ein neuer Staat – Albanien – ist in Triest konstruiert worden, doch können dessen Abgrenzungen noch zu hundert Verwicklungen Anlaß geben. Wenn nicht bald ein neues strahlendes Prinzip alle diese Nebel verscheucht – was muß es da noch für Zusammenstöße und Vernichtungen geben!“

 

April 1913

 

Zu beklagen ist, daß die einmütige Aktion der Mächte, die dem Balkankrieg ein Ende gebietet, nicht viel früher eingesetzt hat und so das Tod- und Zerstörungswerk überhaupt verhindert hätte, das nun über ein halbes Jahr den Balkan verwüstet und Europa in Mitleidenschaft gezogen hat. Ich muß immer wieder an das Wort Tafts denken, das er bei der Einweihung des Palastes der Panamerican Union gesprochen hat: „Wir wollen nicht eher ruhen, wir 21 Republiken, als bis, wenn zwei davon miteinander raufen wollen, die 19 anderen sie daran verhindern.“ Wenn Europa es will, es fest und ernstlich will, so wird der Balkankrieg der letzte Krieg auf europäischem Boden gewesen sein. Daß es jedoch noch viele gibt in Europa, die den Krieg wollen, ihn fest und ernstlich wollen, das wissen wir Pazifisten nur zu gut.“

 

Mai 1913

 

Das Haar, an dem wieder einmal der Frieden unseres Weltteils hing, ist nicht abgerissen. Schon war Oesterreich-Ungarn bereit, sich vom europäischen Konzert loszutrennen und selbständig in Montenegro einzumarschieren, um die Räumung Skutaris zu erzwingen. Da kam die erlösende Nachricht: König Nikita fügte sich dem Willen der Mächte. Schon war der Becher geschüttelt – die eisernen Würfel fielen nicht. Es muß doch schon ein starker Friedenswille in der Welt vorwalten, daß trotz all der Gefahren und Verwicklungen, Drohungen und Zwischenfälle der Krieg abermals vermieden worden ist.“

 

Juni 1913

 

Der Krieg zwischen den Balkanstaaten und der Türkei ist zu Ende. Noch zögerten einige der Beteiligten, den Präliminarfrieden zu unterzeichnen und versuchten allerlei Verschleppungen, aber Sir Edward Grey – der Wortführer Europas – machte dem ein energisches Ende. Es ist doch eine schöne, verheißungsvolle Neuerscheinung, daß jetzt die Feldzüge nicht von den Kriegführenden auf dem Kriegsschauplatz beendet werden, sondern durch die Verhandlungen, man könnte beinahe sagen durch die Befehle von auswärtigen, am grünen Konferenztisch vertretenen Mächten. Noch ein Schritt mehr, und die Mächte werden den Ausbruch des Krieges verhindern, nicht nur sein Ende und seine Resultate dekretieren.“

 

Juli 1913

 

Im Oktober 1912 fand in der Kathedrale von Sofia ein feierliches Hochamt statt. Zar Ferdinand hatte eben zum Feldzug des Krieges gegen den Halbmond aufgerufen, um die christlichen Brüder vom Türkenjoche zu befreien; der Pope segnete die Waffen und ließ ein Gebet zum Himmel steigen, daß Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland siegen mögen. Dem lieben Gott wurde da eine genaue Geographielektion gegeben. Eine Art fähnchenbesteckte Landkarte des Balkans wurde ihm geboten, damit er sich bei Erteilung seines Beistandes ja nicht irre, damit er von dem Regen seiner Huld ja nichts über die Grenze verspritzen lasse. Oh, es war ein frommer, ein zivilisatorischer, ein edler Krieg! - - Elender Phrasenschwall: ein Beutezug war‘s, weiter nichts. Das zeigt sich heute klar, da die siegenden Brüder sich um der Beute willen zerfleischen (Anfang Juli 1913 brach der dritte Balkankrieg aus, der Kampf Bulgariens gegen Serbien, Griechenland, Rumänien und Montenegro, denen sich später noch die Türkei anschloß – der dritte deshalb, weil man den nach dem Waffenstillstand vom Dezember – Januar geführten Teil als den zweiten Balkankrieg bezeichnet).“

 

Es ist also geschehen. Der dritte Balkankrieg ist nun ausgebrochen; es wird wieder gemordet, gesengt, verwüstet, massakriert, geschändet, gehaßt, getobt, und dem Zeitungsleser wird‘s als Weltgeschichte serviert. Noch ehe eine Kriegserklärung erlassen, stießen die an den Grenzen aufgehäuften Truppen aneinander (solches Gegenüberstellen bewaffneter Massen ist ja bekanntlich nur Vorsichtsmaßregel: si vis pacem); die Grenzen wurden überschritten, die Felder rasch mit Leichen bedeckt – aber Krieg war‘s noch nicht, es sollte für diesen Zustand eine neue „völkerrechtliche“ Bezeichnung gefunden werden. Die Verantwortung für den Friedensbruch wälzt einer auf den andern – keiner hat angefangen – der andere war‘s, oder wenn man‘s doch selber war, so hatte der andere „provoziert“.“

 

Und nun geschah das Allerunerwartetste: Rumänien erklärte, daß es seine Neutralität aufgeben wolle und mobilisiert. Es will sich in Bulgarien etwas holen. Wie – dieser treue, stillschweigende Alliierte des Dreibundes schwenkt ab? Daß Rumänien es mit den Dreibundmächten hielt, davon hat es auf der Haager Konferenz Beweise gegeben: So odt England oder Rußland irgend etwas kriegshemmendes – Rüstungseinschränkung, Schiedsgerichtshof, Untersuchungskommissionen usw. - vorschlugen und Deutschland samt Oesterreich dagegen protestierten, protektierte Rumäniens Vertreter Dr. Beldimann, am allerlebhaftesten mit. Wenn die große Auseinandersetzung zwischen den zwei Mächtegruppen kommen würde, dann würde der Dreibund – so glaubte er fest – auf die Mitwirkung Rumäniens rechnen können. Und jetzt? ...“

 

König Konstantin hat an seine Griechen einen Aufruf erlassen: „Ich rufe mein Volk zu neuem Kampfe!“ - Dann werden die Sünden Bulgariens aufgezählt, und zum Schlusse heißt es: „Auch dieser Kampf wird von Gott gesegnet, wie der erste, und diesen Segen flehe ich heute auf uns herab.“ Die geographische Lektion wird durch neue Verhaltensmaßregeln für den Segenspender modifiziert. O Blasphemie!“

 

August 1913

 

Der zweite Balkankrieg – nämlich der Beuteverteilungskrieg zwischen den Siegern des ersten – ist zu Ende. Am 7. August verkündete die europäische Presse den „Frieden von Bukarest“ und jubelte, daß nun die Welt von dem Alp dieses fürchterlichen Krieges befreit ist, und die Gefahr einer europäischen Konflagration nicht mehr droht. Nicht dieser Krieg war ein Alp, sondern der Krieg als Institution lastet schwer auf der menschlichen Gesellschaft, und die Gefahr eines europäischen Brandes ist so lange nicht behoben, als die beiden Mächtegruppen sich nicht zusammenschließen. Nicht der „Frieden von Bukarest“ bringt irgendwelche Bürgschaft oder Erlösung, wohl aber kann der Verlauf des Balkankrieges dem übrigen Europa den Anstoß geben, sich zu diesem rettenden Zusammenschluß aufzuraffen. Auf der kleinen Halbinsel standen sich eine Million und zweimalhunderttausend Soldaten gegenüber, und die addierten Ziffern der Toten – ohne die Ermordeten und die Opfer der Cholera und anderer Epidemien dazuzurechnen – ergeben die Zahl 350,000. Die finanziellen Kosten betragen fünf Milliarden. Ich möchte den Mathematikern des Gleichgewichts raten, einmal statt der Balancierstange eine Wage und eine Rechentafel zur Hand zu nehmen und folgende Abwägungen und Berechnungen vorzunehmen: 1. Wie verhalten sich die gegebenen Verluste zu den durch den ganzen Feldzug erreichten Gewinnen? 2. Was hätten jene Länder mit den geopferten Menschenkräften unter Anwendung der geopferten Geldkraft an Kulturfortschritten erreichen können? 3. Wie hoch würden sich die Verluste beziffern, wenn statt der kleinen Balkanstaaten die europäischen Großmächte miteinander Krieg führten?“

 

Uebrigens ist der ganze „Balkanfrieden“ ziemlich prekär. Er wurde aus purer Erschöpfung geschlossen. Bulgarien in seiner Not, bedrängt von fünf Feinden, muß alle diktierten Bedingungen annehmen, tut es aber unter dem Vorbehalt, daß es auf eine Revision der Mächte oder auf eine künftige Revanche hofft. Versöhnung, Verbindung liegt da nicht vor, sondern ein durch gegenseitiges Gemetzel und gegenseitige Verleumdung gesäter ungeheurer Haß. Zudem ist noch eine große ungelöste Komplikation da: Die totgeglaubten Türken sind wieder in Adrianopel einmarschiert und die türkische Armee schwört, daß sie freiwillig die heilige Stätte nicht wieder hergeben wird. Und vom Standpunkte des Kriegsrechts hat sie ganz recht. Jetzt kommt noch die Frage der ägäischen Inseln dazu, und außerdem das unfertige neugeschaffene Albanien, über dessen Südabgrenzung und Thronbesetzung man sich in London noch wird die Köpfe zerbrechen müssen. Ueberhaupt, der Sonderbarkeiten und der Nochniedagewesenheiten bietet die ganze Balkanwirrnis eine Fülle. Diese Spontangeburt eines selbständigen Kulturstaates aus einem blutrache-treibenden Bergvolke heraus; dann dieses andere Novum und Unikum: der Einmarsch einer halben Million Bewaffneter ins Nachbarland, wobei es zu keinem Schuß und zu keinem Schwertstreich kommt, weil der Ueberfallene gar keine Verteidigung versucht. Die grausame Invasion (denn grausam ist es doch, einen schon halbtot am Wege Liegenden fünfmalhunderttausend Pistolen an die Brust zu setzen: „den Streifen Turtukaja bis Baltschik oder das Leben“) endet mit einem Depeschenwechsel zwischen Zar Ferdinand und König Carol, worin der letztere von den langjährigen guten Beziehungen spricht, die durch die letzten Ereignisse „ungetrübt geblieben sind.“ Man muß sich an die Stirne greifen und fragen: Ist das alles ein Kapitel Weltgeschichte oder Operettentext?

