König der Romantik

Rudolf Köpke in seiner Biographie aus dem Jahr 1855:

„Den Dichterischen war er zu kritisch, den Kritischen zu dichterisch, den Protestanten zu katholisch, den Katholiken zu protestantisch, den Aufgeklärten seiner Jugend zu religiös, den Frommen seines Alters zu aufgeklärt, den Liberalen galt er für servil, den Legitimen für einen Oppositionsmann.“

Die Rede ist von Ludwig Tieck, der vor 250 Jahren geboren wurde, sein Ding gemacht und für seine Kunst gelebt hat.

Für die meisten, die ihn kennen, steht er auf dem Sockel. Das ist gut und schön – das Interessante an ihm sind jedoch völlig durchgeknallte Stücke wie „Der gestiefelte Kater“ oder „Des Lebens Überfluß“ oder einzelne solcher Passagen, die in jedem seiner Stücke vorkommen können.

Verblüffenderweise schildert Ludwig Tieck Zustände, die heutzutage sehr aktuell sind. Besonders in den „Schildbürgern“ oder im „empfindsamen Ulrich“.

Oft ist es ein Vergnügen, ihn zu lesen; auf jeden Fall lohnt es, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

 

Romantik

 

„Der Begriff meinte ursprünglich, dass Etwas wunderbar, abenteuerlich, erfunden sowie fantastisch war und geht auf die altfranzösischen Wörter romanz, roman und romant zurück, die allesamt Werke und Schriften bezeichnen, die in der Sprache des Volkes verfasst wurden. Ist ein Text romantisch, dann ist er sinnlich, abenteuerlich, schaurig, fantastisch und wunderbar, gibt sich der Natur hin, überwindet die Grenzen des Verstandes und stellt das Unterbewusste sowie Traumhafte in den absoluten Vordergrund.

Das Nomen Romantik verwendete als Erster Novalis, ein deutscher Schriftsteller und auch Philosoph der Frühromantik. Novalis bezeichnete mit dem Begriff eigentlich die Lehre vom Roman und nutzte das Wort nicht in erster Linie zur Bezeichnung der gesamten Epoche, wie er heutzutage gebraucht wird.

Der Roman leitet sich, wie auch die Epoche, vom gleichen Begriff ab: nämlich von der lingua romana. Diese bezeichnet eben nicht die lateinische Sprache, die lingua latina genannt wurde, sondern meint die romanischen Sprachen, wie beispielsweise Französisch oder Spanisch. Wesentlich ist hierbei, dass die Romantiker sich vor allem mit der Geschichte und Sprache ihres eigenen Volkes befassten und von der Antike abwandten, weshalb Märchen, Sagen sowie Mythen populäre Textsorten waren, aber natürlich auch der Roman als volkssprachliche literarische Gattung durchaus positiv bewertet wurde.

Die Gattungsbezeichnung wurde allerdings erst im Nachhinein geprägt. Noch Heinrich Heine – welcher selbst als letzter Dichter der Romantik gilt – fasste die Epochen der Weimarer Klassik und der Romantik als sogenannte Kunstperiode zusammen und verwies darauf, dass sich mit Goethe und dessen Anhängern eine neue Vorstellung von Kunst anbahnte, die sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte.“

 

„Merkmale der Romantik im Überblick

Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt allgemein als wissenschaftlich sowie aufstrebend, was hier vor allem durch die beginnende Industrialisierung deutlich wird. Die Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Immer mehr Rätsel und Mythen konnten wissenschaftlich erklärt und naturwissenschaftlich begründet werden.

Diese Entwicklung war den Romantikern zuwider. Sie stellten sich gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. Im Vordergrund stand folglich der Wunsch nach dem Geheimnisvollen und einer mythischen Welt, die das Träumerische und Unerklärliche beinhaltete. Demzufolge waren sämtliche Themen, die unerklärlich und wunderbar waren, besonders reizvoll, weshalb in der Romantik auch die wilde und ungebändigte Natur als wesentlich galt.

Als wesentliches Merkmal der Epoche gilt also die Abwendung von der kapitalistischen und gewinnorientierten Arbeitswelt, die den Menschen vor allem aufgrund seiner Nützlichkeit bewertete. Dabei wandten sich die Romantiker gegen das Etablierte, das Großbürgertum und Vernünftige, wobei vor allem die Spießbürger verspottet wurden, die als kleinlich und engstirnig galten. Dieses Merkmal ähnelt grundsätzlich dem Sturm und Drang.

Die Romantiker priesen folglich das Mythische und Märchenhafte und lobten deshalb vor allem das Mittelalter als ideales Zeitalter der Geschichte, da in dieser Zeit alle Menschen im mythischen christlichen Glauben vereint wurden und darüber hinaus das germanische Kulturgut präsent war, das das Leben durch den Mythos und Sagen – aber eben nicht durch die Wissenschaft und den Fortschritt – begründete. Das Traumhafte, die Fantasie sowie die dunklen Bereiche der Seele galten demzufolge als unerschöpflich und unermesslich.

Aus diesem Grund können einige der wesentlichen Ansichten der Romantiker aber auch als rückwärtsgewandt gelten: immerhin wendeten sie sich von der Gegenwart ab und priesen das Zurückliegende, das nicht alles begründete, sondern sich durch Märchen, Mythen, Legenden und Sagen erklärte. Somit war die Romantik in ihren Grundsätzen einerseits fortschrittlich, weil sie die allgegenwärtige Industrialisierung sowie das Streben nach Verwertbarkeit und Nützlichkeit hinterfragte, kann aber andererseits auch rückschrittlich erscheinen, da das Mittelalter als ideale Zeit und die mythische Religion gefeiert wurde.

Folglich begeisterte man sich für sämtliche Erscheinungen des eigenen Volksguts, wie etwa Märchen (bspw. Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm) und Volkslieder (bspw. die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn von Clemens Brentano und Achim von Arnim) oder eben Sagen und Legenden aus dem eigenen Kulturkreis. In Deutschland schlug diese Begeisterung im Laufe der Zeit teils in einen aufgeladenen nationalen Vaterlandkult um.

Das Dunkle der Seele, Mystische sowie Unergründbare galt den Romantikern hierbei als unerschöpflich, wohingegen die Wirklichkeit als begrenzt wahrgenommen wurde. Dieses Unerschöpfliche benannten die Romantiker mit dem Begriff Poesie. Diese sogenannte Universalpoesie sollte die Grenzen der Gattungen verschmelzen: Ziel war es, Philosophie, Poesie, Genialität, Prosa und Kritik miteinander zu verbinden. Die Universalpoesie galt als eine unerschöpfliche Kraft, die in jener Zeit nur noch in wenigen Dingen ihren Ausdruck fand (bspw. in der Liebe und in Kindern) und von aufklärerischen und modernen Ideen verdrängt wurde, wobei sie im Mittelalter – so die Romantiker – noch allgegenwärtig war.

Exkurs: Der Begriff Universalpoesie, wie er von Novalis und Schlegel entwickelt wurde, meinte hierbei stets die Verbindung der literarischen Gattungen (Lyrik, Epik, Dramatik) sowie die Verbindung dieser Gattungen mit Philosophie, Kritik und Rhetorik und demnach die Verbindung aus Kunst und Wissenschaft. Eine solche Universalpoesie sollte sämtliche Sinne ansprechen und so versuchen, Traum und Wirklichkeit, Poesie und das wahre Leben miteinander in Wechselbezug zu bringen. Die Dichtung selbst wurde vor allem mit dem Begriff der Kunstpoesie bezeichnet: diese sollte die Welt der Poesie für den Leser zugänglich machen, weshalb der Dichter selbst als eine Art Priester ebendieser Kraft galt, der sie durch die Dichtung vermitteln konnte. Die Poesie des Volkes wurde als Naturpoesie bezeichnet.

Die romantische Poesie wurde von Friedrich Schlegel als eine progressive Universalpoesie beschrieben. Progressiv bedeutet, dass etwas fortschrittlich ist, sich immerzu erweitert und niemals abgeschlossen ist. Die Poesie der Romantik war also häufig unvollendet, weshalb das Fragment eine wichtige literarische Gattung darstellte, die eben die Poesie (Text in Versen), die Genialität (der Künstler selbst), die Kritik (das Publikum) sowie Prosa (Sprache des Alltags) und Philosophie und Wissenschaft miteinander verbinden sollte.

Als Ausdrucksform, die ebendiese Forderungen erfüllen konnte, die Einheit von Lyrischem, Dramatischem und Epischem zu schaffen, galt die Lyrik, wobei auch der Roman als wichtige Gattung wahrgenommen wurde, da sich dieser anbot, die verschiedenen literarischen Gattungen miteinander zu verbinden, weil er einem großen Gestaltungsspielraum bot. Beliebt waren in der Epoche außerdem Novellen sowie (Kunst-)Märchen.

In der Literatur dominierten dabei häufig Schwellenmotive, also Motive, die eine Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Traumhaften markierten, wie etwa die Dämmerung, Mondschein, Zwielicht oder auch der Blick aus dem Fenster oder in die Ferne, der zumeist von einer ungeheuren Sehnsucht des lyrischen Ichs / Protagonisten getragen wurde. Weitere Motive, die ebendiesen Übergang zeigen, sind beispielsweise Träume, Jahreszeiten, das Unterbewusstsein oder auch Fabelwesen und Sagengestalten.

Ein zentrales Motiv in der Kunst, welches sich durch sämtliche Gattungen zog, war die Blaue Blume. Novalis war es, der dieses Motiv als Erster in seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen nutzte, wobei sein Protagonist Heinrich sich kurz vor dem Einschlafen danach sehnt, die Blaue Blume zu sehen. Diese Blaue Blume taucht in der Folge in zahlreichen Werken auf und ist ein Symbol der Sehnsucht, der Ferne sowie der Liebe und findet sich in zahlreichen Werken der romantischen Literatur, Malerei und der Musik.

Ein weiteres Merkmal der romantischen Dichtung ist die sogenannte romantische Ironie. Dieser Begriff geht – ebenso wie der der Universalpoesie – auf Friedrich Schlegel zurück, wobei dieser seinen theoretischen Ansatz teils recht schwammig formulierte, weshalb dieses Merkmale nicht in jedem Werk der Romantik auszumachen ist. Grundsätzlich geht es darum, so Schlegel, dass die Produktionsbedingungen von Kunst im Kunstwerk selbst zu reflektieren seien. Das bedeutet, dass das romantische Kunstwerk sich im Werk selbst kritisieren soll (siehe Verbindung der Gattungen!) und auf sich selbst referenzieren muss.

Konkret wäre dies beispielsweise der Fall, wenn der Protagonist eines Dramas, der sich in einer ausweglosen Situation befindet, verkünden würde:„Kein Held stirbt inmitten des zweiten Aktes!“. Das Werk würde demzufolge auf sich selbst verweisen und sich demnach selbst reflektieren, was Schlegel als romantische Ironie beschreibt. Dieses Merkmal findet sich etwa in Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater, wo zwei Figuren im dritten Akt über die Qualität der Komödie Der gestiefelte Kater streiten – dadurch enthält das Werk seine eigene Kritik, erkennt sich selbst als Werk, wodurch der Autor über dem Werk steht.

Wichtig: Oftmals wird angenommen, dass sich die Romantiker gegen den Verstand und die Wissenschaft im Allgemeinen wendeten. Das ist allerdings nicht korrekt. Vielmehr ging es darum, die Grenzen des Verstandes zu erweitern und Angenommenes durch verborgene, mythische Aspekte zu erweitern, wobei Wissenschaft, Religion und Dichtung vereint werden sollten. Folglich wurde auch in der Romantik das Wissenschaftliche gefördert, wobei zahlreiche Theorien zur Sprache, Philosophie und Literatur entstanden.“

 

„Kurzübersicht: Das Wichtigste zur Epoche im Überblick

Als Romantik wird eine Epoche der Kunstgeschichte bezeichnet, deren Ausprägungen sich sowohl in der Literatur, Musik und Kunst als auch in der Philosophie niederschlugen. Die Epoche der Romantik lässt sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert verorten, wobei die literarische Romantik in etwa auf die Jahre 1795 bis 1848 datiert wird und demnach zwischen Klassik, Sturm und Drang, Empfindsamkeit, Aufklärung und Biedermeier, Vormärz und Realismus steht. Die Epoche wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden.

Die zentralen Motive sind das Schaurige, Unterbewusste, Fantastische, Leidenschaftliche, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, was der Aufklärung gegenübersteht und die Grenzen des Verstandes sprengen wollte und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken und die Industrialisierung richtete. Wichtige Vertreter sind E.T.A. Hoffmann, Joseph von Eichendorff, Ludwig Tieck, die Brüder Grimm, Novalis und Clemens Brentano.

In der Literatur sind es vor allem der Roman und die Lyrik, die zur bevorzugten Gattung avancieren. Der Roman bot sich an, da er die Vereinigung der verschiedenen Gattungen ideal ermöglicht. Weiterhin waren Novellen und Erzählungen verbreitet. Die Aufgabe der Lyrik war es, das Verborgene zu offenbaren. Der Dichter hatte hierbei die Funktion, das Verschüttete und Verdrängte wieder sichtbar zu machen. Typisch ist Erlebnisleyrik.

In der Kunst, vor allem in der Malerei, lassen sich nahezu identische Motive ausmachen. Vordergründig geht es um die Darstellung der Natur, wobei auch Ruinen und Friedhöfe beliebte Motive sind. Hierbei geht es vor allem darum, den Übergang zwischen Wirklichkeit und Traum künstlerisch abzubilden und demnach solcherlei Schwellenmotive zu zeigen. Verbreitet war das Malen der Blauen Blume, die als Symbol der Sehnsucht und Ferne galt.

In der Musik wurde im Zuge der Epoche das Orchester stetig erweitert, um immer feinere Nuancen zu zeigen und somit einen überwältigenden Eindruck auf den Hörer zu hinterlassen. Außerdem kennt auch die Musik die Grenzüberschreitung: dabei wurde das Gleichgewicht von Harmonik, Rhythmik und Melodik oftmals aufgehoben, wodurch die festen Regeln der Ausdrucksform verschwammen.“

https://wortwuchs.net/literaturepochen/romantik/

 

Selbst für diejenigen, die es nicht so mit der „Romantik“ haben, hatte dieselbe Folgen, die auch jene heute noch prägen: die „Liebesheirat“ gab es vorher so gut wie nicht, „Natur“ in all ihren Erscheinungs-Formen (und Aufenthalt in dieser) galt als bedrohlich – weshalb es kaum „Sommerfrische“ am Meer oder in den Bergen gab; altes Gemäuer wurde nicht geschätzt und entsprechend abgetragen oder ganz zerstört.

Den Wert von alten Dingen schätzen zu können, ist ein Verdienst der Romantik. Dazu gehört auch das Sammeln und Bewahren alter Geschichten und Lieder. Der Weg ging weg von den antiken Göttern hin zum einfachen Volk.

Die meisten Kinder sind mit Märchen aus der Romantik aufgewachsen; viele mögen Fantasy-Romane (also jene Zeit vor dem Primat der Technik, in der „ein Mann noch ein Mann“ und „eine Frau noch eine Frau“ sein konnte und einem das woke Gesindel erspart blieb).

Kurzum: Jeder steht auf den Schultern der Romantik und hat ihr einiges zu verdanken.

 

Ludwig Tieck

 

Tilman Krause: „Es war kein Geringerer als Friedrich Hebbel, seinerzeit selbst ein Stern an Deutschlands Dichterhimmel, der dem berühmten Kollegen die feierlichen Worte nachrief: „Der König der Romantik hat das Szepter niedergelegt.“ Und leise raunend fügte er noch hinzu: „Er ist in jene geheimnisvolle Welt zurückgekehrt, die er ein Menschenleben hindurch zu entschleiern suchte.“

Die Rede ist von Ludwig Tieck, der 1773 geboren wurde und 1853 starb. Da waren fast alle anderen Romantiker längst tot. Doch der alte Tieck hatte achtzig Jahre lang ausgeharrt, ein Mann, der schon mit 27 die Gicht bekam und bis ans Ende seiner Tage starke Schmerzen litt. Er hatte ausgeharrt, ein Werk von unglaublicher Vielfalt und in einem staunenswerten Umfang hervorgebracht, aber er hatte sich auch längst überlebt.

Als Goethe starb, 1832 also, durfte Tieck sich noch schmeicheln, seine Nachfolge als deutscher Dichterfürst angetreten zu haben. Es kamen dann auch noch einige Texte, vor allem die beiden Romane „Der junge Tischlermeister“ (1834), Tiecks „theatralische Sendung“, sehr ambitioniert als Antwort auf Goethes „Wilhelm Meister“ angelegt; sowie 1840 „Vittoria Accorombona“, der damals als Meisterwerk des Historienromans gefeiert wurde.

Aber romantisch war das längst nicht mehr, vielmehr erzähltechnisch dem Realismus zuzuordnen. Kein Wunder! Tieck hatte sich von früh an allen ästhetischen Sätteln gerecht erwiesen. Er hatte mit witzigen Satiren im Stil der Aufklärung begonnen. Er hatte sodann den ausufernden Briefroman „William Lovell“ geschrieben, der noch den Geist der Empfindsamkeit atmete. Es folgten die Entdeckung Shakespeares und von Cervantes, die Tieck mit bis heute maßgeblichen Übersetzungen der deutschen Literatur zuführte, ihre dichterischen Verfahrensweisen aber auch in eigenen Arbeiten übernahm.

Aber wirkliche Unsterblichkeit erlangte er mit jenen erzromantischen Hervorbringungen, die für viele nachfolgende Generationen zum Kanon gehörten. Wer in seiner Gymnasialzeit mit romantischer Prosa konfrontiert wurde, las Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und die Kunstmärchen von Tieck. „Der blonde Eckbert“ oder „Der Runenberg“: Das waren Geschichten, die alles gaben, was zur romantischen Empfindungswelt gehörte: „Waldeinsamkeit“ und jede Menge „mondbeglänzte Zaubernächte“ (Tiecks eigene Wortschöpfungen), aber eben auch die „Nachtseiten“ der menschlichen Psyche. Tieck entwarf melancholische, sehnsüchtige Charaktere, hin- und hergerissen zwischen Weltangst und Fernweh, Skepsis auf der einen Seite sowie dem Drang, die Dinge zu verzaubern, zu verklären, auf der anderen.“

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article245587332/Ludwig-Tieck-zum-250-Geburtstag-Der-Koenig-der-Romantik.html

 

Manfred Orlick: „Kaum ein Schriftsteller war ein Zeitgenosse so vieler Epochen wie Ludwig Tieck, von der Spätaufklärung über Frühromantik, Klassik, Spätromantik, Biedermeier, Vormärz bis zum Frührealismus. Ebenso umfangreich und vielfältig war sein literarisches Schaffen: Bühnenstücke, Gedichte, Romane, Novellen und Märchen; außerdem war er als Übersetzer und Herausgeber tätig. Er reagierte sein Leben lang auf alle wichtigen geistigen und künstlerischen Anregungen seiner Zeit. Über ein halbes Jahrhundert hat Tieck das Gesicht der deutschen Literatur wesentlich mitbestimmt.“

https://literaturkritik.de/schmitz-hoelter-ludwig-tieck-gestiefelte-kater-wilde-geschichten-vittoria-accorombona,29725.html

 

Tobias Schwartz: „Tieck begründete quasi das Horror- und Fantasy-Genre, E.T.A Hoffmann und Edgar Allan Poe beziehen sich auf ihn. Daher warnt Arno Schmidt davor, in Tieck einen „hochromantischen Blaublümler“ zu sehen, ihn also zu verharmlosen. Nein, Tieck ist ein verrückter, ein wilder Autor.“

https://www.tagesspiegel.de/kultur/ludwig-tieck-zum-250-geburtstag-der-wilde-romantiker-9702743.html

 

Werke von Ludwig Tieck

 

Es folgen Beschreibungen und Zitate zu einigen Werken von Ludwig Tieck. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Texte aus dem Buch „Ludwig Tieck: Leben – Werk – Wirkung, Herausgegeben von Claudia Stockinger und Stefan Scherer“.

 

Im „Projekt Gutenberg“ sind viele Werke von Ludwig Tieck nachzulesen:

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/tieck.html

 

William Lovell

 

Manfred Engel: „Die Handlung des Romans ist so komplex und vielteilig, daß sie hier nur in ihren Grundzügen referiert werden kann …

Das komplizierte Figurengeflecht des Romans basiert auf einer einfachen Grundopposition, die vielfach abgewandelt und nuanciert wird. In der Aufklärung sprach man vom Gegensatz zwischen ‚Kopf‘ und ‚Herz‘, den die Empfindsamkeit zu versöhnen versprochen hatte. In Wirklichkeit aber hatte sie die Problemlage nur verschärft, indem sie ein Bedürfnis nach Authentizität, intimer Nähe und Intensität des emotionalen Erlebens induzierte, dem keine Lebenswelt hätte genügen können. Die Bewegung der Stürmer und Dränger hatte dann einseitig auf das ‚Herz‘ gesetzt, aber auch keine überzeugenden Lebensmodelle hervorbringen können. Nun, in der Spätzeit der Aufklärung, erscheint die Vermittlung der Pole dringender, aber auch aussichtsloser denn je.

„Kalten Menschen“ mit „viel Erfahrungen und einem sehr ausgebildeten Verstand“, die Scherz und Sinnlichkeit durchaus aufgeschlossen sind, stehen in William Lovell solche „mit glühenden Gefühlen“, „Enthusiasmus“ und hochfliegenden Idealen gegenüber. Während die ersteren zu materialistischem Egoismus neigen, berechnend sein können und schnell von „Langeweile“ geplagt werden, da sie sich weder auf Erlebnisse noch auf Menschen wirklich einlassen, sind die letzteren wenig wirklichkeitstüchtig, leicht zu täuschen, schwankend in ihren Gefühlen und durch enttäuschende Weltbegegnungen leicht in Melancholie zu versetzen. Bereits die zwei Briefe am Anfang des Romans entfalten diesen Gegensatz und ordnen Mortimer und Wilmont der ersten, William und (mit leichter Abstufung) Eduard Burton der zweiten Gruppe zu. Das restliche Romanpersonal wird die Skala dieser Polarität weiter ausschreiten: Balder ist sozusagen der gesteigerte Lovell, ein Melancholiker reinsten Wassers, Lord Burton, Rosa und Cosimo sind als eiskalte Machtmenschen und Menschenmanipulatoren Extremfälle des verstandesorientieren Typus.

