Hoffmanns Erzählungen

Vor 200 Jahren starb E.T.A. Hoffmann.

Aus „Wikipedia“: „E. T. A. Hoffmann (eigentlich Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, * 24. Januar 1776 in Königsberg, Ostpreußen; † 25. Juni 1822 in Berlin) war ein bedeutender deutscher Schriftsteller der Romantik. Außerdem wirkte er als Jurist, Komponist, Kapellmeister, Musikkritiker, Zeichner und Karikaturist.“

https://de.wikipedia.org/wiki/E._T._A._Hoffmann

 

Den dritten Vornamen „Wilhelm“ änderte er aus Bewunderung für Wolfgang Amadeus Mozart in „Amadeus“ (deshalb „E.T.A.“).

Als Schriftsteller tätig war er lediglich die letzten 13 Jahre seines Lebens. Da schuf er Bedeutendes und Wegweisendes. Allerdings sollte mensch es bleiben lassen, ihn in eine Schublade zu stecken. Zu vielschichtig ist sein Werk, um ihn allein als Vertreter von „Romantik“ oder „Phantastik“ gelten zu lassen.

Inspirierend auf nachfolgende Generationen war er auf jeden Fall tätig. Unter anderem in der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach. Anna Netrebko und Elīna Garanča singen das bekannteste Stück daraus:

 

https://www.youtube.com/watch?v=0u0M4CMq7uI

 

Der Mensch E.T.A. Hoffmann

 

E.T.A. Hoffmann ist ein freier Geist, der sich durch nichts und niemanden brechen lässt. Er will aber auch von niemandem etwas, will niemandem etwas beweisen oder die Welt verbessern. Er will einfach in Ruhe gelassen werden.

Er redet sich nichts schön und sieht die Menschen so, wie sie sind. Der Wurm wird dazu noch einige schöne Zitate bringen. Allerdings liebt er auch die menschliche Gesellschaft, vor allem die kulturell interessierte. Unter anderem gründet er in Warschau die „Musikalische Gesellschaft“, in der er sehr aktiv tätig ist; in den letzten Jahren in Berlin ist er abendlich in seinem geliebten Weinhaus zu finden, wo er das dort anwesende Publikum unterhält.

Von „normalen“ Menschen, die sich so benehmen und das sagen, was von ihnen erwartet wird, hält er nicht viel. Umso mehr liebt er menschliche Originale, die genau dies nicht tun.

Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch „E.T.A. Hoffmann – Das Leben eines skeptischen Phantasten“ von Rüdiger Safranski.

„Nachdem ich beinahe zwei Jahre hindurch von allen Menschen recht schief beurteilt worden bin und ich es unter meiner Würde gehalten habe, die nachplappernde Menge überschreien und eines Besseren belehren zu wollen, ist mir das Urteil der Welt ziemlich gleichgültig geworden.“

„Die kleinstädtischen Rücksichten auf den oberen und unteren Platz, die Schüchternheit im Widerspruche, das furchtsame Erwarten, ob ein Größerer einen anreden werde, das Zurückdrücken von Gruppen, die einem nicht bekannt sind, das erbärmliche Warten auf einen Gruß, das ängstliche Studium, einem jeden seinen Titel zu geben, das kindische Mildern des natürlichen Lautes der Stimme, das Zurückhalten eines witzigen Einfall aus Furcht, irgendjemand damit anzustechen, das matte, unterwürfige, überfeine Benehmen gegen die Weiber und tausend andere Dinge, welche manche kleine große Welt in Deutschland quälen; von all diesen findet man in warschauischen Gesellschaften keine Spur, sondern man spricht und lacht, wie man sich gewöhnt hat, man behauptet, wovon man überzeugt ist, man widerspricht, wenn man anders denkt, man freut sich laut über frohe Dinge, man macht Witze, soviel man kann, man schämt sich nicht, der Erste bei Tische, der Durstige beim Glase, der Verliebte beim schönen, der Eifersüchtige beim treulosen Weibe zu sein; mit einem Worte: Man gibt sich, wie man ist und versperrt dadurch jedem Zwange die Türe.“

„Kreisler lässt er mit Hamlet ausrufen: „Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen!““

Julius Eduard Hitzig: „… abgestandene Beifallsphrasen, wie sie die feine Societät heute über einen neuen Tänzer, morgen über das neueste Werk von Goethe, und übermorgen etwa über den blutigen Kampf einer unterdrückten Nation aus einem Beutel auszugeben pflegt, konnten ihm keine Freude machen.“

Über den unpolitischen E.T.A. Hoffmann schrieb der Wurm im vorigen Beitrag: „Es ist ein Kreuz mit dem Kerl: politisch und gesellschaftlich interessiert er sich für nichts. Was nicht heissen soll, dass er leidenschaftslos war. Im Privaten und in der Kunst sah das ganz anders aus.

Dass ihn das Begräbnis von Immanuel Kant (Königsberger wie er) im Jahr 1804 mit tausenden von zugereisten Trauergästen nicht interessiert, mag ja noch angehen.

Aber dass ihm die Französische Revolution egal ist wie auch Napoleon, der Deutschland total umkrempelt (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/491-jeder-ein-kaiser.html ), ist schon sehr befremdlich.

Als im Jahr 1806 Napoleons Truppen in Warschau einmarschieren (wo E.T.A. Hoffmann als preußischer Beamter tätig ist), sieht er sich die eine oder andere Militär-Parade an – ansonsten singt er, spielt Klavier und gibt sich ganz der Kultur hin.

Er hätte nichts dagegen, wenn der Krieg mal zu Ende ginge – es ist ihm aber egal, wer ihn gewinnt.

1813 schildert er 3 Tage nach der Schlacht das Schlachtfeld bei Dresden und berichtet relativ emotionslos darüber. Als wenig später eine Granate auf dem Marktplatz platzt mit den entsprechenden Bildern, trinkt er in Ruhe sein Glas Wein dazu. In Bamberg erlebte er 1812, wie ein Tänzer tot zusammenbrach. Ungerührt fertigte er eine Zeichnung davon an.

Ganz anders sein Freund Theodor Gottlieb von Hippel: „Im Jahre 1810 berief Staatskanzler Karl August von Hardenberg den Juristen in seinen Mitarbeiterstab. In dieser Zeit arbeitete Hippel an den preußischen Reformen aktiv mit. Neben Dohna-Schlobitten, Schön und Auerswald gehörte er zu den führenden Köpfen der preußischen Reformbewegung in der Provinz Ostpreußen. Hippel selbst agierte jedoch eher im Hintergrund und trat selten aus dem Schatten der vorgenannten hervor.

Durch seine persönliche Freundschaft mit Hardenberg wurde er im Jahre 1811 auch in den preußischen Staatsrat berufen …

Doch eines seiner Schriftstücke erlangte eine historische Bedeutung. So schrieb Hippel im Frühjahr 1813 den Aufruf »An mein Volk!« mit dem Friedrich Wilhelm III. zu den Waffen gegen Napoléon rief. Das Besondere an dieser Proklamation war, dass sich hier erstmals ein preußischer Monarch direkt an seine Untertanen wandte, um ihnen seine Politik zu erklären und auf den bevorstehenden Krieg einzustimmen.“

https://www.epoche-napoleon.net/bio/h/hippel02.html

Es ist kaum zu glauben – die Französische Revolution wälzt alles um, Napoleon wälzt alles um, die Welt in Flammen, beste Kontakte zu den später so verehrten preußischen Reformern – und dennoch interessiert sich E.T.A. Hoffmann nicht im Geringsten dafür.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/551-aktualitaet-eines-voellig-unpolitischen-voellig-toten.html

 

Das Werk

 

Wie bei kaum einem Zweiten lassen sich bei ihm gesellschaftliche, technische, wissenschaftliche Neuerungen ablesen.

E.T.A. Hoffmann ist zwar ein Vertreter der Romantik, des Kunst-Märchens, der Phantastik – aber keineswegs nur dort zu Hause.

Die meisten seiner Werke kann mensch im „Projekt Gutenberg“ nachlesen: https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/etahoff.html

 

Kreisleriana

 

Das wichtigste Thema für E.T.A. Hoffmann war die Kunst als solches und der Künstler in seiner Umgebung.

Aus „Wikipedia“: „Die Kreisleriana sind zwölf scheinbar nicht zusammenhängende, tragisch angelegte Einzeltexte von E. T. A. Hoffmann, die erstmals zwischen 1810 und 1814 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung abgedruckt wurden und 1814 und 1815 im zweiten und vierten Band der Fantasiestücke in Callot’s Manier erschienen. Dem ersten Lektüreeindruck eines ,Textverhaus‘ widerspricht Steinecke: „Ihre Abfolge [die der Einzelstücke in den Kreisleriana] ist nicht zufällig und als Ganzes bilden sie ein geschlossenes Werk.“ Somit seien die Kreisleriana das erste bedeutende Werk des Autors, mit dem er über die Frühromantik in die Moderne hinausgewiesen habe]. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr enthält weitere Kreisler-Fragmente.

Der Kapellmeister Johannes Kreisler gilt als die „Künstlerfigur der Romantik überhaupt“. Seine Differenzen mit der Welt folgen aus einer Ausweglosigkeit: die Bindung des Künstlers an das bürgerliche Publikum.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Kreisleriana_(E._T._A._Hoffmann)

 

„An das zahlende Publikum“ wäre richtiger – der Adel war zu dieser Zeit immer noch wichtig, wie beim Kater Murr.

Ob ausdrücklich von der Person des Johannes Kreisler die Rede ist oder nicht – die Auseinandersetzung mit der Kunst in der Welt (und die Leiden des Künstlers an der Welt) bildet in mehreren Werken von E.T.A. Hoffmann die zentrale Rolle. Unter anderem in „Ritter Gluck“.

 

Der goldne Topf

 

„Arnold Erklärt“: Nix für Philister - Hoffmanns "Der goldne Topf" als romantisches Märchen

 

https://www.youtube.com/watch?v=bZv8h_mo0qg

 

Der Autor wendet sich zum Schluss an das Publikum: „Wie fühlte ich recht in der Tiefe des Gemüts die hohe Seligkeit des Studenten Anselmus, der, mit der holden Serpentina innigst verbunden, nun nach dem geheimnisvollen wunderbaren Reiche gezogen war, das er für die Heimat erkannte, nach der sich seine von seltsamen Ahnungen erfüllte Brust schon so lange gesehnt. Aber vergebens blieb alles Streben, dir, günstiger Leser, all die Herrlichkeiten, von denen der Anselmus umgeben, auch nur einigermaßen in Worten anzudeuten. Mit Widerwillen gewahrte ich die Mattigkeit jedes Ausdrucks. Ich fühlte mich befangen in den Armseligkeiten des kleinlichen Alltagslebens, ich erkrankte in quälendem Mißbehagen, ich schlich umher wie ein Träumender, kurz, ich geriet in jenen Zustand des Studenten Anselmus, den ich dir, günstiger Leser, in der vierten Vigilie beschrieben. Ich härmte mich recht ab, wenn ich die elf Vigilien, die ich glücklich zustande gebracht, durchlief und nun dachte, daß es mir wohl niemals vergönnt sein werde, die zwölfte als Schlußstein hinzuzufügen, denn so oft ich mich zur Nachtzeit hinsetzte, um das Werk zu vollenden, war es, als hielten mir recht tückische Geister (es mochten wohl Verwandte – vielleicht Cousins germains der getöteten Hexe sein) ein glänzend poliertes Metall vor, in dem ich mein Ich erblickte, blaß, übernächtig und melancholisch wie der Registrator Heerbrand nach dem Punsch-Rausch. – Da warf ich denn die Feder hin und eilte ins Bett, um wenigstens von dem glücklichen Anselmus und der holden Serpentina zu träumen. So hatte das schon mehrere Tage und Nächte gedauert, als ich endlich ganz unerwartet von dem Archivarius Lindhorst ein Billett erhielt, worin er mir folgendes schrieb: …

Die Vision, in der ich nun den Anselmus leibhaftig auf seinem Rittergute in Atlantis gesehen, verdankte ich wohl den Künsten des Salamanders, und herrlich war es, daß ich sie, als alles wie im Nebel verloschen, auf dem Papier, das auf dem violetten Tische lag, recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben fand. – Aber nun fühlte ich mich von jähem Schmerz durchbohrt und zerrissen. »Ach, glücklicher Anselmus, der du die Bürde des alltäglichen Lebens abgeworfen, der du in der Liebe zu der holden Serpentina die Schwingen rüstig rührtest und nun lebst in Wonne und Freude auf deinem Rittergut in Atlantis! – Aber ich Armer! – bald – ja in wenigen Minuten bin ich selbst aus diesem schönen Saal, der noch lange kein Rittergut in Atlantis ist, versetzt in mein Dachstübchen, und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens befangen meinen Sinn, und mein Blick ist von tausend Unheil wie von dickem Nebel umhüllt, daß ich wohl niemals die Lilie schauen werde.« – Da klopfte mir der Archivarius Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: »Still, still, Verehrter! Klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht soeben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?«“

 

Es geht um Poesie, um Phantasie, um die Fähigkeit, sich seine Freiräume zu verschaffen. Und sei es nur in Gedanken oder im kontrollierten Rausch.

 

Zwischen den zur Phantasie Begabten und den durchrationalisierten „Philistern“ steht Veronika, die Verständnis für die Poesie aufbringt – aber nur dann, wenn sie selbst in der Welt gut dasteht:

„»Sie können es mir glauben, bester Vater, daß ich den Anselmus recht von Herzen liebte, und als der Registrator Heerbrand, der nunmehr selbst Hofrat worden, versicherte, der Anselmus könne es wohl zu so etwas bringen, beschloß ich, er und kein anderer solle mein Mann werden … Wenige Wochen nachher saß die Frau Hofrätin Heerbrand wirklich, wie sie sich schon früher im Geiste erblickt, in dem Erker eines schönen Hauses auf dem Neumarkt und schaute lächelnd auf die Elegants hinab, die vorübergehend und hinauflorgnettierend sprachen: »Es ist doch eine göttliche Frau, die Hofrätin Heerbrand!«“

 

Nußknacker und Mäusekönig

 

„Es wirkt ein bisschen so, als ob E.T.A. Hoffmann für sein weltberühmtes Kunstmärchen NUSSKNACKER UND MÄUSEKÖNIG alles genommen hätte, was Kindern wichtig ist (Weihnachten, Spielzeug, Süßigkeiten), dann ihre größten Ängste hinzugegeben hätte (Mäuse, Verlust von Süßigkeiten und Spielzeug), das Ganze in einen sehr großen Mixer gegeben, gut durchgemischt und anschließend genüsslich zugesehen hätte, wie die Erwachsenen mit dem Chaos dieser Geschichte fertigwerden. Alles ist möglich in der Nussknacker-Welt: Ein seriöser Gerichtsrat und Patenonkel wird erst zum Uhu und dann zum Held seines eigenen Märchens im Märchen, ein Nussknacker wird zum Retter der Mensch- und Spielzeugheit vor einer Mäuseinvasion und ein kleines Mädchen wird zur Königin des besten Königreiches, das man sich vorstellen kann. Michael Sommer und sein Playmobilensemble stellen eine kompakte und unterhaltsame Kurzversion von E.T.A. Hoffmanns Klassiker vor.“

 

 

Nussknacker und Mäusekönig to go (Hoffmann in 9 Minuten)

https://www.youtube.com/watch?v=MkJ87AXhOpU

 

Maximilian Maier über das Ballet „Der Nussknacker“ von Peter Tschaikowsky:

https://www.youtube.com/watch?v=MdncyYMohEU

 

Rat Krespel

 

Es gab tatsächlich ein spinnerisches Vorbild für den „Rat Krespel“. Unabhängig von seinen Spinnereien hat der literarische Krespel seine Tochter im Haus, die an einer unheilbaren Krankheit leidet: singt die begnadete Sängerin, schwebt sie in akuter Lebens-Gefahr.

Der kunstbegeisterte Rat Krespel, der ansonsten Violinen zerlegt, um hinter das Geheimnis ihres Tons zu gelangen, entscheidet sich im Falle seiner Tochter gegen die Kunst und für das Leben (was letztendlich nicht gelingt).

 

„Auch die Welt, das musikalische Publikum, mocht' es auch unterrichtet sein von Antoniens Leiden, gab gewiß die Ansprüche nicht auf, denn dies Volk ist ja, kommt es auf Genuß an, egoistisch und grausam.“

 

Meister Floh

 

„In dem turbulenten Kunstmärchen Meister Floh werden die Abenteuer des wunderlichen Peregrinus Tyß erzählt, die er zusammen mit dem Meister Floh in Frankfurt erlebt. Dieses außergewöhnliche Insekt sucht Schutz bei Tyß, bringt ihn in Nöte, aber schließlich zurück ins Leben. Mit seinem ‚Gedanken-Mikroskop‘ kann der Floh sichtbar machen, was seinem Gegenüber gerade durch den Kopf geht. Meister Floh wird von zwei Naturforschern gejagt, die sich als 200 Jahre alte Gelehrte zu erkennen geben, und von einer schönen Holländerin, die zugleich eine mythische Prinzessin ist. Diese wiederum wird einerseits von einem Studenten verfolgt, der mit zweiter Identität eine zauberhafte Distel ist, andererseits von einem Prinzen, der sich zeitweilig als Blutegel entpuppt. Am Ende findet Tyß seine wahre Liebe und wird damit für eine gute Tat aufs Schönste belohnt.

Auf die fantastische Handlung, in der alles drunter und drüber geht, spielt die Wandgestaltung der Station an. Wie bei den Drehscheiben, die sich durch Kurbeln in Gang setzen lassen, werden in der Geschichte alle festen Ordnungen in Bewegung gebracht. Sie spielt zugleich in Frankfurt am Main und im Zauberreich Famagusta, zeitliche Gesetzmäßigkeiten haben keine Gültigkeit. Die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze lösen sich auf. Hoffmann macht die Verbindung von Realität und Fantasie durch die Wissenschaft sichtbar, indem optische Instrumente wie das Mikroskop, Laterna magica und Fernrohr immer in das Reich des Fantastischen führen. Licht ins Dunkel bringen kann einzig Meister Floh, den Hoffmann auf einer Umschlag-Illustration zeigt, „in den schönsten faltenreichen Talar gehüllt, eine hochauflodernde Fackel in den Vorderpfötchen haltend“.