 

September 1913

 

Der Friede - was man so Friede nennt – ist in Bukarest unterzeichnet worden und hat dem Beuteverteilungskrieg zwischen den Balkanverbündeten ein Ende gemacht – was man so ein Ende nennt. Nämlich Atemschöpfen bis zum nächsten Krieg. Vielleicht werden die Ereignisse die Dinge anders gestalten, aber im Sinne der Friedensunterzeichner dominiert der Begriff: Revanche. Nicht etwa im stillen: es wird gar kein Hehl daraus gemacht. So hat König Ferdinand am Tage nach dem Friedensschluß in einem Armeebefehl folgendes gesagt:

Von allen Seiten bedrängt, mußten wir den Bukarester Frieden unterzeichnen, da unser Vaterland nicht imstande war, mit seinen fünf Nachbarn zu kämpfen, ohne Gefahr zu laufen, alles zu verlieren. Erschöpft und ermüdet, aber nicht besiegt, mußten wir unsere glorreichen Fahnen für bessere Zeiten zusammenfalten. Möge Gott euch alles lohnen, was ihr getan habt. Erzählt euren Kindern und Enkelkindern von der Tapferkeit unseres Heeres und bereitet sie vor, das ruhmvolle Werk zum Abschluß zu bringen, das ihr begonnen habt.“

Wie es scheint, gibt es im Kriege immer Sieger, aber niemals Besiegte; denn wenn das von fünf Nachbarn wehrlos gemachte Land von sich verkünden darf, daß es nicht besiegt ist, wann tritt dann dieser Zustand eigentlich ein? Und wenn alles, was ein Feldzug bringt – ob Gewinn oder Verlust -, „glorreich“ und „ruhmvoll“ ist, worauf sind die Gewinnenden so besonders stolz? Das Stechen, Hauen, Schießen, Plündern, Brennen selber – auch wenn es seinen Zweck nicht erreicht – gilt als das Bewundernswerte, als das Getane, „das Gott lohnen möge“.“

 

Aber auch die tatsächlichen Sieger betrachten den Frieden nicht als definitiv, erachten das Erreichte nicht als befriedigend. In dem nach dem Friedensschluß vom König Konstantin erlassenen Tagesbefehl heißt es:

Unser Werk ist jedoch nicht vollendet. Griechenland muß stark, sehr stark werden. (Freuet euch, Krupp, Armstrong, Schneider!) Ich werde ohne Unterlaß arbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Bewahret den unumstößlichen Beschluß unser Aller, Griechenland militärisch sehr stark, von seinen Freunden geachtet, seinen Feinden furchtbar zu machen.“

O, dieser Ehrgeiz nach dem Furchtbarsein! Lebt denn in unserer Zeit wirklich noch das Tamerlan-Ideal?“

 

Kaum hatte man aus Bukarest verkündet, daß der Balkankrieg zu Ende sei, so machte sich, unter Enver Bey, die türkische Armee auf den Weg und nahm sich Adrianopel zurück. Das mit Tausenden von Blutopfern aufgepflanzte Kreuz wurde wieder durch den Halbmond ersetzt. Darüber Jubel in Konstantinopel, und die türkischen Heerführer wollen das ganze verlorene Gebiet zurückerobern, ja sogar bis Sofia vordringen. Die Bulgaren können sich nicht wehren, aber die Türken können die Hunderttausende im Felde stehenden Soldaten nicht ernähren. Und so kommt es zu direkten Friedensverhandlungen zwischen den beiden Gegnern. Sie werden sich wahrscheinlich einigen, möglicherweise sogar ein Bündnis schließen. Das wäre doch der allerironischste Abschluß des mit so frommem Pomp unternommenen Kreuzzuges.“

 

Oktober 1913

 

Immer noch muß man vom Balkan reden. Die Friedensschlüsse und Kriegsausbrüche wechseln dort in rascher Folge miteinander ab, es wird mobilisiert, demobilisiert und wieder mobilisiert; nachdem Verbündete sich verfeindet haben, verbünden sich Feinde – man muß nur die zwischen Türken und Bulgaren gewechselten Freundschaftsversicherungen lesen -; trotz der verschiedenen eingetretenen offiziellen Kriegseinstellungen wird ununterbrochen weiter gekämpft, geplündert und gesengt; nebstbei kommt es zu einem richtigen Albanesenaufstand und Griechen und Türken rüsten gegeneinander, um über ein paar ziemlich bedeutungslose Differenzen einen neuen Feldzug zu inszenieren. Wenn einmal die Geschichte dieser Balkanereignisse wahrheitsgetreu geschrieben würde, so müßte sich daraus mit Sonnenklarheit die ganze Absurdität ergeben, die dem Begriffe „Krieg“ in unserer Gegenwart anhaftet. Dreifach absurd, wenn man ihn in Gedanken in unser Westeuropa und in die Zukunft versetzt.“

 

Den serbischen Truppen ist es schnell gelungen, die von ihren Bergen herabgestiegenen albanesischen Rebellen zu vernichten. Creuzot‘sche Kanonen und das Maschinengewehr haben sich bewährt ...“

 

November 1913

 

Wieder einmal knapp am Abgrund vorbei! In der zweiten Hälfte Oktober (heute ist es beinahe schon vergessen, so rasch werden alte Sensationen von neuen abgelöst) wurde ganz plötzlich von Oesterreich-Ungarn an Serbien ein Ultimatum erlassen, des Inhalts, daß binnen zehn Tagen von sämtlichen Positionen, die Serbien jenseits seiner Grenzen in Albanien besetzt hielt, die Truppen zurückzuziehen seien. Widrigenfalls – nun, man weiß ja, was geschieht, oder was doch angedroht wird, wenn solch peremptorischem Befehl Widerstand geleistet wird. Es ist die alte Geste der an die Brust gesetzten Pistole. Nur daß, wenn Staaten – und nicht Straßenräuber – diese Geste machen, die Pistole mehrere hunderttausend Läufe hat. Dazu werden ja auch hauptsächlich die Heere und Flotten neuerdings zu immer größeren Dimensionen angeschwellt: als Drohinstrument, als begleitendes Orchester zum Text des stolzen Großstaatliedes: „Ich will“. Oesterreich-Ungarn singt dieses Lied gar so gern allein, und nicht im europäischen Chor. Serbien hat nachgegeben. Schön – aber wie, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre? Dieser Eventualität verschloß sich auch der Leitartikler der Neuen Freien Presse nicht, der unterm 22. Oktober schrieb: „Vor einigen Tagen war die Monarchie von einem Kriege nicht viel weiter entfernt, als das Hemd von der Haut. Eine Welle der Volksleidenschaften in Belgrad, eine plötzliche Auflehnung der militärischen Gewalten und die Kanonen hätten zu sprechen begonnen.“ Aber noch andere Chancen zum Losgehen der Kanonen hätte es gegeben. Ein so kleiner Staat wie der serbische kann natürlich den Befehlen eines so großen wie Oesterreich-Ungarn sich nicht widersetzen; aber was hätte z.B. Rußland gehindert, wenn es Krieg gewollt hätte, zu erklären, daß es sich an die Seite Serbiens stellt? Immer deutlicher und dringlicher zeigt es sich, daß nur eine Einigung des gesamten West- und Mitteleuropa die Zustände Osteuropas regeln und den Weltteil vor einem Universalbrand schützen kann.“

 

Dezember 1913

 

Der Matin“ veröffentlichte einen Geheimvertrag, der im Juni 1912 abgeschlossen wurde. Darüber durch zwei Tage wilde Sensation in der österreichischen Presse, weil in dieser Militärkonvention vorgesehen war, daß die beiden Kontrahenten gegen etwaige Angriffe unserer Monarchie oder im Falle ihres Einmarsches in den Sandschak sich gegenseitig Schutz leisten und Oesterreich Krieg erklären würden. Wie eine geplatzte Bombe wurde diese Nachricht aufgenommen. „Geplanter Dolchstoß in den Rücken der Monarchie.“ - „Komplotte gegen den Frieden Europas.“ - „Also nicht gegen die Türkei, sondern gegen uns haben sich die Balkanstaaten verbündet!“ „Und Rußland war davon verständigt – also eine regelrechte Verschwörung, Oesterreich mit Krieg zu überziehen.“ König Ferdinand weilte eben in Wien. Als entlarvter Verräter wurde er bezeichnet, den man sofort ausweisen müsse. Doch da geschah, daß der Kaiser den bulgarischen Zaren in Schönbrunn mit aller Auszeichnung empfing, ihm auf dem Treppenabsatz entgegenging und nach einer halbstündigen Unterhaltung wieder zum Treppenabsatz hinausbegleitete. Da verstummte mit einem Schlage das antibulgarische Gezeter und es hieß: Die Veröffentlichung ist von der russophilen Partei Bulgariens ausgegangen, die damit Bulgarien vor Oesterreich-Ungarn zu kompromittieren sucht. Uebrigens habe die hiesige Regierung bereits längere Zeit vor Ausbruch des Balkankrieges genaue Kenntnis von diesen Verträgen gehabt, und hat sich doch nicht von ihrer bulgarenfreundlichen Politik abbringen lassen, weil sie „gewisse Versicherungen darüber hatte, daß diese Verträge nie erfüllt werden würden“. Verträge mit Rückversicherungen, daß sie niemals erfüllt werden – das ist auch so ein hübsches Gericht aus der diplomatisch-militärischen Geheimkocherei! Nun wurde der publizistische Bulgarengroll gedämpft und die vorhandene Erregung ganz auf das intrigierende Rußland gelenkt, das mit Hilfe seiner beiden Verbündeten den Balkanbund zum Verderben Oesterreichs schmieden wollte. Es ist, als wäre die Welt von lauter Uebeltätern erfüllt und alle Regierungskunst und -weisheit nur auf das Durchblicken und Durchkreuzen der nachbarlichen Uebeltaten beschränkt. Diese Wendung kam aber auch wieder den eben in den Delegationen verhandelten Militärforderungen (und den Panzerplattenfabriken) zugute, weil es doch zeigte, wie gut man getan hatte, gegen die Nachbarn zu mobilisieren und wie notwendig es ist, gegen die weiteren Eventualitäten weiter zu rüsten.“

 

Januar 1914

 

Der Balkan läßt uns nicht zur Ruhe kommen. Das ist auch natürlich: „nothing is settled, that is not settled right“, sagte Abraham Lincoln. Der dortige Frieden war kein Rechts-, sondern ein Erschöpfungsfrieden. Der Krieg gärt, brodelt, wetterleuchtet weiter. Ungeklärt ist die Albanierfrage, ungeklärt die Frage der griechischen Inseln. Die Türkei steht wieder als vollwertige Kriegsmacht auf dem Plan, gestärkt durch deutsche Militärinstruktoren – gerade so wie vor dem Feldzug, und seegeltungsstolz gemacht durch den Ankauf eines Dreadnoughts; Griechenland bestellt gleichfalls solche Schiffe, und es wird schon berechnet, welche der beiden Flotten die andere vernichten wird. Sogenannte „Putsche“ werden veranstaltet, Freiwilligenkorps bilden sich, verelendete Bevölkerungen flüchten, kurz des Jammers und der Drohung kein Ende. Dabei sieht es aus, als ob der Balkan das Schachbrett wäre, über welchem die beiden Mächtegruppen ihre stumme Machtpartie spielten: Dreibund auf der Seite der Türkei, Dreiverband auf Seite Griechenlands. Gar so einfach ist aber die Sache nicht: Deutschland z.B., das den Türken Kriegsunterricht gibt, ist zu Griechenland in einem verschwägerten und bewundernden Verhältnis; dazu sind noch die anderen Balkanmächte da, - Rumänien, Bulgarien -, von denen man nicht weiß, ob sie zu Rußland oder zu Oesterreich neigen. Aus diesem Wirrsal wird man nie herauskommen, solange man nicht erkennt, daß die Mordaktionen – die gedrohten sowohl als die ausgeführten – niemals zu einer gedeihlichen Lösung führen, daß die unglücklichen Länder nur durch friedliche Arbeit, Reformdurchführung und Sanierungsanstrengungen sich wieder erholen und dann zu einem Bund sich schließen könnten, der weder dreibundfreundlich noch dreiverbandfreundlich, sondern einfach nicht balkanfeindlich wäre.“

 

Jetzt mehr als je wäre der Augenblick, daß die vernünftigen und wahrhaft friedensbedürftigen beiden großen Mächtegruppen, statt auf den Gleichgewichtsproblemen des Balkans und des Mittelmeers zu balancieren sich zu einer Rechtsalliance zusammenschlössen und so die positive Macht gewännen, die europäische Ruhe zu sichern. Der Friedenswille in der westlichen Welt ist schon so stark, daß er die Belastungsprobe des ersten und des zweiten Balkankrieges bestanden hat; - die jetzige Pause wäre zu benützen, eine dritte solche Probe nicht aufkommen zu lassen. Aber gegen diese Aufraffung der Vernunft wehrt sich leider der Kriegswille, der ja auch noch leider Gottes in so vielen Kreisen seine offene und seine geheime Wirkung ausübt.“