Freilich ist keine der Romanfiguren (mit Ausnahme der unintellektuellen und daher völlig unangefochtenen Diener Willy und Thomas) ohne Schwankungen in ihrer Position, und keine ist ganz mit sich einig oder gar zufrieden. Liebe kann die Gefühlsseite intensivieren, wie sich an Mortimer, Wilmont und Emilie Burton zeigt. Umgekehrt durchlebte sogar ein kühler Kalkulator wie Cosimo/Waterloo in seiner Jugend eine Phase des Enthusiasmus und sterben durchaus erfolgreiche Menschenmanipulatoren wie Lord Burton und Cosimo rat- und glücklos. Das Ideal einer gut aufklärerisch-diätetischen Vermittlung von ‚Kopf‘ und ‚Herz‘ bleibt zwar, als einzig verfügbare Antwort, in Kraft, schützt aber nicht vor verhängnisvollen Fehlern (so muß sich etwa Walter Lovell vorwerfen, die Heirat seines Sohnes mit Amalie verhindert zu haben, und Eduard Burton versagt an Lovell wie an seiner Schwester). Zwar ist der Roman alles andere als nihilistisch - die aufklärerischen Werte behalten durchaus ihre Geltung -, aber zutiefst pessimistisch, was die Realisierung dieser Werte in einem geglückten Leben anbelangt. Das aufklärerische Streben nach „der allmählichen höchstmöglichen Vollendung“ des Selbst wird so zur bloßen Chimäre …

Williams Entwicklung ist im Roman sowohl aus der Psyche des Helden als auch über die Manipulationen Rosas und Andreas präzise motiviert. Die weltanschaulichen Reflexionen der Figuren machen aber deutlich, daß hier recht eigentlich eine weltanschauliche Krise thematisiert wird. Diese ist das Ergebnis der bekannten ‚Dialektik der Aufklärung‘, in der rationalistische Gewißheiten und frühaufklärerischer Optimismus durch konsequenten Empirismus und Materialismus zunehmend untergraben wurden.

Der Roman verhandelt all dies im Detail. Da ist, erstens, die epistemologische Verunsicherung, für die in der Philosophie etwa David Hume einsteht: Unsere Erkenntnis der sinnlichen Welt ist ein bloßes Konstrukt unseres Perzeptionsapparats und unseres Verstandes. In Lovells Worten:

Freilich kann alles, was ich außer mir wahrzunehmen glaube, nur in mir selber existieren. Meine äußern Sinne modifizieren die Erscheinungen, und mein innerer Sinn ordnet sie und gibt ihnen Zusammenhang.

Da ist, zweitens, das radikal deterministische Weltbild, in das empiristische und materialistische Philosophie münden - und das auch die Anthropologie nur bestätigen kann. In der „Maschinerie“ der Wirklichkeit - eine Leitmetapher von Roman wie zeitgenössischer Aufklärungskritik - ist „das Bedürfnis die erste bewegende Kraft“. Der Mensch wird angetrieben von „Eitelkeit“, „Selbstsucht“ und „Eigennutz“; er ist bestimmt durch Anlagen und durch die zufälligen Umwelteinflüsse, denen er ausgesetzt ist. Freier Wille und moralische Verantwortlichkeit werden damit zu haltlosen Fiktionen. Die Geheimbundintrige des Romans ist so, in ihrem weltanschaulichen Kern, nur eine Metapher für das Gefühl ohnmächtiger Determiniertheit: „alles (ist) eine blinde, von Notwendigkeit umgetriebene Mühle“. Da die Umwelteinflüsse ständig wechseln, ist das einzig gewisse eigene Ich zudem ständigen Veränderungen unterworfen: „wir wechseln mit den Federn, mit denen wir schreiben, die Seele mit Ihrem Spielzeuge, den Gedanken, die von ihr selbst ganz unabhängig und nur ein feineres Spiel der Sinne sind“.

Der Verlust erkenntnistheoretischer Gewißheit wie praktischer Handlungsfreiheit führt, drittens, zum Bankrott aller verbindlichen und verbindliche Werte vorgebenden Weltbilder: „jeder Mensch hat seine eigene Philosophie, und die langsamere oder schnellere Zirkulation des Blutes macht im Grunde die Verschiedenheit in den Gesinnungen der Menschen aus“. Dies mündet, viertens, in eine radikalisierte Dualismuserfahrung, wie sie, wenig früher und mit ganz ähnlicher Argumentation, Schiller in seinen Philosophischen Briefen (1786) entworfen hatte. Gebunden an die egoistisch-genußsüchtige, zeit- und todverfallene, blind notwendige Körperlichkeit erscheint die nach Idealen und Sinn strebende „Seele“ des Menschen „wie ein eingekerkerter Engel“, ein Gefangener in der ihr fremden sinnlichen Welt.

All diese Krisenphänomene sind genuin spätaufklärerisch. Die in der Forschung noch immer gängige Rede vom „romantischen Nihilismus“ -  die nur als Außenperspektive auf die Romantik, gesehen vom Standpunkt Jacobis und Jean Pauls aus gerechtfertigt werden könnte - verkennt völlig, daß die Philosophie Kants und der darauf aufbauende Idealismus Versuche sind, Auswege zu finden, also Therapie, nicht Symptom oder gar Ursache der Krise.

Eine wesentliche Leistung des William Lovell liegt so in seiner Zeitdiagnose, die die weltanschauliche Grundlagenkrise der Spätaufklärung plausibel zurückbindet an die Denk- und Gefühlswelt der vorromantischen Intellektuellengenerationen der 1790er Jahre. Eine genuin romantische Antwort ist noch nicht vorhanden. Alles ‚Wunderbare‘ bleibt bloßer Trug, die Welt aufklärerisch entzaubert. Die alten Antworten sind aber nicht mehr tragfähig, funktionieren allenfalls noch im gegen die moderne Lebens- und Erwerbswelt abgeschotteten Raum einer ländlichen Idylle nach dem (schon seinerseits prekären) Modell von Clarens in Rousseaus Nouvelle Héloise (1761). Der Weltkontakt ist verunsichert, das Subjekt ein Abgrund. Zu den eindrucksvollsten Passagen des Textes gehört eine Kindheitserinnerung Lovells, nach der ihn einst, ebenso plötzlich wie ohne erkennbaren Anlass, eine unbegreifliche Lust ergriff, seinen Jugendfreund Eduard von einem Felsen herabzustoßen. Er folgert: „Wer sich selbst etwas näher kennt, wird die Menschen für Ungeheuer halten“ - und der Roman gibt ihm recht. Der einzige Gewinn, der sich aus einer solchen Einsicht in die Gebrechlichkeit von Mensch und Welt ziehen läßt, ist eine Zurückhaltung bei moralischen Urteilen - mit Eduard Burtons Worten: „Ich bin … gegen die Unglücklichen toleranter geworden, die wir oft zu schnell und zu strenge Bösewichter nennen“.

 

Peter Lebrecht

 

Detlef Kremer: „Sehr nah lehnt sich der frühe Tieck an Laurence Sterne („Tristram Shandy“) in Peter Lebrecht an. In einem durchgeführten ironischen Dialog mit dem Leser probiert Tieck die unterschiedlichsten Erzählmuster und Gattungsformulare aus, breitet dabei ein ganzes Potpourri des zeitgenössischen Publikumsgeschmacks aus - die Schauer- oder Geheimbundromane Karl Grosses werden ebenso anzitiert wie die abenteuerlichen und exzentrischen Lebensläufe von Spieß und die sentimentalen Variationen etwa in Millers Siegwart (1776). Tieck nimmt seine eigenen literarischen Versuche keineswegs aus dem ironisch-satirischen Spiel aus. Denn auf dem Feld, das zu betreten er sich hier ausdrücklich versagt, erweist er sich - bzw. sein abschweifender Ich-Erzähler Lebrecht - in seinen Anfängen ja bereits als Autor von einigen Talent …

Es folgt dann ein Lebenslauf in konventionalisierten Mustern und Stationen, in dem nebenbei mit den eigenen literarischen Projekten des Autors geworben, die Widersprüchlichkeit eines solchen Erzählens eingeräumt, immer wieder eine „Episode über diese Episode“ angekündigt, letztlich aber klargestellt wird, daß nichts passiert und nichts passieren wird. Das bewußt mutwillige Spiel, das Tieck in seinen parabatischen Komödien zur Perfektion bringt, tendiert bereits hier zum Abgesang auf die „moralische Tendenz“ der Aufklärung. Auch dokumentiert die experimentelle Reihung verschiedener fragmentarischer Kleinformen in Peter Lebrecht die Suche nach einer probaten literarischen Form, die die konventionalisieren Formen der Spätaufklärung überwinden könnte. In Tiecks frühen Erzählung kulminiert dieser Widerspruch in der Konfrontation von ironisch-skeptischer Haltung und einer Option auf den pragmatisch-kritischen Gestus der „Erfahrungsseelenkunde“, der letztlich auf einen aufklärerischen Ernst verpflichtet und zum ansonsten gepflegten ironischen Mutwillen in einer kaum auflösbare Spannung steht. Dieser Widerspruch ist jedoch keiner, der allein auf den frühen Tieck zutrifft: Er kann als ein zentrales epochales Merkmal gelesen werden, der weite Bereiche der Spätaufklärung betrifft.“

 

Lieber Leser, du glaubst nicht, mit welcher innigen Wehmut ich dich diese Blätter in die Hand nehmen sehe, denn ich weiß es voraus, daß du sie wieder wegwerfen wirst, sobald du nur einige flüchtige Blicke hineingetan hast. Da mir aber deine Bekanntschaft gar zu teuer ist, so will ich wenigstens vorher alles mögliche versuchen um dich festzuhalten; lies daher wenigstens das erste Kapitel, und wenn wir uns nachher nicht wiedersehen sollten, so lebe tausendmal wohl. –

Um deine Gunst zu gewinnen, müßte ich meine Erzählung ungefähr folgendermaßen anfangen:

»Der Sturmwind rasselte in den Fenstern der alten Burg Wallenstein. – Die Mitternacht lag schwarz über dem Gefilde ausgestreckt, und Wolken jagten sich durch den Himmel, als Ritter Karl von Wallenstein auf seinem schwarzen Rosse die Burg verließ, und unverdrossen dem pfeifenden Winde entgegentrabte. – Als er um die Ecke des Waldes bog, hört er neben sich ein Geräusch, sein Roß bäumte, und eine weißliche Schattengestalt drängte sich aus den Gebüschen hervor.« – – –

Ich wette, du wirst es mir nicht vergeben können, daß ich diese interessante abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichte nicht fortsetze, ob ich gleich, wie das der Fall bei den neueren Romanschreibern ist, selbst nicht weiß, wie sie fortfahren, oder gar endigen sollte.

In medias res will ich gerissen sein! rufen die Leser, und die Dichter tun ihnen hierin auch so sehr den Willen, daß ihre Erfindungen weder Anfang noch Ende haben. Der Leser aber ist zufrieden, wenn es ihm nur recht schauerlich und grauerlich zumute wird. Riesen, Zwerge, Gespenster, Hexen, etwas Mord und Totschlag, Mondschein und Sonnenuntergang, dies mit Liebe und Empfindsamkeit versüßlicht, um es glatter hinterzubringen, sind ungefähr die Ingredienzien, aus denen das ganze Heer der neusten Erzählungen, vom Petermännchen bis zur Burg Otranto, vom Genius bis zum Hechelkrämer, besteht. Der Marquis von Grosse hat dem Geschmack aller Lesegesellschaften eine andere Richtung gegeben, aber sie haben sich zugleich an seinem spanischen Winde den Magen verdorben; mit Herrn Spieß hat man sich gewöhnt, überall und nirgends zu sein; und keine Erzählung darf jetzt mehr Anspruch machen, gelesen zu werden, wenn der Leser nicht vorhersieht, daß ihm wenigstens die Haare dabei bergan stehen werden.

Um kurz zu sein, lieber Leser, will ich dir nur mit dürren Worten sagen: daß in der unbedeutenden Geschichte meines bisherigen Lebens, die ich dir jetzt erzählen will, kein Geist oder Unhold auftritt; ich habe auch keine Burg zerstört, und keinen Riesen erlegt; sei versichert, ich sage dies nicht aus Zurückhaltung, denn wäre es der Fall gewesen, ich würde dir alles, der Wahrheit nach, erzählen.

Auch muß ich dir leider noch bekennen, daß ich mich in keine geheime Gesellschaft habe einweihen lassen; ich kann dir also keine mystischen und hieroglyphischen Zeremonien beschreiben, ich kann dir nicht das Vergnügen machen, Sachen zu erzählen, von denen du nicht eine Silbe verstehst. –

Musäus faßte die glückliche Idee, durch seine Volksmärchen das Gewimmere und Gewinsle der Siegwartianer zu übertönen. Es ist ihm auch wirklich so sehr gelungen, daß das pecus imitatorum unzählbar ist. Alles hat sich rasch die Tränen der Empfindsamkeit aus den Augen gewischt, die Zypressen und Myrten im Haare sind verwelkt, statt der Seufzer hört man Donnerschläge, statt eines Billet doux oder eines Händedrucks, nichts als Gespenster und Teufel! –

Das ist jetzt auf der großen Chaussee der Messen ein Fahren und Reiten! Hier ein Schriftsteller, der mit seinem Helden geradewegs in die Hölle hineinjägt; dort eine Kutsche, hinter der, statt des Lakais, ein glänzender Genius steht; dort galoppiert ein andrer, und hat seinen Helden auf dem Pferde vor sich; dort wird einer sogar auf einem Esel fortgeschleppt, und droht in jedem Augenblick herunterzufallen; – o Himmel! man ist in einer beständigen Gefahr, zertreten zu werden! – Wohin ich sehe, nichts als Revolutionen, Kriege, Schlachten, und höllische Heerscharen! – Nein, ich vermeide diese geräuschvolle Landstraße, und schlage dafür lieber einen kleinen Fußsteig ein – was tut's, wenn ich auch ohne Gesellschaft gehe; vielleicht begegnet mir doch noch ein guter unbefangener Mensch, der sich, ebenso wie ich, vor jenen schrecklichen Poltergeistern fürchtet! –

Aber wird es nicht bald Zeit werden, meine versprochene Geschichte anzufangen? – Ich sehe, die Leser, die mir noch übriggeblieben sind, fangen auch schon an zu blättern, und sich wenigstens nach einigen Vorfällen umzusehn. – Zuvor muß ich aber doch noch um eine kleine Geduld ersuchen. –

Ich weiß nämlich nicht, ob die Lektüre meiner Leser nicht zuweilen in manche Fächer hineingeraten ist, wo man sich daran gewöhnt, Schriftsteller recht viel von sich selbst sprechen zu hören. Doch, Sie werden ja wohl in manchen unsrer deutschen Journale bewandert sein.

Ich heiße, wie Sie vielleicht schon werden gemerkt haben, Lebrecht; ich wohne auf einem kleinen Landhause, in einer ziemlich schönen Gegend. Ich schreibe diese Geschichte also nicht aus einem Gefängnisse, noch weniger den Tag vor meiner Hinrichtung, ob es Ihnen gleich vielleicht außerordentlich vielen Spaß machen würde. Ich bin nicht melancholisch, noch engbrüstig, ebensowenig bin ich verliebt, sondern meine gute junge Frau sitzt neben mir, und wir sprechen beständig ohne Enthusiasmus oder zärtliche Ausrufungen miteinander; – ja, ich weiß am Ende wahrlich nicht, wo das Interesse für meine Erzählung herkommen soll. –

Sehn Sie, meine Geschichte ist zwar nicht ganz gewöhnlich und alltäglich, aber es fehlt ihr doch das eigentlich Abenteuerliche, um sie anziehend zu machen; – die einzige Hoffnung, meine schöne Leserinnen, die mir übrigbleibt, ist, daß Sie gerade von der Langeweile so geplagt werden, daß Sie mich aus bloßer Verzweiflung lesen.

Ich muß Ihnen also zuvörderst bekennen, daß ich ein Mitglied der katholischen Kirche bin. –

Nicht wahr, Sie lachen über die albernen Vorurteile, daß ich dies noch mit in Anschlag bringe?

Freilich ist man jetzt so aufgeklärt, daß man gar keinen Unterschied unter den Religionsparteien mehr macht; man fängt selbst an, die Juden nicht mehr für eine andere Art von Menschen zu halten; die beliebten Unterredungen und Dispüten drehen sich alle um diesen Gegenstand; man schätzt jede andre Religion mehr, als die, zu welcher sich unsre Eltern bekennen, ohne weder mit der einen noch der andern Partei bekannt zu sein – o was haben wir nicht in den neuern Zeiten für Fortschritte in der Toleranz gemacht!

Aber ich habe nun schon viele der eifrigsten Bekenner der Toleranz gesehen, die einen andern Menschen darum haßten, weil er ein Aristokrat nach ihrer Meinung war; jener wütete wieder gegen den Demokraten.

Ach, die meisten Menschen müssen immer einen Titel haben, unter welchem sie leben können. Der verfolgte Parteigeist ist aus der Religion in die Politik übergegangen; der Himmel verhüte, daß wir hier nicht ebenso entehrende Verirrungen des menschlichen Herzens erleben! –

Ich bin also, um es dem Leser noch einmal zu wiederholen, Katholik; (Demokraten und Aristokraten kannte man in jenem Zeitpunkt noch nicht, in welchen meine Geschichte fällt;) und zum Verständnis dieser Geschichte ist es notwendig, daß der Leser die Rubrik wisse, unter welcher ich als Bekenner des Christentums stehe; darum wird er mir die Mitteilung dieser Nachricht verzeihen.

Ich erinnere mich mit Vergnügen der Vergangenheit; möge es dem Leser nicht beschwerlich fallen, mir zuzuhören.

Und nun zu meiner Geschichte. –

Diejenigen, die dies erste Kapitel gelesen haben, werden wahrscheinlich auch die folgenden lesen, denn ich habe mit Vorbedacht das langweiligste vorangestellt. –

 

Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben

 

Tilman Spreckelsen: „Als der junge Mann in die fremde Stadt kommt, wo er, wie er meint, dank Protektion die einflussreiche und bestens bezahlte Stelle bei der Regierung schon in der Tasche hat, läuft er abends noch durch die neue Umgebung, die ihm Heimat werden soll. Der Mond steht am Himmel, aus den Fabriken kommen „jauchzend“ die Arbeiter, Mädchen ziehen fröhlich plaudernd durch die Straßen, in den Häusern wird „froh und lebhaft kauend“ das Abendbrot gegessen, und jener junge Mann namens Siegmund ist im Anblick der Stadt „mit sich und seinem Schicksale außerordentlich zufrieden.“

Am nächsten Tag stellt der Bewerber fest, dass er den Präsidenten, der über die Stelle entscheidet, unwissentlich am Vortag öffentlich bloßgestellt hatte und zudem ein anderer noch engere Verbindungen zur Macht hat und deshalb statt seiner im Amt angestellt werden soll. Auch die Stadt trägt nun ein anderes Gesicht: „Siegmund stieß an manche Lastträger, die ihm ihre Flüche nachschickten; Kutscher schimpften von ihrem Bocke herunter, weil er ihnen zwischen die Pferde lief; eine alte Frau fing ein jämmerliches Geheul an, weil er ihr einige Töpfe zerbrochen hatte, die er in der zerstreuten Eil mit dem sechsfachen Preise bezahlte.“ Siegmund, der am Vorabend noch eine Stadt und eine Gemeinschaft von Menschen sah, in die er sich bestens einzufügen glaubte, ist jetzt nur noch allen im Weg. Und seufzt: „O hätte ich nur meine gestrigen Empfindungen zurück!“ …

Der Autor nutzt das dezidiert der Unterhaltung verschriebene Medium „Straußfedern“, um, wie die Herausgeber richtig schreiben, das Publikum an die Erkenntnis heranzuführen, dass einer vermeintlichen Wahrheit immer die unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten gegenüberstehen und dass selbst die überwältigendste Erfahrung eine Relativierung, bei Tieck nicht selten auch eine Verkasperung, sehr gut verträgt.

Wie diese Perspektivenvielfalt im Inneren einer Person aussehen kann, führt „Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben“ vor, wenn die Stadt je nach Stimmung ihres Besuchers ganz unterschiedliche Gesichter trägt, und wie sich konträre Sichtweisen auf dieselben Erlebnisse bei unterschiedlichen Personen auswirken, zeigt die Parallelerzählung „Der Naturfreund“, wenn die Briefe eines erklärten Junggesellen an einen Freund und die einer jungen Frau an eine Freundin spaltenweise nebeneinander gedruckt und so auch gegeneinander gehalten werden – geschickt zeigt Tieck, warum sie einander schließlich heiraten, obwohl sie eigentlich alles andere vorhaben als das.“

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ludwig-tiecks-wilde-geschichten-18929635.html

 

Detlef Kremer: „Auch hier spielen literarische Genres und Motive eine entscheidende Rolle bei der Strukturierung des Empfindens und Verhaltens, stärker aber als bei den anderen Erzählungen spitzt Tieck die Wahrnehmungstrübung seines Helden Siegmund auf soziale Konsequenzen hin zu und erweitert dabei das geschilderte Spektrum bürgerlichen Alltags- und Erwerbslebens erheblich. Siegmund aktualisiert Vorformen des Flaneurs, der die Straßen der Stadt träumerisch „durchkreuzt“, seine Phantasie über den wechselnden Eindrücken und Beobachtungen stimuliert und darüber in einen „poetischen Taumel“ gerät. Neben arbeitenden Handwerkern und Bürgersleuten, heimkehrenden Arbeitern und Prostituierten auf Kundensuche konzentriert sich sein Interesse vor allem und von Anfang an auf eine „Schöne“ im „Fenster“ gegenüber. Von diesem Fenster nehmen die Erzählung und die widrigen Ereignisse dieser beiden „merkwürdigsten Tage“, die Sigmund vorübergehend aus seinen Träumereien reißen, ihren Ausgang. Denn das fehlschlagende Liebeswerben eines älteren Herrn bei dem besagten „allerliebste(n) Mädchengesicht“ hält Siegmund für „eine lustige Scene aus einem komischen Stücke“, und lacht entsprechend über die unfreiwillige „Kapitulation“ des Herrn, der sich allerdings als jener einflußreiche Mann entpuppt, von dem Sigmund bereits sicher gewähnte Ratsstelle abhängt. Phantastische Anlage zur Schwärmerei und „poetischer Taumel“ erweisen sich nicht eben als probate Ratgeber, wenn innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse die Machtfrage gestellt wird. Der Machthaber belehrt den Helden denn auch zu passender Gelegenheit und in machiavellistische Manier über eines der zentralen Themen der Spätaufklärung, den Zusammenhang von Zufall und Schicksal: „Ihr Unglück besteht ja eben darin, daß Sie mit diesem Zufall zusammengetroffen sind. Ist dies nicht vielleicht ein Wink des Verhängnisses, daß sie unglücklich sein sollen?“ Und ganz im Stile der spätaufklärerischen Skepsis muss sich der Schwärmer von seiner begehrten Hetäre, der Schönen aus dem „gegenüberliegenden Fenster“, über die Grundzüge einer Psychologie und Menschenkenntnis belehren lassen, die sich nichts mehr vormacht und Menschen als interessegeleitete und triebbestimmte „Maschinen“ sieht. Und daß es eben diese Liebesdienerin, deren geschicktes Verhalten Siegmund doch noch zu seiner Ratsstelle und zu einem konfliktfreieren Umgang mit Machthabern bringt, fügt dem versöhnlichen Abschluss der Erzählung einen ironischen und wohl auch skeptischen Zug ein."