In dem Märchen versteckte E.T.A. Hoffmann mit der sogenannten Knarrpanti-Passage eine Verspottung des konservativen Berliner Polizeidirektors Karl Albert von Kamptz. Als dieser davon erfuhr, ließ er das bereits im Verlag liegende Manuskript beschlagnahmen, die gesamte Passage streichen und verklagte Hoffmann wegen Beamtenverleumdung. In seiner Verteidigungsschrift kennzeichnete der Autor sein Kunstmärchen als „phantastische Geburt eines humoristischen Schriftstellers“. Eine Disziplinar-Untersuchung kam allerdings nicht mehr zustande, da Hoffmann kurz nach Erscheinen des Meister Floh am 25. Juni 1822 verstarb. 84 Jahre nach seinem Tod wurden die zensierten Textstellen im Geheimen Staatsarchiv in Berlin entdeckt, erst 1908 konnte das Werk vollständig erscheinen.“

https://freies-deutsches-hochstift.de/mediaguide/romantik-ausstellung/3-obergeschoss/blicke-durchs-gedanken-mikroskop/

 

Ausführlich zu Knarrpanti und dessen Hintergründe in http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/551-aktualitaet-eines-voellig-unpolitischen-voellig-toten.html

 

Petra Mayer: „… Neben Fernrohr, Lupenglas und Nachtmikroskop meint Müller sogar in der dunklen Kammer, in der Peregrinus die Weihnachtsbescherung herbeisehnt, eine Camera obscura zu erkennen. Obwohl die meisten dieser Geräte eigentlich der rationalen Erfassung der Welt dienen sollen, stiften sie in Hoffmanns Meister Floh paradoxerweise immer wieder Verwirrung. Vielfach sind sie Katalysatoren grotesker Handlungen, denn die Menschen sind durch die neuen Perspektiven, die diese Instrumente eröffnen, maßlos überfordert. Hoffmanns Aufnahme dieser Thematik lässt sich historisch begründen: In der Entstehungszeit von Meister Floh (1820-22) sind in Deutschland die ersten Vorläufer der Industrialisierung spürbar. Neue Techniken verändern das Verhältnis des Menschen zur belebten und unbelebten Natur grundlegend. Dieser Veränderungsprozess schließt die menschliche Wahrnehmung mit ein. Der Einsatz von Instrumenten potenziert „die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit des Hörens und Sehens“ und sprengt „die herkömmlichen Grenzen der Kraftleistung“. Negative Auswirkungen einer solchen Verzerrung der gewohnten Perspektive, nämlich Chaos und Furcht, beschreibt Hoffmann plastisch:

Sowie nun Pepusch eintreten wollte, sprang die Türe des Saals auf mit Ungestüm, und in wildem Gedränge stürzten die Menschen ihm entgegen, totenbleiches Entsetzen in den Gesichtern. [...] Ein Blick in den Saal verriet dem jungen Pepusch sogleich die Ursache des fürchterlichen Entsetzens, das die Leute fortgetrieben. Alles lebte darin, ein ekelhaftes Gewirr der scheußlichsten Kreaturen erfüllte den ganzen Raum. Das Geschlecht der Pucerons, der Käfer, der Spinnen, der Schlammtiere, bis zum Übermaß vergrößert, streckte seine Rüssel aus, schritt daher auf hohen haarigten Beinen, und die gräulichen Ameisenräuber faßten, zerquetschten mit ihren zackigten Zangen die Schnacken, die sich wehrten und um sich schlugen mit den langen Flügeln, und dazwischen wanden sich Essigschlangen, Kleisteraale, hundertarmigte Polypen durcheinander, und aus allen Zwischenräumen kuckten Infusions-Tiere mit verzerrten menschlichen Gesichtern. Abscheulicheres hatte Pepusch nie geschaut.

Die künstliche Vergrößerung des Nachtmikroskops lässt die Grenzen von Mikrokosmos und Makrokosmos verschwimmen. Die ohnehin fremdartige Welt der Insekten erscheint den Menschen durch diese Verzerrung umso grotesker. Besonders Angst einflößend dürften die menschenähnlichen Züge dieser niederen Tiere wirken. Die scharfe Trennung zwischen Mensch und Tier gerät ins Wanken …

 

Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass dieser von dem Wissenschaftler Leuwenhöck inszenierte „Zoo des Grauens“ nicht nur für Chaos unter den Menschen, sondern auch unter den Tieren sorgt. In ihrem natürlichen Habitat würden die Tiere nicht auf einem derartig engen Raum zusammenleben: Ein gegenseitiges Abschlachten in diesem Ausmaß wäre unwahrscheinlich. Unnatürliche Häufung und Denaturalisierung können folglich als Mittel zur Intensivierung des Verfremdungseffekts veranschlagt werden. Dieses grauenerregende Szenario illustriert den Wissenschaftsmissbrauch Leuwenhöcks eindrücklich. Ebenso verwerflich ist Leuwenhöcks Ausbeutung der gefangenen Flöhe zu pekuniären Zwecken. Zu allem Übel zwingt der Wissenschaftler den Flöhen das korrumpierte menschliche Gesellschaftssystem auf. Durch eine List gelingt es dem Flohzirkus jedoch, geschlossen zu desertieren. Der Mikroskopist bleibt ratlos als „betrogener Betrüger“ zurück.

Ausgerechnet die Wissenschaftler Leuwenhöck und Swammerdamm sind es auch, die der Phantasiewelt Eintritt in die Realität verschaffen und somit das menschliche Ordnungsgefüge empfindlich stören. Indem sie zufälligerweise ihr Fernrohr auf Gamaheh und Meister Floh richten, zwingen sie die Phantasiewesen, in der realen Welt zu verharren. Beide Wissenschaftler erweisen sich jedoch als völlig unfähig, ihre Entdeckung zur Gänze zu begreifen und unter Kontrolle zu bringen. Sowohl Meister Floh als auch Gamaheh entziehen sich ihrer Einflusssphäre und bei der Verfolgung der Ausreißer geben sich die beiden Wissenschaftler mehrfach der Lächerlichkeit preis. Den Höhepunkt dieser Jagd bildet der Kampf der Mikroskopisten. Statt an einem Strang zu ziehen, verfolgen die Wissenschaftler egoistische Ziele und versuchen, sich gegenseitig mit allen Mitteln auszustechen. Selbst der Tod des Gegners wird in Kauf genommen. In besonderem Maße grotesk ist, dass die Wissenschaftler in einem Duell, das sprachlich als Fechtkampf ausgewiesen wird, ihre Fernrohre als Waffen benutzen. Es besteht eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Instrument und der mit ihm ausgeführten Handlung. Die Forschungsgeräte werden zweckentfremdet, sie mutieren zu „Marter-Instrumenten“.

Beide setzten nun die Ferngläser ans Auge und fielen grimmig gegeneinander aus mit scharfen mörderischen Blicken, indem sie ihre Waffen durch Aus- und Einschieben bald verlängerten, bald verkürzten. Da gab es Finten, Paraden, Volten, kurz alle nur mögliche Fechterkünste, und immer mehr schienen sich die Gemüter zu erhitzen. Wurde einer getroffen, so schrie er laut auf, sprang in die Höhe, machte die wunderlichsten Kapriolen, die schönsten Entrechats, Pirouetten [...]

… Im vorliegenden Fall wird der Kampf entsprechend als ebenso lächerlich wie entsetzlich beschrieben, denn es geht um Leben und Tod. Die Redewendung „Wenn Blicke töten könnten...“ erfährt eine affirmierende Konkretisierung: Blicke können töten! Erneut missbrauchen die Wissenschaftler ihre Erfindungen. Gleichzeitig wird deutlich, dass ihre Wissenschaft nicht etwa dem Wohle der Menschheit dienen soll, sondern durch reine Profilierungssucht angetrieben wird. Es gilt, den Gegner buchstäblich mit Argumenten totzuschlagen. Hoffmann weist darauf hin, dass so manche Wissenschaftsdebatte einerseits zur reinen Selbstdarstellung vom Zaun gebrochen wird, andererseits zu verbitterten internen Grabenkämpfen führt, wobei das eigentliche Ziel – falls ein solches je existierte – aus dem Blickfeld verschwindet. Tatsächlich erweisen sich beide Wissenschaftler als blind, denn sie erkennen nicht, dass Peregrinus selbst den begehrten Karfunkel verkörpert, nach dem sie so lange gesucht haben. Sie können den Karfunkel nur materiell deuten, immaterielle Werte sind ihnen fremd. Diese Botschaft wird radikalisiert: Als gegen Ende der Erzählung die wahren Identitäten aller Figuren offenbar werden, lässt Hoffmann die Wissenschaftler zu Miniaturen schrumpfen. Die alte Kinderfrau Aline steckt dann diese Mikroskopisten-Püppchen in eine Wiege und singt ihnen zur Beruhigung ihrer erhitzten Gemüter ein Schlaflied vor. Diese Behandlung scheint ihr wohl dem Intellekt der beiden Wissenschaftler angemessen zu sein. Aus der Retrospektive erscheint das Agieren der Wissenschaftler als „Zwergenaufstand“: „[...] die Erkenntnis, nach der ihr strebtet, war nur ein Fantom, von dem ihr getäuscht wurdet wie neugierige, vorwitzige Kinder“ …

 

Hoffmann belässt es jedoch nicht bei Wissenschafts- und Justizsatire, vielmehr holt er zu einem Rundumschlag aus, indem er Peregrinus in die Abgründe blicken lässt, die hinter den Fassaden der bürgerlichen Existenzen verborgen liegen. Auf Drängen des Flohs hin unternimmt Peregrinus einen Spaziergang und trifft auf verschiedene Repräsentanten der Gesellschaft. Bei diesen Begegnungen muss er feststellen, dass die Gedanken, die das mikroskopische Glas sichtbar macht, meist den Äußerungen seines Gegenübers diametral entgegenstehen. Nicht nur Fremde und ein weitläufig bekannter Kaufmann, auch enge Verwandte heucheln ihm Wohlwollen vor, um an sein Geld zu kommen. Selbst Peregrinus’ Arzt, der eigentlich als Vertrauensperson fungieren sollte, wird als Lügner enttarnt. Er wünscht Peregrinus insgeheim eine Krankheit an den Hals und will sogar aktiv dafür sorgen, dass Peregrinus sich im Krankheitsfall recht lange nicht erholt: „Nun! kommt er mir unter die Hände, so soll er nicht wieder so bald vom Lager aufstehen, er soll tüchtig büßen für seine hartnäckige Gesundheit.“ Noch krasser weicht Swammerdamms höflich-unterwürfiger Abschiedsgruß von seinen Gedanken ab, die lauten: „Ich wollte, daß dich der schwarzgefiederte Satan verschlinge, du verdammter Kerl!–" Peregrinus muss desillusioniert die Diskrepanz zwischen Schein und Sein zur Kenntnis nehmen – eine Erfahrung, die gerade in Bezug auf nahe stehende Personen sehr schmerzlich ist. Dazu Kayser: „Das Grauen überfällt uns so stark, weil es eben unsere Welt ist, deren Verläßlichkeit sich als Schein erweist.“ Dieser Wirkung ist sich Meister Floh bewusst und warnt Peregrinus entsprechend: „Trüget Ihr aber beständig dies Glas im Auge, so würde Euch die stete Erkenntnis der Gedanken zuletzt zu Boden drücken, denn nur zu oft wiederholte sich die bittre Kränkung, die Ihr soeben erfahren habt.“

 

Heiterer fällt die Kritik an den jungen enthusiastischen Dichtern und den schriftstellerischen Damen aus. War Peregrinus bisher von deren Eloquenz höchst beeindruckt, entdeckt er nun beim Blick in ihr Gehirn Erstaunliches:

Er sah zwar das seltsame Geflecht von Adern und Nerven, bemerkte aber zugleich, daß diese gerade, wenn die Leute über Kunst und Wissenschaft, über die Tendenzen des höhern Lebens überhaupt ganz ausnehmend herrlich sprachen, gar nicht eindrangen in die Tiefe des Gehirns, sondern wieder zurückwuchsen, so daß von deutlicher Erkennung der Gedanken gar nicht die Rede sein konnte.

Die von ihm bewunderten Intellektuellen entpuppen sich als Dilettanten, die bestenfalls Zirkelschlüsse produzieren. Noch vernichtender fällt Meister Flohs Urteil aus. Er meint dasjenige, was Peregrinus für Gedanken halte, seien in Wirklichkeit „nur Worte, die sich vergeblich mühten, Gedanken zu werden“

Offensichtlich wird das Gebot „Erst denken, dann reden!“ in diesen pseudointellektuellen Kreisen mit Füßen getreten. Wenigstens richtet diese Verkehrung hier keinen größeren Schaden an.“

http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/hoffmann/floh-groteske-satire_mayer.pdf

 

Der Sandmann

 

Aus Sicht des Wurms geht es beim „Sandmann“ um kindliche Traumata, wie damit umgegangen wird und wohin sie mensch treiben können.

Aber auch um die technische Neuerung des Automaten. In diesem Falle menschliche Automaten und die Frage, welches überhaupt der Unterschied zwischen Mensch und Automat ist.

Nathanael wird als Kind mit dem „Sandmann“ geängstigt. Im Zusammenhang mit diesem passiert dann tatsächlich etwas Schlimmes, was Nathanial für sein Leben zeichnet. Als er Jahre später den „Sandmann“ wiederzuerkennen glaubt, brechen die ganzen Ängste wieder auf.

Aus „Wikipedia“: „In seiner Verwirrung adressiert Nathanael den Brief jedoch nicht an Lothar, sondern an seine Verlobte Clara, die ihm in einem Antwortschreiben rät, seine Fantasie zu zügeln, da der Sandmann nur eine Ausgeburt seines Unterbewusstseins und Coppolas Ähnlichkeit mit Coppelius rein zufällig sei.

In einem weiteren Brief an Lothar bittet Nathanael ihn, nicht mehr mit Clara über seine Probleme zu sprechen …

Nathanael verändert sich im Fortgang der Erzählung: Er versinkt in düstere Träume und glaubt, dass das Leben von einer höheren Macht bestimmt werde, was Clara sehr zuwider ist, besonders als Nathanael Coppelius als das böse Prinzip betrachtet, das das Liebesglück der beiden störe. Nathanael versinkt immer stärker in seiner Gedankenwelt und beginnt, über Coppelius und Claras Augen zu fantasieren. Mit der Zeit ist Clara vom nimmer endenden Fluss von Erzählung und Dichtung, die Nathanael ihr vorträgt, gelangweilt und wird zunehmend abweisender. Nathanael fühlt sich dadurch missverstanden, so dass er Clara in einem Ausbruch von Wut als „lebloses Automat“ bezeichnet …

An den folgenden Tagen kann er nicht mehr von Olimpia lassen und beobachtet sie die ganze Zeit durch das Perspektiv. Seine „herzgeliebte“ Clara und Lothar sind ihm wie entfallen und er schenkt ihnen keinen einzigen Gedanken mehr.

Als er erfährt, dass Spalanzani plant, ein Fest zu geben, auf dem er seine Tochter das erste Mal der Öffentlichkeit vorstellen will, ist Nathanael hocherfreut. Auf diesem Ball wagt Nathanael es als einziger, sie zum Tanzen aufzufordern, wodurch er noch stärker in ihren Bann gezogen wird. Allen anderen erscheint Olimpia sehr „mechanisch“, leblos und fast zu perfekt. Er dagegen verliert die letzten Zweifel an seiner Liebe zu ihr, und sie küssen sich. Er beginnt sich häufiger mit Olimpia zu treffen, um ihr seine Gedichte und Erzählungen vorzulesen. Anders als die kritische Clara antwortet sie ausschließlich „Ach! Ach!“, was Nathanael als Ausdruck eines sehr poetischen und tiefgründigen Gemütes interpretiert; er sieht sie als die Person an, die ihn ganz versteht. Als Nathanael Anspielungen gegenüber Spalanzani macht, sie heiraten zu wollen, gibt ihm dieser zu verstehen, dass er ihr völlig freie Wahl lassen werde. Daraufhin beschließt er, Olimpia einen Heiratsantrag zu machen, doch platzt er mitten in einen Kampf zwischen Coppola und Spalanzani um Olimpia herein, die er jetzt erst als das erkennt, was sie ist: eine automatisierte Holzpuppe. Nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung entkommt Coppola mit Olimpias Körper, und Spalanzani fordert Nathanael auf, ihm zu folgen, um den Automaten wiederzuerlangen. Doch Nathanael, der Olimpias „blutige Augen“ (ihre Glasaugen im Blut Spalanzanis) auf dem Boden liegen sieht, springt ihm an den Hals, um ihn zu töten, was jedoch durch die mittlerweile eintreffende Menschenmenge verhindert wird. Nathanael verfällt in den Wahnsinn und wird ins Tollhaus gebracht, wo er eine nicht näher bestimmte Zeit verbringt.

Der fiktive Erzähler spricht erneut zum Leser und berichtet, dass Spalanzani die Universität verlassen muss, da er „die Menschheit mit der mechanischen Puppe“ betrogen hat. Coppola bleibt (abermals) verschwunden.

Nathanael scheint vom Wahnsinn befreit zu sein und plant, Clara zu heiraten und mit ihr aufs Land zu ziehen. Bei einem abschließenden Einkauf in der Stadt steigen Nathanael und Clara auf den Ratsturm, um die Aussicht noch einmal zu genießen. Oben angekommen, macht Clara Nathanael auf einen sich nähernden grauen Busch aufmerksam, woraufhin dieser in seine Seitentasche greift und das Perspektiv des Coppola erfasst. Als er Clara durch dieses erblickt, scheint er erneut vom Wahnsinn befallen zu werden und versucht, sie den Turm hinunterzustürzen. Lothar kann sie gerade noch retten, da erblickt Nathanael Coppelius, der in einer Menschenansammlung am Fuße des Turmes steht. Coppelius hält die Menschen mit den Worten „Ha ha – wartet nur, der kommt schon herunter von selbst“ davon ab, Nathanael aufzuhalten. Mit den Worten „Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“, mit denen auch der Wetterglashändler Coppola seine Perspektive angeboten hatte, stürzt sich Nathanael in den Tod. Coppelius verschwindet in der Menge.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Sandmann_(Hoffmann)

 

Phantom des eigenen Ichs

 

„Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. Haben wir festen, durch das heitre Leben gestärkten, Sinn genug, um fremdes feindliches Einwirken als solches stets zu erkennen und den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben, ruhigen Schrittes zu verfolgen, so geht wohl jene unheimliche Macht unter in dem vergeblichen Ringen nach der Gestaltung, die unser eignes Spiegelbild sein sollte. Es ist auch gewiß, fügt Lothar hinzu, daß die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so, daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt.“

Vor dem 18. Jahrhundert wurde die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht gestellt. Erst dann wird es interessant zu erfahren, was einen Menschen, der ansonsten kein Motiv hat, zur Tat treibt.

Rüdiger Safranski: „Das Fehlen eines Motivs veranlaßt die Untersuchung des Geisteszustandes von Schmolling, man will die Schuldfähigkeit überprüfen …

Statt zu beweisen, dass eine Geisteszerrüttung zur Tat geführt habe, würde umgekehrt von der Tat auf eine Geisteszerrüttung geschlossen. Auf Veranlassung der Verteidigung wird die Sache dem Kriminal-Senat des Berliner Kammergerichts zur Begutachtung vorgelegt. Und der Verfasser des Kammergerichtsvotums, das sich ebenfalls gegen die These der Unzurechnungsfähigkeit ausspricht und damit für die Todesstrafe plädiert, ist E.T.A. Hoffmann.

Hoffmanns Vorliebe für solch schwierige Fälle war bekannt. Hitzig hat sie später an dem inzwischen verstorbenen Kammergerichtsrat gerügt, „der sich infolge der eigentümliche Richtung seines Geistes besonders in Ausführungen über zweifelhafte Gemütszustände gefiel.“

Auch in anderen Fällen hat Hofmann wider die behauptete Unzurechnungsfähigkeit argumentiert. Gerade wenn es um Taten ging, in denen sich seelische Abgründe auftaten, zögerte er, von „Krankheit“ zu sprechen. Er hatte einen sehr weiten Begriff des „Normalen“. Auch das Verbrechen hatte darin seinen Platz.

Die forensische Auseinandersetzung über die Frage der Zurechnungsfähigkeit, in der Hoffmann mit seinen Gutachten - die übrigens Büchner später für seinen Woyzek studieren wird – eingreift, hat schon damals die Gemüter bewegt. Es vollzieht sich im Stil des Urteilens und Strafens gerade ein epochaler Umbruch, in dem die großen philosophischen Themen und Tendenzen des Zeitalters verwickelt sind. In der Frage der Zurechnungsfähigkeit stehen sich die unterschiedlichen anthropologischen Ideen, welche die Neuzeit hervorgebracht hat, gegenüber, unter dem Druck einer praktischen, zumeist Leben oder Tod betreffenden Frage zur Stellungnahme herausgefordert: Wie weit ist der Mensch für seine Tat verantwortlich? Die Macht der Vernunft, die Macht der Natur und die Macht des Sozialen, in welchen Proportionen wirken diese Bestimmungsgründe des Handelns?“

Zu Georg Büchner siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/39-leben-im-elfenbeinturm.html

 

Ungleiches Paar

 

Über seine Ängste spricht Nathanael nicht mit seiner Verlobten Clara, die ansonsten eine recht patente Frau ist und mit der mensch über alles reden könnte, wenn mensch denn wollte.