 

Februar 1914

 

Ein Alarmruf geht durch unsere Blätter: balkanische Staatsmänner besprechen sich in Petersburg: Versöhnung droht! Die russische Diplomatie arbeitet daran, ein Bündnis zwischen Bulgarien und Serbien wiederherzustellen und sogar Griechenland daran anzugliedern. Griechenland soll an Bulgarin Istip und Kotschana zurückgeben, damit, falls die Türkei wegen der ägäischen Inseln Krieg machen wollte, Bulgarien, das einen militärischen Geheimvertrag mit der Türkei haben soll, nicht etwa an der Seite der Türkei fechten würde. Verstehen Sie? Die Sache ist etwas kompliziert. Darum heißt es ja Balkanwirren. Was ich hier hervorheben wollte, ist übrigens nicht, auf welche Weise das auf gegenseitigen Haß so schön beruhende balkanische Gleichgewicht wieder ins Schwanken kommt, sondern die Angst, die dabei in unserer Presse geschürt wird. Diese Angst ist so recht charakteristisch für den Tiefstand der Gesinnung, von der die übliche Kannegießerei beherrscht ist. Es brauchen nur zwei sich irgendwo anschicken, einander die Hand zu reichen, so schreit ein Dritter schon: die verschwören sich gegen mich. Und schreit es in der beleidigendsten herausforderndsten Weise. „Der Balkanbund“, so kommentiert unsere Tagespresse – ob aus eigener Weisheit oder ob vom literarischen Bureau des Auswärtigen oder Kriegs-Amtes eingegeben, ich weiß es nicht – die Nachricht von den Besprechungen in Petersburg - „der Balkanbund ist ein Dolch in der Hand von Rußland, dazu bestimmt, das Gleichgewicht der politischen und militärischen Kräfte in Europa zu verschieben und bei passender Gelegenheit der österreichisch-ungarischen Monarchie in den Rücken gestoßen zu werden.“ Also solche Beschuldigungen, solche Injurien darf man seinen Nachbarreichen, mit denen man „korrekte“ Beziehungen pflegt, öffentlich ins Gesicht schleudern; man darf dem andern Meuchelmordabsichten zuschreiben. - Das ist doch nicht verletzend; es ist ja nur ein Stück politischer Klugheit, die man bei diesem andern voraussetzt, die man aber durchschaut, weil man noch ein Stückchen klüger ist. Ins Militärische übersetzt, heißt jene Beschuldigung: „Mobilisieren wir.“ Man wird den Dolchstoß in den Rücken doch nicht abwarten sollen? Die Brust muß man bieten, die Stirn hinhalten. An die Grenze! Aber vorher noch ein wenig rüsten; bisher ist man mit den Waffenanschaffungen und Heeresverstärkungen doch viel zu sparsam gewesen. - Ins Pazifistische übersetzt, kann der Kommentar zu den Petersburger Besprechungen nur lauten: Willkommen jeder Versöhnungs-, jeder Verständigungsversuch. Statt Drohung dahinter zu wittern, hat man nur auch in derselben Richtung zu arbeiten: Einer Verständigung zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland stände (außer den beiderseitigen Kriegsparteien) nichts im Wege. Von Kaiser zu Kaiser, von Minister zu Minister, von Volk zu Volk wäre da friedenssicheres Uebereinkommen möglich. Nur Umkehr von den alten Pfaden der Räuberpolitik tut not. Die Pfade zur Kulturpolitik liegen offen.“

 

April 1914

 

Auf dem Balkan ist das Morden und Mordbrennen noch lange nicht zu Ende. Aus dem Süden des neugegründeten Albanien (O bedauernswerter Albanese, namens Wilhelm Wied) kommen wieder grausige Kampfberichte: „Koritza in Flammen“, „Epirus im vollen Aufstand“, banden, „heilige Bataillone“, und reguläre Truppen (wozu die vielen verschiedenen Bezeichnungen? Räuber sind sie einfach alle) sind wieder an der Arbeit: Dörfer werden vernichtet, die Bevölkerung „ausgerottet“ und dergleichen mehr, da dies alles aber im Namen von nationalen Dingen geschieht, als da sind: Landeszugehörigkeit, Landesgrenzen und dergleichen mehr, so ist es nicht einfaches Verbrechertum, sondern „Geschichte“ und fällt in das Ressort „nicht des Richters“, sondern des „militärischen Fachmannes“. Es wäre höchlich an der Zeit, daß Europa, wenn es wirklich solchen Greueln ein Ende machen will, eine internationale Polizei einsetzte. Die Nachricht von „Koritza in Flammen“ ist zur Stunde nicht bestätigt; auch das ist noch nicht sicher, daß der albanische Kriegsminister 25,000 Mann ausrüsten will, um den Aufstand niederzuschlagen, aber soviel ist gewiß: im Balkankessel brodelt das Unglück weiter.“

 

Rüstungs-Industrie

 

November 1895

 

Die Nachrichten aus China und Japan lauten darin, daß sich ein Krieg zwischen Japan und Rußland vorbereitet und daß China Revanche nehmen will. So wird berichtet: „Das japanische Parlament bewilligte neben anderen außerordentlichen Ausgaben für die Flotte einen Kredit von 200 Millionen Yen zum sofortigen Bau von vier Hochseepanzern, zehn Küstenpanzern, dreißig Torpedokreuzern und fünfzig Torpedobooten. (Tout comme chez nous! Die Parlamentarier sind doch überall von einer Großmut!) Eine andere Nachricht lautet: „Der Zar habe gestattet, daß 125 chinesische Offiziere verschiedener Waffengattungen den im europäischen Rußland befindlichen Regimentern attachiert werden. Die Offiziere werden durch drei Jahre regelmäßige Dienste versehen. Außerdem werden 50 chinesische Offiziere in russische Militäranstalten aufgenommen werden“. - Kurz, Asien zivilisiert sich. Die „westliche Kultur“ - wie sie von Krupp, Armstrong, und vielleicht nächstens Turpin repräsentiert wird – ergießt sich mit unserer Hilfe nach Osten. Kann man denn wirklich so blind sein, nicht zu sehen, welche entsetzliche Saat man da ausstreut? Will man denn durchaus das alternde Europa durch einen Mongolenüberfall, welcher Europa in ein Trümmerfeld verwandeln wird, verjüngen?“

 

Februar 1909

 

Rußland braucht Kanonen. Vertreter von Krupp, Schneider und der Skodawerke sind in Petersburg anwesend. Die russische Regierung wird nach den Modellen in ihren eigenen Geschützfabriken arbeiten lassen, aber vielleicht auch einen Teil ihres Bedarfs den ausländischen Firmen zur Arbeit übergeben. In diesem Falle kämen die österreichischen mit den deutschen und französischen Fabriken in Kombination. Also ein internationales Syndikat zur Herstellung von Vernichtungswerkzeugen für Kriege zwischen den Syndikatsmitgliedern. Wer da nicht auflacht, hat keinen Sinn für Humor.“

 

Juni 1913

 

In Ungarn wird eine neue Kanonenfabrik errichtet. Wieder investierte Millionen und wieder soundso viel Leute, die daran interessiert sind, daß genügende Bestellungen einlaufen, mit anderen Worten, daß kein Mangel an Kriegsgefahren eintrete. Wie die Gefahr der mangelnden Gefahr beschworen wird, wie die internationale Waffenindustrie das Schüren nationaler Furcht- oder Trutzgefühle betreibt, um den Absatz der vertrusteten Mordware zu sichern, das hat der Abgeordnete Liebknecht dokumentarisch aufgedeckt. In Pazifistenkreisen wurde schon längst auf das Bestehen des über alle Landesgrenzen verzweigten Kriegssyndikats hingewiesen; David Starr Jordans Buch über das „heimliche Reich“ (damit meint er die zu Kriegszwecken anleihegebenden Banken) zeigt den finanziellen Untergrund des ganzen Rüstungsrummels, aber natürlich dringen die Lehren und Warnungen der Friedensliteratur nicht so weit in die Oeffentlichkeit, wie solche im Parlament vorgebrachte sensationelle Enthüllungen. Zwar wird man versuchen, darüber hinwegzu-schweigen, aber die Masken sind doch schon gelockert worden. Und schließlich müssen sie fallen.“

 

August 1913

 

Der durch die Enthüllungen des Abgeordneten Liebknecht notwendig gewordene Krupp-Prozeß ist geführt worden. Zuerst sollte dies mit Ausschluß der Oeffentlichkeit geschehen. Der Prozeß wurde dennoch öffentlich, aber er wurde daneben geführt. Was aufgedeckt werden sollte: die große, internationale, mit Milliarden-Interessen die ganze Welt umspannende Zusammenarbeit der Waffenindustrie in hohen und höchsten Kreisen, das hat sich im Gerichtssaal in das Vergehen einiger subalterner Angestellter verwandelt, die über belanglose Fabrikationsdetails ein paar indiskrete Aufschlüsse gegeben hätten. Die eigentliche, unheimliche Frage von der Verbindung der Kriegsfurchtmacher mit der Kriegswerkzeugs-Industrie – die ist gar nicht zur Sprache gekommen.“

 

November 1913

 

Die Geschäfte stocken, sagte ich vorhin. Nicht alle. Ein Blick in den Bericht eines Finanzblattes kann für uns Pazifisten ungeheuer lehrreich sein. Folgender Auszug aus einem Artikel des Wiener „Mercur“ (Nr. 1727) wirft so manche Streiflichter auf die internationale Kriegsindustrie:

Die Skodawerke sind seit ihrer Rekonstruktion in einer glänzenden Entwicklung begriffen … Erst die Reorganisation der österreichischen Marine – die Schaffung neuer und größerer Schlachtschiffe schon vor der Aera der Dreadnoughts – führte die Genesung der Skodawerke herbei. Jahr für Jahr waren sie damit beschäftigt, Armaturen für die Kriegsschiffe (Panzertürme mit Geschossen) herzustellen und die Dimensionen dieser Geschütze und damit die Höhe dieser Aufträge wurden immer größer, bis sie den Dreadnoughttypus erreichten. Für diese Armaturen hatten die Skodawerke ein faktisches Monopol, und an der Ausführung derselben wuchsen sie empor, so daß sie auch bei Auslandsbestellungen immer konkurrenzfähiger wurden. Die Schiffsgeschütze haben die Skodawerke groß gemacht; darüber haben sie freilich auch die Erzeugung von Festlandsgeschützen nicht vernachlässigt und insbesondere den Export auf diesem Gebiete kultiviert. Es ist augenscheinlich nicht nur die Exkomptierung der Dreadnoughtgewinne, welche die Skodaaktien wieder zum Favorit des Publikums gemacht hat, sondern die Entwicklung der Firma von einem Landes- zu einem Weltunternehmen, das seine geographische Sphäre immer weiter ausdehnt und beginnt, neben Krupp und Schneider genannt zu werden …“

Der Artikel fährt fort, indem er über die Zusammenarbeit der Skodawerke mit Krupp und mit der neuen Kanonenfabrik in Raab ziffernmäßige Auskunft gibt. Die Gewinne werden erteilt und in späteren Jahren werden die Skodawerke ein Drittel ihrer Geschützbestellungen an die ungarische Fabrik abgeben müssen. Mit folgenden Worten schließt der Aufsatz: „Die Zunahme des Armeebedarfs mag dies wohl ausgleichen, und es ist auch möglich, daß der ungarische Staat als Eigentümer der ungarischen Kanonenfabrik sich lebhafter für den Ersatz der Bronze- durch Stahlkanonen einsetzen wird.“ - Lebhafter einsetzen? Also denn: patriotische Brust töne, und Popanz, herbei! die Staatsnotwendigkeit ist fertig und – die Aktien steigen.“