 

Siegmund war fast schon wieder nüchtern, als er vor seinem Gasthofe stand und sich wunderte, als er die Tür verschlossen fand; er klingelte, es öffnete jemand das Fenster, und bald darauf hörte er Pantoffeln auf der Treppe und die Tür mühsam und tiefatmend aufschließen; sie öffnete sich, und eine alte Frau leuchtete ihm die Treppe hinauf. Noch ehe er sich besinnen konnte, stand er in einem fremden Zimmer, wo das ofterwähnte Mädchen mit dem hübschen Gesicht in einem Sofa saß.

Es wäre unschicklich gewesen, sich zu entschuldigen und wieder fortzugehen; die Alte war verschwunden, und Siegmund nahm nach einer freundlichen Einladung Platz zur Seite des Mädchens.

Siegmund wollte seinem fröhlichen Taumel die Krone aufsetzen, und erstaunte sehr, als er seine dreisten Liebkosungen nicht so erwidert fand, wie er nach allen Umständen erwarten konnte, sondern die Schöne machte sich im Gegenteil von ihm los, und bat ihn mit so vielem Anstande, sich gesitteter zu betragen, daß er rot ward und verschämt um Verzeihung bat. – Das Gespräch nahm nun eine andere Wendung; man sprach von gleichgültigen Dingen, und Siegmund, der eine mit Achtung vermischte Zuneigung zu dem Mädchen fühlte, war endlich schwach genug, ihr seine ganze Geschichte zu erzählen. – Sie gestand ihm im Gegenteil, daß er ihr gleich beim ersten Anblick auf eine sehr vorteilhafte Art aufgefallen wäre, daß sie sogleich seine Bekanntschaft gewünscht, daß sie aber nach dem Blick, den er ihr heut vormittag zugeworfen habe, gänzlich daran verzweifelt sei.

Siegmund erinnerte sich nun, was ihm der Wirt am Morgen von diesem Mädchen gesagt hatte, und er fand sich jetzt schon aufgelegt, ihm kein Wort zu glauben.

»Man hat gewiß von mir nachteilig zu Ihnen gesprochen«, fuhr die unbekannte Schöne fort, »aber ich versichere Sie, es ist Verleumdung gewesen.«

Siegmund bestätigte alles, was sie sagte; beide schimpften mit vereinigten Kräften auf die Bosheit der Welt, daß gerade die schlechtesten Menschen am schlechtesten von andern redeten. »Hüten Sie sich besonders vor Ihrem Wirte!« sagte die Schöne sehr eifrig; »er ist der größte Betrüger in der ganzen Stadt, ziehn Sie sobald als möglich von ihm aus, sonst wird er Ihnen eine ungeheure Rechnung machen!«

Siegmund erschrak nicht wenig über diese Nachricht; er glaubte schon die geschriebene Summe zu sehen, die er dem wohlbeleibten Manne auszahlen solle.

Man sprach noch viel über die mannigfaltigen und zusammengesetzten Charaktere der Menschen, über Bosheit und Niederträchtigkeit, Edelsinn und Rechtschaffenheit – Siegmund hatte es ganz vergessen, in welchem Hause er sich befand, und moralisierte tapfer darauf los.

»Ich glaube nun Sie zu kennen«, fuhr die Schöne fort; »jetzt will ich Ihnen auch etwas von meiner Geschichte ganz aufrichtig erzählen, damit Sie sehen, wie sehr man sich in manchen Leuten irren kann.

Ich bin ein armes Mädchen, meine Eltern sind früh gestorben, meine Erziehung war nicht die beste; was ich ohngefähr weiß, oder von Bildung erhalten habe, habe ich mir ganz allein zu danken. Man hat mich von Jugend auf ziemlich hübsch gefunden, und ich bin am Ende überredet worden, es selbst zu glauben.

Da ich kein Vermögen hatte, suchte ich meinen Unterhalt durch Sticken, Putzmachen und andere dergleichen Beschäftigungen zu erwerben; meine Anbeter verfolgten mich unaufhörlich, und ich überlegte mir meine Situation etwas vernünftiger, und seit der Zeit lebe ich vergnügter, und bin nicht so sehr, wie vordem, dem Mangel ausgesetzt.

Man darf nur um sich her die Beschäftigungen der Menschen und das Triebwerk ihrer Tätigkeit betrachten, so findet man sehr bald, daß nichts als Eigennutz alle Maschinen in Bewegung bringt, und forscht man nach dem reellen Nutzen bei den meisten Beschäftigungen, so ist es kein anderer, als daß der Magen der Arbeitenden angefüllt wird. –

Gelehrte, schöne Geister, Musiker, alle Arten von Menschen leben von den Talenten, die ihnen die Natur mitgegeben hat. – Warum soll es denn nur erlaubt sein, mit geistigen Schätzen oder körperlichen Kräften zu wuchern? – Warum soll man nicht auch andre Vorzüge geltend machen dürfen? Wenn die Menschen närrisch genug sind, ihr Vermögen einem Mädchen aufzuopfern, das sie für schön halten, warum sollte man nicht aus dieser Narrheit Nutzen ziehn, so wie Marktschreier, Doktoren, Seiltänzer und Schriftsteller die Schwächen der Menschen nutzen? Ich fand, daß es kein Gewerbe gebe, bei welchem nicht eine Art von Betrug stattfände, und daß die Dummheit, sich betrügen zu lassen, die List des Betrügers gewissermaßen rechtfertigt. – Sie lächeln über meine Geständnisse, und werden gewiß in Ihrem Herzen glauben, daß ich recht habe.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, meine schöne Freundin«, antwortete Siegmund, der eben daran dachte, wie er noch gestern die Schmeichler verteidigt hatte.

»Jeder«, fuhr die Rednerin fort, »sucht die Armseligkeiten seiner Nebenmenschen dazu zu brauchen, sich einen ebnen Weg durchs Leben zu bahnen; der eine kleidet sich, wie sein Gönner es gern sieht; ein anderer hat dieselbe politische und philosophische Meinung, die man von ihm fordert; ein dritter heiratet, um reich zu werden; ein vierter übervorteilt im Handel; jeder lügt, hintergeht, spielt den Scharlatan; die ganze Welt maskiert, und nur die Macht der Schönheit soll von dieser allgemeinen Sucht, andre zu beherrschen, ausgeschlossen bleiben?

So lebe ich angenehm und im Wohlstande. Fremde, die, wenn nicht mir, einem andern Mädchen ihren Reichtum hingetragen haben würden, vermehrten mein Vermögen; Narren verfolgten mich, und drangen mir, sosehr ich mich weigerte, ihre Börse auf. – Aber ich wähle auch aus; ich bin, so wie Sie mich hier sehn, aufs eifrigste Demokratin, und hasse und verachte alles, was sich Edelmann nennt; so habe ich Ihren Präsidenten immer mit dem größten Spott abgewiesen, sosehr er sich mir aufgedrängt hat. – Ich habe schon manchen Armen unterstützt, und mancher Familie aufgeholfen, und so kann ich nicht einsehn, warum ich nicht mit mir zufrieden sein, sondern mich für ein verworfenes Geschöpf halten sollte?«

»Sie sind die liebenswürdigste Philosophin von der Welt!« rief Siegmund aus. »Ich habe noch kein Frauenzimmer gefunden, deren Seelengröße sich mit der Ihrigen messen dürfte.«

Die Schöne drückte einen zärtlichen Kuß auf die schmeichelnden Lippen. – »Ich habe Sie heut abend kommen sehn«, sagte sie, »und Ihnen bloß die Tür eröffnet, weil Sie mir gefallen, und weil ich Sie jetzt sogar liebe, ohne Vorteil von Ihnen zu hoffen. Ich denke, meine Liebe ist uneigennütziger, als die anständige Zärtlichkeit mancher Ehefrau.«

Siegmund ward immer mehr bezaubert; er schloß sie an sein klopfendes Herz und überdeckte Wangen und Busen mit feurigen Küssen.

»Ich habe einen Einfall!« rief die Geliebte wie begeistert aus, »ich habe einen Einfall, für den Sie mir gewiß danken werden. – Sie sollen sehn, daß ich nicht nur uneigennützig bin, sondern daß ich mich auch aufopfern kann, wenn ich mich jemandes Freundin nenne. – Ich habe mir einmal vorgesetzt, daß Sie hier in der Stadt bleiben sollen, und ich will für Sie den unangenehmsten Schritt tun: ich will mich nämlich mit dem Präsidenten in Kapitulation einlassen.«

Siegmund konnte nicht Worte genug finden, ihr zu danken. – Sie gab ihm in derselben Nacht noch zu mehrerem Dank Gelegenheit, und er verließ sie, um sich in seinem Gasthofe von dem philosophischen Räsonnement zu erholen, das ihn ermüdet hatte.

Es ward sogleich zum Präsidenten geschickt, der nicht zu kommen ermangelte. – Als sich Siegmund auskleidete, um zu Bette zu gehen, sagte er zu sich selbst: »Einem Freudenmädchen soll ich also vielleicht mein Glück verdanken? Nicht meinen Talenten und Kenntnissen? – Aber ich verdanke es mir ja doch selbst; meine Gestalt hat dies Mädchen ja so für mich eingenommen. Es hätte mir wahrhaftig weniger Ehre gemacht, wenn ich bloß dem vornehmen Fürwort des langweiligen Generals, der mich nicht kannte und nicht besonders leiden mochte, alles schuldig geworden wäre. – Ich bin nicht der erste, und werde auch nicht der letzte sein, der durch ein Frauenzimmer eine Stelle erhält; sie geben uns als Säugling Milch und als Männer Brot, und es ist gewöhnlich noch anstößiger, wie viele durch eine verheiratete Frau oder durch Heirat versorgt werden.«

Er schlief bald ein und lag noch in süßer Ruhe, als ihn der Markör weckte und ihm ein Billet vom feinsten Postpapier überreichte. Noch schlaftrunken erbrach er es. Es war eine außerordentlich höfliche Einladung vom Präsidenten, ihm die Ehre seines Besuchs zu gönnen; er habe gestern vergessen, sich nach manchen Umständen zu erkundigen, die ihn sehr interessierten.

Siegmund sprang schon aus dem Bette, ehe er noch zu Ende gelesen hatte, seine gestrigen Skrupel fielen ihm gar nicht einmal ein. Er rief den ersten vorübergehenden Friseur hinauf, zog sich so eilig an, daß es dadurch eine Viertelstunde länger währte, und lief trabend zum Präsidenten. Der Bediente führte ihn in das Schlafzimmer des gnädigen Herrn, der um Verzeihung bat, daß er ihn schon so früh inkommodiert habe. Siegmund wußte gar nicht, wie er die großen und ausgesuchten Höflichkeiten beantworten sollte. Der Präsident erklärte, daß er den Brief des Generals noch einmal überlesen und sich gestern aus Zerstreuung in der Person geirrt habe, er habe schon seit lange so viel von der Geschicklichkeit und den unbeschreiblich großen Talenten des Empfohlenen rühmen gehört, daß er ihm die verlangte Stelle unmöglich, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, abschlagen könne.

Kurz, alles ward in dieser Unterredung berichtigt; Siegmund war Rat, und mietete sich sogleich, als er den Präsidenten verließ, seine künftige Wohnung, forderte im Wirtshause die Rechnung, und erschrak zwar nicht, aber erstaunte doch ein wenig über die große Summe.

Alles schien hier in der Stadt sein Gewerbe philosophisch zu treiben, denn als der Wirt das langgezogene Gesicht des Bezahlenden sah, sagte er ganz kalt: »Man kann es unsereinem nicht übelnehmen, wenn man den Vorteil nimmt, wo man ihn findet; ich lasse mir auch dafür etwas bezahlen, daß mein Gasthof der beste ist, und jeder Eingehende kann doch nachher erzählen, daß er hier logiert habe. Über fünf Jahre ungefähr wird es auch bei mir etwas wohlfeiler sein, denn ich denke, daß ich dann die Summe wieder erübrigt habe, um die mich einmal ein verkleidetet Herzog betrog.«

»Der Bürger muß also auch bei Ihnen die Schulden der Fürsten bezahlen?« fragte Siegmund lachend.

»Zum Glück ist mein Gasthof hier in der Stadt der einzige recht gute«, fuhr der dicke Mann ungestört fort; »ich habe daher die Summe, auf die ich hoffe, schon so gut wie in der Tasche. Der Goldschmied ist ein Narr, der das abfallende Silber nicht sammelt.«

Die Rechnung ward quittiert, Siegmund zog aus und in seine neue Wohnung.

Als er auf den Mittag wieder im Gasthofe aß, sprang ihm der kleine Bellmann in die Arme, und freute sich, daß ein so würdiger Mann die erledigte Stelle erhalten habe. Seine Freude war ungeheuchelt, denn er hatte die Aussicht, in wenigen Wochen mit einer andern ebenso einträglichen Würde bekleidet zu werden.

Der Zeitungsschreiber machte in seinem Blatte einen großen Artikel aus der Ankunft und Einführung des neuen Rats.

Siegmund, der Präsident und das Mädchen lebten seit der Zeit in der größten Eintracht; die Schöne stimmte ihr demokratisches Gemüt etwas aristokratischer, und schon am folgenden Tage sah man den Präsidenten in der Gesellschaft Siegmunds reiten. Siegmund tat ihm den Gefallen, nur wenig zu schließen, und mit dem Pferde etwas ungeschickt umzugehen. Der Präsident gab ihm viele Regeln; Siegmund dankte und lernte besser reiten.

Der General antwortete auf das Danksagungsschreiben des Rats: er habe wohl gewußt, daß der Präsident nicht unterlassen könne, seine Empfehlung zu beachten. –

Dies sind die beiden merkwürdigsten Lebenstage aus Siegmunds Geschichte. – Der Leser, der nur ein halb gutes Buch über die Moral gelesen hat, wird leicht die schnell erfundene sophistische Scharade auflösen können; folglich braucht sieh der Verfasser gar nicht weiter darüber zu erklären, daß er die aufgestellten Personen nicht für Ideale auszugeben gesonnen sei.

 

Ulrich, der Empfindsame

 

Detlef Kremer: „Genauer auf eine psychodynamische Entwicklung schwärmerischen Verhaltens und der daraus resultierenden, zeittypischen Theatromanie geht Tieck in Ulrich, der Empfindsame ein. Tiecks Ätiologie der „Schwärmerei“ führt in die Kindheit und Jugend des Helden zurück und findet die Ursachen in einer Erziehungsmethode der Mutter, die bei mehr oder minder abwesendem Vater, aus ihrem Sohn Ulrich „das kräftigste Urgenie zu bilden (sucht), das nur jemals in Deutschland auf Stelzen gegangen ist“. Sie stützt sich dabei auf einen ganzen Schrank „voll empfindsamer Erziehungsschriften“ …, deren Theorie jetzt bei den Knaben angewendet wurde“ mit dem Ergebnis, dass auch hier alles Verhalten durch literarische Modelle vorgeprägt ist und Handeln insgesamt als Maskerade und Rollenspiel transparent wird.

 

In einer Stadt, wo man schon sehr früh, um die Aufklärung zu befördern, Leihbibliotheken einrichtete, damit die Jugend, so wie sie lesen könne, lerne, wie man lieben und verzweifeln, deklamiren und tragiren, auch wie man zärtliche Dialogen führen müsse; in dieser Stadt, wo die Knaben im zwölften Jahre Verse machten und im vierzehnten die Dichter Deutschlands vom ersten bis zum letzten rezensiren konnten

Die Frau Hartmann war sich also mit ihrem Sohne Ulrich ganz selber überlassen, so daß sie ihn erziehen und verziehen konnte, wie sie nur wollte. Sie hatte einen eignen kleinen Schrank voll empfindsamer Erziehungsschriften in das Haus gebracht, deren Theorie jetzt bei dem Knaben praktisch angewendet wurde.

Dieser Ulrich ist der Held der gegenwärtigen Geschichte. Da er der einzige Sohn war, ward er von den Muhmen und Vettern der Mutter natürlicherweise für ein Genie erklärt; er konnte sich schon, noch eh er sprechen lernte, allein in die Speisekammer finden, und als er sich die menschliche Sprache erworben hatte, wußte er sehr geschickt den Diebstahl der eingemachten Sachen, die man vermißte, von sich abzulehnen und auf das Gesinde zu schieben …

In Campens Kinderbibliothek lernte der junge Ulrich lesen, auch wurden ihm oft gute und erbauliche Kupferstiche vorgehalten; man hielt ihm die großen Muster einiger Kinder, als Gretchen, Minchen oder Wilhelmchen beständig vor Augen; auch wurde ihm die Moral und Religion in nuce beigebracht, und der Knabe wuchs und gedieh, und es fehlte weiter nichts, als daß man ihn in Kupfer stechen und eine Epopöe in Hexametern auf ihn dichten ließ.

Ein junger Mensch, mit Namen Seidemann, ward in dem Hause bekannt, und sein zartes Herz fühlte sich vom ersten Tage zu der hoffnungsvollen Pflanze hingezogen. Er kam unlängst von der Universität, und hatte einen Dornenstock, abgeschnittene Haare, viel Weltkenntniß und wenige Hefte mitgebracht: er war jetzt über Dessau gekommen, um das weltberühmte Philanthropin in Augenschein zu nehmen, und sein Herz schlug so gewaltig, als er die Meritentafeln mit goldenen Punkten, die Ordensbänder und das Privattheater, die Uniform und das Voltigirpferd sah, daß er das Gelübde that, wenigstens im Kleinen eben so viel zu wirken, wenn es ihm etwa nicht gelingen sollte, in's Große zu gehn.

Gottlob, daß alle diese Narrheiten, von denen ich hier spreche, nun in die Polterkammer geworfen sind, wo sie bald mit so dickem Staube werden überzogen sein, daß man ihre eigentliche Farbe und Gestalt gar nicht erkennen kann, daß unsere Nachkommen uns nicht werden glauben wollen, wenn wir ihnen von den wunderseltsamen Fratzen erzählen, die wir erlebt haben. Nirgends zeigt sich mehr Mannichfaltigkeit, nirgends größere Abwechslung, als in den menschlichen Narrheiten; wer kann die gedrängte Schaar zählen und übersehn, die seit funfzig Jahren allein unser Deutschland durchzogen hat? Das Füllhorn leert sich immer wieder von neuem und wird doch nicht erschöpft; Dichter und Rezensenten, Pädagogen und Philosophen, Kleiderthoren und Jakobiner, Aufklärer und Schwärmer, Betrüger und Betrogene, Feuillants und Terroristen, Journale und Zeitungen, Fausts Gesundheitskatechismus und die Debatten für und gegen die Beinkleider, – und alles zum Besten der Menschheit! Da sich jetzt von allen Seiten so viele Aerzte hinzudrängen, so sollte man fast auf den Gedanken kommen, daß sie in den letzten Zügen läge, so daß man nur noch in der Eil alle möglichen Mittel aufbieten müsse, um sie zu retten. Aber die Menschheit krankt eigentlich nur an diesen unberufenen Aerzten, es geht ihr wie den Staaten, wo oft die Mitglieder allen Unfug anrichten, die sie regieren und verbessern wollen. – Doch damit nur etwas wirklich Heilsames zum Besten der ganzen Menschheit geschehe, will ich in meiner erzmoralischen Erzählung fortfahren, und mir nicht durch unnütze Anmerkungen unter meinen eigenen Lesern einen Haufen von Feinden erwecken.

Also Herr Seidemann erbarmte sich des jungen Ulrich, und erhob ihn zum Stande eines ordentlichen kultivirten Menschen. Er lehrte ihn schreiben und rechnen, die Anfangsgründe der Sprachen, wobei der Lehrer die so oft gepriesene Bemerkung an sich machte: docendo discere. Als der Jüngling anfing, zuweilen nach der Aufwärterin zu schlagen, oder den Hund unter dem Tische heimlich mit dem Fuße zu stoßen, suchte der Pädagoge, mit zartem Sinne, diese Kraftäußerungen zu ihrem wahren Endzweck zu lenken.

Manche von den alten epikurischen Philosophen sind der irrigen Meinung gewesen, der Mensch sei da, um zu trinken und zu essen, worüber sie denn längst sind belehrt und zurecht gewiesen worden. Die neuern Pädagogen besonders nahmen an, der Mensch existire, um sich zu bewegen; daher muß vor allen Dingen die Theorie, wie man sich am besten bewegt, um die Gesundheit zu bewahren, in's Reine gebracht werden. Die Kunst, sich Bewegung zu machen, ist nicht so leicht, als man auf den ersten Anblick meinen dürfte, sie scheint zwar jedem Menschen angeboren, und noch leichter, als die Kunst zu sprechen; aber wie wenige Menschen sprechen gut, und wie wenige bewegen sich auf die wahre Art! Unserm erleuchteten Zeitalter (das dem Herrn Guthsmuth gar nicht genug dafür danken kann) war es aufbehalten, ein eignes schönes Buch nach Kapiteln und Abschnitten darüber zu bekommen, und so die natürliche Leibesbewegung zu einer Wissenschaft zu erheben.

Von der Kunst also zu laufen und zu springen, so wie vom Balgen und Voltigiren, hatte Herr Seidemann wenigstens oberflächliche, encyklopädische Kenntnisse, die zwar nicht gründlich, aber doch auch nicht völlig zu verachten waren. Er hatte überhaupt einen kompendiösen Auszug von der jetzigen kompendiösen Bibliothek aller Wissenschaften im Kopfe, und dies war die Ursache, daß er nicht so schwer an seiner Gelehrsamkeit zu tragen hatte, wie es wohl vielen unsrer altfränkischen Gelehrten geht, die das menschliche Wissen noch gern in Masse handhaben.

Madam Hartmann war von dem jungen Manne entzückt, denn er kam ihr wie ein Heiland vor, der die Welt von Stock und Ruthe, von Buchstabiren und Pedanterie erlösen würde; sie betrachtete ihn als einen Engel, der ihr ausdrücklich vom Himmel geschickt sei, um aus dem kleinen Ulrich das kräftigste Urgenie zu bilden, das nur jemals in Deutschland auf Stelzen gegangen ist.