„Erst jetzt vernahm ich, wie Dein guter alter Vater solch entsetzlichen, gewaltsamen Todes starb …

Ich bitte Dich, schlage Dir den häßlichen Advokaten Coppelius und den Wetterglasmann Giuseppe Coppola ganz aus dem Sinn. Sei überzeugt, daß diese fremden Gestalten nichts über Dich vermögen; nur der Glaube an ihre feindliche Gewalt kann sie Dir in der Tat feindlich machen. Spräche nicht aus jeder Zeile Deines Briefes die tiefste Aufregung Deines Gemüts, schmerzte mich nicht Dein Zustand recht in innerster Seele, wahrhaftig, ich könnte über den Advokaten Sandmann und den Wetterglashändler Coppelius scherzen. Sei heiter – heiter! – Ich habe mir vorgenommen, bei Dir zu erscheinen, wie Dein Schutzgeist, und den häßlichen Coppola, sollte er es sich etwa beikommen lassen, Dir im Traum beschwerlich zu fallen, mit lautem Lachen fortzubannen. Ganz und gar nicht fürchte ich mich vor ihm und vor seinen garstigen Fäusten, er soll mir weder als Advokat eine Näscherei, noch als Sandmann die Augen verderben.“

Die Geschichte endet mit folgenden Worten: „Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.“

Anders ausgedrückt: ein rational denkender und ein „im Innern zerrissener“ Mensch werden nicht glücklich miteinander. Der Eine will den Anderen nicht verstehen und der Andere fühlt sich nicht verstanden. Beide leben in ihren unterschiedlichen Welten. Der Eine soll sich nicht in jedwelchen Blödsinn hineinziehen lassen und der Andere möge jemand Gleichgesinntes suchen, den er volljammern kann und der auch so drauf ist.

 

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

 

Dann, wenn er sich nicht so benimmt wie ein Automat. Also nicht so, „wie es sich gehört“ – das könnte jeder Automat auch.

„Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hochentflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: »Ach – Ach – Ach!« – worauf denn Nathanael also sprach: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« und noch mehr dergleichen, aber Olimpia seufzte bloß immer wieder: »Ach, Ach!« …

»Liebst du mich – liebst du mich Olimpia? – Nur dies Wort! – Liebst du mich?« So flüsterte Nathanael, aber Olimpia seufzte, indem sie aufstand, nur: »Ach – Ach!« – »Ja du mein holder, herrlicher Liebesstern«, sprach Nathanael, »bist mir aufgegangen und wirst leuchten, wirst verklären mein Inneres immerdar!« – »Ach, ach!« replizierte Olimpia fortschreitend …

»Wohl mag euch, ihr kalten prosaischen Menschen, Olimpia unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte! – Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder. Euch mag es nicht recht sein, daß sie nicht in platter Konversation faselt, wie die andern flachen Gemüter. Sie spricht wenig Worte, das ist wahr; aber diese wenigen Worte erscheinen als echte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits. Doch für alles das habt ihr keinen Sinn und alles sind verlorne Worte.« …

Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte und strickte nicht, sie sah nicht durchs Fenster, sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem Schoßhündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie drehte keine Papierschnitzchen, oder sonst etwas in der Hand, sie durfte kein Gähnen durch einen leisen erzwungenen Husten bezwingen – kurz! – stundenlang sah sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten ins Auge, ohne sich zu rücken und zu bewegen und immer glühender, immer lebendiger wurde dieser Blick. Nur wenn Nathanael endlich aufstand und ihr die Hand, auch wohl den Mund küßte, sagte sie: »Ach, Ach!« – dann aber: »Gute Nacht, mein Lieber!« – »O du herrliches, du tiefes Gemüt«, rief Nathanael auf seiner Stube: »nur von dir, von dir allein werd ich ganz verstanden.« Er erbebte vor innerm Entzücken, wenn er bedachte, welch wunderbarer Zusammenklang sich in seinem und Olimpias Gemüt täglich mehr offenbare; denn es schien ihm, als habe Olimpia über seine Werke, über seine Dichtergabe überhaupt recht tief aus seinem Innern gesprochen, ja als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt. Das mußte denn wohl auch sein; denn mehr Worte als vorhin erwähnt, sprach Olimpia niemals.“

Nachdem für alle klar ist, dass es sich bei Olimpia um einen Automaten handelt, kommt es zu Änderungen des Verhaltens:

„Um nun ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebe, wurde von mehrern Liebhabern verlangt, daß die Geliebte etwas taktlos singe und tanze, daß sie beim Vorlesen sticke, stricke, mit dem Möpschen spiele usw. vor allen Dingen aber, daß sie nicht bloß höre, sondern auch manchmal in der Art spreche, daß dies Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze. Das Liebesbündnis vieler wurde fester und dabei anmutiger, andere dagegen gingen leise auseinander.“

 

https://www.youtube.com/watch?v=YNge8oSZ4To

 

Der Magnetiseur

 

Aus „Wikipedia“: „Die moderne Wissenschaft nahm die seit dem Altertum bekannte Hypnose um 1770 als ein von magisch-religiösem Hintergrund gelöstes Phänomen wahr. Franz Anton Mesmer experimentierte mit Magneten, die er Patienten auflegte. Er nannte den Effekt Magnetismus animalis, schrieb jedoch die Wirkungskräfte den Magneten zu. Aufgrund von Mesmers Popularität nannte man den Vorgang des Hypnotisierens lange Zeit auch „Mesmerisieren“; ein Ausdruck, der im zeitgenössischen Englisch noch existiert (to mesmerize ‚hypnotisieren‘).“

https://de.wikipedia.org/wiki/Hypnose

 

Rüdiger Safranski: „Das Magnetisieren war inzwischen schon fast zu einem Gesellschaftsspiel geworden. Die Journale und Salons diskutieren die Heilerfolge und die Weissagungen des magnetischen Schlafs. In den Geheimbünden und Verschwörungen vermutet man magnetische Praktiken …

Da man sich seit Newton daran gewöhnt hat, dass die Sichtbarkeit kein Kriterium der Wahrheit und dass auch die Existenz des Unsichtbaren aus Erfahrungsgesetzen postuliert werden kann, so haben jetzt die „Imponderabilien“ ihre große Stunde. Newtons „Äther“, der unsichtbar und ungreifbar den leeren Raum und die Körper durchdringt, gehört dazu, auch die Elektrizität, die Mitte des 18. Jahrhunderts entdeckt wird ...

Das psychoanalytische und psychotherapeutische Denkmuster kündigt sich an.

Hoffmann erzählt im Magnetiseur eine Episode, in der sich schon deutlich die Umrisse einer solchen Psychotherapie abzeichnen: Theobald, ein Vertrauter des Magnetiseurs Alban, muss erleben, wie sich seine Verlobte in einen italienischen Soldaten verliebt. Bei der Vorstellung, der Italiener könnte in der Schlacht fallen, gerät Auguste in „wirkliche Verstandesverwirrung“ und erkennt ihren Theobald nicht mehr. Der setzt nun seine magnetische Macht ein, lenkt die Träume des Mädchens zurück in gemeinsame Kindheitserlebnisse. Theobald hatte damals für Auguste eine Strafe auf sich genommen. Von diesem Augenblick an hatte Auguste begonnen, Theobald zu lieben. Diese Urszene der Entstehung der Liebe aus dem Schuldgefühl durchleidet Auguste noch einmal im Traum, durch die magnetischen Praktiken Theobalds gelenkt. Die Therapie zielt also auf eine Wiederherstellung der Urszene nicht nur im Erinnern, sondern im Erleben. Das Kalkül dabei ist freilich dem der späteren Freud‘schen Therapie entgegengesetzt. Das „Agieren“ der Urszene soll ja bei Freud von ihrem traumatischen Druck befreien. Auguste hingegen soll in die Urszene zurückgebunden, sie soll mit Hilfe des wiederbelebten Schuldgefühls ihrem Verlobten in die Arme getrieben werden. Es geht Theobald darum, Auguste von ihrem aktualisierten Unbewussten her zu beherrschen, Sie an sich zu binden. Es geht um Macht, und das ist auch jener Aspekt des Magnetismus, den Hofmann als „Nachtseite“ in den Mittelpunkt seines durch die Napoleon-Erregung stimulierten Interesses rückt …

Zwei Aspekte des Magnetismus sind es, die bei Hoffmann Grauen erregen: auf der passiven Seite die Erfahrung des Ich-Verlustes, auf der aktiven die hybride Macht-Lust. Für die passive Seite stehen im Magnetiseur der alte Baron und insbesondere Maria. An diesen Figuren versucht Hoffmann sich vorzustellen, was im Inneren der Person vorgeht, wenn sie unter den Einfluss eines „fremden geistigen Prinzips“ gerät und wenn dieses fremde Ich etwas zum Leben erweckt, was „tief in unserer Seele reglos schlummert“; er versucht die bestürzende Erfahrung nachzuvollziehen, wenn aus der „Tiefe“ uns jenes fremde Ich anblickt, wenn wir das Gefühl haben müssen, von einem fremden Ich „besetzt“ zu sein, und wenn das Bewußtsein eines eigenen Ichs keinen Halt mehr findet.

Solche Erfahrung ist bei Hoffmann nicht nur mit dem Thema Magnetismus verknüpft Sie durchzieht sein gesamtes Werk und ist vielleicht am dichtesten dargestellt in den Elixieren des Teufels. „Mein eigenes Ich“, klagt dort der abgebrannte Mönch Medardus, „schwamm ohne Halt wie in einem Meer all der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich hereinbrausten.“

Für die Opfer ist der Magnetismus die Erfahrung des Ich-Verlustes unter der psychodynamischen Gewalt einer totalitären Macht. Doch hat diese Macht auch etwas Anziehendes - sogar für die Opfer. Sie saugen sich am „durchdringenden Blick“ des Magnetiseurs fest. Diesem fremden Blick bleibt nichts verborgen. Der Angeblickte wird durchsichtig. Seine Transparenz liefert ihn aus. „Ich bin dein Gott“, sagt Alban zum Baron, „der dein Innerstes durchschaut und alles, was du darin jemals verborgen hast oder verbergen willst, liegt hell und klar vor mir.“

 

Die Elixiere des Teufels

 

Aus „Wikipedia“: „Der Roman ist eine fiktive Autobiographie. Der Protagonist, der Mönch Medardus, der mit nahezu allen handelnden Personen des Romans in irgendeiner Weise verwandt ist, weiß zu Beginn des Romans nichts von diesen Verbindungen und wird nach einer glücklichen Kindheit in ein paradiesisches Kloster aufgenommen. Er wächst hier heran und erhält, da er seinen Weg lobenswert geht, zwei wichtige Rollen in seinem Kloster: Er verwaltet die Reliquienkammer, in der sich eines der Elixiere des Teufels befindet, einer Sage nach vom heiligen Antonius hinterlassen. Außerdem beginnt er zu predigen. Sein Rednertalent steigt ihm zu Kopfe und so erklärt er sich selbst zum heiligen Antonius und verliert in einer Ohnmacht sein Rednertalent.

Er gewinnt es zurück, als er von dem Elixier des Teufels trinkt. Als nun auch noch eine junge Frau, Aurelie, die große Ähnlichkeiten mit der heiligen Rosalia hat, ihm ihre Liebe beichtet, will er das Kloster verlassen, um sie zu suchen. Der Prior, der seine Unruhe bemerkt, schickt ihn als Gesandten des Klosters nach Italien.

Auf seiner Wanderung sieht er über einer Schlucht einen schlafenden Mann, der in die Schlucht zu fallen droht. Als er ihn zu wecken versucht, schrickt dieser auf und fällt hinab. Durch ein Missverständnis wird Medardus nun für den Gestürzten gehalten und wird als Graf Viktorin in einem Schloss aufgenommen. Er beginnt ein Verhältnis mit der Stiefmutter Aurelies, Euphemie, trifft aber später plötzlich Aurelie selbst. Seine Liebe zu ihr eskaliert und er tötet Hermogen, Aurelies Bruder, und Euphemie. Er flieht und landet zuerst in einer Stadt, wo er Pietro Belcampo (alias Peter Schönfeld), wie er sich in Deutschland nannte, begegnet. Später gelangt er durch einen Unfall in ein Forsthaus, wo er seinem Doppelgänger begegnet, einem wahnsinnigen Mönch, der für den Bruder Medardus, also ihn selbst, gehalten wird. Dieser Mönch entpuppt sich als der in die Schlucht gefallene Viktorin, der im Zuge dessen eine Kopfverletzung erlitten hat und so dem Wahnsinn verfallen ist.

Medardus nächste Station ist ein Fürstenhof, an dem er verkleidet auftritt, aber von Aurelie, die dort erscheint, als der Mörder ihres Bruders erkannt und ins Gefängnis geworfen wird. Doch von dort wird er von seinem Doppelgänger gerettet, da dieser die Tat gesteht. Aurelie gesteht dem wieder freigesetzten Medardus ihre Liebe und sie wollen heiraten. Doch am Hochzeitstag begegnet Medardus dem Doppelgänger Viktorin, der zum Tode geführt werden soll, schreit Aurelie die Wahrheit entgegen und meint, sie im gleichen Moment aus dem Affekt heraus niedergestochen zu haben. Er befreit den Doppelgänger und flieht zum zweiten Mal.

Doch sein Doppelgänger folgt ihm, die beiden kämpfen einen erbitterten Kampf, den Medardus zwar gewinnt, der ihn aber in eine tiefe Ohnmacht sinken lässt. Er erwacht in einer italienischen Klinik und zieht von dort reuig in ein Kloster weiter. Dort büßt er für seine Sünden, wird in ein Komplott um den Papst verwickelt, entgeht knapp dem Tod und macht sich auf den Weg zu seinem ehemaligen Kloster, nachdem er die Schriften eines alten Malers gelesen hat, worin er seine eigene Lebensgeschichte aufgeschrieben gefunden und nun verstanden hat.

Zurückgekehrt in sein Heimatkloster wird er Zeuge der Einkleidung Aurelies, muss aber dann mit ansehen, wie sein Doppelgänger sie tötet und flieht. Medardus beginnt damit, sein Leben aufzuschreiben und stirbt ein Jahr später an Aurelies Todestag …

Es erscheint möglich, die Erzählung als frühe literarische Bearbeitung des Themas einer Persönlichkeitsspaltung aufzufassen, da Medardus in seinem Doppelgänger seinem anderen Ich begegnet. Jedoch ist die Doppelung von Personen ein häufiges Motiv der phantastischen Literatur. So haben in E. T. A. Hoffmanns Meister Floh alle Figuren eine Entsprechung im Märchenreich. Nur selten wird jedoch der Innenkampf durch eine tatsächliche Begegnung des Protagonisten mit seinem Doppelgänger ausgedrückt, wie auch in Edgar Allan Poes William Wilson aus dem Jahr 1839. Hoffmann kommt das Verdienst einer der frühesten Darstellungen dieses Motivs zu.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Elixiere_des_Teufels

 

Aus „getabstract“: „Der Roman Die Elixiere des Teufels begründete E. T. A. Hoffmanns zweifelhaften Ruf als „Gespenster-Hoffmann“. Tatsächlich handelt es sich um einen Schauerroman mit allen Attributen guter Gruselunterhaltung. Es ist die Lebensbeichte des Mönchs Medardus, der von einem geheimnisvollen Teufelselixier kostet und das Kloster verlässt, um zu sündigen. Erst nach Morden und fleischlichen Freveltaten enthüllen sich ihm die geheimnisvollen und skandalösen Zusammenhänge seiner Herkunft: Er entstammt einem Geschlecht, auf dem ein alter Fluch liegt. Hoffmann versteht es wunderbar, eine unheimliche Atmosphäre heraufzubeschwören, und schreibt mitunter auch grotesk komisch. Die Leselust wird höchstens dadurch gebremst, dass den komplizierten Verwandtschaftsverhältnissen nicht immer leicht zu folgen ist. Dass der Roman sehr viel mehr zu bieten hat als romantisches Gruseln, erkannte man in Deutschland erst im 20. Jahrhundert. Die Gefährdung des Menschen durch Identitätsauflösung, die Macht des Unbewussten, die Frage nach der Willensfreiheit – all diese heute noch höchst aktuellen Themen werden im Roman behandelt.

 

- Die Elixiere des Teufels ist ein Schauerroman mit typischen Motiven dieses Genres: unheimliche Schauplätze, übernatürliche Ereignisse, ein verfluchtes Geschlecht.

- Der Mönch Medardus trinkt von einem angeblichen Teufelselixier und verlässt das Kloster, um seine fleischlichen Gelüste zu stillen.

- Er ist auf der Suche nach Aurelie, die ihm im Beichtstuhl ihre Liebe gestanden hat. Bald sieht er sie als Heilige, bald als Objekt seiner unkeuschen Begierde.

- Während er ihr nachstellt, bricht er sein Keuschheitsgelübde und bringt mehrere Menschen um, u. a. den Bruder der Geliebten.

- Immer wieder kreuzt sich sein Weg mit einem seltsamen Doppelgänger, der ihn allmählich in den Wahnsinn treibt.

- Frieden findet er erst, als Aurelie ihr Klostergelübde ablegt und er das Geheimnis seiner Herkunft erfährt.

- Auf Medardus’ Familie liegt ein Fluch, der auf die Vergehen seines Urahns, eines sündhaften Heiligenmalers, zurückgeht.

- Dessen Nachkommen waren fast alle Mörder und wurden durch Inzest oder Vergewaltigung gezeugt.

- Der Roman kreist um die Frage, ob Medardus mit dieser erblichen Belastung gezwungenermaßen sündigt oder dies aus freien Stücken tut.

- So moderne Themen wie die Auflösung des Ichs und das Unbewusste werden im Roman zur Sprache gebracht.

- Hoffmanns Zeitgenossen verkannten die literarischen Qualitäten des Romans; sie verachteten ihn als Trivialliteratur.

- Hoffmann war als Autor, Komponist und Zeichner ein Universalgenie der Romantik …

 

- Ein Hauptthema des Romans ist die Willensfreiheit. Muss Medardus aufgrund des Familienfluchs sündigen? Oder hätte er auch die Macht, der Versuchung zu widerstehen? Und wenn er gar nicht anders kann: Sind seine Taten dann überhaupt noch Sünde? Im Licht der heutigen Naturwissenschaft, die den Menschen auch als genetisch determiniertes Wesen betrachtet, erhalten solche Fragen neue Relevanz.

- Medardus’ Zugehörigkeit zu einem verfluchten Geschlecht ist eine Variation der biblischen Erbsünde: Wie nach der christlichen Theologie jeder Mensch die Folgen von Adams und Evas Ursünde zu tragen hat, ziehen die einstigen Frevel des Malers Generationen von Frevlern nach sich.

- Die Frage nach dem Ursprung des Bösen stellt sich auch in Bezug auf das Teufelselixier. Wie es scheint, befördert es nur, was schon in Medardus angelegt ist, denn wenn Unbelastete davon trinken oder solche, die nicht daran glauben, zeitigt es keine Wirkung.

- Die unbegreiflichen dunklen Mächte, denen Medardus ausgeliefert ist, lassen sich als das später von Freud beschriebene Unbewusste deuten, das der Mensch nicht kontrollieren kann. Es äußert sich vor allem im Sexualtrieb: Alle Frevel von Medardus und seinen Ahnen haben mit Blutschande zu tun, also mit der Übertretung sexueller Tabus wie Inzest und Vergewaltigung.

- Die Grenzen zwischen Realität und Übernatürlichem verschwimmen. Träume treten plötzlich ins Leben. Manche Figuren sind in ihrem Wahnsinn nicht nur krank und gefährlich, sondern auch hellsichtig – etwa Hermogen, der Medardus von Anfang an durchschaut und ihn davon abhält, Aurelie zu vergewaltigen.