 

Januar 1914

 

Aus dem „Unseen Empire“: Belgrad, 28. Dezember. Nach Prüfung der französischen, deutschen und englischen Geschütze hat die serbische Regierung den Vertrag mit der Firma Krupp in Essen unterzeichnet auf Lieferung des gesamten Neubedarfs der serbischen Artillerie.“ Ferner: „Die Generalversammlung der Aktiengesellschaft Krupp hat bei Jahresabschluß einen Reingewinn von 43 Millionen Mark ausgewiesen und die Dividende zu 14% gezahlt.“ Man begreift den instinktiven Widerwillen der Aktionäre gegen das Churchillsche Feierjahr. Ferner: Auch ein Reingewinn von 40 Millionen Mark fiel dem englischen Panzerplattenring zu. Die französischen Kanonenfabriken sind wohl auch nicht zu kurz gekommen.“

 

Aufrüstung aller gegen alle

 

Januar 1895

 

Und nun die Neujahrsbetrachtung des „Militär-Wochenblattes“ daneben: „Im deutschen Heere herrscht, wie immer, eine rege, angespannte Tätigkeit. Je länger der Friede andauert, desto mehr müssen die Führer darauf sinnen, den kriegerischen Geist in der Truppe zu beleben, alle Uebungen möglichst kriegsgemäß zu gestalten und Offizieren wie Soldaten das wirkliche Bild des Krieges lebendig vorzuführen, damit ihnen im Ernstfalle Ueberraschungen erspart bleiben … Alle neuesten Erfindungen, die dem Aufklärungs- und Meldedienst zugute kommen können, sind für den Heeresdienst herangezogen: Radfahrer, Brieftauben, Luftschiff und Feldtelegraph … Mitten in reger geistiger und körperlicher Arbeit, auf alles vorbereitet und auf alles gefaßt, wie immer toujours en vedette! So wird das neue Jahr das deutsche Heer antreffen.“ - Und die anderen Heere selbstverständlich ebenso.“

 

März 1897

 

Im deutschen Reichstag haben sich Flottenforderungen und daran geknüpfte Krisengerüchte, Debatten, Bewilligungen und Streichungen abgespielt. Zweihundert Millionen wurden verlangt und Marineminister v. Hollmann erklärte, es müßte, wenn dies nicht bewilligt würde, „alles zum Deibel gehen“. Daß die Vorlage dem ausdrücklichen Wunsch des Kaisers, der die Seemacht Deutschlands vergrößern will, entsprach, weiß man. - Das Ende war, wie immer: Bewilligung mit Abstreichung. Dadurch werden beide Teile angeblich befriedigt; diejenigen, die, wie kluge Kaufleute, schon einen höheren Betrag nannten als sie brauchen, und das Volk, dessen Beutel zuliebe man ja von geforderten zweihundert Millionen ein paar Millionen rettete. Prinzipiell dagegen waren nur die Sozialdemokraten. Ihnen glaubt man aber nicht, daß das Volk den Militarismus zu Land und See an sich bekämpft, man glaubt, die Opposition ist nur gegen die Regierung gerichtet. Wann wird denn die ansehnliche interparlamentarische Friedensgruppe in jedem Parlament entstehen, die, aus allen Parteien zusammengesetzt, bei solchen Anlässen – nicht auf Feilschen sich einläßt, auch nicht den Rüstungsstillstand nur für das betreffende Land begehrt, sondern mit der Kulturforderung hervortritt, daß mit den andern Mächten Vereinbarungen angebahnt werden zur Versöhnung, zu Bündnis- und Schiedsgerichts-Verträgen und hierdurch zur allgemeinen Abrüstung? Nicht eine Militärdebatte sollte mehr stattfinden können, ohne diese prinzipielle Stellungnahme der Mitglieder des Interparlaments.“

 

Juli 1897

 

Das Flottenvergrößerungsfieber wütet allenthalben weiter. Im Unterhaus erklärte der erste Lord der Admiralität, Goschen, daß die Absucht bestehe, den Bau der vorgesehenen Kriegsschiffe zu beschleunigen, außerdem ward ein Nachkriegsetat von ½ Millionen Pfund für weitere Schiffsbauten beantragt … Es ist, als wollte man durchaus eine europäische Seeschlacht herbeiführen. Hoffen wir, daß rechtzeitig der drahtlose Telegraph das Mittel bieten wird, vom Hafen aus eine Flotte mittels eines Fingerdruckes zu vernichten; vielleicht wird man dann doch noch andere nützliche Verwendung für das Volksvermögen finden, als die Anschaffung von Torpedos, Torpedozerstörern und Torpedozerstörervernichtern.“

 

März 1898

 

Wir machen nun eine Epoche des Schlachtschiff-Paroxysmus durch. Ueberall Flottenvermehrungen, Panzerbauten, Torpedo-Ausrüstungen, Eskadre-Expeditionen. Die enthusiastisch bewilligten Millionen und Milliarden für die Mobilmachung der Meere, die fliegen nur so: in Deutschland, in England, in Spanien, in Amerika … Ein paar der mordgeladenen Ungetüme fliegen selber in die Luft: so der vor Havanna ankernde amerikanische Kreuzer „Maine“. Zweihundertfünfzig Leben sind dabei verloren. In Spanien werden anläßlich dieser Katastrophe Freudenfeuer angezündet. Amerikanische Jingoblätter schüren zur Rache, denn sie erheben den Verdacht, daß es Spanier gewesen, die die „Maine“ zerstörten. Das alles sind die maritimen Zwischenfälle der Friedenszeit. Wie wäre es mit den Katastrophen bestellt, wenn erst das Element der Bosheit – ein zu Kriegszeiten legitimes, mehr noch: gebotenes Element – sich in diese lieblichen Wasserkünste mischte? Die jetzige Bewaffnung der Kriegsschiffe ist eine solche, daß diese Seeungeheuer fortwährend bei vollem Frieden schwimmende Lebensgefahr-Institute abgeben – aber ein Kriegsschiff in Aktion: - „Calvins Hölle (so sagt der letzte „Concord“) wäre ein freundlicher Aufenthaltsort dagegen.“ Also nur immer mehr und mehr Schiffe – ihr Klugen und Guten, ihr Volkslenker und ihr Volksvertreter, die Begriffe „Absatzgebiet“ und „nationales Prestige“ kann man schon mit einem tüchtigen Stück Hölle zahlen.“

 

Juni 1898

 

Wir durchschreiten eine trübe, unsäglich gefahrdräuende, wahnsinnige Epoche …

Es scheint ein böser Wahn die ganze Welt erfaßt zu haben, der Wahn zu zerstören, der Wahn des Hasses und der Verfolgung, des Haders und des Streites auf allen Gebieten unseres Lebens. Was uns täglich die Zeitungen melden, was wir mit Augen sehen, mit unsern Ohren hören, - der Wahnwitz starrt uns überall entgegen. Ernste Männer versammeln sich, um über das Wohl der Völker und der Einzelnen zu sinnen und zu reden, um der bitteren Not zu wehren, den Wohlstand zu fördern – da wirft ein vom Wahn des nationalen Hasses erfüllter Mensch die Brandfackel in die Menge, die Leidenschaften entflammen, Haß blitzt aus den Augen, Haß schreit aus den heiseren Stimmen, jede Besonnenheit entflieht, Worte des Schimpfes fliegen hinüber, herüber, der Friede ist gebrochen, das Parlament liegt brach, und vergebens frägt der Zuschauer nach Ursache, Wurzel und – Ende dieses Wahnes …

Die Schrecken religiöser Kämpfe, die Greuel und Grausamkeiten, die je unter der Fahne des Glaubens verübt wurden – des Glaubens, der uns Versöhnung, Friede und Liebe predigt, die Ausschreitungen der Rassenkämpfe – die Geschichte hat sie uns als abschreckendes Beispiel aufbewahrt. Und nun erhebt sich das Gespenst wieder, eine sinnlose, betörte Menge folgt ihm, bis sie selbst, zu Tode gehetzt, niedersinkt, zertreten, vernichtet.

Wochenlang wütet der Krieg jenseits des Ozeans (Cuba); keine blutigen Schlachten, kein unübersehbares Leichenfeld, keine Heldentat, aber dennoch zerstörte Menschenstätten, rauchende Trümmer, ächzende Sterbende, jammernde Mütter, Waisen, untergegangene Schiffe, verschleuderte Millionen an Geld und Kraft. Was hätte mit all den Gütern gewirkt, mit all den blühenden und nun vernichteten Menschenkräften geschaffen werden können?

Und überall ertönt der Ruf: Intervention der Mächte, Friedenszwang, unnützes Gemetzel, Ausbeutung hier, Rückschritt dort – doch alles das wird übertönt von der Stimme des Wahnes – der Kanone.“

 

September 1898

 

Kaiser Wilhelm, der sich nun zu einer Palästina-Fahrt rüstet, hat, wenige Tage nach dem Erscheinen des russischen Friedensreskripts, vor der Porta Westphalica gesagt, daß der beste Schutz des Friedens das scharfe deutsche Schwert sei.“

 

Dezember 1898

 

Eine zu Ende Dezember geschriebene Monatschronik verwandelt sich unwillkürlich in einen Rückblick über das ganze alte Jahr, und man muß auch rekapitulieren, was sich da alles auf dem speziellen Felde ereignete, das man im Auge hat. Schlimmes, viel Schlimmes hat 1898 über die Anhänger der Friedensidee verhängt: Zuerst das Scheitern des anglo-amerikanischen Schiedsgerichtsvertrages. Dann: die Wirren in den ostasiatischen Fragen; fortgesetzte Unruhen und Verwicklungen im Orient; England – nachdem es einen der blutigsten Kriege an seinen Kolonialgrenzen beendet, auf dem Punkte, mit seinem Nachbar Frankreich Krieg zu führen; die Flotten beider Länder in eilige Schlachtbereitschaft gejagt … In allen Ländern stets wachsende Militärbudgets und bis zum Fanatismus gesteigerte Nationalitäten-Kämpfe; und – Entsetzlichstes von allem: der spanisch-amerikanische Krieg. Nicht nur entsetzlich wegen der damit verbundenen Greuel und Leiden, sondern wegen des darauf folgenden Uebels: die Entwicklung des amerikanischen Militarismus. Angesichts solcher Dinge geschah es, daß viele, die sich der Friedensbewegung schon halb zugewendet hatten, mutlos wurden und erklärten, daß die Bestrebungen auf diesem Felde gegenwärtig verlorene Mühe seien ...“

 

Dezember 1899

 

Die Flottenverdoppelung ist dem deutschen Reichstag angekündigt. Unter den Begründungen „niemand kann übersehen, welche Konsequenzen der Krieg haben wird, der seit einigen Wochen Südafrika in Flammen hält“. Ganz richtig, das sagten die Friedensfreunde auch, darum hatten wir verlangt, daß der Funke erstickt werde, er wurde aber angefacht; jetzt verlangen sie, daß das Feuer eiligst gelöscht werde, man läßt es aber brennen. - Flottenpläne brauchen eben Begründungen und in den Kreisen, wo man Kriegspolitik treibt, hütet man sich, Kriege zu verhindern oder aufzuhalten. Aus den Verlegenheiten anderer kann man eigene Gelegenheiten schöpfen ...“

 

Januar 1900

 

Noch andere Nachrichten finde ich in den Neujahrsblättern. In Italien wurden in Anwesenheit des Kronprinzen neue Geschütze probiert (leisten Außerordentliches!) und 60 Millionen wurden zu ihrer Anschaffung bewilligt. Frankreich will seine Flotte vergrößern, Deutschland die seine verdoppeln; für England wird sich die Notwendigkeit herausstellen, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen – und so hat es den Anschein, daß die Menschheit eben auf gar nichts sinnt, als auf ihr gegenseitiges Hinschlachten.