Seidemann machte in der Stadt erst Aufsehen, und dann viele Bekanntschaften. Die Damen wurden besonders durch das runde Haar entzückt, welches damals noch nicht so gewöhnlich war als jetzt, wo es sich selbst Leute zu tragen unterstehn, die keine Genies sind; Seidemann kam allen als ein wunderbarer Mensch vor, und wenn sie die kräftigen Bücher lasen, die damals Mode waren, in denen sich mehr Apostrophen als Buchstaben fanden, so glaubten sie im Stillen, sie wären von diesem wunderbaren Candidaten. Bald erhielt er in vielen der angesehensten Häuser Zutritt, und jemehr in seiner Abwesenheit die alten Männer die Köpfe über ihn schüttelten, um so mehr gewannen ihn die Frauenzimmer lieb; denn jemehr einer ein determinirter Narr ist, um so mehr macht er Glück bei diesem Geschlecht, weil die Frauen sich dann vor einem solchen um so weniger zu geniren brauchen, und ein Hausfreund in einem Hause, wo sich Frauenzimmer befinden, und ein Thor, sind in unserm modernen Dialekte fast gleich bedeutende Worte. – Es währte nicht lange, so bekam der Wundermann in mehrern Familien die Direktion der lieben Jugend, an der er zur Erbauung der Aeltern und zum Schrecken der Großväter frisch darauf los erzog. Er gab ihnen keinen bestimmten Unterricht über irgend eine Wissenschaft, sondern er hatte nur die allgemeine Aufsicht und Herrschaft über die ganze Erziehung, er stand wie mancher Premierminister an der Spitze, ohne von den Details unterrichtet zu sein; er konnte weder Französisch noch Latein, weder Fechten noch Tanzen, weder Springen noch Voltigiren, aber er gab doch mit einem wahren Rezensenteneifer in allen diesen Dingen den gründlichsten Unterricht. – So wuchs die Jugend der Stadt unter Springen und Laufen auf, und ward groß und rüstig, philosophisch und lustig, und es hatte dabei den Anschein, als wenn sich Seidemann ein ganz artiges Vermögen sammeln würde.

 

Fermer, der Geniale

 

Detlef Kremer: „In Fermer entlarvt Tieck das empfindsame Verhalten des Titelhelden als buchgestütztes, aus Sturm und Drang und Empfindsamkeit zusammenzitiertes Masken- und Rollenspiel, das sich nahtlos in seiner eigenen, von Tieck grotesk versetzten dichterischen Produktion fortsetzt. Zu den Manuskriptseiten, die Fermer abschließend den Buchhändlern anbietet, gehören u.a. Löwenhelm der Bärenstarke und Rudolph vom Kellersporn, gemeinhin genannt der Abgrundspringer.“

 

Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger, in zwanzig lesenswürdigen Kapiteln.

 

Aus dem Mangel der geographischen Nachrichten so wie der historischen Quellen, so wie aus der Geschichte der Schildbürger selbst, die fast etwas Possierliches an sich hat, haben Einige schließen wollen, daß diese Schildbürger niemalen existirt hätten, sondern nur eine Erfindung der Imagination seyen … Ich will dem Leser in der Beurtheilung dieser Erklärung nicht vorgreifen; nur werfe ich die Frage auf: Wohin führt das endlich? Wenn Jemand nach mehreren hundert Jahren unsere ordentliche deutsche Geschichte läse und ihm die religiöse und statistische Einrichtung bekannt würde, wenn er die verschiedenen Collegia und ihre Gewalt kennen lernte, unsere Methode zu arbeiten, die mannigfaltigen Spaltungen, das verschiedene wechselnde Interesse, die Wirkungen des Aberglaubens und der Aufklärung, die Akten, die Registraturen, die Controllen, die tausend und aber tausend Bogen, die Keiner liest, die Tabellen, die Steuern, die Finanzprojekte, würde er, sag' ich, nicht vielleicht in die Versuchung kommen, unser ganzes Zeitalter, und Alles in ihm, nur für eine witzige, scharfsinnige Allegorie zu erklären? So absonderlich dürfte ihm Alles dünken; so daß ich und alle meine wirkenden und gewiß nicht zu verachtenden Mitbürger nur allegorische Personen wären, das heißt, abstrakte Verstandesbegriffe. Und doch versichern wir gegenwärtig (und ich thue es hier um so lieber, damit auf keinen Fall in der Zukunft ein Irrthum entstehe), und unser ganzes Zeitalter stimmt mir darin bei, daß wir Alle wirklich existiren und also an Scharfsinn und Witz bei uns gar nicht gedacht werden darf, daß wir uns auch daran begnügen wollen, lebende Personen zu seyn und uns das gute Zutrauen verbitten, für Verstandesbegriffe zu gelten.

 

Es ist bei manchen Gelegenheiten nicht undienlich, die Naturgeschichte nachzuschlagen, und jene unschuldigen, eingeschränkten Politiker, ich meine die sogenannten Thiere, zu beobachten, und einen Wink, den sie uns geben, auf eine klügere Art zu benutzen. So wissen wir, daß der Biber sich selbst der aromatischen Arznei entäußert, wegen der ihn der Jäger verfolgt, um nur in Sicherheit zu entkommen. Uns hat man wegen unserer köstlichen Weisheit nachgestellt, die man in uns fand, und dieser wunderbaren Essenz wegen, die einmal ohne unser Zuthun in uns wächst, wird man uns auch niemals in Ruhe lassen. Guter Rath ist theuer, sagt das Sprichwort, und eben deswegen wird man noch immer Jagd auf uns machen. Wir sollten also scheinbar dem Biber nachahmen, und uns freiwillig dessen berauben, was uns so kostbar macht; der Verstand ist die Ursache unsers Unglücks, wir müssen daher dem Scheine nach den Verstand auf einige Zeit beiseite legen, und eben dadurch im höchsten Grade verständig seyn.

Da es keine Frage weiter ist, ob wir weise Männer sind, so wird es uns eben um so leichter werden, Narren zu scheinen, und dadurch wird die Welt bethört werden, und die Fürsten und Herren werden von uns ablassen. Einen solchen Plan auszuführen ist nur dem Weisen möglich, denn für den Thoren ist es ein gefährliches Unternehmen, sich mit der Narrheit vertraut zu machen; statt daß er sie regieren sollte, regiert sie ihn, und so muß er nach dem Anlaufe den ganzen Abhang des Berges wider seinen Willen hinunterlaufen.

Dies ist mein Vorschlag. Laßt uns thöricht scheinen, um klug zu bleiben, uns're Widersacher hintergehn, und unsern eigenen Verstand vollkommen machen, indeß wir in unserm kleinen Lande so glücklich sind, und es so glücklich machen, als es nur möglich ist

 

… aber dennoch ging das Gesetz durch, das Philemon vorgeschlagen hatte, daß künftig jeder Schildbürger nur darauf sinnen solle, wie er den Narren natürlich genug darstellen könne.

 

Das Reich war übrigens ein Wahlreich, und die Bürger hatten das Recht zu wählen. Nirgends aber, als in Schilda, kann das bekannte Sprichwort entstanden sein: Wer die Wahl hat, hat die Qual; denn die Bürger waren eben wegen des Wahlrechts übel daran. Jeder Rathsherr suchte für sich durch Geld, Drohungen und alle mögliche Mittel, Stimmen zu sammeln, jeder suchte sich zu rächen, wenn er durchgefallen war; und so brachten Furcht und Bestechungen immer einen Mann auf den Thron, den die Bürgerschaft gewiß nicht gewählt haben würde, wenn sie freie Faust gehabt hätte.

Die Stoiker hatten den Lehrsatz: Nur allein der Weise sey ein König, selbst in der Sklaverei. Dieser Satz fand unter den Schildbürgern viele Freunde, denn alle waren von ihrer Weisheit überzeugt, und darum hielt sich auch ein Jeder für den Vornehmsten. Damit ein jeder Einwohner, soviel als möglich, unumschränkt herrschen könne, verachtete er alle übrigen. Und eben dadurch entstand der edle Wetteifer, daß Jeder auch den andern durch Handlungen zu übertreffen suchte, wodurch sich die Schildbürger ihren unsterblichen Ruhm erworben haben.

Außerdem war in ihrer politischen Verfassung noch eine Art von Ostracismus üblich, wodurch sie eben, wie die Athener, diejenigen zu verbannen pflegten, die im Lande zu klug zu werden gedachten, da sie sich erst einmal zur Fahne der Narrheit bekannt hatten; nur daß sie sich nicht die Mühe gaben, ihre Meinung auf Tafeln zu schreiben, sondern diese weitläuftige und langweilige Procedur mehr in's Kurze zogen. Es hatten sich nämlich einmal zwei Fremdlinge in ihrem Lande niedergelassen, die ihre Narrheit nicht mit zu machen gedachten, sondern nach ihrer eigenen Weise lebten, ihr Gewerbe trieben und sich ehrlich nährten. Da diese Sonderlinge sich nicht zu den Landesgesetzen bequemen wollten, verfolgte man sie billig so lange mit Verläumdungen, bis diese sich nach einem andern Wohnorte umsahen, und das Land dadurch von diesen gefährlichen Menschen befreit war.

 

Von der Religion der Einwohner haben wir nur sehr ungewisse Nachrichten. Man behauptet, daß die Vornehmern gar keiner bestimmten Religion sollen zugethan gewesen sein. Im ganzen Leben hielt man viel von der Toleranz und Moral, man beeiferte sich gegenseitig, und einer suchte den andern in einer recht schönen, liebenswürdigen Toleranz zu übertreffen; dabei aber wurden die Gemüther unvermerkt so erhitzt, daß sie gegen diejenigen sehr intolerant waren, die nicht so aufgeklärt dachten, als sie. Dies mußten auch die beiden Fremdlinge erfahren, von denen schon oben gesprochen ist, die es versuchten, eine wirkliche Religion zu haben, und darüber für abergläubisch ausgeschrieen wurden.

Auf dem Todbette wurden die Schildbürger immer fromm und bekehrten sich, auch in gefährlichen Krankheiten; es geschahe selbst manchmal, wenn einer des Nachts aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte. Am Morgen aber sahen sie ihre Thorheiten und waren bis auf den Abend wieder starke Freigeister.

Die Philosophie der Schildbürger war von der Art, daß es Jedem im Lande leicht war, ein Philosoph zu seyn. Denn man hatte die Einrichtung getroffen, daß sich zur Zeit immer nur einer von den Bürgern damit beschäftigte, so daß es die Uebrigen dann darin leicht hatten, daß sie bloß das nachsagten, was ihnen ihr Vorphilosophirer vorsagte. Dabei befanden sie sich sehr wohl, Keinem ward das Denken sonderlich sauer, weshalb auch diese Gewohnheit immer ist beibehalten worden.

Die Wissenschaften und schönen Künste standen bei den Schildbürgern im großen Flor. Man zählt die Poesie zwar zu den brodlosen Künsten, doch unterließ man es nicht, großes Interesse an ihr zu nehmen. Ohne Zweifel ist es auch nur den Barbaren vergönnt, die Künste zu verachten und sie nicht auszubilden; dies sahen auch die Schildbürger sehr wohl ein, und darum thaten sie auch weislich das Gegentheil. Da aber dieses Studium viele Zeit erfordert und es auch einigermaßen beschwerlich ist, sich damit einzulassen, so hatte man auch hierin Leute angestellt, die den übrigen Bürgern sagten, was sie von diesem und jenem Buche zu halten hätten. Diese Einrichtung gefiel den Einwohnern ungemein und sie übten sich daher so lange darin, bis sie es dahin brachten, daß sie es gar nicht mehr nöthig hatten, die Werke selbst zu lesen, sondern sie erholten sich nur bei denen Raths, die sie in ihrem Namen beurtheilten. Daher kam auch die wunderliche Sitte, daß es jedem öffentlichen Beurtheiler erlaubt war, sich gleich den Königen und Fürsten in seinen Briefen Wir zu schreiben, weil Jeder fest überzeugt seyn konnte, daß er immer im Namen von tausend Andern spreche. So brachten manche Leute ihre ganze Zeit damit zu, über Bücher zu sprechen, ohne selbst nur ein einziges Buch zu lesen, und die Beurtheiler wurden in ihrer Kunst so perfekt, daß sie es auch am Ende unterließen.

 

Das edle Gemüth kann aber zu weit gehn und sich gleichsam überspringen, und dieser Satz bestätigte sich auch an den Schildbürgern. Denn sie gingen am Ende so weit, daß sie ihren Spitzbuben Gedichte und Oden vorlasen, um sie vom Laster zurückzubringen, und auf die gelindeste Weise ohne Galgen zu bessern; worüber man sich aber zu wundern hat, ist, daß die Poesie bei diesen abgehärteten Leuten ihre officinelle Wirkung gänzlich verlor, so daß sie eben so merkwürdig als der pontische Mithridates sind, bei dem im Gegentheil wegen der Uebung kein Gift anschlagen wollte.

Die Malerei benutzten sie vorzüglich dazu, daß sie alle Arten der Torturen darstellten, wodurch sie es dahin bringen wollten, daß die Criminalverbrecher sogleich beim Anblick der gepeinigten Menschen ihr ganzes Geständniß ablegten. Ich habe in den neuesten Zeiten denselben Vorschlag in dem bekannten Buche Orestrio wiedergefunden, so daß nichts wahrer ist, als das alte Sprichwort: Es geschieht nichts Neues unter der Sonnen.

 

Er verordnete ebenfalls, daß alle Bücher, die im Lande gelesen würden, auch im Lande geschrieben werden sollten; er verbot die Einfuhre alles fremden Verstandes; denn er sagte, die Sachen in den Büchern sind entweder bekannt, oder unbekannt; im ersten Falle können sie ungelesen bleiben, im zweiten aber gar leicht gefährliche Folgen haben, da sie nicht im Lande ersonnen sind.

 

Meint Ihr denn, es soll unter Euch keinen einzigen vernünftigen Menschen mehr geben, weil Ihr in die Narrheit so vernarrt seyd?

 

Wir waren schon ehemals weit umher zerstreut und verbreitet, indem uns Fürsten und Herren als nützliche Staatsmänner zu sich riefen, ohne daß irgend Jemand uns rufte; wollen wir uns jetzt eben so in der Welt ausstreuen, und wo einer von uns hinfällt, da wird er bald wuchern und Früchte tragen und ringsum seine Weisheit und Tugend verbreiten. So können wir nützen, ohne jene gewaltsame Mittel zu ergreifen, und so kann sich füglich die Welt am Ende nach uns bequemen, so daß dann unsere Verfassung und unsere Lehren, so wie unsere Geschichte, die Verfassung, Lehre und Geschichte der Menschheit wird.

Man fiel ihm bei; die Schildbürger nahmen Abschied von einander und Jeder suchte sich eine Stadt oder Gegend aus, in die er wanderte, um dort zu wirken.

Schilda ist seitdem verfallen und auch keine Ruinen sagen uns mehr, wo es gestanden hat. So vergänglich ist die menschliche Größe und Alles erreicht sein Ende, so geht es auch Dir, geliebter Leser, wie mir mit dieser Geschichte, und darum wende ich mich schnell zum letzten, oder zwanzigsten Kapitel.

Seit jener Zeit ist die Nachkommenschaft der Schildbürger in der ganzen bewohnten Welt ausgebreitet. Man weiß kein Amt, in das sie sich nicht eingeschlichen hätten, keine Einrichtung, an der nicht einer von ihnen Theil genommen hätte. In Akademien, auf Universitäten, in den Collegien, auf den Richterstühlen treiben sie ihr Wesen und suchen die übrige Welt nach sich zu bequemen. Sie verschmähen keinen Stand, sondern suchen sich in jedem häuslich niederzulassen. Solltest Du, lieber Leser, auch einer von diesen Nachkommen seyn, so hoffe ich, Du erkennst meine Bemühungen in dieser Geschichtserzählung mit Dank.

Ich will nur noch aus dem Ganzen eine kleine Nutzanwendung ziehn, und dann den Lesern gute Nacht sagen. Daß man sich nämlich vor der Thorheit eben so gut, wie vor den Eroberern hüten müsse; man erlaubt ihnen nur einen Durchzug, und sie nehmen gleich das ganze Land auf immer in Besitz. Man kann fast nicht denken, ich will heute einmal ein Narr seyn! ohne es auch morgen und übermorgen, ja die ganze Woche hindurch zu bleiben. Ahme daher, lieber Leser, die Vorsichtigkeit der Stadt Hamburg nach, die nach Sonnenuntergang ihre Thore verschlossen hält, und kaum noch fremde Briefe annimmt, weil sie Verräther seyn könnten. Hüte Dich eben so vor jedem fremden, thörichten Gedanken, laß ihn in der Ferne stehen und nicht in Deine Mauern kommen, wenn nicht an Deinem Himmel die Sonne der gesunden Vernunft steht; leide es nicht, wenn die Leidenschaften und Launen heimlich oder mit Gewalt die Thore aufmachen wollen.

Ein Nachkomme der Schildbürger wird über meine Furcht vor der Narrheit lächeln, weil sie das Lieblichste ist, was er kennt, die Würze und das Salz des Lebens. Mag er es thun, ich habe wenigstens nach meiner Ueberzeugung gehandelt und Jeglichen gewarnt.

 

Der blonde Eckbert

 

Detlef Kremer: „Der blonde Eckbert spielt die generischen Möglichkeiten des romantischen Kunstmärchens beinahe vollständig aus. In der Forschung ist die herausragende Bedeutung dieses Textes immer wieder betont worden …

Denn gerade in ihrer Kombination von Phantastischem und psychologisch sehr genau motiviertem Schrecken erweisen sich Tiecks frühe Märchen - Der blonde Eckbert, Der Runenberg sowie Liebeszauber, die ich hier hervorheben möchte - als ausgesprochen stilbildend für einen großen Teil der späteren romantischen Literatur.

Die Option auf das Phantastische stützt zwei Unbestimmtheiten des romantischen Textes: die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit und die Auflösung fester Figurenidentitäten. Beide unterstehen einer paradoxen Logik, die es erlaubt, daß eine Szene zugleich Traum und fiktive Realität und eine Figur gleichzeitig sie selbst und eine andere sein kann. Tiecks psychosemiotische Dramatisierung des Unbewußten in den Phantasus-Märchen ist - mit jeweils verschiedenen Akzentuierungen - wesentlich durch folgende Elemente bestimmt: die Sicht der Kindheit als traumatischem Ort, inzestuöse Verwicklungen in der kulturgeschichtlich neuen Form der Kleinfamilie, Wahnzustände als perspektivisch verdrehte Wahrnehmung und gespaltene Persönlichkeit. Anders als bei Novalis kommt Kindheit beim frühen Tieck mehrheitlich nicht als unentfremdete Existenz in den Blick, sondern als Ort einer fundamentalen Verletzung, die sich als unbewusste Wunde durch das gesamte Leben zieht. In Der blonde Eckbert bindet Tieck die Verwirrung von Traum und Realität an einen Schrecken, der seine Wurzeln in einer inzestuösen Familienkonstellation hat. Wegen ihres Hangs zu „Müßiggang“ und „Phantasien“ wird die weibliche Hauptfigur Bertha „auf die grausamste Art“ gezüchtigt. Verzweiflung und Angst sind die mehrfach im Text genannten, zumeist unbewußten Motive für ihre Flucht aus dem Elternhaus. Unbewußt wird Egbert später zum Mörder, und „fast ohne daß (Bertha) es wußte“, flieht sie vor der väterlichen Gewalt. Zwar gelingt Berthas Flucht, die Spur der Gewalt zieht sich von hier ausgehend jedoch durch den gesamten Text. Die Übergriffe des Vaters setzen sich in der brutalen Tötung eines Vogels, der, im Besitz einer alten Frau mit magischen Fähigkeiten, Perlen anstatt Eier legt, dann in der nicht minder grausamen Ermordung Walthers und schließlich im Tod der beiden Hauptfiguren fort.

Es ist von entscheidender Bedeutung für Tiecks Kunstmärchen, daß sie auf der Vorgängigkeit und weltstrukturierenden Kraft der Phantasie und der Sprache bestehen. Initial für Berthas Flucht aus der Hütte der Alten, die sie das Lesen allererst lehrt, ist ihre exzessive Lektüre. „Wunderbare Geschichten“ aus „alten geschriebenen Büchern“ öffnen die enge Alltagswelt in verlockende Phantasiewelten, in denen es mehrheitlich um Liebe geht: „Ich hatte auch von Liebe etwas gelesen, und spielte nun in meiner Phantasie seltsame Geschichten mit mir selber“. Neben einem selbstreflexiven Porträt des einsamen romantischen Autors, der sich selbst in Phantasien über die Liebe entwirft, hat Tieck damit auch einen melancholischen und narzißtischen Ton angeschlagen, der das Märchen durchzieht und auf die abschließende Katastrophe einschwört. Die Schatten der gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden bürgerlichen Kleinfamilie spiegeln sich in Tiecks Text bereits in der Signifikanz der Namen. In ihr geben sich die Figuren als leicht variierte Verschiebungen und Verdopplungen zu erkennen. Die Unausweichlichkeit von Schrecken und Gewalt zeigt sich in einer zirkulären Anordnung von Raum und Zeit, nach der die Figuren - wie im Traum - immer wieder bei sich selbst ankommen.“

 

Der gestiefelte Kater

 

Stefan Scherer: „Das Stück persifliert die aufklärerische Forderung nach poetischer Wahrscheinlichkeit, indem der Publikumskommentar, der die Aufführung permanent unterbricht, das auf der Bühne gezeigte ‚Kindermärchen‘ vom ‚gestiefelten Kater‘ auf seinen Realitätsgehalt hin überprüft und wegen märchenhafter Unwahrscheinlichkeit verwirft. Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen (1799) potenziert das hier praktizierte Spiel im Spiel durch mehrfache Verschachtelungen von Bühnen auf der Bühne hin zum ‚limited poem unlimited‘.“

 

Nachbemerkung aus der Reclam-Ausgabe: „Den Stoff für den Gestiefelten Kater (und den Ritter Blaubart) leiht er sich aus der Märchensammlung Histoire ou Contes du temps passé, avec des moralités (1697) von Charles Perrault, einem hohen Kulturbeamten am Hof Ludwigs XIV., der Märchen teils aus anonymer mündlicher Überlieferung, teils von Autoren für sein zeitgenössisches Publikum bearbeitet hatte. Ein Kunstgriff romantischer Ironie, denn Tiecks Gestiefelter Kater ist bei allen märchenhaften Elementen kein Märchen, sondern eine geist- und anspielungsreiche Komödie über die missglückte Aufführung eines Schauspiels. August Wilhelm Schlegel, mit Tieck bekannt über den Berliner Romantiker-Kreis, bezeichnete das aberwitzige Stück als „wahrlich unerhört“ und als „Schauspiel eines Schauspiels“. Hier sitzt ein bildungsbeflissenes, aufgeklärtes Publikum mit auf der Bühne, kommentiert lautstark das Geschehen und unterbricht ständig die Handlung: Was für eine Enttäuschung! Man hatte ein „vernünftiges“ bürgerliches Drama über Liebe und Ehre und mit einer klaren moralischen Botschaft erwartet, wie es dem Zeitgeschmack entspricht, und nun wird stattdessen ein „Kindermärchen“ zur Aufführung gebracht, das von einem schlauen sprechenden Kater, einem verfressenen König, einer albernen Prinzessin, die schlechte Gedichte schreibt, einem tyrannischen Popanz namens Gesetz und einem possenreißenden Hanswurst handelt. Über „solchen Aberglauben“ sei man hinweg, die Aufklärung habe „ihre gehörigen Früchte getragen“, murrt das Publikum. Außerdem will man „guten Geschmack und keine Possen“, wie sie der Hanswurst bietet. Der ‚fällt‘ ab und zu stegreifartig aus seiner Rolle, etwa um den irritierten Zuschauern zu erklären, dass die vorherige Szene eigentlich gar nicht zum Stück gehörte; der Vorhang sei zu früh gezogen worden. Das fiktive Publikum konnte nämlich mitverfolgen, wie sich der glücklose, verzweifelte Dichter (er wohnt der Aufführung seines Märchendramas bei und interagiert immer wieder mit den Schauspielern, dem Theaterpersonal und den Zuschauern) mit dem für die Bühnentechnik zuständigen Maschinisten auf der Bühne über das Missgeschick des zu früh geöffneten Vorhangs streitet.