- Zentral ist das Doppelgängermotiv. Es zeigt einen weiteren modernen Aspekt des Buchs, indem es auf eine problematische oder gespaltene Identität verweist. Medardus hat scheinbar zwei Doppelgänger, den wahnsinnigen Mönch und Graf Viktorin, die sich später als ein und dieselbe Person herausstellen. Immer wenn das Gute und das Böse in ihm widerstreiten, erscheint ihm ein Doppelgänger – ob als Vision oder real, bleibt oft unklar."

https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-elixiere-des-teufels/6761

 

Das öde Haus

 

Rüdiger Safranski über Gentrifizierung im Berlin der 1790er Jahre: „Berlin ist schon fast eine europäische Metropole, mit annähernd 200.000 Einwohnern eine wirkliche Großstadt. Hier kann man sich in der Anonymität der Masse verlieren, hier kann man sich profilieren und zieren und geht doch unter im bunten Gewimmel der Originalitäten. „In Berlin kann einer mit einer Schellenkappe auf der Straße umherreiten und man wird keine Notiz von ihm nehmen“, schreibt ein Zeitgenosse. In den neunziger Jahren erlebt Berlin eine wirtschaftliche Prosperität. Da die Revolutionswirren den französischen Export beeinträchtigen, nimmt besonders die Textilindustrie einen gewaltigen Aufschwung. Auf dem Höhepunkt Mitte der neunziger Jahre, ernährt dieses Gewerbe ungefähr 50.000 Menschen.

Überall in Berlin wird gebaut: stattliche Wohnhäuser, Bürgerpalais, Repräsentationsbauten in den feineren Bezirken der Friedrichstadt und der Luisenstadt, in den Randbezirken entstehen die ersten Mietskasernen. Es beginnt die große soziale Entmischung: Jene „altfränkischen“ Wohnquartiere verschwinden, in denen sich das bessere Bürgertum mit kleinen Handwerkern und Manufakturarbeitern mischte. Die kleinen Leute müssen weichen. Aus einem zeitgenössischen Bericht: „Jeder, der ein altfränkisches Haus niederreißt, erbaut an dessen Stelle ein Prachthaus und richtet es zu großen Wohnungen für wohlhabende Leute ein. Daher sind in Berlin große Wohnungen im Überfluß und verhältnismäßig wohlfeil zu haben; kleine hingegen werden immer seltener und teurer und der Arme findet kaum ein Obdach für sich und die Seinigen.“

 

Aus „Wikipedia“: „Rüdiger Safranski vollzog in seinem Standardwerk über den phantastischen Dichter dessen Gedankengänge nach: Das geheimnisvolle heruntergekommene Haus, das so gar nicht in die Umgebung passt, lädt zu Spekulationen ein. Die geheimnisvolle Verwandtschaftsebene der nach Berlin ziehenden Frauen ebenfalls. „Er verknüpft die beiden Geheimnisse […] und macht daraus eine Geschichte ganz nach dem Geschmack eines Publikums, das sich auf angenehm schaurige Weise gerne davon erzählen läßt, wie unterhöhlt doch der Boden der Ordnung und Moral tatsächlich sei und daß es auch noch in der Tageshelle einer Prunkstadt dunkle Ecken gibt.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_%C3%B6de_Haus

 

Das Fräulein von Scuderi

 

Aus „Wikipedia“: „Das Fräulein von Scuderi gilt als erste deutsche Kriminalnovelle und handelt von der Aufklärung einer rätselhaften Mordserie im Paris des 17. Jahrhunderts durch die an der französischen Schriftstellerin Madeleine de Scudéry (1607–1701) Maß nehmende Titelheldin.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Fr%C3%A4ulein_von_Scuderi

 

Polizei-Staat

 

E.T.A. Hoffmann schildert einen Polizei-Staat, der übers Ziel hinaus schießt und der sogar dem König unheimlich geworden ist. Die entsprechenden Stellen hatte der Wurm im vorigen Beitrag zitiert: http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/551-aktualitaet-eines-voellig-unpolitischen-voellig-toten.html

 

Cardillac-Syndrom

 

Es geht um zwei gegensätzliche künstlerische Pole: dem allseits beliebten Fräulein von Scuderi, über welches nichts Negatives bekannt ist. Zu ihrer Person fällt wurm das Wort „nett“ ein, zu ihrer Kunst das Wort „gefällig“. Ihre Kunst (Literatur) ist für den Massen-Gebrauch gedacht.

Auf der anderen Seite der geniale Goldschmied René Cardillac, welcher unersetzliche Unikate fertigt.

Anatoli Bauer: „Künstler, die Ihre Werke nicht weggeben können, leiden unter dem sogenannten Cardillac Syndrom.

Dies ist als eine ernstzunehmende Erkrankung anzusehen. Die Bezeichnung dieser Krankheit stammt von dem Goldschmied René Cardillac. Dies war ein sehr wohlhabender Goldschmied, der an reiche Menschen seinen wertvollen Schmuck verkaufte. Jedoch nach kurzer Zeit schmiedete der Mann Pläne, seinen wertvollen Schmuck sich wieder zurückzuholen.

René Cardillac schreckte dabei vor nichts mehr zurück. Er mordete sogar für seine Gier. Viele kriminelle Taten wurden im Nachhinein aufgedeckt.

Diese Taten wurden sogar in einer Kriminalgeschichte im Jahre 1821 veröffentlicht. Die Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ wurde zu einem sehr bekannten literarischen Werk der Geschichte.

Unter psychischen Aspekten sieht man die Handlungen des Goldschmiedes heute vor allem als Dissoziation. Man versteht darunter vor allem, dass das sonst so geordnete Leben und der Alltag von heute auf morgen völlig auseinander fällt. Man erschließt aus der Novelle des 19. Jahrhunderts vor allem, dass der Goldschmied ein hoch angesehener feiner Bürger war. Er lebte in Paris und hatte sogar Arbeiten für den König auszuführen. Doch hinter der Fassade des feinen Herren versteckte sich ein gieriger und kaltblütiger Mörder. Anzusehen war es ihm nicht.

Auch in der heutigen Zeit sind solche Parallelen zu finden. Tagsüber arbeitet man hart und zielstrebig und zu einer anderen Zeit lebt man ein gefährliches und völlig gegensätzliches Leben. Beispielsweise, der harte und exzentrische Chef, der Zuhause ein liebevoller Ehemann und Vater ist.

Das Cardillac Syndrom wurde nur durch die Novelle von E.T.A. Hoffmann bekannt.“

https://interkulturelle-bildungslandschaften.de/was-ist-ein-cardillac-syndrom-aufklaerung-tz24/

 

Eigener Wille oder Getriebener?

 

E.T.A. Hoffmann: „Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind“.

Zu seiner Zeit war es von vielen anerkannt, dass ungeborene Kinder von äußeren Einflüssen geprägt werden – auch in jener extremen Form wie im „Fräulein von Scuderi“:

„Cardillac setzte sich wieder in seinen Arbeitsstuhl. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne. Er schien, von der Erinnerung des Vergangenen hart berührt, sich mühsam zu fassen. Endlich fing er an: Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als sie mit mir im ersten Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu, das in Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Kavalier in spanischer Kleidung mit einer blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten. Derselbe Kavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit Abscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sei er im Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu sein als vormals. Er wußte sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen einsamen Ort zu locken. Dort schlug er sie brünstig in seine Arme, meine Mutter faßte nach der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riß meine Mutter mit sich zu Boden. Sei es, daß ihn der Schlag plötzlich getroffen, oder aus einer andern Ursache; genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskrampf erstarrten Armen des Leichnams zu entwinden. Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes Hilfegeschrei drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten und sie retteten aus den Armen des grausigen Liebhabers. Das Entsetzen warf meine Mutter auf ein schweres Krankenlager. Man gab sie, mich verloren, doch sie gesundete und die Entbindung war glücklicher, als man je hätte ahnen können. Aber die Schrecken jenes fürchterlichen Augenblicks hatten mich getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften entzündet. Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über alles. Man hielt das für gewöhnliche kindische Neigung. Aber es zeigte sich anders, denn als Knabe stahl ich Gold und Juwelen, wo ich ihrer habhaft werden konnte. Wie der geübteste Kenner unterschied ich aus Instinkt unechtes Geschmeide von echtem. Nur dieses lockte mich, unechtes sowie geprägtes Gold ließ ich unbeachtet liegen. Den grausamsten Züchtigungen des Vaters mußte die angeborne Begierde weichen. Um nur mit Gold und edlen Steinen hantieren zu können, wandte ich mich zur Goldschmieds-Profession. Ich arbeitete mit Leidenschaft und wurde bald der erste Meister dieser Art. Nun begann eine Periode, in der der angeborne Trieb, so lange niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und mit Macht wuchs, alles um sich her wegzehrend. Sowie ich ein Geschmeide gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit – Lebensmut raubte. – Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person, für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit meinem Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die Ohren: Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten! – Da legt' ich mich endlich auf Diebeskünste. Ich hatte Zutritt in den Häusern der Großen, ich nützte schnell die Gelegenheit, kein Schloß widerstand meinem Geschick und bald war der Schmuck, den ich gearbeitet, wieder in meinen Händen. – Aber nun vertrieb selbst das nicht meine Unruhe. Jene unheimliche Stimme ließ sich dennoch vernehmen und höhnte mich und rief: Ho ho, dein Geschmeide trägt ein Toter! – Selbst wußte ich nicht, wie es kam, daß ich einen unaussprechlichen Haß auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern regte sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. – In dieser Zeit kaufte ich dieses Haus. Ich war mit dem Besitzer handelseinig geworden, hier in diesem Gemach saßen wir erfreut über das geschlossene Geschäft beisammen und tranken eine Flasche Wein. Es war Nacht geworden, ich wollte aufbrechen, da sprach mein Verkäufer: Hört, Meister René, ehe Ihr fortgeht, muß ich Euch mit einem Geheimnis dieses Hauses bekannt machen. Darauf schloß er jenen in die Mauer eingeführten Schrank auf, schob die Hinterwand fort, trat in ein kleines Gemach, bückte sich nieder, hob eine Falltür auf. Eine steile, schmale Treppe stiegen wir hinab, kamen an ein schmales Pförtchen, das er aufschloß, traten hinaus in den freien Hof. Nun schritt der alte Herr, mein Verkäufer, hinan an die Mauer, schob an einem nur wenig hervorragenden Eisen, und alsbald drehte sich ein Stück Mauer los, so daß ein Mensch bequem durch die Öffnung schlüpfen und auf die Straße gelangen konnte. Du magst einmal das Kunststück sehen, Olivier, das wahrscheinlich schlaue Mönche des Klosters, welches ehemals hier lag, fertigen ließen, um heimlich aus- und einschlüpfen zu können. Es ist ein Stück Holz, nur von außen gemörtelt und getüncht, in das von außenher eine Bildsäule, auch nur von Holz, doch ganz wie Stein, eingefügt ist, welches sich mitsamt der Bildsäule auf verborgenen Angeln dreht. – Dunkle Gedanken stiegen in mir auf, als ich diese Einrichtung sah, es war mir, als sei vorgearbeitet solchen Taten, die mir selbst noch ein Geheimnis blieben. Eben hatt' ich einem Herrn vom Hofe einen reichen Schmuck abgeliefert, der, ich weiß es, einer Operntänzerin bestimmt war. Die Todesfolter blieb nicht aus – das Gespenst hing sich an meine Schritte – der lispelnde Satan an mein Ohr! – Ich zog ein in das Haus. In blutigem Angstschweiß gebadet, wälzte ich mich schlaflos auf dem Lager! Ich seh' im Geiste den Menschen zu der Tänzerin schleichen mit meinem Schmuck. Voller Wut springe ich auf – werfe den Mantel um – steige herab die geheime Treppe – fort durch die Mauer nach der Straße Nicaise. – Er kommt, ich falle über ihn her, er schreit auf, doch von hinten festgepackt stoße ich ihm den Dolch ins Herz – der Schmuck ist mein! – Dies getan fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des Satans schwieg. Nun wußte ich, was mein böser Stern wollte, ich mußt' ihm nachgeben oder untergehen! – Du begreifst jetzt mein ganzes Tun und Treiben, Olivier! – Glaube nicht, daß ich darum, weil ich tun muß, was ich nicht lassen kann, jenem Gefühl des Mitleids, des Erbarmens, was in der Natur des Menschen bedingt sein soll, rein entsagt habe. Du weißt, wie schwer es mir wird, einen Schmuck abzuliefern; wie ich für manche, deren Tod ich nicht will, gar nicht arbeite, ja wie ich sogar, weiß ich, daß am morgenden Tage Blut mein Gespenst verbannen wird, heute es bei einem tüchtigen Faustschlage bewenden lasse, der den Besitzer meines Kleinods zu Boden streckt und mir dieses in die Hand liefert.“

 

Klein Zaches genannt Zinnober

 

„Klein Zaches“ ist ein Kunst-Märchen mit scharfer Menschen-, Gesellschafts- und Staatskritik.

„Klein-Zack“ aus „Hoffmann's Erzählungen“:

 

https://www.youtube.com/watch?v=D0K6sURZoE8

 

Klein Zaches

 

Klein Zaches ist ein mißgestaltetes Kind, das Abscheu hervorruft. Aus Mitleid verleiht ihm eine Fee die Gabe, dass die Menschen ihn bewundern und alles Positive in ihn hineindeuten. Sagt, singt, macht jemand etwas Bedeutendes, wird Klein Zaches dafür gelobt, aber nicht derjenige, von dem das Original stammt.

Klein Zaches kann mit der erworbenen Macht nicht umgehen und wird immer bösartiger.

Schließlich wird der Zauber von ihm genommen und er ertrinkt in einem Nachttopf.

„Also zur Sache! – Wisse, daß Zinnober die verwahrloste Mißgeburt eines armen Bauerweibes ist und eigentlich Klein Zaches heißt. Nur aus Eitelkeit hat er den stolzen Namen Zinnober angenommen. Das Stiftsfräulein von Rosenschön oder eigentlich die berühmte Fee Rosabelverde, denn niemand anders ist jene Dame, fand das kleine Ungetüm am Wege. Sie glaubte, alles, was die Natur dem Kleinen stiefmütterlich versagt, dadurch zu ersetzen, wenn sie ihn mit der seltsamen geheimnisvollen Gabe beschenkte, vermöge der alles, was in seiner Gegenwart irgendein anderer Vortreffliches denkt, spricht oder tut, auf seine Rechnung kommen, ja daß er in der Gesellschaft wohlgebildeter, verständiger, geistreicher Personen auch für wohlgebildet, verständig und geistreich geachtet werden und überhaupt allemal für den vollkommensten der Gattung, mit der er im Konflikt, gelten muß …

Nun trat Rosabelverde noch einmal dicht an den Kleinen heran und sprach mit der weichen bebenden Stimme des tiefen Mitleids:

»Armer Zaches! – Stiefkind der Natur! – ich hatt' es gut mit dir gemeint! – Wohl mocht' es Torheit sein, daß ich glaubte, die äußere schöne Gabe, womit ich dich beschenkt, würde hineinstrahlen in dein Inneres und eine Stimme erwecken, die dir sagen müßte: ›Du bist nicht der, für den man dich hält, aber strebe doch nur an, es dem gleichzutun, auf dessen Fittichen du Lahmer, Unbefiederter dich aufschwingst!‹ – Doch keine innere Stimme erwachte. Dein träger toter Geist vermochte sich nicht emporzurichten, du ließest nicht nach in deiner Dummheit, Grobheit, Ungebärdigkeit – Ach! – wärst du nur ein geringes Etwas weniger, ein kleiner ungeschlachter Rüpel geblieben, du entgingst dem schmachvollen Tode! – Prosper Alpanus hat dafür gesorgt, daß man dich jetzt im Tode wieder dafür hält, was du im Leben durch meine Macht zu sein schienst. Sollt' ich dich vielleicht gar noch wiederschauen als kleiner Käfer – flinke Maus oder behende Eichkatze, so soll es mich freuen! – Schlafe wohl, Klein Zaches!«“

 

Gute Regierung / „Es gibt keine Hexen“

 

„Jeder wußte, daß Fürst Demetrius das Land beherrsche; niemand merkte indessen das mindeste von der Regierung, und alle waren damit gar wohl zufrieden.“

„Zu jenen zauberhaften Unterhaltungen im Walde, die indessen sonst nichts auf sich hatten, kamen nämlich allerlei bedenkliche Umstände, die von Mund zu Mund gingen und des Fräuleins eigentliches Wesen in gar zweideutiges Licht stellten. Mutter Anne, des Schulzen Frau, behauptete keck, daß, wenn das Fräulein stark zum Fenster heraus niese, allemal die Milch im ganzen Dorfe sauer würde. Kaum hatte sich dies aber bestätigt, als sich das Schreckliche begab. Schulmeisters Michel hatte in der Stiftsküche gebratene Kartoffeln genascht und war von dem Fräulein darüber betroffen worden, die ihm lächelnd mit dem Finger drohte. Da war dem Jungen das Maul offen stehen geblieben, gerade als hätt' er eine gebratene brennende Kartoffel darin sitzen immerdar, und er mußte fortan einen Hut mit vorstehender breiter Krempe tragen, weil es sonst dem Armen ins Maul geregnet hätte. Bald schien es gewiß zu sein, daß das Fräulein sich darauf verstand, Feuer und Wasser zu besprechen, Sturm und Hagelwolken zusammenzutreiben, Weichselzöpfe zu flechten etc., und niemand zweifelte an der Aussage des Schafhirten, der zur Mitternachtsstunde mit Schauer und Entsetzen gesehen haben wollte, wie das Fräulein auf einem Besen brausend durch die Lüfte fuhr, vor ihr her ein ungeheurer Hirschkäfer, zwischen dessen Hörnern blaue Flammen hoch aufleuchteten! – Nun kam alles in Aufruhr, man wollte der Hexe zu Leibe, und die Dorfgerichte beschlossen nichts Geringeres, als das Fräulein aus dem Stift zu holen und sie ins Wasser zu werfen, damit sie die gewöhnliche Hexenprobe bestehe. Der Baron Prätextatus ließ alles geschehen und sprach lächelnd zu sich selbst: »So geht es simplen Leuten ohne Ahnen, die nicht von solch altem guten Herkommen sind, wie der Mondschein.« Das Fräulein, unterrichtet von dem bedrohlichen Unwesen, flüchtete nach der Residenz, und bald darauf erhielt der Baron Prätextatus einen Kabinettsbefehl vom Fürsten des Landes, mittelst dessen ihm bekannt gemacht, daß es keine Hexen gäbe, und befohlen wurde, die Dorfgerichte für die naseweise Gier, Schwimmkünste eines Stiftsfräuleins zu schauen, in den Turm werfen, den übrigen Bauern und ihren Weibern aber andeuten zu lassen, bei empfindlicher Leibesstrafe von dem Fräulein Rosenschön nicht schlecht zu denken. Sie gingen in sich, fürchteten sich vor der angedrohten Strafe und dachten fortan gut von dem Fräulein, welches für beide, für das Dorf und für die Dame Rosenschön, die ersprießlichsten Folgen hatte.“

 

Totalitäre Herrschaft der Rationalität und autoritärer Obrigkeits-Staat

 

Rationalität ist ja eine gute Sache – aber mensch kann es auch übertreiben. Übertriebene Rationalität heisst auch, das Maximale aus der Gesellschaft, den Menschen rauszuholen. Alles, was keinen Gewinn abwirft und stattdessen Geld kostet, ist ein Dorn im Auge.

Dazu gehören Dinge wie Festivitäten, farbenprächtige Umzüge, akademische Tracht oder nächtliches Singen.