Es hat aber nur den Anschein. Der Paroxysmus ist es des bedrohten Gewaltsystems, das gewaltige Krachen vor dem Zusammensturz. Hauptsache ist, daß alle die Kräfte – Menschen und Institutionen – die für eine höhere Kulturstufe arbeiten, unbeirrt und stetig weiter wirken. Jetzt weht freilich ein Wind der Raserei über die Welt, in welchem die Vernunftstimmen verhallen; jetzt lagern tiefschwarze Wolken über der Sonne und über deren Horizont – aber darum wird es später nur desto lichter werden.

In früheren Zeiten entstand solche Kriegsstimmung, solche Störung aller Ruhe, solcher Jammer und Schaden nur, wenn das eigene Land im Krieg war; jetzt empfindet schon die ganze zivilisierte Welt das gleiche, in welcher Entfernung auch der Zivilisationsfeind tobt.“

 

Noch immer lautes Kriegsgeschrei. Und immer wachsende Flottenepidemie. Auf den Militarismus, den vielbekämpften, pfropft sich jetzt der „Marinismus“. Das bedeutet wohl keinen Fortschritt. Die Chauvinisten aller Länder haben jetzt schöne Zeiten und sie suchen sich vollauf für die bösen Zeiten, die sie zu Anfang des vergangenen Jahres durchgemacht, als der Friedenskreuzzug in England und der Anfang im Haag auf der Oberfläche waren, zu rächen. Der Transvaalkrieg ist keine akademische Kundgebung, er ist ein Faktum. Und durch ihn sind nun alle Kriegsgeister losgelassen. Der Völkerhaß feiert Orgien. Wenn es auf den Willen der deutschen und französischen Chauvinisten ankäme, so würde man schon morgen England mit Krieg überziehen. Freilich ist die britische Flotte nur ein Hindernis; daher: nur rasch den eigenen Flottenbau in Angriff nehmen! …

Das Meer, das heilige, völkerverbindende Meer, soll nicht mehr das sein, was zu Raubritterzeiten unsere Landstraßen waren; aber, unserer Meinung nach, ist die Straße nicht dadurch zu sichern, daß noch mehr Raubritter und noch mehr bewaffneter Troß geschaffen wird, sondern daß – zu Land und zu Meer – die Sicherheit der Kultur zur Herrschaft gelange.“

 

Eine neue Gefahr steigt am Horizonte auf. Die Kriegspartei in England wird die Ereignisse benutzen, um zu versuchen, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Schon lange wird darauf hingezielt. Jetzt werden die Zeichen immer deutlicher ...“

 

März 1900

 

Krüger und Stejn, so heißt es, hatten nach England Friedensanträge telegraphiert und die Antwort darauf wäre in unversöhnlichem Tone abgefaßt: nur bedingungslose Unterwerfung könne zu Friedensverhandlungen führen. Dies war es ja auch, was die offizielle Presse schon am Tage nach Cronje‘s Ergebung als Forderung hinstellte: die beiden Republiken müssen von der Karte ausgelöscht werden.

Warum staunen wir, warum entsetzen wir uns immer mehr und mehr, wenn aus der geöffneten Pandora-Büchse eine nach der anderen der Schlangen herausschnellt, von denen man doch weiß, daß sie drin geringelt liegen? Unerbittlichkeit, Härte, Rachetaumel … das gehört ja alles zu dem Gezücht, das da wieder einmal losgelassen ist.

Keine von den Regierungen regt sich. „Macht geht vor Recht“ ist ein Spruch, der jetzt solche Triumphe feiert, daß alle Machthaber die größte Genugtuung dabei empfinden und nichts tun, was diesen Triumph beeinträchtigen könnte …

Oh, in der Büchse sind noch gar arge Schlangen, die giftigsten, gewaltigsten auf dem Grund. Noch wäre es Zeit, den Deckel zu schließen.“

 

Februar 1907

 

Die Marineminister aller Länder werden nicht müde, Extrakredite zu verlangen, um die Schlachtflotten auszubauen. In Rom hat Admiral Mirabelli einen Gesetzentwurf vorgelegt, um 160 Millionen Lire zu erlangen für vier neue Turmschlachtschiffe von 16,000 Tonnen Wasserverdrängung … Das ist doch deutlich. Da muß nun österreichischerseits wieder als „Gegenmaßregel“ eine Anzahl 18,000 tonniger Schlachtschiffe gebaut werden, wozu die Delegationen zweifellos die erforderlichen 200 Millionen patriotisch bewilligen werden. Wie lang soll denn dieser Wahnsinn fortgetrieben werden? Und das zwischen Verbündeten! Es ist eine Schande. Auch auf den Landgrenzen zwischen Italien und Oesterreich wird fortwährend an Forts und strategischen Straßen und Minenlegungen gearbeitet; dem Alliierten wird gedroht, und in Militärkreisen wird ganz geläufig von einem zukünftigen Krieg zwischen Italien und Österreich gesprochen. Und worauf wird die Gefahr beiderseitig begründet? Auf die Rüstung des andern. Und da soll es unpraktisch sein, die Welt endlich von so kostspieligem und demoralisierendem Alp erlösen zu wollen? Da soll man von Rüstungsstillstand nicht einmal reden dürfen auf einer Konferenz, die „Friedenskonferenz“ heißt? Das einzig Praktische sind neue Steuern zum Bau jener Schlachtungetüme, und das Allerpraktischste wäre wohl, daß die Schiffe endlich ihre Bestimmung erfüllen und einander in die Luft sprengen. Ein Doppel-Tsuschima in der Adria wäre doch eine schöne Krönung des seit mehr als zwanzig Jahren „friedensichernden“ Dreibunds.“

 

September 1907

 

„… nur eins ist abgetan: die Abrüstungsfrage. Der „Wunsch“ von 1899, daß die Regierungen die Frage studieren mögen, worauf in den verflossenen acht Jahren alle Budgets um 50% gestiegen sind, ist neuerdings ausgesprochen worden … Das Schönste ist, daß die antipazifistischen Parteien voll des Hohnes über dieses Resultat der Rüstungsdebatte sind, nachdem sie es doch waren, die alles mögliche und unmögliche getan, um die Frage als unlösbar, sogar als gefährlich hinzustellen und nur der von ihnen geschlagene Lärm an dem nun verspotteten Scheitern die Schuld trägt.“

 

Februar 1908

 

Erbfolgekriege, Religionskriege, Kabinettskriege – die sind, sagt man, abgetan. Jetzt stieg aber ein Neues auf: Eisenbahnkriege. Sandschakbahn, Bagdadbahn – das sollen nun die Zankäpfel werden. Ueber das österreichische Projekt einer Bahnstrecke im Balkan und dem „Gegen“projekt Rußlands erhob sich ein plötzlicher Sturm im Blätterwald. Heilige, „vitale“ Exportinteressen sollen jetzt mit Feuer und Schwert geschützt werden. Die Tarifpolitik wittert Gefahren. Gewiß, nur diese kann für den einen geschädigt werden, wenn der andere auch eine neue Verkehrslinie bekommt. Darum fort mit der ganzen Zollkriegsführung. Eine europäische Zollunion wäre das beste. Und dann, je mehr Verkehrswege bei allen, desto besser für alle. Aber auch ehe es so weit ist: Güter im Wert von einer Milliarde vernichten (die Menschenleben gar nicht gerechnet, ernsten Politikern darf man mit solchen Lappalien gar nicht kommen), wo es sich um den Gewinn von ein paar Tausend handelt, das wäre schon der Gipfel des Unverstandes. Die Regierungen sind aber zum Glück heute schon gescheiter als die Chauvinisten und ihre Presse: auf den ganzen Alarm über die projektierten Bahnen trafen rasch die offiziellen Communiqués ein, daß diese sämtlichen Bahnbauprojekte im vollen Einverständnis der Staaten gemach worden sind. Die Kriegshetzer werden dennoch nicht so bald schweigen; wir werden noch viel von der Sandschakbahn hören.“

 

April 1908

 

So schüren die Militaristen zu Lande, zur See und zur Luft nicht nur die Rüstungen im eigenen Lande, sondern in der ganzen Welt. Rußlands Flotte will man wieder hergestellt sehen, China möge sich armieren, es gibt nichts Internationaleres als die Kriegsinteressengemeinschaft der nationalistischen Parteien.“

 

Mai 1909

 

Was den Wettrüstungswahnsinn betrifft, über den sich die obige Resolution beklagt, so schnellt er in den gegenwärtigen Tagen zu einem Paroxysmus empor, der die Grenze der Steigerungsmöglichkeit bald erreicht haben wird. Der Fürchtenichts-Angstspektakel, der sich zwischen England und Deutschland abspielt, wird an anderer Stelle eingehend behandelt, hier sei nur erwähnt, daß Oesterreich sich auch entschlossen hat, vier Dreadnoughts zu bauen. Es braucht sie nicht für sich – es ist dies nur eine einfache Höflichkeit für den Verbündeten! Unser Flottenverein (denn wir haben uns auch einen solchen angeschafft) erläßt Aufrufe, daß wir „unsere brave Marine nicht auf den Lorbeeren von Helgoland und Lissa verdorren lassen sollen in einer Zeit, da der Abstand zwischen unseren Machtmitteln zur See und denen der anderen Staaten immer bedrohlicher wird“. Also Dreadnoughts her! Jetzt folgt auch Italien, das bisher militärisch sparsamste, das von keinem Feind bedrohte Land, dem allgemeinen Zuge, und enorme neue Kredite werden gefordert für Schlachtschiff- und Festungsbau. Venedig – das jedem Kulturbürger teuere Venedig – soll zu einem Kriegshafen barbarisiert werden. Es ist unerhört! Offene Städte – so besagt eine im Haag getroffene Konvention – dürfen nicht beschossen werden. Venedig aber soll bombardierfähig gemacht werden. Eine erkleckliche Anzahl Millionen wird gefordert. Nun ja, Italien ist ja so reich; sein Volk schwelgt in Ueberfluß …

Uebrigens nicht nur das notorisch arme Italien wird durch diese Rüstungsexzesse dem Ruin entgegentreiben. Sieht man nicht in allen Ländern jetzt das Teuerungsgespenst sich erheben? Und nicht überall die Defizite wachsen und die neuen Steuern drohen? Da wird dann hin und her gestritten und debattiert und berechnet, ob man das notwendige Geld durch verteuerte Nahrungsmittel oder durch erhöhte Verkehrstarife oder sonstwie aufbringen soll, und keiner wagt den Regierungen zuzurufen: „So macht doch vorerst der bodenlosen Vergeudung – die an all dem Defizit schuld ist – ein Ende.““

 

Juli 1909

 