Als zwei Zuschauer vermuten, dass es sich womöglich gar nicht um ein Drama, sondern um die Uraufführung der Zauberflöte handelt, Mozarts berühmter 1791 uraufgeführter märchenhafter Oper auf ein Libretto von Emanuel Schikaneder, beruhigt sich die Lage nur vorübergehend. Immer wieder werden die Erwartungen des Publikums durch das von Tieck kalkulierte Chaos enttäuscht, durch rasches Hin und Her zwischen der Darstellung vor und auf der Bühne, zwischen Realität und Phantasie. Im dritten Akt verirrt sich der Dichter schließlich sogar in sein eigenes Märchen: „Wenn es nur nicht von hier so weit nach dem Palast des Königs wäre … Ich bin ganz in Verwirrung geraten, - das ist ja hier das Theater“. Am Ende gerät die Aufführung zu einem Debakel, zu einem regelrechten Theatertumult: Der unverstandene Dichter versucht vergeblich, dem erregten Publikum sein Stück zu erklären, der Souffleur rät ihm, spontan ein paar klassische Verse zu machen, um die Zuschauer zu besänftigen, woraufhin dieser ausgerechnet eine Xenie (schon Goethe und Schiller nutzen diese Form, um sich ironisch über den Literaturbetrieb ihrer Zeit auszulassen) aus dem Hut zaubert, die es in sich hat:

„Publikum, soll mich dein Urteil nur einigermaßen belehren,

Zeige dass Du mich nur einigermaßen verstehst.“

Das solchermaßen beschimpfte und als dumm erklärte Publikum bewirft den Dichter mit Äpfeln, Birnen und zerknüllten Papieren; der Dichter verlässt die Bühne. Ende. Der Vergleich mit Peter Handkes berühmtem Schauspiel Publikumsbeschimpfung von 1966 liegt nahe. Auch Ludwig Tiecks Märchendrama ist eine Satire auf den Literaturbetrieb seiner Zeit. Der Autor verschießt zahlreiche „Spötteleien rechts und links und nach allen Seiten wie leichte Pfeile“ (A. W. Schlegel) gegen damals erfolgreiche Dramatiker wie August Wilhelm Iffland und August von Kotzebue, die aufgeklärt-rührselige Stücke für ein bürgerliches Publikum verfassten. Der Theaterkritiker Karl August Böttiger (Bötticher im Gestiefelten Kater), der phrasenhafte Lobeshymnen auf die angesagten Rührstücke der Zeit verfasste, wird lustvoll parodiert.

Uraufgeführt wird Der gestiefelte Kater erst 1844 in Berlin - auf Veranlassung von Friedrich Wilhelm IV., dem ‚Romantiker auf dem preußischen Thron‘ und Förderer des Autors, allerdings mit mäßigem Erfolg. Tieck stellte resigniert fest, dass das Publikum genauso sei wie in seiner Satire: Es fehle ihm das Verständnis. Im 20. Jahrhundert erkannte man schließlich die ungeheure Modernität des Stücks, handelt es sich doch um antiIllusionistisches Theater lange vor Brecht. Der gestiefelte Kater wurde aufgeführt, als Hörspiel bearbeitet und als Vorlage für neue Stücke genutzt (etwa 1964 von Tankred Dorst in seiner Komödie Der gestiefelte Kater oder wie man das Spiel spielt). Doch vor allem ist Tiecks Märchenkomödie ein großes Lesevergnügen.“

 

Ein Prolog

 

Markus Ophälders: „Hier wird schon im Titel auf die Vorläufigkeit und der Nichtigkeit alles dessen, was vorgestellt wird, verwiesen:

 

„Ein Stück wird vor dem Theater aufgeführt

Von uns, die wir als wahre Affen

Behaupten, alles sei nur geschaffen

Um zu einem künftigen Zwecke zu nutzen

Und darum verschleudern die Gegenwart““

 

Stefan Scherer: „Im kurzen Drama Ein Prolog verselbständigt sich das szenische Element ‚Prolog‘ zu einem eigenen Stück: Zuschauergespräche im Parterre spielen verschiedene Positionen zeitgenössischer Dramatik vor dem Hintergrund entsprechender Zuschauererwartungen durch. Das angekündigte Stück findet aber nicht statt, so daß sich der Prolog als Gesellschaftsstück über die neuartige ‚Vorläufigkeit‘ des Lebens - bestimmt durch absolute Zukunftsoffenheit – darstellt.“

 

Die sieben Weiber des Blaubart

 

Detlef Kremer: „In Tiecks früher Prosa führt eine für die Spätaufklärung charakteristische Aufmerksamkeit für Kontingenz und Diskontinuität zu skeptischen bis nihilistischen Konsequenzen, wie sie vor allem von Klinger und Wezel her geläufig sind. In Die sieben Weiber des Blaubart, 1797 im Verlag von Nicolais Sohn publiziert, kommt Peter Berner, der titelgebende Blaubart, in einem für die Dialogromane Klingers typischen philosophischen Gespräch zu folgender Einsicht in die Fragmentarität und Zusammenhanglosigkeit individueller Existenz:

Warum ward ich nur je geboren? Was wollen Sie mit mir, dass ich so in die Welt hineinkam, und daß ich mich nun ablebe, und es dann doch irgend einmal aus und ganz vorbei ist? Seht, darin liegt eben kein Menschenverstand, und das macht mich so betrübt. Wenn ihr es überlegt, daß im ganzen Menschenleben kein Zweck und Zusammenhang zu finden ist, so werdet Ihr es auch gern aufgeben, diese Dinge in meinen Lebenslauf hineinzubringen.

Ganz im Gestus der spätaufklärerischen ‚Fragen ohne Antwort‘, von Fragen also, die „zu nichts“ führen, pflichtet ihm sein Gesprächspartner bei: So wäre also, sagte Bernard tiefsinnig, das ganz große Menschendaseyn nichts in sich Festes und Begründetes? Es führte vielleicht zu nichts, und hätte nichts zu bedeuten, Thorheit wäre es, hier historischen Zusammenhang und eine große poetische Composition zu suchen.“

 

Ein Tagebuch

 

Detlef Kremer: „In Ein Tagebuch spielt Tieck mit den Erwartungen an intime Bekenntnisse und „Selbsterkenntnis“, die jedoch nicht erfüllt werden, und entlarvt das öffentliche Tagebuch-Schreiben als Komödie und Maskenspiel, das ein Autor mit sich selbst und dem Publikum spielt. Gleichzeitig unterbricht er seine „Selbsterkenntnis“ mit längeren Passagen aus Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt (1640 - 1650) und Grimmelshausen Simplicissimus Teutsch (1668 – 1669), die mit den Ausführungen des Tagebuchs in diegetische Korrespondenzen treten.“

 

Es ist gar keinem Zweifel unterworfen, daß es von sehr mannichfaltigem Nutzen sei, ein Tagebuch zu halten. Man kann darin am besten die Dokumente über sich selbst niederlegen, und noch nach Jahren erinnert man sich der Vergangenheit genau und der verschiedenen Gedanken und Gefühle. Darum halten sich auch die Herrnhuter so gern Tagebücher, damit es ihnen bequem fällt, sich beständig beobachten zu können; ich habe keinen schlechtern oder bessern Grund dazu, das meinige anzufangen.

In meiner Kindheit wurde ich schon dazu angeführt, um mich in der Selbstkenntniß zu üben; indessen ging es mir damals sehr übel. Ich log ungemein viele Empfindungen in mich hinein, damit nur die Blätter nicht leer bleiben durften. Das Tagebuch wollte anfangs gar nicht von der Stelle rücken, bis ich auf die heilsame Erfindung verfiel, mit mir selbst eine Komödie aufzuführen. Ich hoffe, daß dieser Fall nicht jetzt von neuem eintreten soll.

Und so beginne denn nun der Monolog mit mir und über mich selbst. Ich habe mich den ganzen Tag auf den Gedanken gefreut, am Abend mein Tagebuch anzufangen, und nun ist es Abend, und ich sitze wirklich hier und schreibe daran, und doch freue ich mich nicht mehr. Ja wenn uns doch alles in der Ausübung eben so neu bliebe, als uns oft der erste Vorsatz entzückt! Wenn meine Kindeskinder in diesem Werke blättern und lesen, dann wird mir ganz anders zu Muthe sein, als mir jetzt ist.

Ich muß heut nur wahrlich aufhören, denn mir will durchaus nichts Denkwürdiges beifallen.

 

Franz Sternbalds Wanderungen

 

Manfred Engel: „Eine Inhaltsangabe zu Sternbald ist sogar noch schwerer - man könnte, mit einigem Recht, behaupten, daß der Roman gar keine Handlung habe. Berichtbare Ereignisse gibt es nur wenige: Im Spätsommer 1521 bricht der 22-jährige Maler Franz Sternbald von Nürnberg, wo er Schüler Albrecht Dürers war, zu einer großen Reise auf, „um in der Fremde seine Kenntnis zu erweitern und nach einer mühseligen Wanderschaft dann als ein vollendeter Meister zurückzukehren“. Sein Freund Sebastian bleibt zurück, aber während der ganzen Reise werden er und Franz in Briefen ihre Erfahrungen austauschen …

Die Reise und der Roman finden ihr (vorläufiges) Ende in Rom, wo Franz Michelangelos Jüngstes Gericht bewundert: „eine Handlung, die keine ist … tausend Begebenheiten, die sich durchaus nicht zu einer einzigen verbinden lassen“.

Es gibt viele Kunstgespräche, einige den Haupttext spiegelnde Binnenerzählungen und mehrere Träume; zahllose Gedichte werden von den Reisenden vorgetragen oder gesungen, meist auch selbst verfaßt; viele Bilder (darunter solche, die Franz auf der Reise malt) und Landschaften werden beschrieben. Lebensgeschichten der Romanfiguren werden erzählt, und es kommt zu kurzzeitigen Liebesbegegnungen …

Schon im ersten Buch des Romans wird deutlich, dass Franz Sternbald in vieler Hinsicht an den gleichen Problemen laboriert wie William Lovell: Auch er hat Züge des weltflüchtigen Schwärmers, auch ihm erscheint die Außenwelt mitunter ontologisch unsicher („vielleicht eine Schöpfung seiner Einbildung“), die menschliche Lebenswelt als „Labyrinth“ und „allerarmseligster Mechanismus“, das Ich als „unergründlicher Strudel“ und „Rätsel“, ständig bewegt von der „endlosen Wut des erzürnten, stürzenden Elements“. Auch er steht in der dualistischen Spannung zwischen Geist/Seele und Sinnlichkeit (wiederum topographisch-topisch im Gegensatz zwischen ‚Norden‘ und ‚Süden‘ - diesmal zwischen Deutschland und Italien – gestaltet. Auch in Sternbalds spätmittelalterlicher Welt sind mindestens die Handelsstädte von ebenso egoistischem wie seelenlosem Gewinnstreben gekennzeichnet. Und auch er sieht sich mit einer Vielfalt nur relativ gültiger Weltanschauung konfrontiert: „Haben nicht alle Zungen recht und alle unrecht?“.

Doch haben all diese Probleme ihr destruktives Potential weitgehend eingebüßt. Sternbald ist – wie Wilhelm Meister - letztlich ungefährdet. Verwirrungen sind, auch für ihn, allenfalls ‚Umwege‘ (so Goethes Metapher) und als solche notwendige und letztlich sinnvolle Bestandteile seines ganzen Lebensweges, wie Albrecht Dürer es ihm einst prophezeit hat: „Wenn Franz auch eine Zeitlang in Verwirrung lebt und durch sein Lernen in der eigentlichen Arbeit gestört wird … so wird er doch gewiß dergleichen überleben und nachher aus diesem Zeitpunkte einen desto größern Nutzen ziehn“. In Sternbald ist das Überleben des Helden also ebenso gewiß wie in Lovell dessen Untergang. Vom Kernpersonal des Romans kann (vielleicht mit Ausnahme von Bolz) niemand einfach als ‚schlecht‘ oder ‚böse‘ gelten; alle verschiedenartigen Positionen - Weltanschauungen wie Kunstauffassungen - lassen sich, gut frühromantisch, symphilosophisch miteinander vermitteln.“

 

Tilman Krause: „Hauptobjekt dieser Verklärung ist, wie sich versteht, die Kunst. Keiner hat wie Tieck den Ton jener Kunstfrömmigkeit getroffen, der im 19. Jahrhundert hierzulande geradezu endemisch wurde, vor allem bei Komponisten und Malern. Regelrecht zur Bibel wurde insbesondere für die sogenannten Nazarener, die im Stil der Frührenaissance ihre Andachtsbilder vor einer meist italienischen Kulisse schufen, Tiecks Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“. Dieser Franz („Ich will immer ein Kind bleiben“) ist der Prototyp jener Galerie von jungen Männern, die Tieck bis ins Alter immer wieder gestaltet hat. Ruhelos, nervös, zweiflerisch, vom Übermaß der Empfindung und Einbildungskraft oft in ihrem Tun gelähmt, suchen sie das Heil in der Einfachheit, ja in der Einfalt.

Und sie suchen ihren Meister. Für Franz Sternbald ist das zunächst Albrecht Dürer, so „ernst und deutsch“, dann wird es, in Italien, wo sonst, der „göttliche Raffael“. Die Darstellung Italiens bleibt bei Tieck ein wenig kursorisch, das Werk ist unvollendet. Tieck verlor immer die Lust, wenn sich beim schnellen Schreiben große Schwierigkeiten einstellten. Umso plastischer sind seine Beschreibungen eines imaginären Nürnberg, der Dürer-Stadt, mit ihrem Gewerbefleiß, der sich so glanzvoll mit Kunstsinn paart. Hier, in Tiecks „Sternbald“ von 1798 und nirgends sonst, schlägt die Geburtsstunde von Nürnberg als deutschem Gedächtnisort par excellence, dem später auch E. T.A. Hoffmann und dann vor allem Richard Wagner mit seinen „Meistersingern von Nürnberg“ huldigen werden.“

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article245587332/Ludwig-Tieck-zum-250-Geburtstag-Der-Koenig-der-Romantik.html

 

Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie.

 

Der Wolf. Muß nun hier in den dichtesten Gesträuchen

Wie ein Vertriebener auf und nieder schleichen,

Und bin verstoßen und ausgetrieben.

Da ist kein Wesen, das mich möchte lieben;

Keiner kömmt mir nah, keiner mag mir traun,

Sie alle mit Abscheu auf mich schaun.

Und warum wird mir dies alles gethan?

Weil ich nicht heucheln und schmeicheln kann.

Weil ich mich nicht erniedern will zum Knecht,

So denkt ein jeder von mir schlecht. –

Wie oft bin ich gekränkt und verkannt,

Und umgetrieben von Land zu Land,

Vergeblich suchend die Sympathie,

Wohl Schläge fand ich, doch nimmermehr die;

Nach mir geworfen, mit Pulver geschossen,

Und Fallen gestellt, und dergleichen Possen;

Man schrie, wo ich mich ließ sehn bei Tageshelle;

Da geht der Wolf! den nehmt beim Felle!

Und dennoch reden sie von Toleranz,

Und dünkt sich duldend jeder Alfanz,

Wenn er des Sonntags im ordinären Rocke geht,

Bei Aermern auch Gevatter steht.

Und menschlicher als der Mensch ist der Hund,

Mein Geschwisterkind, und doch im Bund

Mit unserm gemeinschaftlichen Tyrannen.

Da kommt ja Spitz, mein Freund! von wannen

Des Weges, guter, edler Spitz?

 

 

Wolf. Ich möchte nicht sein in deiner Lage,

Du lebst doch nur erbärmliche Tage,

Hast keinen eignen Willen, bist nicht frei,

Kriegst auch Schläg' ohn' Ursach. Verzeih,

Daß ich dir alle deine Freude

Und deinen edlen Stand verleide!

 

 

Wolf. Nein, Freund, wir wollen uns so was ersparen,

In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thränen

An jene Tage der Unschuldzeit,

Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen,

Wie trug ich von Wirken und Nützen ein Wähnen,

Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit!

Es kann sich keiner in Idealen

So weit versteigen, so prächtig sie malen,

Wie ich alle Talente und alle Kräfte

Nur widmen wollte dem Menschheitsgeschäfte,

Dem herrlichen Fortrücken des Jahrhunderts,

Versprach von meinem Wirken mir viel Wunders,

Und alles lief gar lustig ab,

Wie ich dir schon sonst erzählet hab.

 

Hund. Erzähle noch einmal, ich höre dir zu,

Es sitzt sich hier gut in der stillen Ruh.

 

Wolf. Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte

Beim Bauer Hans, wo du dientest als Knecht,

Ich mich aus meinem Wald entfernte

Und alle Künste des Hundes lernte,

Verläugnete ganz mein eigen Geschlecht,

Um nur dem Staate zu werden recht.

Ich verscheuchte die Diebe, bewachte den Hof,

Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff,

Erlitt oft Hunger, der Prügel nicht wenig,

Doch war ich in meinen Gedanken ein König;

Ich nutzte, und war mit meiner Bestimmung zufrieden,

Mir schien ein herrliches Loos beschieden.

 

Hund. Still! mir ist, als ob ich Hasen spüre.

 

Wolf. Sei ruhig, du Narr, hör zu und verstöre

Mir meine tragische Leidensgeschicht

Durch derlei platten Egoismus nicht.

Vernimm denn, wie es ein Ende nahm,

Und wie ich durch Erfahrung dazu kam,

Die Menschen zu hassen, die ich wie Brüder

Geliebt, die ich meine Freunde geheißen;

Jezt sind sie mir in den Tod zuwider,

Ich möchte sie alle mit den Zähnen zerreißen! –

Meine Phantasie stand damals in ihrer Blüte

Und jugendlich schön war mein Gemüthe,

Ich ging im Walde zuweilen spazieren,

Mußt mir das Glück eine Wölfin zuführen.

O Freund! was lernt ich da erst kennen,

Einen Leib, so unbeschreiblich hold,

Einen Geist, mit keinen Worten zu nennen,

Verstand, nicht zu bezahlen mit Gold,

Man hätte von ihr ein Buch schreiben können,

Elisa, oder die Wölfin wie sie sein sollt!

 

Hund. Erspare dir das Entzücken, mein Freund,

Du hältst mich auch für verliebt, wie's scheint.

 

Wolf. Was soll ich dir sagen? Ich liebte sie, sie mich,

Unsre Wonnemonde waren so wonniglich;

Ich sah sie im Wald, sie besuchte mich heimlich,

Wir wünschten, wir wären unzertrennlich.

Eines Morgens verspätet sich die Theure,

Die Bauern kommen zum Dreschen in die Scheure,

Finden da das unvergleichliche Weib,

Drauf mit den Dreschflegeln über den zarten Leib,

Und hast du nicht gesehn, von Wuth gezügelt,

Die Geliebte vom Hofe herunter geprügelt!

 

Hund. Da war dir wohl die Petersilie verregnet?

 

Wolf. Ist es so, daß ihr der Liebe begegnet,

Ihr Menschen? dacht ich in meinem Sinn,

Doch unterdrückt ich meinen Grimm,

Ich lernte mich unter der Noth bequemen,

Die Leidenschaft meines Herzens zähmen.

Es währte nicht lange, so merkten's im Dorf

Ich sei kein Hund nicht, sondern ein Wolf.

Was liegt am Namen? da sie mich kannten,

Da ich so treue Dienste gethan?

Doch war ich seitdem ein verlorner Mann,

Weil sie dies Vorurtheil nicht verbannten.

Man traut mir nicht, man legt mich an die Kette,

Als wenn ich ein Verbrechen begangen hätte.

Ich fügte mich mit O! und Ach!

Auch wieder in die neue Schmach;

Doch Nachts vernahm ich einen Plan,

Vor dem mein ganzes Blut gerann:

Man beschloß, mich so in Fesseln zu legen,

Daß ich nicht Hand, nicht Fuß könnte regen;

Hernach, so hört' ich sie sich besprechen,

Wollten sie mir ungesäumt die Zähne ausbrechen,

So könnten sie mit mir machen, was sie wollten,

Und wenn sie mich auch schinden sollten;

Könnten mich auch an Bärenführer verkaufen,

So müßt' ich als Narr die Märkte durchlaufen,

Und wäre man meiner satt, könnte man ohne Gefahr

Mich augenblicklich todtschlagen gar.

O Spitz, wie das mein Herz durchschnitt!

 

Hund. Sie spielen einem kuriose mit.

 

Wolf. Meiner Wuth riß die Kette bald,

So rannte ich in den nächsten Wald.

Ich will schweigen, was ich seitdem erfuhr,

Denn es empört die geduldigste Natur;

Kugeln summten oft dicht um die Ohren,

Eisen waren mir mörderlich gestellt,

Hunde hatten mich oft beim Fell;

O Freund, nirgends ist eine Kreatur

So schlimm in aller weiten Welt

Als wie ein armer Wolf geschoren.