Rüdiger Safranski: „Der rationalistische Geist der Zeit war auch dem Brauchtum und den überlieferten Formen der Geselligkeit nicht gewogen. Hier wurde vieles niedergerissen und ausgelöscht, weil man es für nutzlos, verschwenderisch, abergläubisch, sittenlos oder einfach für unvernünftig hielt. Besonders dem unmäßigen Fressen und Saufen bei allen möglichen Festgelegenheiten - auch die Zahl der Feste wurde reduziert! -, sollte Einhalt geboten werden.“

Alles, was von der Norm abweicht, muss vernichtet werden. Hieß es früher noch, dass es keine Hexen gebe, werden sie jetzt als „Staatsfeinde“ bezeichnet und werden des Landes verwiesen.

„Demetrius starb, und ihm folgte der junge Paphnutius in der Regierung. Paphnutius hatte schon zu Lebzeiten seines Herrn Vaters einen stillen innerlichen Gram darüber genährt, daß Volk und Staat nach seiner Meinung auf die heilloseste Weise vernachlässigt, verwahrlost wurde. Er beschloß zu regieren und ernannte sofort seinen Kammerdiener Andres, der ihm einmal, als er im Wirtshause hinter den Bergen seine Börse liegen lassen, sechs Dukaten geborgt und dadurch aus großer Not gerissen hatte, zum ersten Minister des Reichs. »Ich will regieren, mein Guter!« rief ihm Paphnutius zu. Andres las in den Blicken seines Herrn, was in ihm vorging, warf sich ihm zu Füßen und sprach feierlich: »Sire! die große Stunde hat geschlagen! – durch Sie steigt schimmernd ein Reich aus mächtigem Chaos empor! – Sire! hier fleht der treueste Vasall, tausend Stimmen des armen unglücklichen Volks in Brust und Kehle! – Sire! – führen Sie die Aufklärung ein!« – Paphnutius fühlte sich durch und durch erschüttert von dem erhabenen Gedanken seines Ministers. Er hob ihn auf, riß ihn stürmisch an seine Brust und sprach schluchzend: »Minister – Andres – ich bin dir sechs Dukaten schuldig – noch mehr – mein Glück – mein Reich! – o treuer, gescheuter Diener!« -

Paphnutius wollte sofort ein Edikt mit großen Buchstaben drucken und an allen Ecken anschlagen lassen, daß von Stund' an die Aufklärung eingeführt sei und ein jeder sich darnach zu richten habe. »Bester Sire!« rief indessen Andres, »bester Sire! so geht es nicht!« – »Wie geht es denn, mein Guter?« sprach Paphnutius, nahm seinen Minister beim Knopfloch und zog ihn hinein in das Kabinett, dessen Türe er abschloß.

»Sehen Sie,« begann Andres, als er seinem Fürsten gegenüber auf einem kleinen Taburett Platz genommen, »sehen Sie, gnädigster Herr! – die Wirkung Ihres fürstlichen Edikts wegen der Aufklärung würde vielleicht verstört werden auf häßliche Weise, wenn wir nicht damit eine Maßregel verbinden, die zwar hart scheint, die indessen die Klugheit gebietet. – Ehe wir mit der Aufklärung vorschreiten, d. h. ehe wir die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen, ist es nötig, alle Leute von gefährlichen Gesinnungen, die keiner Vernunft Gehör geben und das Volk durch lauter Albernheiten verführen, aus dem Staate zu verbannen  – Sie haben Tausendundeine Nacht gelesen, bester Fürst, denn ich weiß, daß Ihr durchlauchtig seliger Herr Papa, dem der Himmel eine sanfte Ruhe im Grabe schenken möge, dergleichen fatale Bücher liebte und Ihnen, als Sie sich noch der Steckenpferde bedienten und vergoldete Pfefferkuchen verzehrten, in die Hände gab. Nun also! – Aus jenem völlig konfusen Buche werden Sie, gnädigster Herr, wohl die sogenannten Feen kennen, gewiß aber nicht ahnen, daß sich verschiedene von diesen gefährlichen Personen in Ihrem eignen lieben Lande hier ganz in der Nähe Ihres Palastes angesiedelt haben und allerlei Unfug treiben.« »Wie? – was sagt Er? – Andres! Minister! – Feen! – hier in meinem Lande?« – So rief der Fürst, indem er ganz erblaßt in die Stuhllehne zurücksank. – »Ruhig, mein gnädigster Herr,« fuhr Andres fort, »ruhig können wir bleiben, sobald wir mit Klugheit gegen jene Feinde der Aufklärung zu Felde ziehen. Ja! – Feinde der Aufklärung nenne ich sie, denn nur sie sind, die Güte Ihres seligen Herrn Papas mißbrauchend, daran schuld, daß der liebe Staat noch in gänzlicher Finsternis darniederliegt. Sie treiben ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren und scheuen sich nicht, unter dem Namen Poesie ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute ganz unfähig macht zum Dienste in der Aufklärung. Dann haben sie solche unleidliche polizeiwidrige Gewohnheiten, daß sie schon deshalb in keinem kultivierten Staate geduldet werden dürften. So z.B. entblöden sich die Frechen nicht, sowie es ihnen einfällt, in den Lüften spazieren zu fahren mit vorgespannten Tauben, Schwänen, ja sogar geflügelten Pferden. Nun frage ich aber, gnädigster Herr, verlohnt es sich der Mühe, einen gescheuten Akzisetarif zu entwerfen und einzuführen, wenn es Leute im Staate gibt, die imstande sind, jedem leichtsinnigen Bürger unversteuerte Waren in den Schornstein zu werfen, wie sie nur wollen? – Darum, gnädigster Herr, – sowie die Aufklärung angekündigt wird, fort mit den Feen! – Ihre Paläste werden umzingelt von der Polizei, man nimmt ihnen ihre gefährliche Habe und schafft sie als Vagabonden fort nach ihrem Vaterlande, welches, wie Sie, gnädigster Herr, aus Tausendundeiner Nacht wissen werden, das Ländchen Dschinnistan ist.« »Gehen Posten nach diesem Lande, Andres?« so fragte der Fürst. »Zurzeit nicht,« erwiderte Andres, »aber vielleicht läßt sich nach eingeführter Aufklärung eine Journaliere dorthin mit Nutzen einrichten.« – »Aber Andres,« fuhr der Fürst fort, »wird man unser Verfahren gegen die Feen nicht hart finden? – Wird das verwöhnte Volk nicht murren?« – »Auch dafür,« sprach Andres, »auch dafür weiß ich ein Mittel. Nicht alle Feen, gnädigster Herr, wollen wir fortschicken nach Dschinnistan, sondern einige im Lande behalten, sie aber nicht allein aller Mittel berauben, der Aufklärung schädlich zu werden, sondern auch zweckdienliche Mittel anwenden, sie zu nützlichen Mitgliedern des aufgeklärten Staats umzuschaffen. Wollen sie sich nicht auf solide Heiraten einlassen, so mögen sie unter strenger Aufsicht irgendein nützliches Geschäft treiben, Socken stricken für die Armee, wenn es Krieg gibt, oder sonst. Geben Sie acht, gnädigster Herr, die Leute werden sehr bald an die Feen, wenn sie unter ihnen wandeln, gar nicht mehr glauben, und das ist das beste. So gibt sich alles etwaige Murren von selbst. – Was übrigens die Utensilien der Feen betrifft, so fallen sie der fürstlichen Schatzkammer heim, die Tauben und Schwäne werden als köstliche Braten in die fürstliche Küche geliefert, mit den geflügelten Pferden kann man aber auch Versuche machen, sie zu kultivieren und zu bilden zu nützlichen Bestien, indem man ihnen die Flügel abschneidet und sie zur Stallfütterung gibt, die wir doch hoffentlich zugleich mit der Aufklärung einführen werden.« -

Paphnutius war mit allen Vorschlägen seines Ministers auf das höchste zufrieden, und schon andern Tages wurde ausgeführt, was beschlossen war.

An allen Ecken prangte das Edikt wegen der eingeführten Aufklärung, und zu gleicher Zeit brach die Polizei in die Paläste der Feen, nahm ihr ganzes Eigentum in Beschlag und führte sie gefangen fort.

Mag der Himmel wissen, wie es sich begab, daß die Fee Rosabelverde die einzige von allen war, die wenige Stunden vorher, ehe die Aufklärung hereinbrach, Wind davon bekam und die Zeit nutzte, ihre Schwäne in Freiheit zu setzen, ihre magischen Rosenstöcke und andere Kostbarkeiten beiseite zu schaffen. Sie wußte nämlich auch, daß sie dazu erkoren war, im Lande zu bleiben, worin sie sich, wiewohl mit großem Widerwillen, fügte.

Überhaupt konnten es weder Paphnutius noch Andres begreifen, warum die Feen, die nach Dschinnistan transportiert wurden, eine solche übertriebene Freude äußerten und ein Mal über das andere versicherten, daß ihnen an aller Habe, die sie zurücklassen müssen, nicht das mindeste gelegen. »Am Ende,« sprach Paphnutius entrüstet, »am Ende ist Dschinnistan ein viel hübscherer Staat wie der meinige, und sie lachen mich aus mitsamt meinem Edikt und meiner Aufklärung, die jetzt erst recht gedeihen soll!«“

 

„»Wie,« sprach das Fräulein, »und wurden nicht verwiesen, als Fürst Paphnutius die Aufklärung einführte?« »Keineswegs,« antwortete Prosper, »es gelang mir vielmehr, mein eignes Ich ganz zu verhüllen, indem ich mich mühte, Aufklärungssachen betreffend, ganz besondere Kenntnisse zu beweisen in allerlei Schriften, die ich verbreitete. Ich bewies, daß ohne des Fürsten Willen es niemals donnern und blitzen müsse, und daß wir schönes Wetter und eine gute Ernte einzig und allein seinen und seiner Noblesse Bemühungen zu verdanken, die in den innern Gemächern darüber sehr weise beratschlage, während das gemeine Volk draußen auf dem Acker gepflügt und gesäet. Fürst Paphnutius erhob mich damals zum Geheimen Oberaufklärungs-Präsidenten, eine Stelle, die ich mit meiner Hülle wie eine lästige Bürde abwarf, als der Sturm vorüber. – Insgeheim war ich nützlich, wie ich konnte. Das heißt, was wir, ich und Sie, meine Gnädige, wahrhaft nützlich nennen. - Wissen Sie wohl, bestes Fräulein, daß ich es war, der Sie warnte vor dem Einbrechen der Aufklärungspolizei? – daß ich es bin, dem Sie noch das Besitztum der artigen Sächelchen verdanken, die Sie mir vorhin gezeigt? – O mein Gott! liebe Stiftsdame, schauen Sie doch nur aus diesen Fenstern! – Erkennen Sie denn nicht mehr diesen Park, in dem Sie so oft lustwandelten und mit den freundlichen Geistern sprachen, die in den Büschen – Blumen – Quellen wohnen? – Diesen Park hab' ich gerettet durch meine Wissenschaft. Er steht noch da wie zur Zeit des alten Demetrius. Fürst Barsanuph bekümmert sich, dem Himmel sei es gedankt, nicht viel um das Zauberwesen, er ist ein leutseliger Herr und läßt jeden gewähren, jeden zaubern, so viel er Lust hat, sobald er es sich nur nicht merken läßt und die Abgaben richtig zahlt. So leb' ich hier, wie Sie, liebe Dame, in Ihrem Stift, glücklich und sorgenfrei!«“

 

„»Still,« erwiderte Balthasar, »still, Freund Referendarius, mit dem Golde zwingt es der Unhold nicht, es ist etwas anderes dahinter! – Wahr, daß Fürst Paphnutius die Aufklärung einführte zu Nutz und Frommen seines Volks, seiner Nachkommenschaft, aber manches Wunderbare, Unbegreifliche ist doch noch zurückgeblieben. Ich meine, man hat noch so fürs Haus einige hübsche Wunder zurückbehalten. Z.B. noch immer wachsen aus lumpichten Samenkörnern die höchsten, herrlichsten Bäume, ja sogar die mannigfaltigsten Früchte und Getreidearten, womit wir uns den Leib stopfen. Erlaubt man ja wohl noch gar den bunten Blumen, den Insekten auf ihren Blättern und Flügeln die glänzendsten Farben, selbst die allerverwunderlichsten Schriftzüge zu tragen, von denen kein Mensch weiß, ob es Öl ist, Guasche oder Aquarellmanier, und kein Teufel von Schreibmeister kann die schmucke Kurrentschrift lesen, geschweige denn nachschreiben! Hoho! Referendarius, ich sage dir, es geht in meinem Innern zuweilen Absonderliches vor! – Ich lege die Pfeife weg und schreite im Zimmer auf und ab, und eine seltsame Stimme flüstert, ich sei selbst ein Wunder, der Zauberer Mikrokosmus hantiere in mir und treibe mich an zu allerlei tollen Streichen! – Aber, Referendarius, dann laufe ich fort und schaue hinein in die Natur und verstehe alles, was die Blumen, die Gewässer zu mir sprechen, und mich umfängt selige Himmelslust!«“

 

Wissenschafts-Gläubigkeit, weltfremde und korrupte Wissenschaftler

 

„Du gewahrst, o mein geliebter Leser, daß man ein großer Gelehrter und doch mit sehr gewöhnlichen Erscheinungen im Leben unbekannt sein, und doch über Weltbekanntes in die wunderlichsten Träume geraten kann. Ptolomäus Philadelphus hatte studiert und kannte nicht einmal Studenten und wußte nicht einmal, daß er in dem Dorfe Hoch-Jakobsheim saß, das bekanntlich dicht bei der berühmten Universität Kerepes liegt, als er seinem Freunde von einer Begebenheit schrieb, die sich in seinem Kopfe zum seltsamsten Abenteuer umgeformt hatte. Der gute Ptolomäus erschrak, als er Studenten begegnete, die fröhlich und guter Dinge über Land zogen zu ihrer Lust. Welche Angst hätte ihn überfallen, wäre er eine Stunde früher in Kerepes angekommen, und hätte ihn der Zufall vor das Haus des Professors der Naturkunde Mosch Terpin geführt! – Hunderte von Studenten hätten, aus dem Hause herausströmend, ihn umringt, lärmend disputierend etc., und noch wunderliche Träume wären ihm in den Kopf gekommen über diesem Gewirr, über diesem Getreibe.“

 

„Balthasar, der sich in dem Dorfe Hoch-Jakobsheim versteckt hielt, bekam von dem Referendarius Pulcher aus Kerepes einen Brief des Inhalts: »Unsere Angelegenheiten, bester Freund Balthasar, gehen immer schlechter und schlechter. Unser Feind, der abscheuliche Zinnober, ist Minister der auswärtigen Angelegenheiten geworden und hat den großen Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen erhalten. Er hat sich aufgeschwungen zum Liebling des Fürsten und setzt alles durch, was er will. Professor Mosch Terpin ist ganz außer sich, er bläht sich auf im dummen Stolz. Durch seines künftigen Schwiegersohns Vermittlung hat er die Stelle des Generaldirektors sämtlicher natürlicher Angelegenheiten im Staate erhalten, eine Stelle, die ihm viel Geld und eine Menge anderer Emolumente einbringt. Als benannter Generaldirektor zensiert und revidiert er die Sonnen- und Mondfinsternisse sowie die Wetterprophezeiungen in den im Staate erlaubten Kalendern und erforscht insbesondere die Natur in der Residenz und deren Bereich. Dieser Beschäftigung halber bekommt er aus den fürstlichen Waldungen das seltenste Geflügel, die raresten Tiere, die er, um eben ihre Natur zu erforschen, braten läßt und auffrißt. Ebenso schreibt er jetzt (wenigstens gibt er es vor) eine Abhandlung darüber, warum der Wein anders schmeckt als Wasser und auch andere Wirkungen äußert, die er seinem Schwiegersohn zueignen will. Zinnober hat es bewirkt, daß Mosch Terpin der Abhandlung wegen alle Tage im fürstlichen Weinkeller studieren darf. Er hat schon einen halben Oxhoft alten Rheinwein sowie mehrere Dutzend Flaschen Champagner verstudiert und ist jetzt an ein Faß Alikante geraten. – Der Kellermeister ringt die Hände! - So ist dem Professor, der, wie Du weißt, das größte Leckermaul auf Erden, geholfen, und er würde das bequemste Leben von der Welt führen, müßte er oft nicht, wenn ein Hagelschlag die Felder verwüstet hat, plötzlich über Land, um den fürstlichen Pächtern zu erklären, warum es gehagelt hat, damit die dummen Teufel ein bißchen Wissenschaft bekommen, sich künftig vor dergleichen hüten können und nicht immer Erlaß der Pacht verlangen dürfen, einer Sache halber, die niemand verschuldet, als sie selbst.“

 

In die Norm passend

 

„Er hatte einen gezackten Kragen von den feinsten Brüßler Kanten umgetan, sein kurzes Kleid mit geschlitzten Ärmeln war von gerissenem Samt. Und dazu trug er französische Stiefeln mit hohen spitzen Absätzen und silbernen Fransen, einen englischen Hut vom feinsten Kastor und dänische Handschuhe. So war er ganz deutsch gekleidet, und der Anzug stand ihm über alle Maßen gut, zumal er sein Haar schön kräuseln lassen und das kleine Stutzbärtchen wohl aufgekämmt hatte.“

 

Nicht in die Norm passend

 

„Das Geringste war noch, daß die Frauen mich grenzenlos eitel und abgeschmackt schalten, da ich aller Sitte entgegen mich durchaus mit nackten Armen, sie wahrscheinlich für sehr schön haltend, sehen lassen wolle. Die Theologen aber schrien mich bald für einen Sektierer aus, stritten sich nur, ob ich zur Sekte der Ärmelianer oder Schößianer zu rechnen, waren aber darin einig, daß beide Sekten höchst gefährlich zu nennen, da beide vollkommene Freiheit des Willens statuierten und sich erfrechten zu denken, was sie wollten. Diplomatiker hielten mich für einen schnöden Aufwiegler. Sie behaupteten, ich wolle durch meine langen Rockschöße Unzufriedenheit im Volke erregen und es aufsässig machen gegen die Regierung, gehöre überhaupt zu einem geheimen Bunde, dessen Zeichen ein kurzer Ärmel sei. Schon seit langer Zeit fänden sich hie und da Spuren der Kurzärmler, die ebenso zu fürchten als die Jesuiten, ja noch mehr, da sie sich bemühten, überall die jedem Staate schädliche Poesie einzuführen, und an der Infallibilität der Fürsten zweifelten.“

 

Orden des grüngefleckten Tigers

 

Für die Bewohner des Erdreichs völlig absurd: wird einem Menschen ein Orden oder irgend etwas Äußerliches überreicht, ist er ganz stolz auf sich. Je höher der Rang des Ordens, umso erhabener fühlt sich der Ausgezeichnete. Nie wurde diese Absonderlichkeit mit dem „Orden des grüngefleckten Tigers“ besser karikiert als von E.T.A. Hoffmann:

„Sowie der Minister geendet, schritt der Fürst geradezu los auf den kleinen Zinnober, hob ihn in die Höhe, drückte ihn an seine Brust, gerade dahin, wo ihm (dem Fürsten) der große Stern des grüngefleckten Tigers saß …

»Ich muß,« sprach nun der Fürst, »ich muß Sie, mein lieber Zinnober, gleich Ihrem hohen Verdienst gemäß auszeichnen; empfangen Sie daher aus meinen Händen den Orden des grüngefleckten Tigers!«

Der Fürst wollte ihm nun das Ordensband, das er sich in der Schnelligkeit von dem Kammerdiener reichen lassen, umhängen; aber Zinnobers mißgestalteter Körperbau bewirkte, daß das Band durchaus nicht normalmäßig sitzen wollte, indem es sich bald ungebührlich heraufschob, bald ebenso hinabschlotterte.

Der Fürst war in dieser so wie in jeder andern solchen Sache, die das eigentlichste Wohl des Staats betraf, sehr genau. Zwischen dem Hüftknochen und dem Steißbein, in schräger Richtung drei Sechzehnteil Zoll aufwärts vom letztern, mußte das am Bande befindliche Ordenszeichen des grüngefleckten Tigers sitzen. Das war nicht herauszubringen. Der Kammerdiener, drei Pagen, der Fürst legten Hand an, alles Mühen blieb vergebens. Das verräterische Band rutschte hin und her, und Zinnober begann unmutig zu quäken: »Was hantieren Sie doch so schrecklich an meinem Leibe herum, lassen Sie doch das dumme Ding hängen, wie es will, Minister bin ich doch nun einmal und bleib' es!« -

»Wofür,« sprach nun der Fürst zornig, »wofür habe ich denn Ordensräte, wenn rücksichts der Bänder solche tolle Einrichtungen existieren, die ganz meinem Willen entgegenlaufen? – Geduld, mein lieber Minister Zinnober! bald soll das anders werden!«

Auf Befehl des Fürsten mußte sich nun der Ordensrat versammeln, dem noch zwei Philosophen sowie ein Naturforscher, der eben, vom Nordpol kommend, durchreiste, beigesellt wurden, die über die Frage, wie auf die geschickteste Weise dem Minister Zinnober das Band des grüngefleckten Tigers anzubringen, beratschlagen sollten. Um für diese wichtige Beratung gehörige Kräfte zu sammeln, wurde sämtlichen Mitgliedern aufgegeben, acht Tage vorher nicht zu denken; um dies besser ausführen zu können und doch tätig zu bleiben im Dienste des Staats, aber sich indessen mit dem Rechnungswesen zu beschäftigen. Die Straßen vor dem Palast, wo die Ordensräte, Philosophen und Naturforscher ihre Sitzung halten sollten, wurden mit dickem Stroh belegt, damit das Gerassel der Wagen die weisen Männer nicht störe, und ebendaher durfte auch nicht getrommelt, Musik gemacht, ja nicht einmal laut gesprochen werden in der Nähe des Palastes. Im Palast selbst tappte alles auf dicken Filzschuhen umher, und man verständigte sich durch Zeichen.

Sieben Tage hindurch vom frühsten Morgen bis in den späten Abend hatten die Sitzungen gedauert, und noch war an keinen Beschluß zu denken.

Der Fürst, ganz ungeduldig, schickte ein Mal über das andere hin und ließ ihnen sagen, es solle in des Teufels Namen ihnen doch endlich etwas Gescheutes einfallen. Das half aber ganz und gar nichts.

Der Naturforscher hatte soviel möglich Zinnobers Natur erforscht, Höhe und Breite seines Rückenauswuchses genommen und die genaueste Berechnung darüber dem Ordensrat eingereicht. Er war es auch, der endlich vorschlug, ob man nicht den Theaterschneider bei der Beratung zuziehen wolle.

So seltsam dieser Vorschlag erscheinen mochte, wurde er doch in der Angst und Not, in der sich alle befanden, einstimmig angenommen.

Der Theaterschneider Herr Kees war ein überaus gewandter, pfiffiger Mann. Sowie ihm der schwierige Fall vorgetragen worden, sowie er die Berechnungen des Naturforschers durchgesehen, war er mit dem herrlichsten Mittel, wie das Ordensband zum normalmäßigen Sitzen gebracht werden könne, bei der Hand.

An Brust und Rücken sollten nämlich eine gewisse Anzahl Knöpfe angebracht und das Ordensband daran geknöpft werden. Der Versuch gelang über die Maßen wohl.

Der Fürst war entzückt und billigte den Vorschlag des Ordensrates, den Orden des grüngefleckten Tigers nunmehro in verschiedene Klassen zu teilen, nach der Anzahl der Knöpfe, womit er gegeben wurde. Z.B. Orden des grüngefleckten Tigers mit zwei Knöpfen – mit drei Knöpfen etc. Der Minister Zinnober erhielt als ganz besondere Auszeichnung, die sonst kein anderer verlangen könne, den Orden mit zwanzig brillantierten Knöpfen, denn gerade zwanzig Knöpfe erforderte die wunderliche Form seines Körpers.

Der Schneider Kees erhielt den Orden des grüngefleckten Tigers mit zwei goldnen Knöpfen und wurde, da der Fürst ihn, seines glückliches Einfalls ungeachtet, für einen schlechten Schneider hielt und sich daher nicht von ihm kleiden lassen wollte, zum Wirklichen Geheimen Groß-Kostümierer des Fürsten ernannt.“

 

Immer auf die Kleinen

 

Wie Menschen üblicherweise mit schwächeren Außenseitern umspringen, zeigt sich in dem Moment, als der Zauber um Klein Zaches nicht mehr wirkt:

„»Angepackt – angepackt!« ruft Balthasar; da fassen Fabian und Pulcher den Kleinen, daß er sich nicht zu regen und zu bewegen vermag, und Balthasar faßt sicher und behutsam die roten Haare, reißt sie mit einem Ruck vom Haupte herab, springt an den Kamin, wirft sie ins Feuer, sie prasseln auf, es geschieht ein betäubender Schlag, alle erwachen wie aus dem Traum. – Da steht der kleine Zinnober, der sich mühsam aufgerafft von der Erde, und schimpft und schmäht und befiehlt, man solle die frechen Ruhestörer, die sich an der geheiligten Person des ersten Ministers im Staate vergriffen, sogleich packen und ins tiefste Gefängnis werfen! Aber einer frägt den andern: »Wo kommt denn mit einemmal der kleine purzelbäumige Kerl her? – was will das kleine Ungetüm?« – Und wie der Däumling immerfort tobt und mit den Füßchen den Boden stampft und immer dazwischen ruft: »Ich bin der Minister Zinnober – ich bin der Minister Zinnober – der grüngefleckte Tiger mit zwanzig Knöpfen!« da bricht alles in ein tolles Gelächter aus. Man umringt den Kleinen, die Männer heben ihn auf und werfen sich ihn zu wie einen Fangball; ein Ordensknopf nach dem andern springt ihm vom Leibe – er verliert den Hut - den Degen, die Schuhe. – Fürst Barsanuph kommt hinter dem Kaminschirm hervor und tritt hinein mitten in den Tumult. Da kreischt der Kleine: »Fürst Barsanuph – Durchlaucht – retten Sie Ihren Minister – Ihren Liebling! – Hülfe – Hülfe – der Staat ist in Gefahr – der grüngefleckte Tiger – Weh – weh!« – Der Fürst wirft einen grimmigen Blick auf den Kleinen und schreitet dann rasch vorwärts nach der Türe. Mosch Terpin kommt ihm in den Weg, den faßt er, zieht ihn in die Ecke und spricht mit zornfunkelnden Augen: »Sie erdreisten sich, Ihrem Fürsten, Ihrem Landesvater hier eine dumme Komödie vorspielen zu wollen? – Sie laden mich ein zur Verlobung Ihrer Tochter mit meinem würdigen Minister Zinnober, und statt meines Ministers finde ich hier eine abscheuliche Mißgeburt, die Sie in glänzende Kleider gesteckt? – Herr, wissen Sie, daß das ein landesverräterischer Spaß ist, den ich strenge ahnden würde, wenn Sie nicht ein ganz alberner Mensch wären, der ins Tollhaus gehört. – Ich entsetze Sie des Amts als Generaldirektor der natürlichen Angelegenheiten und verbitte mir alles weitere Studieren in meinem Keller! – Adieu!«

Dann stürmte er fort.

Aber Mosch Terpin stürzte zitternd vor Wut los auf den Kleinen, faßte ihn bei den langen struppigen Haaren und rannte mit ihm hin nach dem Fenster: »Hinunter mit dir,« schrie er, »hinunter mit dir, schändliche heillose Mißgeburt, die mich so schmachvoll hintergangen, mich um alles Glück des Lebens gebracht hat!«

Er wollte den Kleinen hinabstürzen durch das geöffnete Fenster, doch der Aufseher des zoologischen Kabinetts, der auch zugegen, sprang mit Blitzesschnelle hinzu, faßte den Kleinen und entriß ihn Mosch Terpins Fäusten. »Halten Sie ein,« sprach der Aufseher, »halten Sie ein, Herr Professor, vergreifen Sie sich nicht an fürstlichem Eigentum. Es ist keine Mißgeburt, es ist der Mycetes Belzebub, Simia Belzebub, der dem Museo entlaufen.« »Simia Belzebub – Simia Belzebub!« ertönte es von allen Seiten unter schallendem Gelächter. Doch kaum hatte der Aufseher den Kleinen auf den Arm genommen und ihn recht angesehen, als er unmutig ausrief: »Was sehe ich! – das ist ja nicht Simia Belzebub, das ist ja ein schnöder häßlicher Wurzelmann! Pfui! - pfui« -

Und damit warf er den Kleinen in die Mitte des Saals. Unter dem lauten Hohngelächter der Gesellschaft rannte der Kleine quiekend und knurrend durch die Türe fort die Treppe herab – fort, fort nach seinem Hause, ohne daß ihn ein einziger von seinen Dienern bemerkt …

Alle Leute kuckten hin, und als sie den kleinen Zinnober gewahrten, der in seinem gestickten Scharlachkleide, das Ordensband des grüngefleckten Tigers umgehängt, vor dem Fenster stand, das hinabging bis an den Fußboden, so daß seine ganze Figur durch die großen Scheiben deutlich zu sehen, lachten sie ganz übermäßig und lärmten und schrien: »Klein Zaches – Klein Zaches! Ha, seht doch den kleinen geputzten Pavian – die tolle Mißgeburt – das Wurzelmännlein – Klein Zaches! Klein Zaches!« – Der Portier, alle Diener Zinnobers rannten heraus, um zu erschauen, worüber das Volk denn so unmäßig lache und jubiliere. Aber kaum erblickten sie ihren Herren, als sie noch ärger als das Volk im tollsten Gelächter schrien: »Klein Zaches – Klein Zaches – Wurzelmann – Däumling – Alraun!« -

Der Minister schien erst jetzt zu gewahren, daß der tolle Spuk auf der Straße niemand anderm gelte, als ihm selbst. Er riß das Fenster auf, schaute mit zornfunkelnden Augen herab, schrie, raste, machte seltsame Sprünge vor Wut – drohte mit Wache – Polizei – Stockhaus und Festung.

Aber je mehr die Exzellenz tobte im Zorn, desto ärger wurde Tumult und Gelächter, man fing an mit Steinen – Obst – Gemüse oder was man eben zur Hand bekam, nach dem unglücklichen Minister zu werfen – er mußte hinein! -

»Gott im Himmel,« rief der Kammerdiener entsetzt, »aus dem Fenster der gnädigen Exzellenz kuckte ja das kleine abscheuliche Ungetüm heraus – Was ist das? – wie ist der kleine Hexenkerl in die Zimmer gekommen?« – Damit rannte er hinauf, aber so wie vorher fand er das Schlafkabinett des Ministers fest verschlossen. Er wagte leise zu pochen! – Keine Antwort! -

Indessen war, der Himmel weiß, auf welche Weise, ein dumpfes Gemurmel im Volke entstanden, das kleine lächerliche Ungetüm dort oben sei wirklich Klein Zaches, der den stolzen Namen Zinnober angenommen und sich durch allerlei schändlichen Lug und Trug aufgeschwungen. Immer lauter und lauter erhoben sich die Stimmen. »Hinunter mit der kleinen Bestie – hinunter – klopft dem Klein Zaches die Ministerjacke aus – sperrt ihn in den Käficht – laßt ihn für Geld sehen auf dem Jahrmarkt! – Beklebt ihn mit Goldschaum und beschert ihn den Kindern zum Spielzeug! – Hinauf – hinauf!« – Und damit stürmte das Volk an gegen das Haus.

Der Kammerdiener rang verzweiflungsvoll die Hände. »Rebellion – Tumult – Exzellenz – machen Sie auf – retten Sie sich!« – so schrie er; aber keine Antwort, nur ein leises Stöhnen ließ sich vernehmen.

Die Haustüre wurde eingeschlagen, das Volk polterte unter wildem Gelächter die Treppe herauf.“

 

Mutter-Liebe

 

Auch die Mutter des gerade verstorbenen Klein Zaches denkt zuerst an sich selbst:

„»Nun,« rief die Frau mit leuchtenden Augen, »nun wenn die kleine Exzellenz dort wirklich mein Kind ist, so erb' ich ja wohl all die schönen Sachen, die hier rings umherstehen, das ganze Haus mit allem, was drinnen ist?«

»Nein,« sprach das Fräulein, »das ist nun ganz und gar vorbei, Ihr habt den rechten Augenblick verfehlt, Geld und Gut zu gewinnen. – Euch ist, ich habe es gleich gesagt, Euch ist nun einmal Reichtum nicht beschieden.« -

»So darf ich,« fuhr die Frau fort, indem ihr die Tränen in die Augen traten, »so darf ich denn nicht wenigstens mein armes kleines Männlein in die Schürze nehmen und nach Hause tragen? – Unser Herr Pfarrer hat so viel hübsche ausgestopfte Vögelein und Eichkätzchen, der soll mir meinen Klein Zaches ausstopfen lassen, und ich will ihn auf meinen Schrank stellen, wie er da ist im roten Rock mit dem breiten Bande und dem großen Stern auf der Brust, zum ewigen Andenken!« -

»Das ist,« rief das Fräulein beinahe unwillig, »das ist ein ganz einfältiger Gedanke, das geht ganz und gar nicht an!« -

Da fing das Weib an zu schluchzen, zu klagen, zu lamentieren. »Was hab' ich,« sprach sie, »nun davon, daß mein Klein Zaches zu hohen Würden, zu großem Reichtum gelangt ist! – Wär' er nur bei mir geblieben, hätt' ich ihn nur aufgezogen in meiner Armut, niemals wär' er in jenes verdammte silberne Ding gefallen, er lebte noch, und ich hätt' vielleicht Freude und Segen von ihm gehabt. Trug ich ihn so herum in meinem Holzkorb, Mitleiden hätten die Leute gefühlt und mir manches schöne Stücklein Geld zugeworfen, aber nun« -

Es ließen sich Tritte im Vorsaal vernehmen, das Fräulein trieb die Alte hinaus, mit der Weisung, sie solle unten vor der Türe warten, im Wegfahren wolle sie ihr ein untrügliches Mittel vertrauen, wie sie all ihre Not, all ihr Elend mit einemmal enden könne …“

 

Lebensansichten des Katers Murr

 

Da quasi „nebenbei" viele Personen und Werke des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erwähnt werden, lohnt es unbedingt, sich ein Buch zuzulegen, das in Fußnoten diese erwähnt und erläutert. Es erschließen sich Musik, Literatur, generell Kunst, Bildung, Wissenschaft jener Zeit.

Aus „getabstract“: „Katzenromane gibt es in der zeitgenössischen Literatur ja so einige. Doch die Idee ist nicht neu: Schon in den Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann, einem fast 200 Jahre alten Text, tritt ein Kater höchstselbst als Autor auf und überliefert der Nachwelt seine Biografie. Dummerweise verwendet er dafür bereits beschriebenes Papier, nämlich ein Manuskript, das er bei seinem Besitzer, dem Kapellmeister Kreisler, findet. Durch einen vermeintlichen Fehler bei der Drucklegung ergibt es sich, dass sich die Lebensgeschichte des schriftstellernden Katers mit der Biografie des Kapellmeisters auf kuriose Weise vermischt. E. T. A. Hoffmann hat mit diesem Roman ein Kunstwerk hinsichtlich Form und Komposition geschaffen. Es gelingt ihm, zwei voneinander weitgehend unabhängige Geschichten parallel zu erzählen und trotzdem die beiden Handlungsfäden geschickt miteinander zu verweben. An den Leser stellt das hohe Anforderungen, zumal die Kreisler-Biografie nur aus Fragmenten besteht und für sich schon eine recht komplizierte Struktur besitzt. Aber gerade darum ist der Roman auch heute noch ein ungewöhnliches Lesevergnügen.

- E. T. A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr besteht aus zwei verschiedenen Handlungssträngen, die auf kunstvolle Weise parallel entwickelt werden.

- Zum einen ist dies die Autobiografie des Katers Murr, zum anderen die Biografie seines Herrn, des Kapellmeisters Johannes Kreisler.

- Während eines Unwetters wird der kleine Murr von Meister Abraham gefunden und aufgenommen.

- Als junger Kater ist Murr sehr wissensdurstig und ehrgeizig, er lernt lesen und schreiben.

- Später gerät er durch den Einfluss eines Freundes in eine Burschenschaft und vernachlässigt seine Bildung.

- Als die Gruppe zerschlagen wird, ändert Murr seine Ansichten und möchte in vornehmen Kreisen verkehren, hat aber dabei keinen Erfolg.

- Später wird der Kater von Meister Abraham an seinen Freund Kreisler weiterverschenkt. Dieser ist Kapellmeister am Hof des Fürsten Irenäus.

- Kreisler verliebt sich in die schöne Julia. Der Kapellmeister hat aber einen Nebenbuhler: Prinz Hector hat es ebenfalls auf sie abgesehen.

- Kreisler wehrt einen Annäherungsversuch des Prinzen bei Julia ab. Wenig später wird der Musiker von einem Unbekannten angeschossen und flüchtet daraufhin in ein Kloster.

- Der zweibändige Roman ist nicht abgeschlossen. Einen geplanten dritten Teil nahm Hoffmann nicht mehr in Angriff.

- Die Autobiografie des Katers Murr ist eine Parodie des Bildungsromans und eine Satire auf das behagliche Bürgertum, das der Kater verkörpert.

- Die ungewöhnliche Form des Romans weist auf Experimente moderner Prosa voraus …

 

- Der Roman ist eine Satire auf die politische Lage jener Zeit. Hoffmann nimmt u. a. den Adel aufs Korn, mit Figuren wie dem Fürsten Irenäus, der zwar kein Land mehr besitzt, aber ein prunkvolles Hofleben inszeniert, oder dem völlig untätigen Baron von Wipp, zu dessen Lieblingsbeschäftigungen es gehört, aus dem Fenster zu spucken.

- Ebenso karikiert Hoffmann aber auch eine andere Seite des gesellschaftlich-politischen Spektrums: die Burschenschaften. Seine Katzburschen verkünden zwar hohe Ideale, aber in Wirklichkeit beschränken sich ihre Aktivitäten auf Schlägereien und den Konsum von Katzpunsch.

- Mit der Autobiografie eines selbstverliebten Katers hat Hoffmann zugleich eine Parodie auf den klassischen Bildungsroman geschaffen, wie er zu jener Zeit vor allem durch Goethes Wilhelm Meister repräsentiert wurde.

- Durch die Gegenüberstellung der beiden Handlungsstränge erreicht Hoffmann so manche ironische Brechung: So wird das Werben des Prinzen Hector um Hedwiga und Julia parallel zu Murrs Liebesgeschichten erzählt; und nachdem Kreisler im Park angeschossen wurde, folgt der Bericht von Murrs Duell mit seinem Nebenbuhler.

- Die Kreisler-Geschichte wird nur in Fragmenten erzählt, vieles wird nur angedeutet und bleibt unaufgelöst. Der Leser steht vor der Aufgabe, aus den Mosaiksteinen ein Bild zusammenzusetzen.

- Hoffmann stellt in diesem Text zwei Künstlertypen einander gegenüber: auf der einen Seite der egozentrische Kater Murr, der von der Qualität seiner Dichtungen absolut überzeugt ist, auf der anderen der innerlich zerrissene, unstete Kapellmeister Kreisler, der Züge von Hoffmann selbst aufweist.“

https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/lebens-ansichten-des-katers-murr/6131

 

Auch hier übt sich E.T.A. Hoffmann in scharfer Menschen-, Gesellschafts- und Staatskritik.

Der eine Teil der Geschichte spielt an einem lächerlichen Hofstaat (den E.T.A. Hoffmann in seiner Bamberger Zeit selbst so erlebte) mit verkommenen, überheblichen Gestalten, verblödetem Nachwuchs und dem Hang zu einer Sammel-Leidenschaft für völlig uninteressante Sachen.

Natürlich mit der entsprechenden Doppel-Moral: „„Ha!“ rief der Fürst, „dem Himmel sei es gedankt, so war es der Kammerdiener und nicht der Prinz selbst, der sich zu Ihnen ins Haus stahl und dann durchs Fenster sprang in die Blumentöpfe wie der Page Cherubim. - Mir stiegen schon allerlei unangenehme Gedanken auf. Ein Prinz und durchs Fenster springen, wie könnte sich das wohl in aller Welt reimen!“

„Ei“, erwiderte die Benzon schalkhaft lachend, „ich kenne doch eine fürstliche Person, die den Weg zum Fenster heraus nicht verschmähte, als – „

„Sie“, unterbrachte der Fürst die Rätin, „Sie alterieren mich, Benzon, Sie alterieren mich ganz ungemein! - Schweigen wir von vergangenen Dingen …“ …

„Benzon“, sprach der Fürst sehr ernsthaft, „Benzon, ich habe darüber nachgedacht, was Sie mir über die unwürdige Neigung der Prinzessin gesagt haben und glaube jetzt von allem auch nicht ein Wort. Fürstliches Blut wallt in den Adern der Prinzessin.“ –

„Glauben Sie“, fuhr die Benzon heftig auf, indem sie bis unter die Augen errötete, „glauben Sie, gnädigster Herr, dass das fürstliche Weib über den Pulsschlag, über die innere Ader des Lebens gebieten könne wie kein anderes?“ …“

 

Zwei Beispiele für menschliches Denken und Handeln:

„Achilles war eigentlich ein gemeiner Fleischerhund, stand aber in Diensten als Hofhund, und der Herr, bei dem er im Dienst getreten, hatte ihn, um sein Attachement an das Haus zu befestigen, anketten lassen, sodass er nur des Nachts frei umherlaufen konnte. Mancher von uns bedauerte ihn sehr trotz seines unleidlichen Wesens, er aber ließ sich den Verlust seiner Freiheit gar nicht zu Herzen gehen, da er töricht genug war zu vermeinen, die schwer lastende Kette gereichte ihm zur Ehre und Zierde.“

 

„Ponto geradezu auf das Brot und Würste feilhaltende Mädchen loshüpfte, die mich, da ich freundlich bei ihr zulangte, beinahe totgeschlagen. »Mein Pudel Ponto, mein Pudel Ponto, was tust du, nimm dich in acht, hüte dich vor der herzlosen Barbarin, vor dem rachedürstenden Wurstprinzip!« – So rief ich hinter Ponto her; ohne auf mich zu achten, setzte er aber seinen Weg fort, und ich folgte in der Ferne, um, sollte er in Gefahr geraten, mich gleich aus dem Staube machen zu können. – Vor dem Tisch angekommen, richtete sich Ponto auf den Hinterfüßen in die Höhe und tänzelte in den zierlichsten Sprüngen um das Mädchen her, die sich darüber gar sehr erfreute. Sie rief ihn an sich, er kam, legte den Kopf in ihren Schoß, sprang wieder auf, bellte lustig, hüpfte wieder um den Tisch, schnupperte bescheiden und sah dem Mädchen freundlich in die Augen.

»Willst du ein Würstchen, artiger Pudel?« So fragte das Mädchen, und als nun Ponto, anmutig schwänzelnd, laut aufjauchzte, nahm sie zu meinem nicht geringen Erstaunen eine der schönsten, größten Würste und reichte sie dem Ponto dar. Dieser tanzte wie zur Danksagung noch ein kurzes Ballett und eilte dann zu mir mit der Wurst, die er mit den freundlichen Worten hinlegte: »Da iß, erquicke dich, Bester!« Nachdem ich die Wurst verzehrt, lud mich Ponto ein, ihm zu folgen, er wolle mich zurückführen zum Meister Abraham.

Wir gingen langsam nebeneinander her, so daß es uns nicht schwerfiel, wandelnd vernünftige Gespräche zu führen.

»Ich seh es wohl ein«, (so begann ich die Unterredung) »daß du, geliebter Ponto, es viel besser verstehst, in der Welt fortzukommen, als ich. Nimmermehr würd es mir gelungen sein, das Herz jener Barbarin zu rühren, welches dir so ungemein leicht wurde. Doch verzeih! – In deinem ganzen Benehmen gegen die Wurstverkäuferin lag doch etwas, wogegen mein innerer mir angeborner Sinn sich auflehnt. Eine gewisse unterwürfige Schmeichelei, ein Verleugnen des Selbstgefühls, der edleren Natur – nein! guter Pudel, nicht entschließen könnte ich mich, so freundlich zu tun, so mich außer Atem zu setzen mit angreifenden Manœuvres, so recht demütig zu betteln, wie du es tatest. Bei dem stärksten Hunger, oder wenn mich ein Appetit nach etwas Besonderem anwandelt, begnüge ich mich, hinter dem Meister auf den Stuhl zu springen und meine Wünsche durch ein sanftes Knurren anzudeuten. Und selbst dies ist mehr Erinnerung an die übernommene Pflicht, für meine Bedürfnisse zu sorgen, als Bitte um eine Wohltat.«

Ponto lachte laut auf, als ich dies gesprochen, und begann denn: »O Murr, mein guter Kater, du magst ein tüchtiger Literatus sein und dich wacker auf Dinge verstehen, von denen ich gar keine Ahnung habe, aber von dem eigentlichen Leben weißt du gar nichts und würdest verderben, da dir alle Weltklugheit gänzlich abgeht. – Fürs erste würdest du vielleicht anders geurteilt haben, ehe du die Wurst genossen, denn hungrige Leute sind viel artiger und fügsamer als satte, dann aber bist du rücksichtlich meiner sogenannten Unterwürfigkeit in großem Irrtum. Du weißt ja, daß das Tanzen und Springen mir großes Vergnügen macht, so daß ich es oft auf meine eigene Hand unternehme. Treibe ich nun, eigentlich nur zu meiner Motion, meine Künste vor den Menschen, so macht es mir ungemeinen Spaß, daß die Toren glauben, ich täte es aus besonderm Wohlgefallen an ihrer Person und nur, ihnen Lust und Freude zu erregen. Ja, sie glauben das, sollte auch eine andere Absicht ganz klar sein. Du hast, Geliebter, das lebendige Beispiel davon soeben erfahren. Mußte das Mädchen nicht gleich einsehen, daß es mir nur um eine Wurst zu tun war, und doch geriet sie in volle Freude, daß ich ihr, der Unbekannten, meine Künste vormachte, als einer Person, die dergleichen zu schätzen vermögend, und eben in dieser Freude tat sie das, was ich bezweckte. Der Lebenskluge muß es verstehen, allem, was er bloß seinetwegen tut, den Anschein zu geben, als täte er es um anderer willen, die sich dann hoch verpflichtet glauben und willig sind zu allem, was man bezweckte. Mancher erscheint gefällig, dienstfertig, bescheiden, nur den Wünschen anderer lebend und hat nichts im Auge als sein liebes Ich, dem die andern dienstbar sind, ohne es zu wissen. Das, was du also unterwürfige Schmeichelei zu nennen beliebst, ist nichts als weltkluges Benehmen, das in der Erkenntnis und der foppenden Benutzung der Torheit anderer seine eigentliche Basis findet.«

»O Ponto«, erwiderte ich, »du bist ein Weltmann, das ist gewiß, und ich wiederhole, daß du dich auf das Leben besser verstehst als ich, aber demunerachtet kann ich kaum glauben, daß deine seltsamen Künste dir selbst Vergnügen machen sollten. Wenigstens ist mir das entsetzliche Kunststück durch Mark und Bein gegangen, als du in meiner Gegenwart deinem Herrn ein schönes Stück Braten apportiertest, es sauber zwischen den Zähnen haltend, und nicht eher einen Bissen davon genossest, bis dein Herr dir die Erlaubnis zuwinkte.«

»Sage mir doch«, fragte Ponto, »sage mir doch, guter Murr, was sich nachher begab!«

»Beide«, erwiderte ich, »dein Herr und Meister Abraham, lobten dich über alle Maßen und setzten dir einen ganzen Teller mit Braten hin, den du mit erstaunlichem Appetit verzehrtest.«

»Nun«, fuhr Ponto fort, »nun also, bester Kater, glaubst du wohl, daß, hätt ich apportierend das kleine Stück Braten gefressen, daß ich dann eine solch reichliche Portion und überhaupt Braten erhalten? Lerne, o unerfahrener Jüngling, daß man kleine Opfer nicht scheuen darf, um Großes zu erreichen. Mich wundert's, daß bei deiner starken Lektüre dir nicht bekannt geworden, was es heißt, die Wurst nach der Speckseite werfen. – Pfote aufs Herz, muß ich dir gestehen, daß, träfe ich einsam im Winkel einen ganzen schönen Braten an, ich ihn ganz gewiß verzehren würde, ohne auf die Erlaubnis meines Herrn zu warten, könnt ich das nur unbelauscht vollbringen. Es liegt nun einmal in der Natur, daß man im Winkel ganz anders handelt als auf offner Straße. – Übrigens ist es auch ein aus tiefer Weltkenntnis geschöpfter Grundsatz, daß es ratsam ist, in Kleinigkeiten ehrlich zu sein.«

Ich schwieg einige Augenblicke, über Pontos geäußerte Grundsätze nachdenkend, mir fiel ein, irgendwo gelesen zu haben, ein jeder müsse so handeln, daß seine Handlungsweise als allgemeines Prinzip gelten könne, oder wie er wünsche, daß alle rücksichts seiner handeln möchten, und bemühte mich vergebens, dies Prinzip mit Pontos Weltklugheit in Übereinstimmung zu bringen. Mir kam in den Sinn, daß alle Freundschaft, die mir Ponto in dem Augenblick erzeigte, wohl auch gar zu meinem Schaden, nur seinen eignen Vorteil bezwecken könne, und ich äußerte dies unverhohlen.

»Kleiner Schäker«, rief Ponto lachend, »von dir ist gar nicht die Rede! – Du kannst mir keinen Vorteil gewähren, keinen Schaden verursachen. Um deine toten Wissenschaften beneide ich dich nicht, dein Treiben ist nicht das meinige, und solltest du dir es etwa beikommen lassen, feindliche Gesinnungen gegen mich zu äußern, so bin ich dir an Stärke und Gewandtheit überlegen. Ein Sprung, ein tüchtiger Biß meiner scharfen Zähne würde dir auf der Stelle den Garaus machen.«

Mich wandelte eine große Furcht an vor meinem eignen Freunde, die sich vermehrte, als ein großer schwarzer Pudel ihn freundlich nach gewöhnlicher Art begrüßte und beide, mich mit glühenden Augen anblickend, leise miteinander sprachen.

Die Ohren angekniffen, drückte ich mich an die Seite, doch bald sprang Ponto, den der Schwarze verlassen, wieder auf mich zu und rief: »Komm nur, mein Guter!«

»Ach Himmel«, fragte ich in der Bestürzung, »wer war denn der ernste Mann, der vielleicht ebenso weltklug als du?«

»Ich glaube gar«, erwiderte Ponto, »du fürchtest dich vor meinem guten Oheim, dem Pudel Skaramuz? Ein Kater bist du schon und willst nun gar ein Hase werden.« –

»Aber«, sprach ich, »warum warf der Oheim mir solche glühende Blicke zu, und was flüstertet ihr so heimlich, so verdächtig miteinander?« – »Nicht verhehlen«, erwiderte Ponto, »nicht verhehlen will ich's dir, mein guter Murr, daß mein alter Oheim etwas mürrisch ist und, wie es denn nun bei alten Leuten gewöhnlich der Fall, an verjährten Vorurteilen hängt. Er wunderte sich über unser Beisammensein, da die Ungleichheit unsers Standes jede Annäherung verbieten müsse. Ich versicherte, daß du ein junger Mann von vieler Bildung und angenehmem Wesen wärst, der mich bisweilen sehr belustige. Da meinte er, dann könne ich mich wohl dann und wann einsam mit dir unterhalten, nur solle ich's mir nicht etwa einfallen lassen, dich mitzubringen in eine Pudelassemblee, da du nun und nimmermehr assembleefähig werden könntest, schon deiner kleinen Ohren halber, die nur zu sehr deine niedere Abkunft verrieten und von tüchtigen, großgeohrten Pudeln durchaus für unanständig geachtet würden.«

Ich versprach das.“

 

Und hier eine bemerkenswerte Trauer-Feier mit einer der schönsten Trauer-Reden, die je gehalten wurden:

„Um die Mitternachtsstunde begab ich mich hinab in den Keller. Trauriger, herzzerreißender Anblick! Da lag in der Mitte auf einem Katafalk, der freilich, dem einfachen Sinn, den der Verstorbene stets in sich trug, gemäß, nur in einem Bündel Stroh bestand, die Leiche des teuern, geliebten Freundes! – Alle Kater waren schon versammelt, wir drückten uns, keines Wortes mächtig, die Pfoten, setzten uns, heiße Tränen in den Augen, in einen Kreis rings um den Katafalk umher und stimmten einen Klagegesang an, dessen die Brust durchschneidende Töne furchtbar in den Kellergewölben widerhallten. Es war der trostloseste, entsetzlichste Jammer, der jemals gehört worden, kein menschliches Organ vermag ihn herauszubringen.

Nachdem der Gesang geendet, trat ein sehr hübscher, anständig in Weiß und Schwarz gekleideter Jüngling aus dem Kreise, stellte sich an das Kopfende der Leiche und hielt nachfolgende Standrede, welche er mir, unerachtet er sie aus dem Stegreif gesprochen, schriftlich mitteilte.

Trauerrede

am Grabe des zu früh verblichenen Katers Muzius,

der Phil. und Gesch. Befliss.,

gehalten von seinem treuen Freunde und Bruder,

dem Kater Hinzmann,

der Poes. und Bereds. Befliss.

»Teure in Betrübnis versammelte Brüder!

Wackre hochherzige Burschen!

Was ist der Kater! – ein gebrechliches vergängliches Ding, wie alles, was geboren auf Erden! – Ist es wahr, was die berühmtesten Ärzte und Physiologen behaupten, daß der Tod, dem alle Kreatur unterworfen, hauptsächlich in dem gänzlichen Aufhören alles Atmens bestehe, oh, so ist unser biederer Freund, unser wackerer Bruder, dieser treue, tapfere Genosse in Freud und Leid, oh, so ist unser edler Muzius gewiß tot! – Seht, da liegt der Edle auf dem kalten Stroh und hat alle viere von sich gestreckt! – Nicht der leiseste Atemzug stiehlt sich durch die auf ewig geschlossenen Lippen! Eingefallen sind die Augen, die sonst bald sanftes Liebesfeuer, bald vernichtenden Zorn strahlten in grüngleißendem Gold! Totenblässe überzieht das Antlitz, schlaff hängen die Ohren, hängt der Schweif herab! – O Bruder Muzius, wo sind nun deine lustigen Sprünge, wo ist deine Heiterkeit, deine gute Laune, dein klares, fröhliches Miau, das alle Herzen erfreute, dein Mut, deine Standhaftigkeit, deine Klugheit, dein Witz? – Alles, alles hat dir der bittre Tod geraubt, und du weißt vielleicht nun nicht einmal genau, ob du gelebt hast? – Und doch warst du die Gesundheit, die Kraft selbst, gerüstet gegen alles körperliche Weh, als solltest du ewig leben! Kein Rädchen des Uhrwerks, das dein Inneres trieb, war ja auch schadhaft, und der Todesengel hatte sein Schwert nicht über dein Haupt geschwungen, weil das Räderwerk abgelaufen und nicht mehr wieder aufgezogen werden konnte. – Nein! ein feindliches Prinzip griff gewaltsam hinein in den Organismus und zerstörte frevelnd, was noch lange hätte bestehen können. – Ja! – Noch oft hätten diese Augen freundlich gestrahlt, noch oft wären lustige Einfalle, fröhliche Lieder diesen Lippen, dieser erstarrten Brust entströmt, noch oft hätte dieser Schweif, frohen Mutes innere Kraft verkündend, sich in Wellenlinien geringelt, noch oft hätten diese Pfoten Stärke und Gewandtheit bewiesen in den mächtigsten gewagtesten Sprüngen – und nun – Oh, kann es die Natur zulassen, daß das, was sie auf lange Dauer mühsam konstruiert hat, vor der Zeit zerstört werde, oder gibt es wirklich einen finstren Geist, Zufall genannt, der in despotischer frevelnder Willkür hineingreifen darf in die Schwingungen, die alles Sein dem ewigen Naturprinzip gemäß zu bedingen scheinen? – O du Toter, könntest du das hier der betrübten, jedoch lebendigen Versammlung sagen! – Doch, werte Anwesende, wackre Brüder, laßt uns solchen tiefsinnigen Betrachtungen nicht nachhängen, sondern uns ganz der Klage um den viel zu früh verlornen Freund Muzius zuwenden. – Es ist gebräuchlich, daß der Trauerredner den Anwesenden die ganze vollständige Biographie mit lobpreisenden Zusätzen und Anmerkungen vorträgt, und dieser Gebrauch ist sehr gut, da durch einen solchen Vortrag auch in dem betrübtesten Zuhörer der Ekel der Langeweile erregt werden muß, dieser Ekel aber nach der Erfahrung und dem Ausspruch bewährter Psychologen am besten jede Betrübnis zerstört, weshalb denn auf jene Weise der Trauerredner beide Pflichten, die, dem Verewigten die gehörige Ehre zu erweisen, und die, die Hinterlassenen zu trösten, auf einmal erfüllt. Man hat Beispiele, und sie sind natürlich, daß der Gebeugteste nach solcher Rede ganz vergnügt und munter von hinnen gegangen ist; über der Freude, erlöst zu sein von der Qual des Vortrags, verschmerzte er den Verlust des Hingeschiedenen. – Teure, versammelte Brüder! wie gern folgte auch ich dem löblichen bewährten Gebrauch, wie gern trüge ich euch die ganze ausführliche Biographie des erblaßten Freundes und Bruders vor und setzte euch um aus betrübten Katern in vergnügte, aber es geht nicht, es geht wahrhaftig nicht. – Seht das ein, teure, geliebte Brüder, wenn ich euch sage, daß ich von dem eigentlichen Leben des Verblichenen, was Geburt, Erziehung, weiteres Fortkommen betrifft, beinahe gar nichts weiß, daß ich daher euch lauter Fabeln auftischen müßte, wozu der Ort hier bei der Leiche des Erblaßten viel zu ernst und unsere Stimmung viel zu feierlich ist. – Nichts für ungut, Bursche, aber ich will statt alles weitern langweiligen Sermons nur mit wenigen schlichten Worten sagen, was für ein schmähliches Ende der arme Teufel, der hier starr und tot vor uns liegt, nehmen mußte, und was er für ein wackrer, tüchtiger Kerl im Leben war! – Doch, o Himmel! ich falle aus dem Ton der Beredsamkeit, unerachtet ich derselben beflissen und, will es das Schicksal, Professor poeseos et eloquentiae zu werden hoffe!« –

(Hinzmann schwieg, putzte sich mit der rechten Pfote Ohren, Stirn, Nase und Bart, betrachtete lange unverwandten Blicks die Leiche, räusperte sich aus, fuhr nochmals mit der Pfote übers Gesicht und sprach dann mit erhöhtem Tone weiter.)

»O bittres Verhängnis! – o grausamer Tod! mußtest du auf solch grausame Weise den verewigten Jüngling hinraffen in der Blüte seiner Jahre? – Brüder! ein Redner darf dem Zuhörer nochmals sagen, was dieser schon erfahren bis zum Überdruß, darum wiederhole ich, was ihr schon alle wißt, daß nämlich der dahingeschiedene Bruder fiel als ein Opfer des wütenden Hasses der Spitzphilister. – Dorthin auf jenes Dach, wo sonst wir uns ergötzten in Friede und Freude, wo fröhliche Lieder schallten, wo Pfot' in Pfot' und Brust an Brust wir ein Herz, eine Seele waren, wollte er hinaufschleichen, um in stiller Einsamkeit mit dem Senior Puff das Andenken jener schönen Tage, wahrer Tage in Aranjuez, die nun vorüber, zu feiern, da hatten die Spitzphilister, die auf jede Weise jede Erneuerung unsers frohen Katerbundes hintertreiben wollten, in die dunklen Winkel des Bodens Fuchseisen hingestellt; in eins derselben geriet der unglückliche Muzius, zerquetschte sich das Hinterbein und – mußte sterben! – Schmerzhaft und gefährlich sind die Wunden, die Philister schlagen, denn sie bedienen sich jederzeit stumpfer schartiger Waffen, doch stark und kräftig von Natur, hätte der Dahingeschiedene, der bedrohlichen Verletzung unerachtet, wieder aufkommen können, aber der Gram, der tiefe Gram, sich von schnöden Spitzen überwunden, in seiner schönen glanzvollen Laufbahn ganz zerstört zu sehen, der stete Gedanke an die Schmach, die wir alle erlitten, das war es, was an seinem Leben zehrte. – Er litt keinen gehörigen Verband, nahm keine Arznei – man sagt, er wollte sterben!« –

(Ich, wir alle konnten uns bei diesen letzten Worten Hinzmanns nicht lassen vor grimmem Schmerz, sondern brachen all in solch ein klägliches Geheul und Jammergeschrei aus, daß ein Felsen hätte erweicht werden können. Als wir uns nur einigermaßen beruhigt hatten, so daß wir zuhören vermochten, sprach Hinzmann mit Pathos weiter.)

»O Muzius! O schau herab! Schau die Tränen, die wir um dich vergießen, höre die trostlose Klage, die wir um dich erheben, verewigter Kater! – ja, schau auf uns herab oder hinauf, wie du es nun eben vermagst, sei im Geiste unter uns, wenn du noch überhaupt eines Geistes mächtig und derselbige, der dir innegewohnt, nicht schon anderweitig verbraucht worden! – Brüder! – wie gesagt, ich halte das Maul über die Biographie des Erblaßten, weil ich nichts davon weiß, aber desto lebhafter sind mir die vortrefflichen Eigenschaften des Verewigten im Gedächtnis, und die will ich euch, meine teuersten geliebtesten Freunde, vor die Nase rücken, damit ihr den entsetzlichen Verlust, den ihr durch den Tod des herrlichen Katers erlitten, im ganzen Umfang fühlen möget! Vernehmet es, o Jünglinge, die ihr geneigt seid, nie abzuweichen von dem Pfade der Tugend, vernehmt es! – Muzius war, was wenige im Leben sind, ein würdiges Glied der Katzengesellschaft, ein guter treuer Gatte, ein vortrefflicher liebender Vater, ein eifriger Verfechter der Wahrheit und des Rechts, ein unermüdlicher Wohltäter, eine Stütze der Armen, ein treuer Freund in der Not! – Ein würdiges Glied der Katzengesellschaft? – Ja! denn immer äußerte er die besten Gesinnungen und war sogar zu einiger Aufopferung bereit, wenn geschah, was er wollte, feindete auch nur ausschließlich diejenigen an, die ihm widersprachen, und seinem Willen sich nicht fügten. Ein guter treuer Gatte? Ja! – denn er lief andern Kätzchen nur dann nach, wenn sie jünger und hübscher waren als sein Gemahl und unwiderstehliche Lust ihn dazu trieb. Ein vortrefflicher liebender Vater? Ja! denn niemals hat man vernommen, daß er, wie es wohl von rohen lieblosen Vätern unsers Geschlechts zu geschehen pflegt, im Anfall eines besonderen Appetits eines seiner erzielten Kleinen verspeiset; es war ihm viel mehr ganz recht, wenn die Mutter sie sämtlich forttrug und er von ihrem dermaligen Aufenthalt weiter nichts erfuhr. Ein eifriger Verfechter der Wahrheit und des Rechts? Ja! – denn sein Leben hätte er gelassen dafür, weshalb er, da man nur einmal lebt, sich um beides nicht viel kümmerte, welches ihm auch nicht zu verargen. Ein unermüdlicher Wohltäter, eine Stütze der Armen? Ja! denn jahraus trug er am Neujahrstag ein kleines Heringsschwänzlein oder ein paar subtile Knöchelchen hinab in den Hof für die armen Brüder, die der Speisung bedurften, und konnte wohl, da er auf diese Weise seine Pflicht als würdiger Katzenfreund erfüllte, diejenigen bedürftigen Kater mürrisch anknurren, die außerdem noch etwas von ihm verlangten. Ein treuer Freund in der Not? Ja! denn geriet er in Not, so ließ er nicht ab selbst von denjenigen Freunden, die er sonst ganz vernachlässigt, ganz vergessen hatte. – Verewigter! was soll ich noch sagen von deinem Heldenmut, von deinem hohen geläuterten Sinn für alles Schöne und Edle, von deiner Gelehrsamkeit, von deiner Kunstkultur, von all den tausend Tugenden, die sich in dir vereinten! Was, sag ich, soll ich sagen davon, ohne unsern gerechten Schmerz über dein klägliches Hinscheiden nicht noch um vieles zu vermehren! – Freunde, gerührte Brüder! – denn in der Tat, an einigen unzweideutigen Bewegungen bemerke ich zu meiner nicht geringen Befriedigung, daß es mir gelang, euch zu rühren – Also! – gerührte Brüder! – Laßt uns ein Beispiel nehmen an diesem Verstorbenen, laßt uns alle Mühe anwenden, ganz in seine würdigen Fußstapfen zu treten, laßt uns ganz das sein, was der Vollendete war, und auch wir werden im Tode die Ruhe des wahrhaft weisen, des durch Tugenden jeder Art und Gattung geläuterten Katers genießen wie dieser Vollendete! – Seht nur selbst, wie er so still daliegt, wie er keine Pfote rührt, wie ihm all mein Lob seiner Vortrefflichkeit auch nicht ein leises Lächeln des Wohlgefallens abgewonnen! – Glaubt ihr wohl, Traurige! daß der bitterste Tadel, die gröbsten, beleidigendsten Schmähungen ebenso jeden Eindruck auf den Verewigten verfehlt haben würden? Glaubt ihr wohl, daß selbst der dämonische Spitzphilister, träte er hinein in diesen Kreis, dem er sonst unmaßgeblich beide Augen ausgekratzt haben würde, jetzt ihn nur im mindesten in Harnisch bringen, seine sanfte, süße Ruhe verstören dürfte?

Über Lob und Tadel, über alle Anfeindungen, alle Foppereien, allen neckhaften Spott und Hohn, über allen widrigen Spuk des Lebens ist unser herrlicher Muzius erhaben, er hat kein anmutiges Lächeln, keine feurige Umarmung, keinen biedern Pfotendruck mehr für den Freund, aber auch keine Krallen, keine Zähne mehr für den Feind! – Er ist vermöge seiner Tugenden zu der Ruhe gelangt, der er im Leben vergebens nachgestrebt! – Zwar will es mich beinahe bedünken, daß wir alle, so wie wir hier zusammen sitzen und heulen um den Freund, zu der Ruhe kommen würden, ohne gerade so ein Ausbund von aller Tugend zu sein als er, und daß es wohl noch ein anderes Motiv geben müsse, tugendhaft zu sein, als gerade die Sehnsucht nach dieser Ruhe, indessen ist das nur solch ein Gedanke, den ich euch zu fernerer Bearbeitung überlasse. – Soeben wollte ich euch ans Herz legen, euer ganzes Leben vorzüglich dazu anzuwenden, um so schön sterben zu lernen als Freund Muzius, indessen will ich es lieber nicht tun, da ihr mir so manches Bedenkliche entgegensetzen könntet. Ich meine nämlich, daß ihr mir einwenden dürftet, der Verewigte hätte auch lernen sollen, behutsam zu sein und Fuchseisen zu vermeiden, um nicht zu sterben vor der Zeit. Dann gedenke ich aber auch, wie ein sehr junger Katerknabe auf gleiche Ermahnung des Lehrers, daß der Kater sein ganzes Leben darauf verwenden müsse, um sterben zu lernen, schnippisch genug erwiderte, es könne doch so gar schwer nicht sein, da es jedem gelinge aufs erste Mal! – Laßt uns jetzt, hochbetrübte Jünglinge, einige Augenblicke stiller Betrachtung widmen!« –

(Hinzmann schwieg und fuhr sich wiederum mit der rechten Pfote über Ohren und Gesicht, dann schien er in tiefes Nachdenken zu versinken, indem er die Augen fest zudrückte. Endlich, als es zu lange währte, stieß ihn der Senior Puff an und sprach leise: »Hinzmann, ich glaube gar, du bist eingeschlafen. Mache nur, daß du fertig wirst mit deinem Sermon, denn wir verspüren alle einen desperaten Hunger.« Hinzmann fuhr in die Höhe, setzte sich wieder in die zierliche Rednerstellung und sprach weiter.)

»Teuerste Brüder! – Ich hoffte noch zu einigen erhabenen Gedanken zu gelangen und gegenwärtige Standrede glänzend zu schließen, es ist mir aber gar nichts eingefallen, ich glaube, der große Schmerz, den ich zu empfinden mich bemüht, hat mich ein wenig stupid gemacht. Laßt uns daher meine Rede, der ihr den vollkommensten Beifall nicht versagen könnet, für geschlossen annehmen und jetzt das gewöhnliche De oder Ex profundis anstimmen!« –

So endete der artige Katerjüngling seinen Trauersermon, der mir zwar in rhetorischer Hinsicht wohl geordnet und von guter Wirkung zu sein schien, an dem ich aber doch manches auszusetzen fand. Mir kam es nämlich vor, daß Hinzmann gesprochen, mehr um ein glänzendes Rednertalent zu zeigen, als den armen Muzius noch zu ehren nach seinem betrübten Hinscheiden. Alles, was er gesagt, paßte gar nicht recht auf den Freund Muzius, der ein einfacher, schlichter, gerader Kater und, ich hatte es ja wohl recht erfahren, eine treue, gutmütige Seele gewesen. Überdem war auch das Lob, das Hinzmann gespendet, von zweideutiger Art, so daß mir eigentlich die Rede hinterher mißfiel und ich während des Vortrags bloß durch die Anmut des Redners und durch seine in der Tat ausdrucksvolle Deklamation bestochen worden. Auch der Senior Puff schien meiner Meinung zu sein; wir wechselten Blicke, die, Hinzmanns Rede betreffend, von unserm Einverständnis zeugten.

Dem Schluß der Rede gemäß stimmten wir ein »De profundis« an, das womöglich noch viel jämmerlicher, viel herzzerschneidender klang als das entsetzliche Grabeslied vor der Rede. – Es ist bekannt, daß die Sänger von unserm Geschlecht den Ausdruck des tiefsten Wehs, des trostlosesten Jammers, mag nun die Klage wegen zu sehnsüchtiger oder verschmähter Liebe oder um einen geliebten Verstorbenen ertönen, ganz vorzüglich in der Gewalt haben, so daß selbst der kalte gefühllose Mensch von Gesängen solcher Art tief durchdrungen wird und der gepreßten Brust nur Luft zu machen vermag durch seltsames Fluchen. – Als das »De profundis« geendigt, hoben wir die Leiche des verewigten Bruders auf und senkten sie in ein tiefes, in einer Ecke des Kellers befindliches Grab.

In diesem Augenblick begab sich aber das Unerwartetste und zugleich anmutig Rührendste der ganzen Totenfeier. Drei Katzenmädchen, schön wie der Tag, hüpften heran und streuten Kartoffel- und Petersilienkraut, das sie im Keller gepflückt, in das offne Grab, während eine ältere ein einfaches, herziges Lied dazu sang. Die Melodie war mir bekannt, irre ich nicht, so fängt der Originaltext des Liedes, dem die Stimme untergeschoben, mit den Worten an: »O Tannenbaum! o Tannenbaum!« und so weiter. Es waren, wie mir der Senior Puff ins Ohr sagte, die Töchter des verstorbenen Muzius, die auf diese Weise des Vaters Trauerfest mit begingen.

Nicht das Auge abwenden konnte ich von der Sängerin; sie war allerliebst, der Ton ihrer süßen Stimme, selbst das Rührende, tief Empfundene in der Melodie des Trauerliedes riß mich hin ganz und gar; ich konnte mich der Tränen nicht enthalten. Doch der Schmerz, der mir sie auspreßte, war von ganz besonderer seltsamer Art, da er mir das süßeste Wohlbehagen erregte.

Daß ich es nur geradezu heraussage! – Mein ganzes Herz neigte sich der Sängerin hin, es war mir, als habe ich nie eine Katzenjungfrau erblickt von dieser Anmut, von diesem Adel in Haltung und Blick, kurz, von dieser singenden Schönheit. –

Das Grab wurde mit Mühe von vier rüstigen Katern, die so viel Sand und Erde herankratzten, als nur möglich, gefüllt, die Beerdigung war vorbei, und wir gingen zu Tische. Muzius' schöne liebliche Töchter wollten sich entfernen, das litten wir jedoch nicht, sie mußten vielmehr teilnehmen am Trauermahl, und ich wußte es so geschickt anzufangen, daß ich die Schönste zur Tafel führte und mich dicht neben ihr hinsetzte. Hatte mir erst ihre Schönheit geglänzt, hatte mich ihre süße Stimme bezaubert, so versetzte mich jetzt ihr heller klarer Verstand, die Innigkeit, die Zartheit ihres Gefühls, das rein weibliche fromme Wesen, das aus ihrem Innern hervorstrahlte, in den höchsten Himmel des Entzückens. Alles erhielt in ihrem Munde, in ihren süßen Worten einen ganz eigenen Zauberreiz, ihr Gespräch war ganz liebliche zarte Idylle. – So sprach sie zum Beispiel mit Wärme von einem Milchbrei, den sie wenige Tage vor des Vaters Tode nicht ohne Appetit genossen, und als ich sagte, daß bei meinem Meister solch ein Brei ganz vorzüglich bereitet würde, und zwar mit einer guten Zutat von Butter, da blickte sie mich an mit ihren frommen, grünstrahlenden Taubenaugen und fragte mit einem Ton, der mein ganzes Herz durchbebte: »O gewiß – gewiß, mein Herr? – Sie lieben auch den Milchbrei? – Mit Butter!« wiederholte sie dann, wie in schwärmerische Träume versinkend. – Wer weiß nicht, daß hübsche, blühende Mädchen von sechs bis acht Monaten (so viele konnte die Schönste zählen) nichts besser kleidet als ein kleiner Anstrich von Schwärmerei, ja daß sie dann oft ganz unwiderstehlich sind. So geschah es, daß ich, ganz in Liebe entflammt, die Pfote der Schönsten heftig drückend, laut rief: »Engelgleiches Kind! frühstücke mit mir Milchbrei, und es gibt keine Seligkeit des Lebens, gegen die ich mein Glück austausche!« – Sie schien verlegen, sie schlug errötend die Augen nieder, doch ließ sie ihre Pfote in der meinigen, welches die schönsten Hoffnungen in mir erregte. Ich hatte nämlich einmal bei meinem Meister einen alten Herrn, der, irre ich nicht, ein Advokat war, sagen gehört, es sei für ein junges Mädchen sehr gefährlich, ihre Hand lange in der Hand eines Mannes zu lassen, weil dieser es mit Recht für eine traditio brevi manu ihrer ganzen Person ansehen und allerlei Ansprüche darauf begründen könne, die dann nur mit Mühe zurückzuweisen. – Zu solchen Ansprüchen hatte ich nun aber große Lust und wollte eben damit beginnen, als das Gespräch durch eine Libation zu Ehren des Verstorbenen unterbrochen wurde. – Die drei jüngeren Töchter des hingeschiedenen Muzius hatten indessen eine frohe Laune, eine schalkhafte Naivität entwickelt, über die alle Kater entzückt waren. Schon durch Speise und Trank merklich dem Gram und Schmerz entnommen, wurde nun die Gesellschaft immer froher und lebendiger. Man lachte, man scherzte, und als die Tafel aufgehoben, war es der ernste Senior Puff selbst, welcher vorschlug, ein Tänzchen zu machen. Schnell war alles fortgeräumt; drei Kater stimmten ihre Kehlen, und bald sprangen und drehten sich Muzius' aufgeweckte Töchter mit den Jünglingen wacker herum.“

 

Zum Schluss

 

E.T.A. Hoffmann hat ein vielschichtiges Werk hinterlassen, das in vielerlei Hinsicht interpretierbar ist. Dafür, dass er die Menschheit nicht „belehren“ oder sie zum Besseren führen wollte, hat er doch einiges dafür getan.

Kaum einer kannte die Menschen besser als er, kaum einer hat sie besser beschrieben. Trotzdem er sich völlig aus der Politik raushielt, ist in seinen Werken viel Zeitnahes zu finden, etwa die Faszination der technischen Entwicklungen oder die Fortschritte der Psychologie, die begeisterten, aber auch Angst machten.

Jeder Mensch hat seine eigene Sichtweise und seine eigenen Interessen und jeder sieht E.T.A. Hoffmann anders. So fällt die Schilderung des Polizeistaats im „Fräulein von Scuderi“ außer dem Wurm kaum einem anderen auf.

So ist jeder dazu eingeladen, E.T.A. Hoffmann für sich selbst zu entdecken.

Unabhängig von seinen Schriften und sonstigen künstlerischen Aktivitäten hat er vor allem als Mensch Großartiges geleistet, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/551-aktualitaet-eines-voellig-unpolitischen-voellig-toten.html

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm

 

 

Das Böse verlachen

- Satire, Realsatire, ernst Gemeintes -

 

25. Juni – Wochenkommentar von Ferdinand Wegscheider

"Bitte Deckel auf den Topf!" - Im neuen Wochenkommentar geht es heute um das überraschende Aus für die Impfpflicht und wir ziehen Bilanz über die wirksamen EU-Sanktionen gegen Russland!

https://www.servustv.com/aktuelles/v/aagjcunt7cnr077wzgt7/

 

Politiker Duell | Wir haben 100 Leute gefragt | Strippenzieher

https://test.rtde.tech/programme/strippenzieher/141782-politiker-duell-wir-haben-100/

 

„Gepard ist kein Panzer“ – Lambrecht blamiert sich bei Auftritt im Bundestag

https://www.youtube.com/watch?v=yCUuh5bINwM

 

Meilenstein

https://www.youtube.com/watch?v=OoRdgR5KpHw

 

PRÄSIDENT JOE BIDEN DEFINIERT DIE USA MIT EINEM WORT/PRESIDENT JOE BIDEN DEFINES THE USA IN ONE WORD

https://www.bitchute.com/video/IQbydL1xAi6w/

 

SERDAR SOMUNCU LIEST LINIENTREUEN SYSTEMLING FLORIAN SCHROEDER ZUM THEMA UKRAINE-KRIEG DIE LEVITEN

https://www.bitchute.com/video/1mKANubIDAZm/

 

weil Panik - #dankefüralles

https://www.youtube.com/watch?v=khs_VaNFzHg

 

Geburtstagszwerg / Steimles Aktuelle Kamera / Ausgabe 70

https://www.youtube.com/watch?v=HLF-qERoBc8

 

HallMack Habeck & Scholz haben gelogen

https://www.frei3.de/post/49bdea61-8442-4940-9071-270045c2b3e2

 

HallMack Hashtag #HabeckRuecktritt

https://www.frei3.de/post/54a50227-e362-4e1e-a33d-e94238dc9310