Das ganze richtige Wort, während der ganzen Steuerdebatte, hat der Abgeordnete Singer ausgesprochen, als er sagte, daß, „solange diese Rüstungsausgaben fortdauern, an eine Sanierung des Budgets nicht zu denken ist“. Millionen und Milliarden wirft man hinaus zur Vorbereitung künftiger Kriege, die niemand will, und durch neuerpreßte Milliönchen, mit welchen man den Handel erschwert, den Verkehr drückt, die Lebensgenüsse herabsetzt, die Teuerung erhöht, will man das Uebel kurieren! In Oesterreich spielt sich das gleiche ab; auch da werden neue Steuern ersonnen; und daneben erscheint eine Broschüre, welche für den Ausbau der Flotte zwei Milliarden fordert. Hier möchte ich auf eine verhängnisvolle Lüge aufmerksam machen, die von militärischen Artikelschreibern in das Publikum lanciert wird, um die für die Flottenbewilligungen in jeder Höhe nötige Stimmung zu suggerieren: „Nicht allein die maritimen Erfahrungen aus dem russisch-japanischen Krieg haben das Interesse auf Marinefragen gelenkt, es ist auch ein allgemeiner großer (!) Gedanke breitesten Schichten zum lebendigen Bewußtsein, zu klarer Erkenntnis gedrungen: die Völker haben im Zeitalter vorherrschend wirtschaftlicher Interessen begriffen, daß die Kosten der kriegerischen Bereitschaft nichts anderes bedeuten, als die Versicherungsprämie gegen Verluste von Nationalvermögen.“ - Dieser Satz lügt himmelschreiend. Ist denn Bereitschaft identisch mit Sieg? Ist denn der Gegner nicht auch so versichert? Und verlieren nicht auch die Sieger noch, bei den unberechenbaren Verheerungen des modernen Krieges? Ja, es ist Zeit, daß sich die Völker versichern; aber gegen den Krieg selber und gegen den unausbleiblichen Ruin, dem dessen Vorbereitungen alle Nationen zutreibt. Bereitwillig verbreitet unsere Tagespresse solche Irrtümer, solche Fehlschlüsse wie die oben angeführten; Nachrichten jedoch, welche von Tatsachen aus der Friedensbewegung berichten, werden hartnäckig abgewiesen.“

 

September 1909

 

„… Dazu schreibt die „Vossische Zeitung“: … König Eduard hatte im August 1907 in Wilhelmshöhe seinen kaiserlichen Neffen in der Flottenfrage sondiert und war damit höflich, aber bestimmt abgewiesen worden. Ein Jahr später, also im August 1908, trat dann König Eduard in derselben Angelegenheit an Kaiser Franz Josef heran und holte sich auch von dieser Seite eine empfindliche Absage.“

Und damit brüstet man sich noch!“

 

April 1910

 

Die Rüstungsepidemie – deren Aehnlichkeit mit Phylloxera, Pocken und Cholera erst künftige Geschichtsschreiber hervorheben werden – nimmt täglich an Intensität und Verbreitung zu. Am akutesten ist jetzt gerade die Dreadnought-Form. Frankreich, Italien, Oesterreich und die Türkei arbeiten daran, das Adriatische Meer mit diesen Spielzeugen, wovon jedes mindestens 60 Millionen kostet, zu versehen. Die neueste englische Flottenvorlage von 200 Millionen Pfund wurde bewilligt. In Frankreich waren es nur 200 Millionen Francs. Die „Neue Freie Presse“ brachte neulich eine Tabelle, welche die in den verschiedenen Staaten bewilligten und begonnenen Neubauten von „Dreadnoughts“ und „Invincibles“ anführt. Zum Schlusse heißt es: „Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß die durch England inaugurierte Dreadnought-Politik an sich für die Seemächte eine Gesamtbelastung von sechs Milliarden zur Folge hat.“ Hier ist also zwischen den Zeilen deutlich zu lesen, daß England die Verantwortung für die Wehrbelastung der unschuldigen Kolonialmächte trifft. Darauf muß man immer wieder an die nachstehende Tatsache erinnern. Vor Zusammentritt der ersten Haager Konferenz hat der damalige englische Marineminister, Lord Goschen, im Parlament die Erklärung abgegeben, daß, wenn auf der Konferenz eine Vereinbarung über die Rüstungsfrage zustande kommt, das Marineamt bereit sei, das Projekt des neuen Schiffstyps Dreadnought, von welchem damals das erste Exemplar noch nicht fertig war, zurückzuziehen. Diejenigen, die auf der ersten Konferenz die Vereinbarung ablehnten, die sie auf der zweiten nicht einmal auf das Programm setzen ließen, die sich heute noch dagegen sträuben: die trifft die Verantwortung.“

 

November 1910

 

Der englische Schatzkanzler, Lloyd George, hat wieder einige Reden gehalten über das Problem, das ihm am meisten am Herzen liegt: das Problem der Armut und des Elends. Er ist des Glaubens, daß diese Krankheiten der menschlichen Gesellschaft verschwinden könnten. Hier nur zwei Bruchstücke aus jenen Reden. Im City-Temple (nachdem der Referent ein Gebet gesprochen) führte der Minister aus: das Problem Europas ist die Not. Ueberall schwelgt eine kleine Minderheit in sinnloser Ueppigkeit, und die arbeitende Menge hungert. Dieser Zustand ist jedem gerecht denkenden, sittlich fühlenden Menschen unerträglich und muß geändert werden. Die Kriegsrüstungen der zivilisierten Welt kosten nicht bloß jährlich fünfhundert Millionen Pfund, sondern sie entziehen ihm auch noch die Kraft der besten Gehirne und der wirksamsten Arbeit. England würde durch Abrüstung jährlich siebzig Millionen Pfund ersparen … usw. - Und an anderer Stelle: „- - - Ich könnte Ihnen noch viel mehr erzählen, um zu zeigen, daß eine ungeheure Volksmasse hier in diesem reichsten Lande ein Leben der Armut führt, das an der Grenze der Not und der Verzweiflung dahinschwankt. Dieser Zustand beschränkt sich nicht auf England – im Gegenteil: die hohen Lebensmittelpreise, verursacht durch die Besteuerung aller Lebensnotwendigkeiten, machen die Dinge in den Ländern des europäischen Kontinents noch schlimmer! Ich möchte nun ein paar Fingerzeige geben, wie die Sozialreform der Verschwendung Halt gebieten könnte, durch die die Lebenserhaltung des größten Teils der Bevölkerung herabgedrückt wird. Nehmen Sie nur das, was für Rüstungen verausgabt wird. Die „zivilisierten“ Länder der Erde geben jährlich rund zehn Milliarden für Kriegszwecke aus. Gewiß müssen auch wir, solange die anderen Mächte rüsten, unsere Weltstellung um jeden Preis verteidigen. Erst die Rüstungseinschränkung auf Grund einer internationalen Verständigung kann uns Sicherheit geben, weil sie sowohl uns als den fremden Staaten die Macht nimmt, Unrecht zu tun. Meine Absicht ist nur, zu zeigen, welche ungeheuerliche Verschwendung diese Ausgaben bedeuten, durch die sich die Menschheit auf eine allgemeine Schlächterei vorbereitet.“ Er sagt doch ungeheuerliche Dinge, dieser Staatsmann! „Uns die Macht nimmt, Unrecht zu tun.“ Können wir denn jemals Unrecht tun oder Unrecht haben? Das patriotische Dogma zu erschüttern, daß wir allezeit im Rechte sind! Und die kluge Versicherungsprämie gegen den Krieg, für die alle Mächte ihre Rüstungen ausgegeben, „Vorbereitung auf allgemeine Schlächterei“ nennen! Das ist doch gegen alles Herkommen.“

 

November 1911

 

Man ist ja auch so sehr um die berühmten „Handelsinteressen“ und Absatzgebiete besorgt, daß man – damit ein paar Fabrikanten etwas profitieren – bereit ist, Seekriege zu führen. Es ist daher interessant, die Kosten einer modernen Seeschlacht, wie sie von einer technischen Fachrevue berechnet worden sind, mit den zu erkämpfenden „Handelsinteressen“ zu vergleichen. Vierzehnzöllige Kanonenfeuern Geschoße ab, die 3000 Fr. kosten und geben zwei oder drei Schüsse in der Minute. Nun denke man sich zwei Eskadres, die durch fünf Stunden kämpfen; welche Ziffer ergibt sich da, allein für verschossene Munition, ohne noch die vernichteten Schiffe zu zählen? Die Revue kommt zu dem Resultat, daß der fünfstündige Kampf an Munition 150 Millionen Fr. kosten würde. Ich kann es nicht nachrechnen, denn in dem mir vorliegenden Bericht fehlt die Zahl der Schiffe. Ein Seeoffizier wird da Auskunft geben können. Jedenfalls ist aber von allen Kriegsvorwänden pekuniärer Gewinn der dümmste; denn der moderne Krieg kostet beiden Parteien viel tausendmal mehr, als die eine oder die andere dabei erlangen kann.“

 

Dezember 1911

 

So heftig auch die imperialistisch-italienische Presse drängte, die Flottenaktion in die europäisch-türkischen Meere zu tragen, so hochmütig sie erklärte, man würde den Krieg nur nach den eigenen Interessen und nach den strategischen Notwendigkeiten fortführen, ohne sich von irgendjemand etwas dreinreden zu lassen – so hat Italien doch nachgegeben und erklärt, es wolle „vorläufig“ auf die Blockade verzichten. - Ich falle auch in die allgemeine Gewohnheit und sage „Italien“ statt italienische Regierung oder Kriegsleitung. Was kann denn das ganze Land, was das ganze Volk für alle diese Maßnahmen? Lassen wir das schöne Land, das wir bewundern, das edle Volk, das wir lieben, aus dem Spiele, wenn wir von den Torheiten und den Verruchtheiten reden, die auf dem Gebiete des Krieges von den Kriegsmachern des Landes ausgeführt werden. Der Massenrausch, das Massenfieber, oder nennen wir es nur beim Namen: der Massenwahnsinn, der sich zur Kriegszeit der Völker bemächtigt, der erfaßt wohl noch – mit atavistischer Gewalt – die Mehrzahl, aber nicht die Gesamtheit. Wenn sich einzelne erheben und rufen „Nieder mit dem Krieg“, so werden sie von den Fanatikern mit Lynchjustiz bedroht. Tausende mögen wohl im Stillen dasselbe rufen; wir wissen aber auch von vielen, die es auch laut zu sagen wagen. Im Stadtrat von Rom und Mailand – vor feindseligen und erbitterten Zuhörern – sprach Della Seta – zuerst leise dann mit zu immer größerer Kraft anschwellender Stimme: Man glaube nicht, daß die Sozialisten ohne Schmerz der Soldaten gedenken, die ihr junges Leben auf dem Schlachtfeld lassen; man glaube nicht, daß sie den Familien den Beistand weigern wollen. Die Ablehnung gilt dem Kriege als solchen, in dem sie ein Unheil für das Land und einen Hemmschuh für die Kultur sehen. - Bonerdi und Montemartini sprechen im selben Sinne. Montemartini bekleidet als Generaldirektor des statistischen Amtes eine hohe Amtsstellung. Von den Studenten wurde gegen Montemartini und Della Seta eine Radaudemonstration veranstaltet. Alle Leute, die auf der Straße gegen den Krieg sprechen, werden arretiert; in Mailand wollte eine Witwe zur Sammlung für die Opfer des Krieges eine kleine Summe spenden, die sie unter dem Motto: „Von einer, die den Krieg mißbilligt“ einsandte. Die Spende wurde wegen des Mottos als unannehmbar zurückgewiesen. Intoleranz gehört eben zu den von nationalistischer und chauvinistischer Leidenschaft ausgelösten Erscheinungen. Ueberhaupt erinnert das ganze Verhalten des Straßenpublikums und der „wohlgesinnten“ Presse Italiens jetzt an den seinerzeitigen Anti-Dreyfuß-Taumel in Paris. Dort mußte man auch „Vive l‘armée“ sagen oder es hieß à l‘eau! à l‘eau!“ Und auch diese Analogie zeigte sich. Allen jenen, die im In- und Ausland für den unschuldig Verurteilten Partei nahmen, wurde nachgesagt, sie seien von einem jüdischen Konsortium gezahlt , - und jetzt heißt es in der italienischen Presse, daß alle ausländischen Blätter, die das tripolitanische Unternehmen mißbilligen, oder die unvorteilhaften Berichte von Kriegskorrespondenten veröffentlichen – von der Türkei gezahlt seien und werden dabei natürlich auch „Judenblätter“ genannt. Es ist überall die gleiche Methode.“