Seitdem ist aber auch mein Plan,

Unheil zu stiften, so viel ich nur kann;

Seitdem thut mir nichts gut,

Als nur der Anblick von Blut.

Ich will alles Glück ruiniren,

Dem Bräutigam seine Braut massakriren,

Die Kinder von den Eltern trennen,

Und was man Unglück nur kann nennen,

Darauf soll dieser Kopf auch sinnen.

Man hat mich so weit endlich getrieben,

Ich will sie fressen, da sie mich nicht lieben,

Und wärst du nicht mein Vertrauter eben,

Ich hätte dir schon den Rest gegeben.

 

Hund. Gehorsamer Diener, für die gütige Ausnahm!

Doch hast du denn keine Schand' noch Schaam,

Daß dich nicht dein böser Vorsatz gereut?

Glaubst du denn nicht an Unsterblichkeit?

An Bestrafung nach dieser Zeitlichkeit?

 

Wolf. Nein, Kerl, ich halte alles für Aberglauben!

Die Freuden dort sind gewiß nur Trauben,

Die uns zu hoch hängen, mein dummer Freund,

In gar zu weitem Felde das scheint:

Was ich fresse in meinen Leib hinein,

Das ist gewiß und wahrhaftig mein!

Kann mich zu keiner andern Lehr bequemen.

 

Hund. Ei pfui! ich muß mich für euch schämen,

Will auch nicht mit euch Umgang weiter pflegen,

Ich geh, aus Furcht der Ansteckung wegen. Ab.

 

Wolf. Das sind die Köpfe, so dumm und seicht,

Die jede Furcht und Beklemmung erreicht,

Die nichts von Kraft und Selbstständigkeit wissen;

Hätt' ich ihn doch lieber in Stücke zerrissen!

Doch will ich sein liebes Rothkäppchen fangen,

Das ist seit lange schon mein Verlangen;

Ihr Vater ist überdies ein Mann,

Der mir schon tausend Drangsal angethan.

Will mich auf den Weg gleich machen,

Hungert mich recht nach ihr in meinem Rachen. Geht ab.

 

 

Der Wolf im Bett.

So war ich glücklich herein gekommen

Und habe der alten Frau das Leben genommen,

Die Thür stand, gegen mein Verhoffen

Im Hof' und auch in Hause offen;

Die Alte war erzürnt und wollte sich wehren,

Doch durft' ich mich daran nicht kehren,

Nun ist sie erwürgt, liegt unter dem Bette;

Wünscht' nur, daß ich Rothkäppchen hier hätte.

Doch will ich schlau die Sache anstellen

Und mich als das alte Weib jezt stellen;

Ich setze die Haube auf, es wird schon finster,

Es kommt nicht viel Licht durch die Fenster,

So lieg' ich im Bett, als wär' ich kränklich.

Ich höre sie schon, sie kommt nachdenklich.

 

Rothkäppchen tritt herein.

 

Rothkäppchen. Großmutter, bist du schon zu Bett gegangen?

 

Wolf. Schon seit einer Stunde, ich hatte Verlangen

Dich, liebes Kind, wieder zu sehn, mir ist nicht wohl.

 

Rothkäppchen. Ich dich von der Mutter schön grüßen soll,

Sie schickt dir ein gekochtes Huhn,

Das wird dir wohl in der Schwachheit thun.

Der Vater war nicht gut aufgelegt,

Ich lief schnell fort, weil er manchmal schlägt,

Er will nicht immer, daß ich zu dir gehe

Und dir in deiner Noth beistehe. –

Du liegst zu Bett, doch am verkehrten Ende.

Ei, Großmutter, was hast du für närrische Hände?

 

Wolf. Sie sind gut, damit was fest zu halten.

 

Rothkäppchen. Es wollten zu Hause die beiden Alten,

Daß ich die Nacht bei dir bleiben sollte.

 

Wolf. Das war es, was ich selber wollte.

 

Rothkäppchen. Sie sagen, es ist nicht gut in der Nacht zu gehn,

Man könnte mir da nicht für Schaden stehn.

Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!

 

Wolf. Ich kann damit desto besser hören.

 

Rothkäppchen. Das Fenster steht auf, es zieht kalt herein.

 

Wolf. Laß nur, im Bett wird dir wärmer sein.

 

Rothkäppchen. Ich hatte so zu dir zu kommen Verlangen,

Nun wird mir hier in der Stube so bange.

Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!

 

Wolf. Desto besser sie zum Sehen taugen.

 

Rothkäppchen. Auch die Nase sitzt dir nicht so wie immer.

 

Wolf. Mein Kind, das macht der Abendschimmer.

 

Rothkäppchen. Ei Herr Je! was hast du für 'nen großen Mund!

 

Wolf. Desto besser er dich fressen kunnt!

 

Rothkäppchen. Ach! Hülfe! Hülfe! kommt, helft meiner Noth!

 

Wolf. Du schreist vergebens, du bist schon todt!

 

Der Vorhang des Bettes fällt zu.

 

Die beiden Rothkehlchen fliegen durch das Fenster.

 

Erster Vogel. Komm, laß uns durch das Fenster fliegen.

 

Zweiter Vogel. Rothkäppchen ist drinne, unser Vergnügen.

 

Erster Vogel. Sie liegt wohl im Bett, ich seh' nach ihr.

 

Hüpft hinter den Vorhang.

 

Zweiter Vogel. Die Luft zieht hübsch durch Fenster und Thür.

 

Erster Vogel kommt zurück. O weh! O weh! O Jammer und Noth!

 

Zweiter Vogel. Was giebts?

 

Erster Vogel. Der Wolf ist da, Rothkäppchen schon todt.

 

Beide. O weh! o weh! der großen Noth!

 

Der Jäger sieht zum Fenster herein.

 

Jäger. Was schreit ihr denn so gar erbärmlich?

 

Die Vögel. Rothkäppchen ist todt ganz Gotts erbärmlich!

Der wilde Wolf hat sie zerrissen,

Und auch zum Theil schon aufgefressen.

 

Jäger. Daß Gott erbarm! ich schieße zum Fenster hinein. –

        Er schießt hinein.

Da liegt der Wolf und ist auch todt,

So muß für alles Strafe seyn,

Er schwimmt in seinem Blute roth.

Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn,

Doch kann er nie der Strafe entgehn.

 

Der Runenberg

 

Detlef Kremer: „In diesem Märchen gibt der Held Christian, von „alten Büchern“ verlockt, schrittweise seine Alltagsbindung auf und läßt sich auf eine phantastische Existenz ein. Je stärker er sich an die erotische und ästhetische Erscheinung der Runenberg-Frau anschließt, desto weiter entfernt er sich vom Alltag und seiner Ehefrau, bis hin zum Schlußbild des Märchens, das von wechselseitigem Unverständnis gekennzeichnet ist.

Die Topographie des Märchens ist durchaus allegorisch pointiert und als Effekt einer künstlerischen Imagination einsichtig. Im Wesentlichen reduziert sie sich auf einen dichotomischen Kontrast von Ebene und Gebirge, auf den Konflikt eines erhabenen Liebes- und Kunstgenusses auf den Höhen des Runenbergs mit dem ruhigen, aber langweiligen Familien- und Ehealltag in der Ebene. Der Vater warnt seinen von den exotischen Lüsten des Runenbergs infizierten Sohn Christian:

Laß uns gehen, daß wir die Schatten des Gebirges bald aus den Augen verlieren, mir ist immer noch weh ums Herz von den steilen wilden Gestalten, von dem gräßlichen Geklüft, von den schluchzenden Wasserbächen: laß uns das gute, fromme, ebene Land besuchen.

In Der Runenberg finden sich in gedrängter Form die zentralen Motive der romantischen Engführung von Skriptoralem und Erotischem: eine enge metonymische Verknüpfung von Frau und Schrift sowie die Substitution von begehrter Frau und Schrift. Christian erhält nach einer wahren Epiphanie der beinahe nackten, überirdisch schönen Frau, das Haar schon lustvoll geöffnet, eine Schrift-Tafel von ihr, deren Schriftzüge ihm zwar unverständlich sind, die aber im Grunde nichts anderes als eine fetischisierte Synekdoche der Frau darstellt. Der Text auf der „magischen steinernen Tafel“ wiederholt im Kleinen die kristalline, in „vielfältigen Schimmern“ funkelnde, von einem „wandelnden Lichte“ getragene „weibliche Gestalt“. In Anspielung auf die christliche Eucharistie, die Transsubstantion des Körpers, benennt die Runen-Frau ihre Metamorphose in Schrift, als sie Christian die Tafel überreicht: „Nimm dieses zu meinem Andenken!“ In der Forschung ist Christians Passion für das Bergwerk, das kalte Metall und die anorganischen Steine häufig auch als frühe Abrechnung mit und als Warnung vor der beginnenden kapitalistischen Geldwirtschaft gelesen worden. Gewiß ist diese Anspielung im Märchen angelegt, wird aber weniger konsequent durchgeführt als die erotisch-skripturale Motivkette. In einem Text, dessen Titel bereits einen Berg aus Schriftzeichen verspricht, liegt es nahe, daß der phantasiebegabte Jüngling sich gegen die väterliche Warnung für die poetische ‚Runen‘-Existenz entscheidet. Am Ende des Märchens läßt Tieck ihn als „wunderbare Gestalt“ im dionysischen Habitus erscheinen. Barfüßig, in zerrissenem Rock, bärtig, mit den Insignien des Haarkranzes aus grünem Laub und des grünen Fichtenstabs versehen, zitiert der Wanderer Christian den antiken Dionysos. Die Entscheidung für die Muse vom Runenberg spielt auf die Schriftstellerexistenz an, die erhabene Erfahrungen im Berg der Runen verspricht, als Preis aber den Verzicht auf bürgerliches Alltagsglück und drohenden Wahnsinn verlangt. Tiecks Märchenjüngling ist am Ende einsam und für seine Familie „so gut wie gestorben“. Die Ehefrau kann entsprechend mit den „Edelsteinen“, die er in einem Sack aus dem Runenberg mitgebracht hat, nichts anfangen. Für sie sind das lediglich „Kieselsteine“.“

 

Liebeszauber

 

Detlef Kremer: „Auch Emil, der Held des Märchens Liebeszauber, vermag die Grenzen seiner voyeuristisch gerahmten Einsamkeit nicht zu überschreiten. Den Zusammenhang von perspektivischer Verwirrung der Wahrnehmung und erotisch-narzißtischer Projektion variiert Tieck mit einem noch blutrünstigeren Schreckensszenario, dem zunächst ein kleines Kind, dann das Liebespaar selbst zum Opfer fällt. Abend für Abend pflegt der melancholische, menschenscheue Emil ein erotisches Blickarrangement, das seine Liebe in eine autoerotische Praxis und ihr Objekt in ein virtuelles Bild überführt: „Eine Spalte blieb hell, groß genug, um von Emils Standpunkt einen Teil des kleinen Zimmers zu überschauen, und dort stand oft der Glückliche bis nach Mitternacht wie bezaubert, und beobachtete jede Bewegung der Hand, jede Miene seiner Geliebten. Tieck kehrt den narzißtischen Kern dieses Bildarrangements drastisch hervor, wenn er seinen Helden eines Abends Zeuge der monströsen rituellen Schlachtung eines Kleinkindes werden läßt und darin, nur leicht allegorisch verstellt, Zeuge seiner eigenen Kastration. In dem Augenblick, als ihn sein abgetrenntes ‚Glied‘ in Gestalt eines „scheußliche(n) Drachenhals(es)“ als ein Fremdes anblickt, als sich also sein Blickarrangement gegen ihn selbst kehrt, wird er ohnmächtig:

Ein scheußlicher Drachenhals wälzte sich schuppig länger und länger aus der Dunkelheit, neigte sich über das Kind hin, das mit aufgelösten Gliedern der Alten in den Armen hing, die schwarze Zunge leckte vom sprudelnden roten Blut, und ein grün funkelndes Auge traf durch die Spalte hinüber in Emils Blick und Gehirn und Herz, daß er im selben Augenblick zu Boden stürzte.

Zwar gibt es ein Begehren, aber es ist narzißtisch durchsetzt, und deshalb kann es zu keiner Vereinigung mit der Geliebten kommen. Emil hat hier ganz buchstäblich ‚rot‘ gesehen und ist so traumatisiert, daß er kurz vor der Hochzeit mit der Geliebten von Gegenüber wieder ‚rot‘ sieht und die rot gekleidete Braut ersticht.“

 

Der Hexen-Sabbath

 

Daniel Lutz: „Die wiederholte Warnung vor religiösem Fanatismus in den Dresdner Novellen ist in Tiecks Fortschrittsskepsis begründet, die den Rückfall in überwunden geglaubte Zustände jederzeit für möglich hält. Demonstriert wird diese Einsicht an der spätmittelalterlichen Welt in Hexen-Sabbath (1831): Der gesellschaftliche Kreis um Catharina Denisel sieht den Klerus bereits im Niedergang und glaubt sich dem Einflußbereich der Inquisition entzogen, bevor diese mit aller Härte ihre Macht ausspielt.“

 

Der junge Tischlermeister

 

Detlef Kremer: „Der Handwerker Wilhelm Leonhard lebt zu Beginn des Textes, von einigen für ‚Künstler‘ nicht eben untypischen melancholischen Schwankungen abgesehen, recht zufrieden in seiner Ehe und einem patriarchalen Meisterbetrieb, als er sich von einem befreundeten Adligen, dem Baron von Elsheim, zu einer Reise ins Fränkische überreden läßt, mit dem erklärten Ziel, an einer Inszenierung von Goethes Götz von Berlichingen mitzuwirken. Am Ende kehrt er zufrieden wieder zurück in den ruhigen Alltag seiner Ehe und seines Handwerks. Verlockungen und Anfechtungen, soweit sie denn anfangs bestanden haben, sind überwunden. Anders folglich als die Künstler in Tiecks frühromantischen Texten, anders auch als die Künstlerfiguren E. T. A. Hoffmanns, die als zur Kunst berufene Außenseiter angelegt sind und ihr Künstlertum nur im schroffen Gegensatz zu Alltag und Geselligkeit leben können, ist Leonhard, in dessen Handwerkertum Tieck eine Reflexion der Kunst integriert, auf einen persönlichen Ausgleich von Künstler und Gesellschaft angelegt. Diese Versöhnung begreift Tieck ausdrücklich als Abkehr von den ‚Taugenichtsen‘ der Romantik: „Ich muß nach Haus, und um kein Taugenichts zu werden, in meine alte Ordnung zurückkehren“. Dieser Vorsatz des Tischlermeisters taugt offenkundig weder als Selbstbeschreibung des typischen romantischen Künstlers noch trifft er das Bild des exzentrischen Künstlers, das die Romantik, vermittelt über Symbolismus und Ästhetizismus, den Avantgarden der Moderne überliefert hat.

Es darf freilich nicht übersehen werden, daß Tieck bei aller Warnung vor Ästhetizismus und Bohème, die auf eine ethische Rückversicherung gänzlich verzichten, „Vertretern von Randgruppen viel Raum in seinem Panorama der zeitgenössischen Gesellschaft zugebilligt“ hat. In einer arabesken Fügung werden Porträts von Exzentrikern, Enthusiasten und Wahnsinnigen entfaltet, ohne daß diese vorschnell diskreditiert würden. Überhaupt verdichtet sich Tiecks Ablehnung des Ästhetizismus in Der junge Tischlermeister nicht zu einer eindeutigen moralischen oder ideologischen Position. Ganz im Gegenteil ist der polyphone Dialogstil des späten Tieck auf die Inszenierung einer liberalen Meinungspluralität angelegt. Was sich als eine Art ethischer Kasuistik durchaus im Vorgriff auf den Gesprächsrealismus Fontanes begreifen läßt, bleibt immer rückgebunden an eine skeptische Balance der Meinung. Und selbst wenn dieser Tieck der ‚hohen‘ Kunst in diesem Zusammenhang nach wie vor einen zentralen Stellenwert beimißt und die Kunstreflexionen einen entsprechend großen Raum in den Gesprächen dieser Novelle einnehmen, so erscheint die Kunst im Spätwerk doch nicht mehr in einem ungebrochenen enthusiastischen Licht. Auch sie bleibt nicht verschont von einer skeptischen Relativierung und historisch bedingten Desillusionierung. In diese Richtung weist auch der Umstand, daß beide Helden, der Tischlermeister Leonhard wie der Baron von Elsheim, in ihrer Standeszugehörigkeit im Grunde anachronistische Figuren sind. Der in Fragen der Literatur versierte Baron sieht sich seines Standes entfremdet, weil der gesamte porträtierte Adel, vor allem der höher gestellte Adel, einem rückwärtsgewandten flachen Klassizismus frönt. Einen Gleichgesinnten findet er lediglich im Bürgertum. Der bürgerliche Handwerksmeister sieht sich durch den beginnenden Industriekapitalismus in seiner ökonomischen Existenz bedroht. Darüber hinaus gefährden kapitalistische Arbeitsteilung, Rationalisierung und Funktionalisierung nicht nur den traditionellen Handwerkerstand, sondern jede ganzheitlich verstandene soziale Lebensform. Allenfalls die Kunst, so vielleicht eine Quintessenz von Tiecks Novelle, vermag ein utopisches Residuum dieser humanen Existenz zu versprechen, ein Residuum allerdings, das sich seiner wahrscheinlichen Desillusionierung und jedenfalls Randständigkeit skeptisch bis resignativ bewußt bleibt.“

 

Michael Neumann: „Durch die Konstellation unterschiedlicher Figuren samt ihrer Meinungen und Schicksale will die Didaxe den Leser anregen, über die Kunst des rechten Lebens nachzudenken:

Ich glaube, daß alle, oder doch die meisten Menschen aus Widersprüchen zusammengesetzt sind; diese nun auf gelinde, gewissermaßen kunstreiche Art zu lösen, ist die Aufgabe des Lebens. Gewaltsame Leidenschaften, erschreckendes Unglück, tolle Ausschweifung sind wohl sehr oft Mangel an Geschick und Kunstsinn zu nennen. Ist es nicht wieder in anderer Gestalt die gebildete Vereinigung der geraden und krummen Linie, der notwendige Zierrat, der dem nackten Leben zur schmückenden Umkleidung gegeben wird? Was sich zu widersprechen scheint, vereinigt sich gelinde und schön, gerade das, was überflüssig und unvernünftig aussieht, ist es, was dem Wahren, Festen, und Richtigen Gehalt und Schönheit gibt. Vielleicht sind wir gegen unsere Vorfahren gehalten hierin eben so zurück, wie im Hausrat, wenn gleich mancher unter uns mit jenen Buchdruckerstöcken oder Schnörkelfiguren zu vergleichen ist, welche die geschweifte Linie gleichsam toll gemacht hat. Die Ausschweifung an sich selbst soll nicht da sein dürfen.

Dieses Bekenntnis hat Tieck der Titelfigur in Der junge Tischlermeister in den Mund gelegt. Dieser Handwerker ist ein Kunsthandwerker und vereinigt so in sich einen der grundlegenden Widersprüche des Menschen: die Sorge um das „nackte Leben“ und um die „schmückende Umkleidung“, die alles andere als „überflüssig“ ist. Die Romantik hatte aus diesem Grundwiderspruch ein dualistisches Weltmodell gezogen: Der Romantiker verkörpert das Andere des auf Nutzen, Vernunft und Sicherheit eingeschworen ‚Philisters‘. Tieck sucht den Dualismus durch ein Menschenbild abzulösen, das ihn als anthropologischen Grundwiderspruch in sich aufnimmt. Vernunft und Poesie gehören essentiell zum Menschen; also muss, trotz ihres Widerspruchs, beiden ihr Recht werden. Philister und Schwärmer erscheinen dann gleichermaßen als verdorbene Abweichungen von der rechten, wenn auch polar gespannten Mitte.

Mit der Suche nach dem rechten Maß, nach welchem die auseinanderstrebenden Wesensmöglichkeiten des Menschen zusammenzufügen sind, greift Tieck nicht nur über die Romantik zurück auf die Aufklärung; er findet hier Anschluß an eine viel ältere, antike und christliche Argumente verknüpfende Tradition, die Ethik und Lebenskunst auf diese Tugend verpflichtet, und folgt mir diesen Rückgriff abermals einer Tendenz seiner Zeit. Das rechte Maß bedeutet für Tieck das Balancieren von Gegensätzen: von Nüchternheit und Leidenschaft, Vernunft und Poesie, Konsequenz und Exzentrik, Sozialität und Individualität. Dieses Maß wird von Tieck kaum je formuliert. Seine Beschaffenheit ergibt sich vor allem ex negativo: aus der Beobachtung jener zahlreichen Fälle, in denen die rechte Balance unübersehbar gestört ist. Positive Beispiele gibt es auch, so etwa der Parlamentsrat Beauvais und der Weltpriester Watelet in Der Aufruhr in den Cevennen, doch selbst diese sind nie endgültig gesichert gegen Irrtum und Einseitigkeit. Es zeichnet diese Geschichten - im Unterschied zu den meisten ihrer Vorbilder – aus, dass es in ihnen kaum eine Figur gibt, die gar keiner Korrektur bedürfte.

Tiecks Didaxe arbeitet indirekt. Weder spricht sie ihre Botschaft klar aus noch verkörpert sie sich über eindeutige Vorbildfiguren. Vielmehr zwingt sie den Leser durch die Diskussionen und Kontrastierungen der Geschichten seinen eigenen Weg zu finden. Vielen Zeitgenossen erschien das als feige, ja unanständig. Theodor Mundt etwa ärgerte sich 1836 über den „zweideutig lächelnden Aristophanes an der Elbe“. Bei einem genaueren Blick auf die Dresdner Novellen tritt die Kontur dieses Ethos jedoch deutlich genug hervor. An ihm werden die Figuren der Lustspiel-Geschichten gemessen und zurechtgebogen. Nach ihm strebt der junge Tischlermeister, den Shakespeare und die Liebe aus seiner etabliert-vernünftigen Bahn geworfen haben. Seinen Wert demonstrieren die historischen Novellen Der Aufruhr in den Cevennen, Hexen-Sabbath und letztlich auch Vittoria Accorombona, indem sie vor Augen stellen, was geschieht, wenn das vernünftige Maß zwischen Borniertheit und Leidenschaft verloren geht.

Die vielfältigen Aberrationen von der rechten Balance ordnen sich, entsprechend der zweipoligen Anthropologie, in zwei große Gruppen. Auf der einen Seite stehen die Figuren, welche um einer verengten Vernünftigkeit willen den Pol der Poesie und Leidenschaft verdrängen oder abtöten. Das beginnt mit dem, was die Romantiker die ‚Philister‘ nannten: Väter, die bei der Verheiratung ihrer Töchter nur auf ihre eigene Vernunft hören wollen; Materialisten, welche die Hochzeit als ein Geschäft betreiben; Traditionalisten, die alles Neue um der guten alten Zeiten willen verfluchen; Rationalisten, die Kunst und Religion verachten; Konformisten, die sich jedem Zug der Zeit anschmiegen. Fließend ist hier der Übergang zum Sonderling und Narren. In Der junge Tischlermeister etwa tritt ein Erzieher auf, der keine Einschränkungen an dem Axiom duldet, daß der Wille des Menschen durchaus „frei sei und alles vermöge“. Der Mann wird in der Folge von einer verzweifelten Leidenschaft zur Mutter seiner Zöglinge erfaßt. Er beweist sich die Unbedingtheit seines freien Willens dadurch, daß er dennoch in ihrem Haus wohnen bleibt und sich jede Äußerung seiner Liebe verbietet. Zwar gelingt ihm diese ethisch-asketische Übung, doch verliert er darüber seinen Verstand. Auch sonst ist der Schritt vom Sonderling zum Wahnsinnigen bei Tieck nicht allzu weit - das rechte Maß seiner Lebenskunst hat nichts Behäbiges oder Gemütliches an sich; es ist der einzige Schutz vor den verschiedenen Dämonen, die allzeit und ringsum den Menschen belagern. Solche aus einseitiger Vernunft destillierten Dämonen beherrschen in den historischen Novellen die Egoisten, denen um ihres Vorteils, und die Machiavellisten, denen um ihrer Sache willen jedes Mittel recht ist.

Die andere Gruppe der Aberrationen bilden die Schwärmer, Phantasten und Betrüger. Waren Philister das bevorzugte Feindbild der Romantiker, so kehrt im ‚Schwärmer‘ ein kritischer Zentralbegriff der Aufklärung wieder. Die beiden Pole von Tiecks Anthropologie tragen Züge einer historischen Antithese. In dem Bemühen, sie zur Harmonie zu bringen, arbeitet Tieck auch daran, die verschiedenen Phasen seines eigenen langen Lebens zur Einheit zu fügen. Die Schwärmer und Phantasten sind Opfer ihrer eigenen Unvernunft; diese zieht die Betrüger an, die daraus ihren Nutzen ziehen wollen. So steht in Die Verlobung neben den religiösen Schwärmern der Tartüffe von Wallen, in Die Gemälde neben dem jungen Mann, dessen Freiheitsdurst zur Liederlichkeit verkommt, der Kunstfälscher Eulenböck. Eine bizarre Verknüpfung von Schwärmerei und Ökonomie präsentiert der Schafzüchter Binder in Die Gesellschaft auf dem Lande. Er versetzt sich immer wieder ganz in seine Schafe hinein: „In diesem wachen Schlummerzustande kommen mir denn die allerbesten Erfindungen und Verbesserungen, und in diesen Stunden der Weihe empfange ich durch Instinkt oder Inspiration alles, was ich abändern, was ich anwenden muß“. Auch hier ist der Weg zum Wahnwitz nicht weit. In Der junge Tischlermeister bekämpft ein Hausknecht seine sündige Neigung zu Trinken und Verschwendung durch mystische Übungen; er verfällt dem Wahnsinn und Raserei. Aufruhr in den Cevennen und Hexen-Sabbath schließlich führen geradezu systematisch vor Augen, wie die religiöse Schwärmerei ein ganzes Tollhaus des mörderischen Fanatismus aus sich entlassen kann.“

 

Des Lebens Überfluß

 

Detlef Kremer: „Tieck läßt sein spätromantisches Liebes- und Ehepaar Clara und Heinrich Brand eine sprichwörtliche poetische Dachkammer beziehen und Schritt für Schritt die ‚Treppe‘ zur Außenwelt abreißen, um in der reinen Luft der Imagination, losgelöst von dem, was unter dem Blickwinkel der Poesie als ‚Überfluß‘ erscheint, ein „Märchen“ zu leben. Schritt für Schritt entwickelt sich das phantastische Exil zu einer Allegorie auf das poetische Schreiben, das auch davon lebt, daß die „Zugbrücke“ zur Außenwelt hochgezogen wird. Bis ins Detail hat Tieck darauf geachtet, alle möglichen Kontakte zur Außenwelt zu eliminieren. Ein Ziegeldach verhindert jeden Blick auf die Straße, vom gegenüberliegenden Haus sind lediglich das schwarzgeräucherte Dach und zwei „trübselige“ Brandmauern zu sehen. Selbst die Jahreszeit unterstreicht das Exil im Oberstübchen: In einem der „härtesten Winter“ sind die Fenster nicht nur fest verschlossen, sondern überdies vollständig vereist. Sie ermöglichen keinen Blick nach außen, sondern sind lediglich verspiegelter Untergrund der Natur- bzw. Hieroglyphenschrift von „Eisblumen“, deren ‚Lektüre‘ ganz im Gegenteil in das Innere der imaginativen Dachkammer zurückweist. Nicht nur, daß das Fenster, entgegen seiner sonstigen Funktion, keinen Blick nach außen ermöglicht: Es wird zur weißen Fläche, in die sich die Schrift einschreibt. In einem präzisen Wortsinn erscheint in Tiecks Reversion der Frühromantik der literarische Text als diejenige Grenze, die kein Außen hat …

Die selbstreflexive Vergegenwärtigung der Medialität und Materialität des romantischen Buchs zieht sich durch den gesamten Text und führt schließlich zur metonymischen Substitution der zentralen Requisiten Treppe und Buch. Vorher aber ist der entscheidende Schritt zur Vollendung des Exils zu tun: Die Treppe als letztes Bindeglied zur Umwelt wird Stück für Stück abmontiert, zersägt und einerseits, so die realistische Perspektive, gegen die große Kälte, andererseits, so die phantastische Sicht, für die „Flammen der Begeisterung“ verbrannt.

Abgeschieden von der Welt und getrennt von seiner Bibliothek, liest Heinrich Brand der Gattin aus seinem Tagebuch vor. Sein Entschluß, es „rückwärts“ zu lesen, verweist auf den Umstand, daß Tiecks Erzählung insgesamt als eine parodistische Re-Lektüre der Romantik angelegt ist. Sie verbindet Stilparodien mit Motiv- und Autorenzitaten. Die romantische Ehe und passionierte Liebe werden ebenso kursorisch erwähnt wie die „geheimnisvolle Offenbarung“ des mystischen Staatsorganismus und das Konzept der Naturschrift, des Traums und des Märchens in der Frühromantik. Der aphoristische, in rhetorischen Fragen und Iterationen sich inszenierende Stil des jungen Friedrich Schlegel und die Schwere der Transzendentalphilosophie werden parodiert. Jean Paul taucht mehrfach auf, Hoffmanns Kater Murr erhält seinen Auftritt neben einem gewissen „Taugenichts“. Auch die für Tieck wichtigen literarischen Bezugspunkte in der Frühen Neuzeit bleiben nicht unerwähnt: Shakespeares „Zauberer“ Prospero aus Der Sturm, dessen Insel-Exil im spätromantischen Dachstübchen nachgebildet ist, und Cervantes‘ Don Quijote

Zur Re-Lektüre der Romantik anno 1838 paßt es, daß das Leben in der Poesie durch politischen „Tumult“ ein Polizeiaufgebot und den Hinweis auf eine unmittelbar bevorstehende, ganz Europa erfassende Revolution beendet wird. Vor der Erstürmung des ‚konspirativen‘ Oberstübchen warnt der vermeintlich saint-simonistisch gesonnene spätromantische Aufrührer, indem er einen Ausspruch Metternichs variiert:

Haben sie nebenher vergessen, was seit vielen Jahren in den Zeitungen steht? Der erste Kanonenschuß, er falle, wo er wolle, wird ganz Europa in Aufruhr setzen. Wollen Sie nun, Herr Polizeimann, die ungeheure Verantwortung auf sich nehmen, daß aus dieser Hütte, der engsten und finstersten Gasse der kleinen Vorstadt, die ungeheure europäische Revolution sich herauswickeln soll?

Die ökonomischen Gründe dafür hatte Tieck vorher bereits in der Verdinglichung der Menschen zu Waren auf dem frühkapitalistischen Markt gesehen. In einem langen Traumbericht erzählt Heinrich seiner Frau von der Versteigerung seiner eigenen Person. Charakteristischerweise hängt seine Verdinglichung zur taxierten Ware, der Zwang, sich „so teuer wie möglich (zu) verkaufen“, eng mit dem Motiv des Buchs zusammen, denn der Autor Heinrich träumt sich selbst als zur Auktion ausgerufenes Buch.“

 

Man hörte unten nur murmeln, leise fluchen, und der verständige Ulrich war still fortgegangen, um ein brennendes Licht zu holen. Dieses hielt er jetzt mit starker Faust empor und leuchtete in den leeren Raum hinein. Emmerich blickte verwundernd hinauf, stand eine Weile mit aufgesperrtem Munde, starr vor Schrecken und erstaunen, und schrie dann mit den lautesten Tönen, deren seine Lunge fähig war: »Donnerwetter noch einmal! Das ist mir ja eine verfluchte Bescherung! Herr Brand! Herr Brand da oben!«

Jetzt half kein Verleugnen mehr, Heinrich ging hinaus, beugte sich über den Abgrund und sah beim ungewissen Schein des flackernden Lichtes, die beiden dämonischen Gestalten in der Dämmerung des Hausflurs. »Ach! Wertgeschätzter Herr Emmerich«, rief er freundlich hinab, »sein Sie uns willkommen; es ist ein schönes Zeichen Ihres Wohlseins, dass Sie früher ankommen, als Sie es sich vorgesetzt hatten. Es freut mich, Sie so gesund zu sehen.«

»Gehorsamer Diener!« antwortete jener, »aber davon ist hier die Rede nicht. Herr! wo ist meine Treppe geblieben?«

»Ihre Treppe, verehrter Her?« erwiderte Heinrich; »was gehen mich denn Ihre Sachen an. Haben Sie sie mir bei Ihrer Abreise aufzuheben gegeben?«

»Stellen Sie sich nicht so dumm«, schrie jener, »wo ist die Treppe hier geblieben? Meine große, schöne, solide Treppe?«

»War hier eine Treppe?« fragte Heinrich; »ja, mein Freund, ich komme so wenig oder vielmehr gar nicht aus, dass ich von allem, was nicht in meinem Zimmer vorgeht, gar keine Notiz nehme. Ich studiere und arbeite und kümmre mich um alles andre gar nicht.«

»Wir sprechen uns, Herr Brand«, rief jener, »die Bosheit erstickt mir die Zunge und Rede; aber wir sprechen uns noch ganz anders! Sie sind der einzige Hausbewohner; vor Gericht werden Sie mir schon melden müssen, was dieser Handel zu bedeuten hat.«

»Sein Sie nicht so böse«, sagte Heinrich jetzt; »wenn Ihnen an der Geschichtserzählung etwas liegt, so kann ich Ihnen auch schon jetzt damit dienen; denn allerdings erinnre ich mich jetzt, dass vormals hier eine Treppe war, auch bin ich nun eigenständig, dass ich sie verbraucht habe.«

»Verbraucht?« schrie der Alte und stampfte mit den Füßen; »meine Treppe? Sie reißen mir mein Haus ein?«

»Bewahre«, sagte Heinrich, »Sie übertreiben in der Leidenschaft; Ihr Zimmer unten ist unbeschädigt, so steht das unsre hier oben blank und unberührt, nur diese arme Leiter für Emporkömmlinge, diese Unterstützungsanstalt für schwache Beine, dieses Hülfsmittel und diese Eselsbrücke für langweilige Besuche und schlechte Menschen, diese Verbindung für lästige Eindringlinge, diese ist durch meine Anstalt und Bemühung, ja schwere Anstrengung allerdings verschwunden.«

»Aber diese Treppe«, schrie Emmerich hinauf, »mit ihrer kostbaren, unverwüstlichen Lehne, mit diesem eichenen Geländer, diese zweiundzwanzig breiten, starken, eichenen Stufen waren ja ein integrierender Teil meines Hauses. Habe ich noch, so alt ich bin, von einem Mietsmann gehört, der die Treppen im Hause verbraucht, als wenn es Hobelspäne oder Fidibus wären?«

»Ich wollte, Sie setzten sich«, sagte Heinrich, »und hörten mich ruhig an. Diese Ihre zweiundzwanzig Stufen lief oft ein heilloser Mensch herauf, der mir ein kostbares Manuskript abschwatzte, es drucken wollte, sich dann für bankrott erklärte und auf und davon ging. Ein andrer Buchhändler stieg unermüdet diese Ihre eichenen Stufen hinauf und stützte sich dabei immer auf jenes starke Geländer, um sich den Gang bequemer zu machen; er ging und kam und kam und ging, bis er, meine Verlegenheit grausam benutzend, mir die erste kostbare Edition meines Chaucer abdrang, die er für mehr als einen Spottpreis, für einen wahren Schandpreis in seinen Armen davontrug. Oh, mein Herr, wenn man solche bittere Erfahrung macht, so kann man wahrlich eine Treppe nicht lieb gewinnen, die es solchen Gesellen so übermäßig erleichtert, in die obern Etagen zu dringen.«

»Das sind ja verfluchte Gesinnungen«, schrie Emmerich.

»Bleiben Sie gelassen«, sprach Heinrich etwas lauter hinunter. »Sie wollten ja den Zusammenhang der Sache erfahren. Ich war betrogen und hintergangen; so groß unser Europa ist, Asien und Amerika nicht einmal zu rechnen, so erhielt ich doch von nirgend her Rimessen, es war, als wenn alle Kredite sich erschöpft hätten und alle Banken leer geworden wären. Der überharte, unbarmherzige Winter forderte Holz zum Einheizen; ich hatte aber kein Geld, um es auf dem gewöhnlichen Wege einzukaufen. So verfiel ich denn auf diese Anleihe, die man nicht einmal eine gezwungene nennen kann. Dabei glaubte ich nicht, dass Sie, geehrter Herr, vor den warmen Sommertagen wiederkommen würden.«

»Unsinn!« sagte jener, »glaubten Sie denn, Armseliger, dass meine Treppe bei der Wärme wie der Spargel von selbst wieder herauswachsen würde?«

»Ich kenne die Natur eines Treppengewächses zu wenig, wie ich auch von Tropenpflanzen nur geringe Kenntnisse habe, um das behaupten zu mögen«, antwortete Heinrich. »Ich brauchte indes das Holz höchst nötig, und da ich gar nicht ausging, meine Frau ebenso wenig, auch kein Mensch zu mir kam, weil bei mir nichts mehr zu gewinnen war, so gehörte diese Treppe durchaus zu den Überflüssigkeiten des Lebens, zum leeren Luxus, zu den unnützen Erfindungen. Ist es, wie so viele Weltweise behaupten, edel, seine Bedürfnisse einzuschränken, sich selbst zu genügen, so hat dieser für mich völlig unnütze Anbau mich vor dem Erfrieren gerettet. Haben Sie niemals gelesen, wie Diogenes seinen hölzernen Becher wegwarf, als er gesehen, wie ein Bauer Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und so trank?«

»Sie führen aberwitzige Reden, Mann«, erwiderte Emmerich; »ich sah einen Kerl, der hielt die Schnauze gleich an das Rohr und trank so Wasser; somit hätte sich Ihr Mosje Diogenes auch noch die Hand abhauen können. – Aber, Ulrich, lauf mal gleich zur Polizei; das Ding muss einen andern Haken kriegen.«

»Übereilen Sie sich nicht«, rief Heinrich, »Sie müssen einsehen, dass ich Ihr Haus durch diese Hinwegnahme wesentlich verbessert habe.«

Emmerich, der schon nach der Haustür ging, kehrte wieder um. »Verbessert?« schrie er in höchster Bosheit, »nun, das wäre mir denn doch etwas ganz Neues!«

»Die Sache ist jedoch ganz einfach«, erwidere ihm Heinrich, »und jeder kann sie einsehen. Nicht wahr, Ihr Haus steht nicht in der Feuerkasse? Nun hatte ich zeither böse Träume von Brandunglück, auch fielen Häuserbrände hier in der Nachbarschaft vor; ich hatte eine ganz bestimmte Ahndung, ja, ich möchte es ein Vorauswissen nennen, dass unser Haus hier dasselbe Unglück betreffen würde. Gibt es nun wohl (das frage ich jeden Bauverständigen) etwas Ungeschickteres als eine hölzerne Treppe? Die Polizei sollte dergleichen gefährliches Bauwerk geradezu verbieten. Sooft ein Feuer auskommt, so ist in allen Städten, wo dieser Missbrauch noch stattfindet, immer die hölzerne Treppe das allergrößte Unheil. Sie leitet das Feuer nicht nur in alle Stockwerke, sondern macht auch oft die Rettung der Menschen unmöglich. Da ich nun gewiss wusste, dass binnen kurzem hier oder in der Nachbarschaft Feuer auskommen würde, so habe ich mit vieler Mühe und saurem Schweiß diese elende, verderbliche Treppe mit eignen Händen weggebrochen, um das Unglück und den Schaden so viel als möglich zu mildern. Und darum hatte ich sogar auf Ihren Dank gerechnet.«

»So?« rief Emmerich hinauf; »wäre ich länger ausgeblieben, so hätte mir der saubre Herr wohl aus eben den spitzigen Gründen mein ganzes Haus verbraucht. Verbraucht! Als wenn man Häuser so verbrauchen dürfte! Aber wart! Patron! – Ist die Polizei da?« fragte er den wiederkehrenden Ulrich.

»Wir legen«, rief Heinrich hinab, »eine große steinerne Treppe, und Ihr Palais, geehrter Mann, gewinnt dadurch ebenso sehr wie die Stadt und der Staat.«

»Mit der Windbeutelei soll es bald zu Ende sein«, antwortete Emmerich und wendete sich sogleich an den Führer, der mit verschiedenen Gehülfen der Polizei herbeigekommen war.

»Mein Herr Inspektor«, sagte er, sich zu diesem wendend, »haben Sie je von dergleichen Attentat gehört? Mir aus meinem Hause die große Treppe wegzubrechen und sie als Klafterholz im Ofen während meiner Abwesenheit zu verbrennen!«

»Das wird in die Stadtchronik kommen«, erwiderte der Anführer trotzig, »und der saubere Patron, der Treppenräuber, in das Zuchthaus oder auf die Festung. Das ist schlimmer als Einbruch! Den Schaden muss er außerdem noch ersetzen. Kommen Sie nur herunter, Herr Missetäter!«

»Niemals«, sagte Heinrich; »wohl hat der Engländer ein Recht, sein Haus ein Kastell zu nennen, und meines hier ist ganz unzugänglich und unüberwindlich; denn ich habe die Zugbrücke aufgezogen.«

»Dem lässt sich abhelfen!« rief der Anführer. »Leute, schafft mal eine große Feuerleiter herbei; so steigt ihr dann hinauf und schleppt, wenn er sich wehren sollte, den Verbrecher mit Stricken gebunden herunter, um ihn seiner Strafe zu überliefern.«

Jetzt hatte sich das Haus unten schon mit Leuten aus der Nachbarschaft gefüllt; Männer, Weiber und Kinder hatte der Tumult herbeigelockt, und viele Neugierige standen auf der Gasse, um zu erforschen, was hier vorgehe, und zu sehen, was aus dem Handel sich ergeben werde. Klara hatte sich an das Fenster gesetzt und war verlegen, doch hatte sie ihre Fassung behalten, da sie sah, dass ihr Gatte so heiter blieb und sich die Sache nur wenig anfechten ließ. Doch begriff sie nicht, wie es endigen werde. Heinrich aber kam jetzt einen Augenblick zu ihr herein, um sie zu trösten und etwas aus der Stube zu holen. Er sagte: »Klara, schau, wir sind jetzt ebenso eingeschlossen wie unser Götz in seinem Jaxthausen; der widerwärtige Trompeter hat mich auch schon aufgefordert, mich auf Gnade und Ungnade zu ergeben, und ich werde ihm jetzt Antwort sagen, aber bescheidentlich, nicht wie mein großes Vorbild von damals.« Klara lächelte ihm freundlich zu und sagte nur die wenigen Worte: »Dein Schicksal ist das meinige; ich glaube aber doch, dass, wenn mein Vater mich jetzt sähe, er mir verzeihen würde.«

Heinrich ging wieder hinaus, und als er sah, dass man wirklich eine Leiter herbeischleppen wollte, sagte er mit feierlichem Ton; »Meine Herren, bedenken Sie, was Sie tun, ich bin seit Wochen schon auf alles, auf das Äußerste gefasst, ich werde mich nicht gefangengeben, sondern mich bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen. Hier bringe ich zwei Doppelflinten, beide scharf geladen, und noch mehr, diese alte Kanone, ein gefährliches Feldstück voller Kartätschen und gehacktem Blei, zerstoßenem Glas und derlei Ingredienzen. Pulver, Kugeln, Kartätschen, Blei, alles Nötige ist im Zimmer aufgehäuft; während ich schieße, ladet meine tapfere Frau, die als Jägerin wohl damit umzugehen weiß, die Stücke aufs neue, und so rücken Sie denn an, wenn Sie Blut vergießen wollen.«

»Das ist ja ein Erzsakermenter«, sagte der Polizeianführer, »ein solcher resoluter Verbrecher ist mir seit lange nicht vor die Augen gekommen. Wie mag er nur aussehen; denn man kann in diesem dunkeln Neste keinen Stich sehen.«

Heinrich hatte zwei Stäbe und einen alten Stiefel auf den Boden niedergelegt, die ihm für Kanone und Doppelflinten gelten mussten. Der Polizeimann winkte, dass sich die Leiter wieder entfernen solle. »Hier ist wohl der beste Rat, Herr Emmerich«, setzte er dann hinzu, »dass wir den ungeratenen Abällino aushungern; so muss er sich uns ergeben.«

»Weit gefehlt!« rief Heinrich mit heiterer Stimme hinab! »auf Monate sind wir mit getrocknetem Obst, Pflaumen, Birnen, Äpfeln und Schiffszwieback ersehen; der Winter ist ziemlich vorüber, und sollte es uns an Holz gebrechen, so ist oben noch die Bodenkammer; da finden sich alte Türen, überflüssige Dielen, selbst vom Dachstuhle kann gewiss manches als entbehrlich losgebrochen werden.«

»Hören Sie den Heidenkerl!« rief Emmerich; »erst reißt er mir unten mein Haus ein, nun will er sich auch noch oben an das Dach machen.«

»Es ist über die Beispiele«, sagte der Polizeiwächter. Viele von den Neugierigen freuten sich über Heinrichs Entschlossenheit, weil sie dem geizigen Hausbesitzer dieses Ärgernis gönnten. »Sollen wir das Militär kommen lassen, auch mit geladenen Flinten?«

»Nein, Herr Inspektor, um Himmels willen nicht; darüber würde mir am Ende mein Häuschen in Grund und Boden geschossen, und ich hätte das leere Nachsehen, wenn wir den Rebellen auch endlich bezwungen hätten.«

»Richtig«, sagte Heinrich, »und haben Sie nebenher vergessen, was seit vielen Jahren in allen Zeitungen steht? Der erste Kanonenschuss, er falle, wo er wolle, wird ganz Europa in Aufruhr setzen. Wollen Sie nun, Herr Polizeimann, die ungeheure Verantwortung auf sich nehmen, dass aus dieser Hütte, der engsten und finstersten Gasse der kleinen Vorstadt, die ungeheure europäische Revolution sich herauswickeln soll? Was würde die Nachwelt von Ihnen denken? Wie könnten Sie diesen Leichtsinn vor Gott und Ihrem König verantworten? Und doch sehen Sie hier schon die geladene Kanone liegen, welche die Umwandlung des ganzen Jahrhunderts herbeiführen kann.«

»Er ist ein Demagog und Carbonari«, sagte der Polizeianführer, »das hört man nun wohl an seinen Reden. Er steckt in den verbotenen Gesellschaften und rechnet in seiner Frechheit auf auswärtige Hülfe. Möglich, dass unter diesem lärmenden gaffenden Haufen schon viele seiner Gesellen verkleidet lauern, die nur auf unsern Angriff warten, um uns dann mit ihrem Mordgewehr in den Rücken zu fallen.«

Als diese Müßiggänger erlauschten, dass die Polizei sich vor ihnen fürchte, erhoben sie in ihrer Schadenfreude ein lautes Geschrei, die Verwirrung vermehrte sich, und Heinrich rief seiner Gattin zu; »Bleibe heiter, wir gewinnen Zeit und können gewiss kapitulieren, wenn nicht vielleicht gar ein Sickingen kommt, uns zu erlösen.«

»Der König, der König!« hörte man jetzt von der Straße her das laute Geschrei. Alles sprang zurück und durcheinander; denn eine glänzende Equipage suchte sich in der engen Gasse Bahn zu machen. Livreebediente in betressten Kleidern standen hinten auf, ein glänzender, geschickter Kutscher lenkte die Rosse, und aus dem Wagen stieg ein prächtig gekleideter Herr mit Orden und Stern.

»Wohnt hier nicht ein Herr Brand?« fragte der vornehme Mann; »und was hat dieser Auflauf zu bedeuten?«

»Sie wollen da drin, Ew. Durchlaucht«, sagte ein kleiner Krämer, »eine neue Revolution anfangen, und die Polizei ist dahintergekommen; es wird auch gleich ein Regiment von der Garde einrücken, weil sich die Rebellen nicht ergeben wollen.«

»Es ist halt eine Sekte, Exzellenz«, rief ein Obsthöker, »sie wollen als gottlos und überflüssig alle Treppe abschaffen.«

»Nein, nein!« schrie eine Frau dazwischen, »er soll vom heiligen Sänkt Simon abstammen, der Empörer; alles Holz, sagt er, und alles Eigentum soll gemeinschaftlich sein, und die Feuerleiter haben sie schon geholt, um ihn gefangenzunehmen.«

Es war dem Fremden schwer, in die Tür des Hauses zu gelangen, obgleich ihm alles Platz machen wollte. Der alte Emmerich trat ihm entgegen und berichtete auf Nachfrage mit vieler Höflichkeit die Lage der Dinge, und wie man noch nicht einig sei, auf welche Weise man des großen Verbrechers habhaft werden könne. Der Fremde schritt jetzt tiefer in den dunkeln Hausflur hinein und rief mit lauter Stimme: »Wohnt denn hier wirklich ein Herr Brand?«

»Jawohl«, sagte Heinrich; »wer ist da unten Neues, der nach mir fragt?«

»Die Leiter her!« sagte der Fremde, »dass ich hinaufsteigen kann.«

»Das werde ich jedem unmöglich machen«, rief Heinrich; »es hat kein Fremder hier oben bei mir etwas zu suchen und keiner soll mich molestieren.«

»Wenn ich aber den Chaucer wiederbringe?« reif der Fremde, »die Ausgabe von Caxton, mit dem beschriebenen Blatt des Herrn Brand?«

»Himmel!« rief dieser, »ich mache Platz, der gute Engel, der Fremde, mag heraufkommen. – Klara!« rief er seiner Frau fröhlich, aber mit einer Träne entgegen, »unser Sickingen ist wirklich angelangt!«

Der Fremde sprach mit dem Wirt und beruhigte ihn völlig, die Polizei ward entlassen und belohnt, am schwersten aber war es, das aufgeregte Volk zu entfernen; doch als endlich auch dies gelungen war, schleppte Ulrich die große Leiter herbei, und der vornehme Unbekannte stieg allein zur Wohnung des Freundes hinauf.

 

Waldeinsamkeit

 

Detlef Kremer: „Auch der titelgebende Signifikant der letzten Erzählung Tiecks, „Waldeinsamkeit“, steht im Zusammenhang einer Re-Lektüre der frühen Romantik und legt Zeugnis von ihrer Vermarktung ab. Was einst einen minimalen Quellcode des frühromantischen Diskurses und ein zentrales Wiedererkennungselement eines romantischen Bilds von der Natur bedeutete, ist um 1840 längst zur Marketingstrategie einer Immobilienfirma verkommen, die mit dem Hinweis darauf, daß „hinter dem Gemüsegarten eine sehr vortreffliche Waldeinsamkeit“ zu finden sei, ein Haus besser zu verkaufen gedenkt. Ähnlich wie in Der blonde Eckbert von 1797, aber deutlich ironisch distanziert, nimmt Tiecks Abschied aus der Poesie ihren Ausgang von seinem eigenen Neologismus „Waldeinsamkeit“. Zur Form des literarischen Testaments gehört unverzichtbar, daß der Name des Autors bedacht wird … Der „ältliche Baron von Wangen“ ist als alter ego Tiecks angelegt, der seinerzeit „im Hause jenes Autors oft ein stummer Zuhörer“ war und der entsprechend über den Ursprung von „Waldeinsamkeit“ Zeugnis ablegen kann. Die Dialogeinführung der Novelle dient aber nur der Vorbereitung der eigentlich zu erzählenden Dreiecksgeschichte um den schwärmerischen Neffen Ferdinand von Linden, die alltagsfeste und etwas geschwätzige Sidonie sowie den vermeintlichen Freund, tatsächlich aber intriganten Helmfried. Oberflächlich betrachtet ließe sich Tiecks Erzählung auf das „konventionelle Schema der geselligen Schulung des Ungeselligen“ - im Sinne einer Schwärmer-Kultur, die Tieck bereits in seinen frühen Straußfedern-Erzählungen zugrunde gelegt hatte – beziehen. Der melancholische Ferdinand wäre, dieser Lesart folgend, am Schluß der Geschichte von seiner schwärmerischen Vorliebe für ein Traumbild namens „Waldeinsamkeit“ gerade durch einen unfreiwilligen Aufenthalt inmitten tatsächlicher Waldeinsamkeit kuriert und mithin und ganz nebenbei die Tradition der Romantik anno 1840 endgültig verabschiedet. Zugegeben: Der etwas dick aufgetragene versöhnliche Komödienschluß, die Heirat Ferdinands und Sidonies mit „von Wonne schwimmenden Augen“ zeigt in diese Richtung. Aber ganz so schlicht kommt Tiecks literarisches Testament selbstverständlich nicht daher. Einen zu breiten Raum nimmt die Gefangenschaft des Helden im ‚Waldeinsamkeits-Haus‘ ein, zu zentral steht diese Episode und zu sehr dominieren hier ganz andere Töne.

Die Dreiecks- und Intrigengeschichte leitet über zum Kernstück der Novelle. Nach einem etwas übermäßigen Alkoholkonsum im Haus des Barons Anders, wo man „es darauf abgesehen“ hat, „sich den Verstand völlig wegzusaufen“, wird Ferdinand entführt und in einem geheimen Haus inmitten tiefer „Waldeinsamkeit“ gefangen gehalten. In diesem Haus sind die Fenster entsprechen vergittert, aber ein vormaliger Gefangener, der offenbar wahnsinnig war oder geworden war, hat in die Fensterscheiben Schriftzüge eingraviert. Ferdinand von Linden ist literaturgeschichtlich versiert genug, um sofort an Johann Karl Wezel und dessen letzten zwei Jahrzehnte zu denken, die dieser bis 1819 in seiner Heimatstadt Sondershausen, offensichtlich wahnsinnig geworden, verbracht hat. Ähnlich wie dieser eine Schrift mit dem Titel Gott Wezels Zuchtrute des Menschengeschlechts. Werke des Wahnsinns von Wezel dem Gottmenschen hinterlassen hat, so hat der wahnsinnige Vorgänger von Lindens ein Buch mit dem Titel „Leben und Reisen eines großen Geistes, welcher verdient, eines europäischen Rufes zu genießen“ verfaßt und in seinem Gefängnis zurückgelassen.

Mit wenigen Zügen stellt Tieck klar, daß das Gefängnis seines Helden nichts anderes als die Klause des Schriftstellers ist. Neben dem genannten Wahnsinns-Buch findet er noch die berühmte Reisebeschreibung des Adam Olearius, die Orientalische Reise von 1647. Der Raum zur selbstreflexiven Thematisierung der Lektüre ist damit eröffnet. Die Wände zieren einige Heiligenbilder, namentlich auch die „betende Genoveva“, in denen Tieck seine Jugendwerke wie in einem „Spiegel“ erkennt. Die erwähnte „Keilschrift“ und die „durchsichtigen Hieroglyphen“ auf den Fensterscheiben sowie ein Tintenglas und eine halbwegs brauchbare Feder runden die skriptorale Konstellation ab, die von Tiecks frühen Kunstmärchen an einen Großteil der romantischen Texte in zahllosen Variationen grundiert hatte:

Als er sich niedersetzte, fiel ihm eine Scheibe der Fenster ins Auge, die sonderbare Striche im Widerschein der Sonne zeigte. Er hatte dies noch nicht beachtet, und als er untersuchend näher trat, fand sich, daß mit einem Diamant Worte eingeschnitten waren. So hatte der Unkluge also auch dazu seine Zelle benutzt, um in einer Art Lapidarstiel seine Gedanken auf dem Glase zu verewigen. Als Ferdinand sich näher umsah, entdeckte er, daß alle Scheiben in dieser Weise beschrieben waren. Er vermutete, daß man dem Armen vielleicht auch mit zu großer Strenge Feder und Tinte genommen und daß sein tätiger Geist nun diese dürftige Aushilfe gefunden hat.

Linden kann sich hier glücklicher schätzen. Er findet in einer Schublade eine Feder, die zwar stumpf, aber schnell zurecht geschnitten ist, und ein „Tintenglas“, in dem die Tinte zwar eingetrocknet ist, aber mit etwas Wasser wieder gefügig gemacht werden kann. Ganz der Schreiber des romantischen Archivs nutzt er beides, um die Gravuren des Schriftfensters, „Inschriften der Vorzeit“, in sein Schreibebuch zu transkribieren.

Zwar hat Tieck in Waldeinsamkeit keine Treppe zur Außenwelt eingezogen, daß es sich aber auch beim Aufenthaltsort Ferdinands um einen nach Innen abgespiegelten, gleichsam narzißtisch und autistisch begrenzten Raum handelt, der keine Außenperspektive ermöglicht, stellt er nachdrücklich klar. Das Fenster zur Außenwelt ist vergittert und auch der Rahmen ist „so verkrammt, daß die Flügel sich nicht aufmachen lassen“. Zudem ist es, wie gesagt, beschriftet. Nur eine winzige Glasscheibe läßt sich öffnen, und diese ermöglicht ihm einen kleinen Blick in die vormals geschätzte „Waldeinsamkeit“, hinter der sich aber kaum ein Naturerlebnis verbirgt, sondern erneut nur ein Blick, der auf den Helden und seine Buchwelt zurückfällt. Mit einer hintergründigen Ironie hat Tieck den Ausblick in die „Waldeinsamkeit“ von zwei Naturobjekten dominieren lassen, von Bäumen, die jedoch unmittelbar in die Klause des Schreibers und Lesers zurückweisen. Ferdinand von Linden sind nämlich zunächst „Zweige der Linden“, also sich selbst, und dann solche der „Buchen“. Es geht ihm nicht anders als einer Fliege, die sich in sein Gefängnis verirrt hat:

Die Arme! sagte er zu sich selbst, das Licht, das durch die Scheibe einfällt, täuscht sie immerdar. Sie hält das Glas für unkörperliche Luft und sucht durch dieses ihre Freiheit, schießt auf die feste, hemmende Täuschung mit aller Gewalt und wird prellend in die Stube und ihr Gefängnis zurückgeworfen.

Was Tieck seinen Helden in einer längeren Reflexion, allerdings durchaus ironisch gebrochen, als Lebens- und Erkenntnisphilosophie gewinnen läßt, markierte bereits das katastrophische Ende des blonden Eckbert, der über der Einsicht, daß sein ganzes Leben nur Projektion gewesen ist, tot zusammenbricht. Der alte Tieck erspart seinem Helden, wie gesagt, ein düsteres Ende. Daß seine Beobachtung aber nicht nur episodisch, sondern allegorisch gemeint ist, und zwar in einer reflexiven und psychologischen Hinsicht, daran besteht kein Zweifel: „Geht es uns denn im Denken anders? Die Schranken um uns her lassen sich nicht durchbrechen“. Und das gilt ausdrücklich und ausgerechnet für jene „durchsichtigen Schranken“, die als Fenster die transparente Kommunikation mit der Außenwelt simulieren. Der Held muß wohl die Meinung seiner Geliebten erst am eigenen Leibe nachvollziehen, bevor er sie glauben kann: „Glauben Sie mir nur, mein Werther, aus den Fenstern des Marktes hier sieht man klarer und richtiger, als in jener Waldeinsamkeit, in welcher Sie immer Ihr Observatorium aufstellen wollen“. Was im abgeklärten Gestus des späten Tieck und im ironischen Blick auf den Komödienschluß der Novelle seine Berechtigung haben mag, stimmt mit der Erfahrung des Helden in seiner Gefangenschaft nicht überein. Noch seine Flucht aus dem waldeinsamen Haus gelingt nur durch den Schornstein, so daß er, was genau kommentiert wird, die Farbe seiner Tinte annimmt. Aber die Meinung der geliebten Sidonie stimmt vor allem nicht mit den Erfahrungen der romantischen Literatur überein. Texte wie Tiecks Liebeszauber oder Hoffmanns Des Vetters Eckfenster zeigen eindrücklich, daß auch die städtischen Fenster projektiv verspiegelt sind und mehr über die Innen- als die Außenwelt preisgeben.“

 

Vittoria Accorombona

 

Detlef Kremer: „Wie in den meisten historischen Erzählungen der Romantik stehen auch in Tiecks letztem Roman die krisenhafte Umbrüche der Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert als eine Art „Labor der Moderne“ im Mittelpunkt. Vor dem historischen Panorama der Spätrenaissance, in dem die staatliche Autorität weitestgehend aufgelöst und die Verbindlichkeiten des Gesetzes einer gefährlichen Willkür gewichen ist, entwickelt Tieck ein Intrigenszenario, in dem die individuelle Selbstbehauptung seiner weiblichen Hauptfigur an den anarchischen Machtstrukturen und patriarchalen Geschlechtsverhältnissen scheitert. Ihre Einsicht in die benachteiligte Stellung der Frau und ihr dennoch aufrechterhaltener Anspruch auf weibliche Emanzipation und Selbstverwirklichung, in den noch Züge von Wilhelm Heinses spätaufklärerischem Roman Ardinghello (1787) eingehen und der in der Forschung bisweilen mit dem Etikett „Renaissancefrau“ assoziiert wurde, rücken Vittoria Accorombona von Anfang an in eine Kontraststellung zu einer von Männern dominierten Welt. Gegen diese Bezeichnung muß allerdings zu bedenken gegeben werden, daß Tieck auf diejenigen Stilisierungen und Heroisierungen verzichtet, die eigentlich mit einer „Renaissancefrau“ verbunden sind, und daß keines der vorgestellten Individuen, am wenigstens der Hauptfiguren, sich ‚heroisch‘ über die Mächte der Zeit hinwegsetzen kann.

Nahezu alle entscheidenden Ereignisse des Romans gehen auf männliche Gewaltakte zurück. Zwar öffnet Tieck eine Revue männlicher Figuren, die für Vittoria zumeist über den Status von „Männchen“ nicht hinauskommen - selbst der, in den Augen Vittorias einzige männliche Mann, der Herzog von Bracciano, den sie entsprechend, obwohl er sich durch die Ermordung seiner ersten Ehefrau sowie Perettis, Vittorias Ehemann, eigentlich diskreditiert hat, auch freiwillig zu ehelichen bereit ist, wird von ihr gegen Ende als „mein liebes Männchen“ bezeichnet. Dennoch erscheinen die Männer des Romans, vom Strauchdieb bis zum Papst, stark und entschlossen genug, ihre privaten Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Geschichte wird von Tieck im skeptischen und desillusionierenden Gestus als ein System der Gewalt und Intrige sichtbar gemacht, das kaum Lichtblicke erlaubt. Allenfalls die ‚hohe‘ Kunst ist in der Lage, gelegentliche Ablenkungen in diesem machiavellistisch zugespitzten Gewalttreiben zu ermöglichen. Tieck wirft anno 1840 - die großen sozialen und politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts haben bereits begonnen - einen düsteren Blick zurück auf die späte Renaissance, hinter der allerdings durchweg die zeitgenössische Gegenwart durchschimmert. Gewiß wird hier auch das im 19. Jahrhundert währende Thema des Epigonentums verhandelt; zentral ist es gleichwohl nicht. Geschichte steht unter den Zeichen von Scheitern und Katastrophe. Der geschichtliche Boden ist durchweg unsicher, die Zeitstruktur der Plötzlichkeit läßt alle Beziehungen sofort in ihr Gegenteil umschlagen, selten jedoch in ein Positives.

In den zehn Jahren Handlungszeit zwischen 1575 und 1585 gehen die Angehörigen der Familie Accorombona allesamt zugrunde … Die eigentliche Katastrophe des Romans hat allerdings Vittoria zu erleiden. Vom ersten Abschnitt an wird sie, gemäß der Vorausdeutungsfunktion des romantischen Romans, durch einen Sturz in gefährliches Wasser unter das Vorzeichen der späteren Katastrophe gestellt. Entgegen seiner ansonsten zu beobachtenden Zurückhaltung in der Schilderung direkter körperlicher Gewalt, zeichnet Tieck die Ermordung Vittorias als drastische Abschlachtung, die gleichzeitig als sexueller Exzess einsichtig wird, indem die zur Entkleidung gezwungene Vittoria von mehreren maskierten Männern ‚penetriert‘ wird …

Einige Motive legen es nahe, Vittoria Accorombona in die Nähe der frühen Romane Ticks zu rücken. Hier sind die schonungslose Kritik einer verlogenen Zwangsmoral und ein libertinäres Lob auf individuelle Selbstbestimmung sowie die Motive des Wahnsinns, der - allerdings sparsam eingesetzten – Angstträume, Ahnungen und der schicksalhaften Determination des Lebens zu nennen. Auf die frühe romantische Poetik weisen auch die breit angelegten Reflexionen über Kunst und Künstlertum hin, namentlich auf die Relation von Bild und Text. Tieck entwickelt seine Titelfigur zu einer weiblichen Parallelfigur Torquato Tassos. Beide stehen allerdings nicht für die luzide Genialität des typischen Renaissance-Künstlers, sondern an ihnen erprobte Tieck die „Atonalität des Manierismus“ …

Die skizzierten Oberflächen-Motive reichen bei weitem nicht aus, Tiecks letzten Roman nahtlos in eine romantische Poetologie einzubinden. Dazu fehlt es an der Funktion des Phantastischen, die für eine romantische Poetik unverzichtbar ist. Auch der Sachverhalt, daß Tieck die als große Lyrik ausgeflaggten Gedichte der Vittoria Accorombona nur als Prosaauflösung wiedergibt, läßt sich gegen die romantische Tradition lesen, die sich die Präsenz der weiblichen Stimmen im Text gewiß nicht hätte entgehen lassen. Anders als Des Lebens Überfluß oder Waldeinsamkeit ist der Text auch nur sehr bedingt als wie auch immer ironisierte oder distanzierte Re-Lektüre der Romantik anzusehen. Tieck arrangiert die genannten romantischen Motive in einer literarischen Form, die stärker noch als Arnims Die Kronenwächter (1817) auf jenen Typ des historischen Romans vorausweist, den man als den ‚anderen‘ historischen Roman bezeichnet hat. Mit ihm hat er jedenfalls mehr gemein als mit Franz Sternbalds Wanderungen.“

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm

 

 

Das Böse verlachen

- Satire, Realsatire, ernst Gemeintes -

 

27. Mai – Wochenkommentar von Ferdinand Wegscheider

„Ich bin Marxist!“ - Im neuen Wochenkommentar geht es einmal mehr um unseren permanenten Kampf gegen Rechts, wir schauen hinter die Kulissen des roten Machtkampfs und erörtern grobe Fehlurteile der Justiz!

https://www.servustv.com/aktuelles/v/aaxfpnm6xdegt5vndryk/

 

Erlebe dein grünes Wirtschaftswunder!

https://www.youtube.com/watch?v=z-JMNrvVPmQ

 

Simone Solga: Der pure Scholz | Folge 72

https://www.youtube.com/watch?v=EvPuXPy0cr8

 

"ver-sprochen" # 4: "Recht auf keine freie Meinungsäußerung!"

https://www.youtube.com/watch?v=jfp15tCDDok

 

MR.DAX, DIRK MÜLLER: WOHLSTANDSVERZICHT FÜR (FAST) ALLE

https://www.bitchute.com/video/1nGViSCM9W9Q/

 

Uwe Steimle / Licht in das Dunkel / Steimles Aktuelle Kamera / Ausgabe 109

https://www.youtube.com/watch?v=De-0HVOo_bk

 

Übrigens… Rammstein lässt grüssen!

https://www.youtube.com/watch?v=opaDkmzcy6w

 

HallMack  Aktuelle Kamera 18

https://www.frei3.de/post/5bcefaa9-0770-4c37-9221-210c3823c342

 

HallMack  Twitter droht Verbot

https://www.frei3.de/post/3586dba2-3885-48ac-85f3-ef135574edc1