 

April 1912

 

Der Babelturmbau der Rüstungen wird in immer fieberhafterem Eifer fortgeführt. Wehrvorlagen, Heeresvermehrungen überall. Dreadnoughts über Dreadnoughts, Waffenbestellungen über Waffenbestellungen; als Antwort auf die deutschen Heeresverstärkungen drohen die Franzosen mit Einstellung schwarzer Truppen; was aber den höchsten Paroxysmus dieses ganzen Wahnsinns darstellt, das ist die wild-patriotische Begeisterung mit der allenthalben die Herstellung der Luftflotten betrieben wird. Die Millionen – aus dem Volkssäckel – strömen nur so zu. Und das ist doch erst der Anfang, der allererste Anfang. „Corriere della Sera“ beschreibt einen neuerlichen Erfolg von aus den Lüften geschleuderten Bomben auf Araberzelte, und fügte hinzu: „Die einzige Ehre Italiens wird es bleiben, daß es zuerst diese neue Waffe benutzt hat, die bestimmt ist, in künftigen Kriegen eine so große Rolle zu spielen.“ - Ehre? wirklich - „Ehre“ nennen sie das? Die Entwicklung dieser „fünften Waffe“ soll in diesen Blättern genau registriert werden. Wenn sie zur höchsten Vollkommenheit gelangt, so müßte sie die übrigen vier vernichten. Das scheint man gar nicht zu bedenken. Was soll denn der Zweck der Schiffsflotten noch sein, wenn sie von oben herab in Brand gesetzt werden können? Und welche Landtruppen können noch auf Straßen marschieren, in Lagern rasten, auf Eisenbahnen transportiert werden, wenn Straßen und Zelte und Bahnen unausgesetzt einer solchen nicht abzuwehrenden Zerstörung ausgesetzt sind … Diese Fragen sind der Zukunft vorbehalten. Die Gegenwart gehört der Ausarbeitung und Vorbereitung der neuen Morderrungenschaft und davon wollen wir die fortlaufenden Phasen getreulich registrieren.Also denn: Die öffentliche Sammlung in Frankreich für den Bau von Kriegsaeroplanen hält jetzt bei drei Millionen. In Deutschland haben die Sammlungen gleichfalls begonnen. Prinz Heinrich äußerte bei einem Festmahl: eine Luftflotte tue uns bitter not, und er hoffe, daß die patriotische Bevölkerung die nötigen Summen gern herbeischaffen werde. Die Türkei bestellt Aeroplane für ihre Armee ...“

 

Ende März wurde in Triest ein neuer Dreadnought vom Stapel gelassen. Glanzvolle Feste, Straßenjubel, Anwesenheit von Erzherzögen, Ministern, Parlamentariern, Geistlichkeit. In einem dieser „stolzen“ Feier gewidmeten Leitartikel schreibt die „Neue Freie Presse“ u.a.: „Die Dreadnoughts mit ihren gepanzerten Drehtürmen, mit ihren Geschützen, die zentnerschwere Geschosse zehn Kilometer weit schleudern, die schnellfeuernden Kanonen, die Arbeit der kleinen zierlichen Magazingeschütze, und dorten in den Lüften, so weit entfernt, daß die Geschosse von unten nicht treffen können, kreisen die Motorballons und Flugmaschinen, gelenkt von mutigen Piloten, die Tod und Verderben herunterwerfen auf die Schlachtschiffe, von denen jedes ein Stück unseres Nationalvermögens bildet. Dreadnoughts, Wassertorpedos und Lufttorpedos, das Brüllen und Krachen der Geschütze, alles das zusammen muß jede Vorstellung der Hölle übertreffen. Aber die österreichisch-ungarische Monarchie muß diesen Weg gehen - -“ Wirklich, den Weg zur Hölle muß man gehen? Und noch dazu unter Pomp und Glanz, unter Freudenjubel und Segenssprüchen? Warum muß man? Die Antwort liegt bereit: weil die anderen diesen Weg gehen. Und warum gehen ihn die anderen? Die müssen eben auch, weil die anderen - - Nein wahrlich, über solche Schildbürgerei werden unsere späteren Nachkommen hell auflachen. Wir indessen können nur weinen.“

 

Januar 1913

 

Nicht nur nicht voller Geigen, sondern voller Damoklesschwerter hängt der Himmel. Und das nennen die Leute „Frieden“, den sie mittels Gleichtgewichtbalancierungen, Drohungen, Bluffs und dergleichen Methoden zu erhalten sich bemühen. Die Haare, an denen jede Schwerter über den Häuptern der armen Völker baumeln, ändern mit jedem Tag ihren Namen. Heute heißen sie Adrianopel und Silistria. Wie werden sie morgen heißen? Etwas Gutes hat diese hohe Politik. Sie verschafft uns sehr genaue geographische Kenntnisse. Wer hätte vor Jahresfrist noch sagen können, ob „Durazzo“ der Name eines Briganten, eines Tenors oder eines Berges sei? Heute weiß jedes Kind in Oesterreich, daß es ein Adriahafen ist, dessen Verbleiben in serbischen Händen nicht zu dulden sei, koste es auch einen Weltbrand.“

 

März 1913

 

Der europäische Ueberrüstungswahnsinn hat einen neuen Unfall – man könnte es schon Paroxysmus nennen – bekommen, auf den niemand gefaßt sein konnte. Mitten in einer Zeit, wo die ganze europäische Diplomatie angeblich damit beschäftigt ist, Schwierigkeiten und Streitfragen zu schlichten, wo es überall zwischen den Mächtegruppen „Entspannungen“, Annäherungen und dergleichen gibt; wo durch die so hoch gestiegenen Lasten der Militärausgaben und die gleichzeitig steigenden Steuern, Zölle und Lebensmittelpreise die Völker an den Rand der Verzweiflung gebracht werden, mitten in diese Friedenssehnsucht und Friedensnotwendigkeit nebst offizieller Friedensbeteuerung platzt plötzlich in Deutschland eine neue Milliardenforderung für Heeresverstärkung aus, die in Frankreich augenblicklich mit dem Antrag auf Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit beantwortet wird. Beiderseitig zur Sicherung des Friedens natürlich. Sie werden nicht müde, diese Lügenphrase des „si vis pacem“ zu wiederholen. Nicht, daß sie den Krieg wollen, aber die Machtstellung wollen sie. Die deutsche Vorlage war zwar auch eine Antwort. Nämlich auf jenen Pariser Zapfenstreichlärm, der in letzter Zeit alle nationalistisch-chauvinistischen Elemente aufgerüttelt und zu neuen „à Berlin“-Rufen ermutigt hat. Vielleicht war aber auch dieser Lärm eine Antwort, und zwar auf die Agadirgeste. Und so lassen sich diese gegenseitigen Drohungen in einer rückwärtsliegenden Kette durch unendlich viele Glieder zurückverfolgen; soll diese Kette denn auch endlos in die Zukunft verlängert werden? Das geht einfach nicht. Ein gewaltsames Ende muß da kommen. Entweder Krieg oder Revolution oder – was auch denkbar ist – ein Erwachen der Vernunft. Ein Fallen der Schuppen von den Augen …“

 

Mai 1913

 

Blicken wir einmal in das andere Lager. Nämlich derer, die den Krieg lieben, die ihn herbeisehnen, die ihn gegen die Angriffe des Pazifismus glühend verteidigen. Auch Idealisten in ihrer Art. An solche wendet sich Norman Angell vergebens – denn was frommt der Beweis, daß dabei kein Profit ist. Darüber sind sie erhaben, sie wollen gar nichts gewinnen durch den Krieg, sie beten ihn einfach an, sein Bild (nicht seine Wirklichkeit – die erfassen sie nicht) füllt sie mit Wonne. Hier als Beispiel ein Gedicht aus der Danzerschen Armeezeitung. Der Herausgeber findet es genial. Daß es als Gedicht schön und talentvoll ist, das finde ich auch.

 

Lied ans Maschinengewehr.

 

Hast tausend Kugeln in deinem Leib

Und Pulver viele Pfund.

Heil dir, du eisenschwag‘res Weib,

Jetzt schlägt die erlösende Stund‘.

Gib deine Kinder her!

Du treu‘ Maschinengewehr!

Spei‘ wie eine Kröte

Dein zischend Gift!

Und wen‘s trifft,

Den töte!

 

Und wer dir dient, muß niederknien

Als wie vor Gottes Thron.

Ins Feld trag‘ ich am Arm dich hin,

Als wärst mein lieber Sohn.

Du bist mir nicht zu schwer,

Du treu‘ Maschinengewehr!

Ich spiel‘ auf deiner Flöte

Ein Lied, das pfeift und gellt.

Und wem‘s nicht gefällt,

Den töte!

 

Ihr klugen Pferdchen, flink getrabt!

Mit euren schlanken Hufen.

Wir haben lange Fried‘ gehabt,

Der Kaiser hat gerufen!

Vorwärts zu Sieg und Ehr‘,

Du treu‘ Maschinengewehr!

Ich knie‘ bei dir und bete:

Gott schütze Oesterreich!

Und wer‘s bedroht mit Schelmenstreich,

Den töte!“

 

Frömmigkeit klingt in dem Liede auch an. Doch daß diese Dauer- und Wonnetöter gar so gern denjenigen anrufen, von dem sie doch glauben, daß er sagte: Du sollst nicht töten.“

 

Die genannte Armeezeitung lese ich übrigens mit Eifer. Es ist für uns Pazifisten so interessant und nützlich, zu wissen, was die Kriegerischen sagen, wenn sie unter sich sind, und zu erfahren, was sie denken, fühlen und planen. Hier der Anfang eines Leitartikels (13. März).

Die Aussichten unseres nächsten Krieges.

Der Friede ist wieder einmal gerettet. Wir demobilisieren. Die Kurse steigen und der Tanz um das goldene Kalb kann wieder lustig anheben. Niemand aber zweifelt, daß der jetzt bejubelte Friede zu den kostspieligsten Errungenschaften gehören wird. Die Gegensätze, die sich seit dem Oktober des vergangenen Jahres aufgetürmt haben, bestehen ungeschwächt weiter und nur zu bald wird – so Gott will – für uns Soldaten die jetzt zum zweitenmal versäumte Gelegenheit (1908, 1913) wiederkehren. Lassen wir alle Sentimentalitäten und getäuschten Hoffnungen beiseite und bereiten wir uns zielbewußt für die dritte Gelegenheit vor.“

Ist das nicht eine Mahnung für die Friedenspartei, zielbewußt dafür zu arbeiten, daß die 1908 und 1913 glücklich überstandenen Gefahren sich nicht wiederholen können? An einer anderen Stelle leistet sich das Blatt folgende sozialphilosophische Betrachtung: „Ein langer Friede ist eine große Gefahr für den modernen Fortschritt, für Propaganda großer Gesichtspunkte; hingegen treten Nörgeleien, beengte einseitige Auffassung, Voreingenommenheit, ja Idiosynkratie wieder in ihr volles Recht.“ Gewiß, inmitten von platzenden Granaten, brennenden Dörfern und dergleichen ist kein Raum für Nörgeleien, und gegenüber von meilenweiten Leichenfeldern und 25,000 Cholerafällen schwindet die beengte einseitige Auffassung; und dann, wenn man seine Zeit nur mit Kunst, Wissenschaft, Reisen, Handel, Arbeit ausfüllt, statt mit Bohren des Bajonetts in fremde Eingeweide – wo bleibt da der „moderne Fortschritt?““

 

Oktober 1913

 

Unser gemeinsamer Ministerrat in Oesterreich hat uns nun auch eine Heeresverstärkung im Preise von nahezu einer Milliarde beschert …

Statt der geforderten 40,000 Mann neuer Rekruten begnügt man sich schonend mit 31,300 Mann, und für die Zahlung der nötigen Summen (nahezu eine Milliarde) wird eine Verlangsamung der Fristen gewährt. So ist der schöne Einklang erreicht. Bis endlich die Saiten reißen. Die beiden „begreiflichen Bestrebungen“ können nicht fortwährend befriedigt werden, denn die finanzielle Leistungskraft (vielleicht auch die Lammesgeduld) der Steuerzahler hat Grenzen; die militärische Mehrforderungskraft hat keine.“

 

November 1913

 

Unterdessen wird aber allenthalben mit dem fieberhaften Eifer und unter größten Opfern in einer Weise gearbeitet und vorbereitet („bereit sein ist alles!“), nicht, als wollte man den Brand verhüten, sondern als müsse man ihn gewärtigen und so verheerend wie möglich gestalten. Geld, Geld, Geld muß her! Und an allen Ecken und Enden Schatzscheinemissionen, Steuererzwingungen, Zollerhöhungen, und vor allem: Schulden, Schulden, Schulden! Der nationalökonomische Grundsatz, daß Reichtum nur durch Arbeit, durch Gütererzeugung geschaffen werden kann, daß aber alles erpreßte, aus einer Tasche in die andere eskamortierte, und namentlich alles geborgte Geld nicht reicher, sondern nur ärmer macht, dieser Grundsatz wird ganz vergessen, und die Staaten verschaffen sich munter drauf los Millionen und Milliarden zu dem Zwecke – einer staune -, Güter zerstören zu können. Und dies, obwohl rings – eben als Folge dieser kriegerischen Politik – die Kurse fallen, die Geschäfte stocken, die Arbeitslosigkeit überhand nimmt. Alles dies klingt verzweifelt, aber es läßt sich hoffen, daß der Exzeß dieser Mißlage eben zum Entschlusse führen wird, ihr abzuhelfen. Denn es handelt sich dabei nicht um einen unabwendbaren Verlauf von Naturgewalten, sondern um eine willkürlich eingeschlagene Richtung, die zu verlassen den meisten unmöglich scheint, was jedoch auf Irrtum beruht. Denn der Ausweg ist leicht einzuschlagen, er heißt: Verständigung.

Was Winston Churchill angeboten hat: Ein Uebereinkommen zu einem Pausejahr im Schlachtschiffbau, ist ein Schrittchen in dieser Richtung. Auf dem europäischen Festland hat dieser Ruf kein günstiges Echo geweckt. Auch nicht in ganz England. Die navy-league hat lebhaft protestiert und sogar die Gelegenheit benützt, um statt zwei – sechs neue Dreadnoughts zu fordern. Einzig im amerikanischen Repräsentantenhaus wurde am 31. Oktober von Hensley (Missouri) eine Resolution eingebracht, in welcher die Zustimmung zu einer Abrüstung im Umfange des Churchillschen Vorschlages verlangt wird. Der Sprecher sagte, er hege den Wunsch, daß die Resolution angenommen werde. Er fügte hinzu, daß Deutschland als Popanz benutzt worden ist, um bei den letzten Marinedebatten die Amerikaner zu schrecken. Ach ja, wir kennen dieses Spiel mit dem kreditbewilligungsfördernden Popanz. Bei uns heißt er der Ruß‘, der Serb‘; in Deutschland der Franzos‘; in Italien der Austriaco; in Frankreich Le Teuton; in England German; kurz, es hat dieser „Abgeordnetenschreck“ noch mehr verschiedene Gesichter, als das in den steirischen Bergen hausende, Bauernschreck genannte, Untier.“

 

Dezember 1913

 

Die Auflehnung gegen die Rüstungen dringt schon an Stellen, wo man sonst nicht gewohnt war, sie zu finden. In ihrem Leitartikel vom 4. Dezember bespricht die „Neue Freie Presse“ den Sturz des Ministeriums Barthou, das wegen der Rentenfrage, also wegen eines finanziellen Tiefstandes des sonst so übermütig reichen Frankreichs erfolgt ist. In dem Leitartikel wird dieses Ergebnis der allgemeinen Rüstungspolitik zugeschrieben, „die das Mark der Völker aussaugt, die zur wirtschaftlichen Arbeit nötigen Säfte verbraucht, den Mangel an Kapital hervorruft, die Lebensverhältnisse verschlechtert und Not über die Erde verbreitet.“ Und weiter: „Es scheint, daß die Fluten bis zu jenem Strich am Pegel gestiegen sind, wo ein Zerreißen der schützenden Dämme droht, und die Besorgnis aufblitzt, ob die Rüstungen nicht mit Verwüstungen enden werden.“ Erst jetzt blitzt diese Besorgnis auf, fünfzehn Jahre nach Johann von Blochs dröhnendem Alarmruf? Und weiter: „Die Rüstungspolitik ist überall vor einer sich auftürmenden Mauer angelangt. Die Völker werden durch die Verdrängnis der Versuchung zugänglich, sich entweder gegen die Kriegsminister aufzulehnen, oder verzweifelt durch Blut und Eisen aus dem jetzigen Wirrsal herauszustürzen.“ Zum Glück führen noch andere Wege aus dem Wirrsal hinaus: nämlich Vernunft und edler Wille.“

 

April 1914

 

„… fünfzehn Jahre sind seither vergangen. Die Rüstungen haben sich seither verdreifacht – oder, ich weiß nicht, verzehnfacht – und noch geht es in immer rasenderem Tempo weiter.“

 

Das Volk protestiert

 

April 1898

 

In Italien sind Aufstände ausgebrochen. Der Name des dortigen Insurgentenführers, ein gar böser Hetzer, ist – Hunger. Die Regierung versucht, ihn mit Kolbenschlägen zur Ruhe zu bringen. „Pazifizieren“ heißt das in der offiziellen Sprache. Nun, mit den Hungrigen könnte man allenfalls fertig werden, denn die haben ja an sich nicht viel Muskelkraft und nicht viel geistige Energie und nicht viel gesellschaftlichen Einfluß. Aber heutzutage ist neben den Hungernden eine ganze Schar von Gesättigten erstanden, die nicht hungern sehen wollen, und die halten zu den armen Aufwieglern. Leute, die um 70 bis 100 Centesimi 10 Stunden lang in den Reissümpfen stehen, sich von Blutegeln aussaugen lassen müssen, die machen Strike! Unerhört. Dann werden sie eingesperrt. Das geschieht in Bologna. Ein Seitenstück zu den Schwefelgrubenarbeitern in Sizilien. In der römischen Campagna mahlen sich die Leute, wie zu Homers Zeiten, das Maismehl mit der Hand und haben nicht einmal Geld, sich Salz zu kaufen. - Und da ging man nach Afrika auf Kolonialabenteuer; wäre vielleicht noch einmal hingegangen, wenn das Volk nicht so verzweifelt gegen Neueinschiffungen protestiert hätte. - Die jetzigen Aufstände der hungrigen Bauern in Italien und der Versuch der italienischen Regierung, durch Einsperren und Erschießen zu kalmieren, sowie die eingeleiteten Verfolgungen der Publizisten – voran Malatesta – die sich um die Beklagenswerten annehmen, alles dies wird neuerdings zu einer großen internationalen Aktion Anlaß geben, welche zeigen wird, daß die gleichen Interessen, die gleichen Weltanschauungen über alle Grenzen hinweg solidarisch sind, und dadurch entsteht eine Macht, die es fürderhin den Regierungen unmöglich machen wird, im eigenen Lande unbehelligt gewalttätig zu sein.“

 

Mai 1898

 

„… Es ist doch sonderbar: durch die ewig wachsenden Militärausgaben gerät das Volk in solches Elend, daß es endlich – im Hungerfieber – zur Revolte schreitet; aber nach wie vor schickt dieses selbe Volk Männer ins Parlament, die alle erhöhten Militärbudgets und erhöhten Steuern bewilligen, statt solche, die an der Herbeiführung von Zuständen arbeiteten, durch die das ewige Rüsten unnütz würde.“

 

April 1911

 

In Wien haben die Arbeiterinnen eine Riesendemonstration zugunsten des Frauenstimmrechts veranstaltet. Zu Tausenden, aber in größter Ordnung und Ruhe, zogen sie durch die Straßen. Im Gartenbausaal wurden Reden gehalten. Adelheid Popp sagte u.a.: „… Wir wollen aber auch dagegen kämpfen, daß Millionen verschwendet werden, für Mordzwecke und Bruderkrieg. Wir wollen, daß die Mordrüstungen ihr Ende nehmen und diese Millionen verwendet werden für die Bedürfnisse des Volkes!“ - Feminine Politik? Nein: humane Politik. Und daß die Zeit im Anzuge ist, in der das Wohl der Menschheit als oberste politische Richtschnur gelten werden, davon ist die beginnende Mithilfe der einen, bisher entrechteten Menschheitshälfte nur eines der Symptome.“

 

November 1911

 

Die Teuerung. Alle Lebensmittel steigen im Preise, das Fleisch, die Milch, die Wohnungen werden unerschwinglich für die armen Klassen, und schon entstehen Teuerungsrevolten. Von der Teuerung zur Hungersnot ist nur ein Schritt, und wenn es erst zu Hungerrevolten kommt … Ueber die Erscheinung der Preissteigerungen wird sehr viel debattiert, projektiert und studiert; aber nur die wenigsten nennen die Wurzel des Uebels: die stets steigenden unproduktiven Ausgaben für Zerstörungszwecke. Daneben sind freilich auch die Zölle, die Grenzsperrungen, die wachsenden Steuern schuld – aber diese sind ja auch nur verschiedene Formen desselben Systems. In der kostspieligen Großmachtstellung des Staates können die Leute nicht wohnen, und vom Pulver B. können sie sich nicht nähren.“

 

Was kommen müßte, wenn einst der große „Zukunftskrieg“ ausbräche, das hat Johann Bloch schon vorhergesagt. Nämlich vollständiger wirtschaftlicher Zusammenbruch und Anarchie. Was schon jetzt – im gegenwärtigen Zustand – da ist, nämlich steigende Not, revolutionäre Ansätze, Krieg – das zeigt die Unhaltbarkeit dieses Zustandes: der bewaffnete Friede ist bankerott.“

 

Weiterführendes zum 1. Weltkrieg

 

Wer sich näher für den 1. Weltkrieg interessiert: der Wurm hat dazu und zu seiner Vorgeschichte mehrere Beiträge geschrieben:

Bertha von Suttner: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/101-die-waffen-nieder.html

Der Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/359-der-kampf-um-die-vermeidung-des-weltkrieges.html

Jean Jaurès: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/108-humanitaet.html

Ernst Jünger und die deutsche Gesellschaft vor, während und nach dem Krieg: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/319-das-auge-des-kriegers.html

Kriegsbeginn und Kriegsziele: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/109-platz-an-der-sonne.html

Deutscher Drang nach Osten: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/110-go-east.html

Russische Revolution: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/304-erschuetterung-der-welt.html

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm