Bertrand Russell: Denken

Mit dem Tod des Dritten Earl Russell (oder Bertrand Russells, wie er sich lieber nannte) im Alter von neunzig Jahren ist ein Bindeglied mit einer sehr fernen Vergangenheit gelöst worden. Sein Großvater, Lord John Russell, Premierminister unter Königin Viktoria, besuchte Napoleon auf Elba; seine Großmutter mütterlicherseits war mit der Witwe des jungen Thronprätendenten befreundet. In seiner Jugend schuf er bedeutende Werke auf dem Gebiet der mathematischen Logik, aber seine exzentrische Haltung während des ersten Weltkrieges verriet einen Mangel an ausgeglichenem Urteil, der seine späteren Schriften in zunehmendem Maße beeinträchtigte. Vielleicht geht dies wenigstens teilweise auf die Tatsache zurück, daß er der Vorteile einer Public School-Erziehung nicht teilhaftig, sondern bis zum Alter von achtzehn Jahren von Hauslehrern unterrichtet wurde. Dann trat er in das Trinity College zu Cambridge ein, wurde 1893 in der mathematischen Abschlußprüfung Siebenter und 1895 Fellow. In den nächsten fünfzehn Jahren schrieb er die Bücher, die sein Ansehen in der gelehrten Welt begründeten: „Die Grundlagen der Geometrie“, „Die Philosophie des Leibniz“, „Die Grundsätze der Mathematik“ und (in Zusammenarbeit mit Dr. A. N. Whitehead) „Principia Mathematica“. Dieses letzte, seinerzeit bedeutende Werk verdankte zweifellos seine Vorzüge zum großen Teil Dr. (später Professor) Whitehead, einem Mann, der, wie seine folgenden Schriften zeigten, jene Einsicht und geistige Tiefe besaß, die Russell so fühlbar abging; denn Russells Beweisführung, obzwar klug und gewandt, ignorierte jene Ueberlegungen, die über die bloße Logik hinausgehen.

Dieser Mangel an geistiger Tiefe trat im ersten Weltkrieg peinlich zutage, als Russell, der zwar (um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen) nie das Belgien angetane Unrecht beschönigte, verstockt darauf bestand, daß der Krieg ein Uebel sei und es das Ziel der Staatskunst hätte sein müssen, den Krieg so bald als möglich zu beenden, Was durch die britische Neutralität und einen deutschen Sieg erreicht worden wäre. Man muß annehmen, daß seine mathematischen Studien ihn zu einer falschen quantitativen Anschauung bewogen hatten, welche die prinzipielle Frage, um die es ging, außer Acht ließ. Den ganzen Krieg hindurch bestand er auf dessen Beendigung ohne Rücksicht auf die Bedingungen. Trinity College entzog ihm sehr zu Recht seine Professur, und 1918 verbrachte er sogar einige Monate im Gefängnis.

Im Jahre 1920 stattete er Rußland, dessen Regierung ihm keinen günstigen Eindruck machte, einen kurzen Besuch ab; einen längeren machte er China, wo er an dem Rationalismus der traditionellen Zivilisation mit dem ihm immer noch anhaftenden Nachgeschmack des achtzehnten Jahrhunderts viel Gefallen fand. In den folgenden Jahren verzettelte er seine Arbeitskraft mit Schriften, in denen er für Sozialismus, Erziehungsreform und einen weniger strengen Moralkodex hinsichtlich der Ehe eintrat. Von Zeit zu Zeit jedoch kehrte er zu weniger aktuellen Themen zurück. In seinen historischen Schriften täuschen Stil und Geist den oberflächlichen Leser über den seichten, veralteten Rationalismus hinweg, zu dem er sich bis zu seinem Ende bekannte.

Am zweiten Weltkrieg nahm er keinen öffentlichen Anteil, da er knapp vor Kriegsausbruch in ein neutrales Land entkommen war. In Privatgesprächen pflegte er zu sagen, daß mordgierige Verrückte ganz recht daran täten, einander zu töten, vernünftige Leute ihnen aber dabei aus dem Wege gingen. Glücklicherweise ist diese Haltung, die an Bentham erinnert, heute selten geworden. Wir anerkennen wieder den Wert des Heldentums, der mit dem Nutzen nichts zu tun hat. Zwar liegen weite Gebiete der einstigen zivilisierten Welt in Trümmern; aber kein Rechtdenkender kann zugeben, daß jene, die in dem großen Ringen für das Recht ihr Leben gaben, umsonst gefallen sind.

Sein Leben war trotz all seiner Unberechenbarkeit von einer gewissen anachronistischen Folgerichtigkeit, ähnlich der der aristokratischen Rebellen des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Seine Prinzipien waren seltsam; aber wie sie auch waren, er handelte danach. Im Privatleben zeigte er keine Spur der Herbheit, die seine Schriften beeinträchtigt, sondern war ein anregender Gesellschafter und es mangelte ihm nicht an menschlicher Sympathie. Er hatte viele Freunde, überlebte sie aber fast alle. Dennoch schien er denen, die ihm verblieben, im Alter voll heiterer Freude, die er zweifellos zum Teil seiner unverwüstlichen Gesundheit verdankt, denn politisch stand er in seinen letzten Jahren so allein wie Milton nach der Restauration. Er war der letzte Ueberlebende einer versunkenen Epoche.“

Seinen eigenen Nachruf schrieb Bertrand Russell im Jahr 1937. Tatsächlich starb er im Alter von 97 Jahren am 2. Februar 1970, also vor genau 50 Jahren.

Ein Grund für den Wurm, sich mit ihm näher auseinanderzusetzen.

 

Über Bertrand Russell

 

Rudolf Walter Leonhardt im Vorwort zu „Bertrand Russell sagt seine Meinung“: „Sein Ruf als eminentester Philosoph unserer Zeit hat in Deutschland das schwächste Echo gefunden. Hier wurde an diesen Platz Sartre gestellt - und nicht Camus, der Russell näher gelegen hätte. Oder Wittgenstein, der so viel von Russell gelernt hat, während es Russell nicht gegeben war, von Wittgenstein zu lernen. Oder Heidegger und Jaspers von den einen, Adorno und Horkheimer von den anderen - alle vier Bertrand Russell recht fremd.

Auch mit Herbert Marcuse hätte Russell nichts anfangen können. Ludwig Marcuse hätte ihn schon eher interessiert. Er hat von dem einen wie von dem anderen kaum etwas gelesen.“

Die Aufzählung der deutschen Philosophen macht eines deutlich. Der Wurm fragt seine Leser, wer schon Werke von Wittgenstein, Heidegger, Jaspers, Adorno, Horkheimer oder Marcuse gelesen hat. Oder gerne lesen würde.

Es dürften nur wenige sein. Vor allem deshalb, weil diese Herren nur schwer, wenn überhaupt, lesbar sind. Es interessiert sie wohl auch kaum, von einfacheren Menschen gelesen und verstanden zu werden.

Sofern es nicht in die Tiefen der Philosophie geht, ist das der große Unterschied zu Bertrand Russell: er ist leicht les- und verstehbar, er legt Wert darauf, auch von interessierten Laien verstanden zu werden, ist stellenweise sogar amüsant zu lesen und ist massiv politisch engagiert.

Der Wurm möchte diesen bedeutenden (und beinahe vergessenen) Denker gerne zu Wort kommen lassen. Wer sich auf ihn einlässt, sollte sich gleich etwas zu schreiben zur Seite legen: der Mensch hat Gutes und Vieles zu sagen, das bei der Fülle seiner Gedanken schnell in Vergessenheit geraten kann.

Weiter mit Rudolf Walter Leonhardt: „Nicht anders zu verstehen sind „Die zehn Gebote eines Liberalen", die Russell am 16. Dezember 1951 in der „New York Times“ veröffentlichte unter dem Titel „Die beste Antwort auf Fanatiker: Liberalismus".

1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiß.

2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht.

3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern, denn das würde dir gewiß gelingen.

4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehegatte oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit Autorität, denn ein Sieg, der von Autorität abhängt, ist unrealistisch und illusionär.

5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Falle auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind.

6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich.

7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heute gängige Meinung war einmal exzentrisch.

8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung, denn wenn dir Intelligenz soviel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im erstgenannten eine tiefere Zustimmung als im letzgenannten.

9. Befleißige dich peinlich der Wahrheit, selbst dann, wenn sie nicht ins Konzept paßt; denn es paßt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.

10. Beneide nicht das Glück derer, die in einem Narrenparadies leben, denn nur ein Narr kann das für Glück halten.

Mit Philosophie in einem engeren Sinne haben solche Maximen nicht mehr viel zu tun. Aber es ist nicht nur Russells Charme, es ist auch seine Stärke, daß er jene „Philosophie im engeren Sinne" zwar beherrscht (daran ist nicht zu zweifeln), aber daß von seinen Büchern sich allenfalls ein Zehntel mit Philosophie im engeren Sinne beschäftigt. Auch das hat er mit John Stuart Mill gemeinsam.

Von Philosophen kann man daher hören, Bertrand Russell sei ein ausgezeichneter Mathematiker gewesen; während Mathematiker es vorziehen, ihn einen interessanten Philosophen zu nennen.

Wenn einer fast hundert Jahre gelebt und an die siebzig Bücher geschrieben hat, dann läßt sich mit ihm und durch ihn beinahe alles beweisen und auch das Gegenteil davon. Der Biograph Russells wird es da so schwer haben wie der Biograph Shakespeares oder Goethes. Zur Zeit neigen die Interpreten dazu, Russell beim Wort (bei ein paar hundert von ein paar Millionen Worten) zu nehmen und sieben oder acht deutlich voneinander absetzbare „Schaffensperioden" mit wechselnden Interessen und Überzeugungen festzustellen; der liberal-konservative lmperialist bis 1901; der apolitische Mathematiker bis 1914; der radikale Pazifist bis1926; der Bestseller-Autor von „On Education" (1926) bis zu „The Conquest of Happiness" (1930); der arrivierte Earl (1931), O.M. (1949) und Nobelpreisträger (1950), der seinen Frieden gemacht hat mit dem Establishment - mit einem weniger friedlichen Zwischenspiel in Amerika (1938/44); der radikale Atomwaffengegner und Ostermarschierer.

Oder so ähnlich.

Ich halte das für falsch. Ich neige zu der Dreiteilung: Russell noch nicht ganz er selber (bis 1901); er selber (1901 – 1960); immer weniger er selber (1960 - 1970).

Bertrand Russell in seinem Vorwort zu „Unpopuläre Betrachtungen“: „Die meisten der folgenden Essays, die zu verschiedenen Zeiten während der letzten fünfzehn Jahre entstanden sind, wollen auf die eine oder andere Art ankämpfen gegen den zunehmenden Dogmatismus der Rechten wie der Linken, der unserem tragischen Jahrhundert bisher seinen Stempel aufgedrückt. hat. Diese ernste Absicht beseelt sie auch, wenn sie ab und zu leichtfertig scheinen, denn man kann die Feierlichkeit und Würde der Hohenpriester nicht mit noch größerer Feierlichkeit und Würde erfolgreich bekämpfen.

Ein Wort zum Titel. Im Vorwort zu meinem Buche „Menschliches Wissen“ habe ich erklärt, ich schriebe nicht nur für Philosophen vom Fach, und „die wirkliche Philosophie handelt von Dingen, die für jeden Gebildeten von Interesse sind“. Rezensenten zogen mich dafür zur Verantwortung, behaupteten, sie fänden einige Abschnitte meines Buches schwierig, und gaben zu verstehen, meine Worte seien geeignet gewesen, Käufer irrezuführen. Ich will mich diesem Vorwurf kein zweites Mal aussetzen und daher gestehen, daß der vorliegende Band mehrere Sätze enthält, die ungewöhnlich begriffstutzige Kinder von zehn Jahren vielleicht ein wenig in Verwirrung bringen könnten. Aus diesem Grunde will ich nicht behaupten, die vorliegenden Essays seien populär, und wenn schon nicht populär, dann eben „unpopulär“.“

 

Philosophie

 

Was ist Philosophie? (im Gespräch mit Woodrow Wyatt)

 

Wozu ist Philosophie gut?

Ich glaube, Philosophie hat in Wirklichkeit einen doppelten Nutzen. Der eine besteht darin, die Spekulation über Dinge lebendig zu erhalten, die der wissenschaftlichen Erkenntnis noch nicht zugänglich sind; schließlich umfaßt die wissenschaftliche Erkenntnis nur einen sehr kleinen Teil der Dinge, die die Menschheit interessieren und interessieren sollten. Es gibt sehr viele Dinge von größtem Interesse, über die die Wissenschaft, jedenfalls gegenwärtig, wenig weiß, und ich möchte nicht, daß die Phantasie der Menschen sich auf das beschränkt und davon begrenzt wird, was heute gewußt werden kann. Ich glaube, einer der Nutzen der Philosophie besteht darin, im hypothetischen Bereich unsere mit Hilfe der Phantasie geschaffene Weltansicht zu erweitern.

Aber es gibt noch einen anderen Nutzen, den ich für gleich wichtig halte, nämlich zu zeigen, daß es Dinge gibt, die wir zu wissen glaubten und doch nicht wissen. Einerseits soll uns die Philosophie dazu anhalten, über Dinge nachzudenken, die wir vielleicht einmal erkennen werden, und andererseits soll sie uns dazu anhalten, in aller Bescheidenheit zuzugeben, wieviel von dem, was Wissen zu sein scheint, keineswegs Wissen ist.

Können Sie uns mit einigen Beispielen veranschaulichen, über welche Themen Spekulationen angestellt worden sind, die später zu greifbaren Ergebnissen geführt haben?

Ja. Das ist ganz leicht, besonders aus der griechischen Philosophie. Die Griechen ersannen eine ganze Menge Hypothesen, die sich später als wertvoll herausstellten, die aber zu ihrer Zeit nicht nachgeprüft werden konnten. Nehmen wir beispielsweise die Atom-Hypothese. Demokrit (470-360 v. Chr.) stellte die Atomhypothese auf, daß die Materie aus winzigen Atomen besteht, und nach mehr als zweitausend Jahren stellte sich.heraus, daß dies die richtige wissenschaftliche Ansicht war,zu seiner Zeit aber war es bloß eine Vermutung.Oder, als weiteren Fall, nehmen wir Aristarch (310-230 v.Chr.). Aristarch war der erste Mensch, der vermutete, daß die Erde sich um die Sonne bewege, und nicht die Sonne um die Erde, und daß die scheinbare Drehung des Himmels an jedem Tag auf die Erdumdrehung zurückgehe. Dies blieb eine nahezu begrabene und vergessene These bis zur Zeit des Kopernikus (1473-1543) zweitausend Jahre später. Kopernikus aber hätte wahrscheinlich nie daran gedacht, hätte es nicht Aristarch gegeben.

Wie kommt so etwas zustande - durch eine Art Intuition?

Ach nein. Die Menschen, die zuerst diese Hypothesen ausdenken, können nicht sagen: „Dies ist die Wahrheit" - sie können nur sagen: „Dies könnte vielleicht die Wahrheit sein." Und wenn man eine gute wissenschaftliche Phantasie hat, kann man sich alle möglichen Dinge ausdenken, die wahr sein könnten, und darin besteht das Wesen der Wissenschaft. Zuerst denkt man an etwas, das wahr sein könnte - und dann sieht man nach, ob es der Fall ist, und im allgemeinen ist es nicht der Fall ...

In welche Richtung geht die Philosophie heute?

Nun, da muß man zwischen den Englisch sprechenden Ländern und den europäischen Kontinentalländern unterscheiden. Die Richtungen sind viel verschiedener, als es früher der Fall zu sein pflegte. Sehr sogar. In den Englisch sprechenden Ländern und besonders in England gibt es eine neue Philosophie, die nach meiner Meinung aus dem Wunsch entstanden ist, für die Philosophie ein eigenes Gebiet zu finden. Nach dem, was ich vor einem Augenblick gesagt habe, kann es scheinen, als sei die Philosophie nur eine unvollständige Wissenschaft; und es gibt Menschen, die damit nicht einverstanden sind. Sie wollen, daß die Philosophie ein eigenes Gebiet für sich hat. Dies führte zu dem, was man linguistische Philosophie nennen könnte, in der für den Philosophen die wichtige Sache nicht ist, Fragen zu beantworten, sondern die Bedeutung der Fragen ganz klar zu machen. Ich kann dieser Ansicht nicht zustimmen, ich kann Ihnen aber ein Beispiel geben. Ich radelte einmal nach Winchester, kam vom Wege ab, ging in einen Dorfladen und sagte, „Können Sie mir den kürzesten Weg nach Winchester sagen?" Der Mann, den ich fragte, rief einem Mann in einem Hinterzimmer, den ich nicht sehen konnte, zu, „Ein Herr möchte den kürzesten Weg nach Winchester wissen." Und eine Stimme kam zurück, „Winchester?" – „Ja" – „Kürzester Weg?" – „Ja" – „Weiß nicht." Und so mußte ich ohne irgendeine Auskunft weiterfahren. Nun, das ist es, was die Oxfordphilosophie empfiehlt.

Sie meinen, die Frage richtig stellen und sich nie um die Antwort kümmern?

Ja. Es ist die Sache eines anderen, die Antwort zu geben.

Wie unterscheidet sich das von der heutigen kontinentalen Einstellung?

Die kontinentale Einstellung ist - nun - weniger blutleer. Ich halte auch sie nicht für richtig.Aber in einem gewissen Sinne ist sie weniger blutleer und ähnelt vielmehr der Philosophie vergangener Zeiten. Es gibt verschiedene Arten von Philosophie, die auf Kierkegaards Hochachtung für den Existenzialismus zurückgehen, und dann gibt es Philosophien, deren Sinn darin besteht, Argumente für die traditionelle Religion zu liefern. Es gibt da verschiedenerlei. Ich selbst glaube nicht, daß irgend etwas davon sehr wichtig ist.“

 

Philosophie für Laien

 

„Seit es zivilisierte Gemeinschaften gibt, steht die Welt zwei verschiedenen Problemen gegenüber. Einerseits galt es, sich die Naturkräfte dienstbar zu machen, sich das Wissen und die Geschicklichkeit anzueignen, die erforderlich sind, Werkzeuge und Waffen herzustellen und die Natur bei der Hervorbringung von Nutztieren und Nutzpflanzen zu unterstützen. Dies Problem ist heute Aufgabe der Wissenschaft und Technik, und die Erfahrung hat gezeigt, daß man zur Bewältigung dieser Aufgabe eine große Anzahl ziemlich einseitiger Spezialisten heranbilden muß.

Es gibt aber ein zweites Problem, das nicht so klar umrissen ist und von gewissen Leuten irrigerweise als unerheblich betrachtet wird, nämlich die Frage, wie wir unsere Herrschaft über die Naturkräfte am nutzbringendsten anwenden sollen. Darunter fallen so brennende Streitfragen wie Demokratie oder Diktatur, Kapitalismus oder Sozialismus, Weltstaat oder Weltanarchie, freies Denken oder autoritäres Dogma. Auf diese Fragen kann aus den Laboratorien keine gültige Antwort kommen. Der Wissenszweig, der zu ihrer Lösung am meisten beitragen kann, ist eine umfassende Gesamtüberschau über das menschliche Leben in Vergangenheit und Gegenwart, und eine Einsicht in die tieferen Ursachen von Glück oder Unglück, wie sie die Geschichte zeigt. Man wird dann finden, daß unsere gesteigerten Fertigkeiten von selbst in keiner Weise Glück oder Wohlbefinden der Menschheit gesteigert haben. Als man zum ersten Mal den Boden bebauen lernte, nützte man dies Wissen zur Einführung eines grausamen Kults mit Menschenopfern.

Die Menschen, die als erste das Pferd zähmten, verwendeten es; zur Ausplünderung und Versklavung friedliebender Völker. Als die Industrielle Revolution noch in den Kinderschuhen steckt; zeitigte die Erfindung der maschinellen Erzeugung von Baumwollwaren schreckliche Ergebnisse: Jeffersons Bewegung zur Sklavenbefreiung in Amerika, die unmittelbar vor dem Sieg stand, brach zusammen; in England nahm die Kinderarbeit entsetzlich grausame Formen an; in Afrika förderte man den brutalen Imperialismus, in der Hoffnung, die Schwarzen zum Tragen von Baumwollkleidung zu bewegen. In unserer eigenen Zeit hat eine Verbindung wissenschaftlichen Genies und technischer Fertigkeit die Atombombe geschaffen; nun wir sie aber haben, wissen wir mit ihr nichts anzufangen. Diese Beispiele aus ganz verschiedenen Geschichtsabschnitten beweisen, daß uns mehr als nur technische Fertigkeit not tut; etwas, das man vielleicht «Weisheit» nennen darf. Sie muß, wenn sie überhaupt erlernbar ist, auf anderen Wegen erlernt werden als durch technisches Studium. Und sie ist heute nötiger denn je zuvor, weil bei dem atemberaubenden Fortschritt der Technik unsere hergebrachte Denk- und Handlungsweise weniger am Platz ist als jemals in der Geschichte.

„Philosophie“ heißt „Liebe zur Weisheit“, und Philosophie in diesem Sinne müssen wir uns aneignen, sollen nicht die neuen, von den Technikern entfesselten und gewöhnlichen Sterblichen zur Nutzung und Handhabung überantworteten Kräfte die Menschheit in eine entsetzliche Katastrophe stürzen. Aber die Philosophie, die einen Teil der Allgemeinbildung ausmachen sollte, ist nicht identisch mit der der Philosophen vom Fach. Nicht nur in der Philosophie, sondern auf allen akademischen Wissensgebieten unterscheidet man zwischen kulturell Wertvollem und reinem Fachwissen. Historiker mögen den Ausgang von Sennacheribs erfolgloser Expedition 689 v. Chr. diskutieren; die Nichthistoriker aber brauchen den Unterschied zwischen dieser und seinem erfolgreichen Zug drei Jahre früher nicht zu kennen. Gräzisten vom Fach mögen eine umstrittene Lesart in einem Aeschylusdrama mit Gewinn erörtern, aber solche Dinge sind nicht für einen, der neben einem arbeitsreichen Alltag zu einem gewissen Verständnis der Errungenschaften der Griechen gelangen will. In ähnlicher Weise müssen die Männer, die ihr Leben der Philosophie widmen, sich mit Fragen auseinandersetzen, die der gebildete Laie mit Recht ignoriert, wie z. B. den Unterschieden in der Universalientheorie bei Thomas v. Aquin und Duns Scotus, oder den Merkmalen, die eine Sprache besitzen muß, soll sie, ohne sinnlos zu werden, ein Ausdrucksmittel über sich selbst sein. Solche Fragen gehören zur rein fachlichen Seite der Philosophie, und ihre Erörterung hat an dem Beitrag der Philosophie zur Allgemeinkultur keinen Teil.

Die akademische Erziehung sollte darauf abzielen, als Gegengewicht zur Spezialisierung, die mit der Zunahme unseres Wissens unvermeidlich geworden ist, soviel von den kulturell wertvollen Aspekten des Geschichts-, Literatur- und Philosophiestudiums zu vermitteln, als die Zeit erlaubt. Es muß einem jungen Menschen, der nicht Griechisch kann, leicht gemacht werden, durch Übersetzungen ein gewisses, wenn auch unvollkommenes Verständnis dessen zu erwerben, was die Griechen geleistet haben. Statt in der Schule immer wieder die angelsächsischen Könige durchzunehmen, sollte man versuchen, eine Gesamtüberschau der Weltgeschichte zu bringen und die Probleme unserer Zeit mit denen ägyptischer Priester, babylonischer Könige und athenischer Reformer in Beziehung zu setzen; ebenso auch mit all den Hoffnungen und Verzweiflungsausbrüchen der dazwischenliegenden Jahrhunderte. Allein mein Gegenstand ist ausschließlich die Philosophie, die ich nun von diesem Standpunkt aus behandeln will.

Die Philosophie hat seit ihren frühesten Zeiten zwei verschiedene Ziele gehabt, die man für eng verschwistert hielt. Das eine war ein theoretisches Verständnis des Aufbaus der Welt, das andere, die beste Lebenshaltung zu entdecken und zu predigen. Von Heraklit bis zu Hegel, ja selbst bis zu Marx behielt sie diese beiden Ziele ständig im Auge; sie war weder rein theoretisch noch rein praktisch, sondern strebte nach einer Theorie des Universums, um eine praktische Ethik darauf zu gründen.

So stand die Philosophie in enger Beziehung einerseits zur Wissenschaft, andrerseits zur Religion. Betrachten wir zuerst ihr Verhältnis zur Wissenschaft. Diese war bis zum achtzehnteri Jahrhundert in dem, was man gemeinhin „Philosophie“ nannte, inbegriffen; seit damals aber ist das Wort „Philosophie“ in seiner theoretischen Bedeutung auf die abstraktesten und allgemeinsten Gebiete der wissenschaftlichen Disziplinen beschränkt. Es heißt oft, die Philosophie mache keine Fortschritte. Allein das ist ein bloßer Streit um Worte: sobald man nämlich über eine alte Streitfrage endgültig Sicherheit gewonnen hat, wird dies neue Wissen der „Wissenschaft“ zugerechnet und so die Philosophie der ihr gebührenden Anerkennung beraubt. Bei den Griechen und bis herauf zu Newton gehörte die Theorie der Planeten zur „Philosophie“, weil sie unsicher und abstrakt war; Newton aber entzog diese Disziplin dem freien Meinungsstreit und machte sie zu einer neuen, die nun eine andere Art der Vorbildung erforderte als damals; als sie noch grundsätzlichen Zweifeln unterlag. Eine Evolutionstheorie besaß schon Anaximander im sechsten Jahrhundert v. Chr.; er verfocht die Abstammung des Menschen von Fischen. Das war Philosophie; war es doch bloße Spekulation, die ausführlichen Beweismaterials entbehrte. Darwins Evolutionstheorie hingegen war Wissenschaft, beruhte sie doch auf der Aufeinanderfolge von Lebensformen, wie man sie in Fossilien vorfand, und auf der Verteilung von Tieren und Pflanzen in vielen Weltgegenden. Man könnte sogar, nicht ganz zu Unrecht, scherzen: „Wissenschaft ist, was wir wissen; Philosophie, was wir nicht wissen.“ Man sollte aber hinzufügen, daß die philosophische Spekulation über das, was wir noch nicht wissen, sich als wertvolle Vorstufe exakter Wissenschaft erwiesen hat. Die Vermutungen der Pythagoreer über Astronomie, von Anaximander und Empedokles über biologische Evolution, und von Demokrit über den atomistischen Aufbau der Materie lieferten den späteren Wissenschaftern Hypothesen, auf die sie ohne die Philosophen vielleicht nie verfallen wären. Wir dürfen sagen, daß die Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes wenigstens zum Teil in der Formulierung großzügiger, allgemeiner Hypothesen besteht, welche die Wissenschaft noch nicht überprüfen kann; wird es möglich, sie zu überprüfen, so werden sie, falls bestätigt, ein Teil der Wissenschaft und zählen nicht mehr als „Philosophie“.

Der Nutzen der Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes erschöpft sich nicht in Spekulationen, auf deren Bestätigung durch die Wissenschaft wir in absehbarer Zeit hoffen dürfen. Gewisse Leute sind von dem, was die Wissenschaft weiß, so beeindruckt, daß sie darüber vergessen, was sie nicht weiß; anderen wieder liegt so viel mehr an dem, was sie nicht weiß, daß sie ihre Errungenschaften schmälert. Jene, die glauben, die Wissenschaft sei alles, werden selbstzufrieden und siegessicher und schmähen jedes Interesse an Fragen, die nicht so klar umrissen und bestimmt sind, wie es die naturwissenschaftliche Behandlung erfordert. In der Praxis neigen sie zur Auffassung, daß Fachkenntnis den Platz der Weisheit einnehmen könne, und daß es „fortschrittlicher“ und daher besser sei, einander mit den letzten Errungenschaften der Technik zu töten, als einander mit altmodischen Mitteln am Leben zu erhalten. Andererseits verfallen die Verächter der Wissenschaft in der Regel irgendeinem althergebrachten und gefährlichen Aberglauben und weigern sich, den ungeheuren Fortschritt der Menschheit und die Hebung ihres Wohlstandes anzuerkennen, die Wissenschaft und Technik bei weiser Anwendung ermöglichen würden. Beide Geisteshaltungen sind beklagenswert; den richtigen Weg weist uns die Philosophie, indem sie uns das Ziel, zugleich aber auch die Grenzen der Wissenschaft klar vor Augen führt.

Wollen wir alle ethischen oder Wertfragen vorläufig beiseite lassen, so gibt es eine Anzahl rein theoretischer Fragen von ewigem und leidenschaftlichem Interesse, welche die Wissenschaft wenigstens zur Zeit nicht beantworten kann. Gibt es ein Leben nach dem Tod in irgendeiner Form, und wenn ja, ist es zeitlich begrenzt oder aber ewig? Kann der Geist über die Materie herrschen, oder beherrscht diese ihn gänzlich, oder ist vielleicht beiden ein gewisses Maß an Unabhängigkeit eigen? Hat das Universum einen Sinn, oder treibt es blinder Zwang? Oder ist es etwa ein bloßes Chaos, ein Durcheinander, in dem unsere vermeintlichen Naturgesetze nur die Auswüchse unserer eigenen Ordnungsliebe sind? Wenn es einen Schöpfungsplan gibt, kommt darin dem Leben mehr Bedeutung zu, als die Astronomie uns glauben machen will, oder ist unsere Ueberbetonung des Lebens bloße Engstirnigkeit und Selbstüberhebung? Ich kenne die Antwort auf diese Fragen nicht, glaube auch nicht, daß jemand anderer sie kennt; ich glaube aber, daß das menschliche Leben ärmer würde, wollte man sie vergessen oder sich mit eindeutigen Antworten ohne schlüssige Beweise zufriedengeben. Das Interesse an solchen Fragen wachzuhalten und die vorgebrachten Antworten kritisch zu prüfen, ist eine der Aufgaben der Philosophie.

Wer rasche Vergütung und genaue Abrechnung über geleistete Arbeit und Lohn liebt, wird unzufrieden sein mit einem Studium, das beim derzeitigen Stande unseres Wissens nicht zu sicheren Ergebnissen kommen kann und nur die vermeintlich zeitraubende fruchtlose Meditation über unlösbare Probleme fördert. Dieser Ansicht kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Irgendeine Philosophie ist allen Menschen, ausgenommen den ganz Gedankenlosen, Bedürfnis; bei mangelndem Wissen aber wird sie fast unvermeidlich eine törichte Philosophie sein. Daraus folgt die Aufspaltung der Menschheit in rivalisierende Gruppen von Fanatikern, deren jede überzeug ist, ihre eigene Spielart des Unsinns sei die heilige Wahrheit, die der Gegenseite aber fluchwürdige Ketzerei. Arianer und Katholiken, Kreuzfahrer und Moslems, Protestanten und Päpstliche, Kommunisten und Faschisten haben in den letzen 1600 Jahren weite Zeiträume mit nichtigen Streitigkeiten ausgefüllt, während doch ein wenig Philosophie beiden Parteien in allen diesen Auseinandersetzungen gezeigt hätte, daß keine von beiden sich mit Grund im Recht glaubte. Der Dogmatismus ist ein Feind des Friedens und eine unüberwindliche Schranke auf dem Wege zur Demokratie. Heute ist er zumindest ebensosehr wie früher das größte geistige Hindernis der menschlichen Glückseligkeit.

Das Verlangen nach Sicherheit ist dem Menschen eingeboren; dennoch ist es eine geistige Untugend. Unternimmt man mit seinen Kindern bei unsicherem Wetter einen Ausflug, so werden sie eine dogmatische Antwort verlangen, ob es heiter sein oder regnen wird, und sie werden von einem enttäuscht sein, wenn man es nicht sicher sagen kann. Dieselbe Art Versicherung verlangt man im späteren Leben von jenen, die sich erbötig machen, Völker ins Gelobte Land zu führen. „Liquidiert die Kapitalisten, und die Ueberlebenden werden die ewige Seligkeit genießen!“ „Rottet die Juden aus, und es werden nur Ehrenmänner übrig bleiben!“ „Tod den Kroaten! die Serben an die Macht!“ „Tod den Serben; die Kroaten an die Macht!“ Solcherart sind die Schlagworte, die in unserer Zeit bei den Massen weitgehend Anklang gefunden haben. Schon ein Quentchen Philosophie würde die bereitwillige Aufnahme solchen blutdürstigen Unsinns verhüten. Aber solang der Mensch nicht gelernt hat, bei Mangel an Beweisen mit seinem Urteil zurückzuhalten, wird er von selbstsicheren Propheten irregeführt werden, und seine Führer werden höchstwahrscheinlich ignorante Fanatiker oder aber betrügerische Scharlatane sein. Die Ungewißheit ist schwer zu ertragen; doch das gilt auch von den meisten übrigen Tugenden. Zur Aneignung jeder Tugend gibt es eine eigene Disziplin; die beste Disziplin, um sich Zurückhaltung im Urteil anzueignen, ist die Philosophie.

Soll jedoch die Philosophie einem positiven Zweck dienen, so darf sie nicht bloßen Skeptizismus lehren, denn so schädlich der Dogmatiker ist, so unnütz ist der Skeptiker. Dogmatismus und Skeptizismus sind beide in gewissem Sinne absolute Philosophien: der eine ist überzeugt von seinem Wissen, der andere von seinem Nichtwissen. Was die Philosophie beseitigen muß, ist die Gewißheit, sei es nun die des Wissens oder des Nichtwissens. Das Wissen ist kein so festumrissenes Konzept, wie man gewöhnlich meint. Anstatt zu sagen „Ich weiß das“, sollten wir sagen „Ich weiß etwas ziemlich sicher; es läuft ungefähr auf folgendes hinaus.“ Gewiß ist dieser Vorbehalt etwa hinsichtlich des Einmaleins kaum notwendig; aber das Wissen um praktische Dinge entbehrt nun einmal arithmetischer Gewißheit und Genauigkeit. Behaupte ich etwa „Demokratie ist gut“, so muß ich zunächst zugeben, daß ich das nicht so sicher weiß wie daß zwei mal zwei vier ist, und ferner, daß „Demokratie“ ein etwas unklarer Begriff ist, den ich nicht genau bestimmen kann. Daher sollten wir sagen: „Ich bin ziemlich sicher, daß es gut ist, wenn ein Regierungssystem einige jener Merkmale besitzt, die den Verfassungen Englands und Amerikas gemeinsam sind“, oder so ähnlich. Und eines unserer Lehr- und Bildungsziele sollte es sein, einer solchen Feststellung von der Rednertribüne aus mehr Wirkung zu sichern als dem üblichen politischen Schlagwort.

Denn die Erkenntnis, daß unser gesamtes Wissen mehr oder weniger unsicher und vag ist, genügt allein nicht; wir müssen zugleich lernen, nach der besten Hypothese zu handeln, ohne dogmatisch an sie zu glauben. Um noch einmal auf den Ausflug zurückzukommen: obwohl man zugibt, es werde vielleicht regnen, bricht man doch auf, wenn man schönes Wetter für wahrscheinlich hält, trägt jedoch auch der gegenteiligen Möglichkeit Rechnung, indem man Regenmäntel mitnimmt. Der Dogmatiker würde die Regenmäntel zuhause lassen. Dieselben Richtlinien gelten auch, wo es um wichtigere Dinge geht. Allgemein kann man sagen: alles, was als Wissen gilt, läßt sich nach Sicherheitsgraden einteilen; zuoberst stehen Arithmetik und die Tatsachen der Sinneswahrnehmung. Daß zweimal zwei vier ist, und daß ich in meinem Zimmer am Schreibtisch sitze, sind Aussagen, an denen jeder ernste Zweifel meinerseits pathologisch wäre. Fast ebenso sicher weiß ich, daß gestern schönes Wetter war; aber doch nicht ganz so sicher, denn das Gedächtnis spielt uns in der Tat zuweilen seltsame Streiche. Weiter zurückliegende Erinnerungen sind schon zweifelhafter, besonders dann, wenn gewichtige emotionale Gründe eine trügerische Erinnerung bedingen; solche, wie sie zum Beispiel Georg IV. glauben ließen, er habe die Schlacht bei Waterloo mitgemacht. Wissenschaftliche Gesetze können der Gewißheit sehr nahekommen oder aber nur eben wahrscheinlich sein, je nach dem Stande der Beweisführung.

Handelt man nach einer Hypothese, deren Unsicherheit man kennt, so hat man sein Handeln so einzurichten, daß es nicht allzu schlimme Folgen hat, wenn die Hypothese falsch ist. Im Falle unseres Ausflugs kann man es in Kauf nehmen, durchnäßt zu werden, wenn alle Teilnehmer gesund und kräftig sind, nicht aber, wenn einer davon so schwächlich ist, daß er Gefahr läuft, sich eine Lungenentzündung zuzuziehen. Oder nehmen wir an, Sie treffen einen Anhänger von Herrn Kannegießer. Sie werden ihn mit Recht in ein Wortgefecht verwickeln dürfen, denn der Schaden wird nicht groß sein, wenn Herr Kannegießer wirklich ein so großer Mann war, wie seine Jünger glauben. Sie würden aber Unrecht tun, ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen; denn das Uebel, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, ist sicherer als jede theologische Behauptung. Wären natürlich Kannegießers Anhänger so zahlreich und so fanatisch, daß es um Leben und Tod ginge, so würde die Frage schon schwieriger; doch unberührt davon bleibt der allgemeine Grundsatz, daß eine unsichere Hypothese nicht ein sicheres Uebel rechtfertigen kann, außer es wäre ein gleiches Uebel unter der gegenteiligen Annahme gleich sicher.

Wir sagten oben, die Philosophie habe sowohl ein theoretisches als auch ein praktisches Ziel. Es ist nun an der Zeit, uns dem letzteren zuzuwenden.

Bei den meisten Philosophen der Antike war eine Theorie des Universums eng verquickt mit einer Lehre, wie man sein Leben am besten einrichten solle. Einige von ihnen gründeten Bruderschaften, die eine gewisse Aehnlichkeit mit den späteren Mönchsorden aufwiesen. Sokrates und Plato entrüsteten sich über die Sophisten, weil diese keine religiösen Ziele verfolgten. Soll die Philosophie im Leben der Laien eine ernsthafte Rolle spielen, so darf sie nicht ablassen, für irgendeine Lebensführung einzutreten. Sie übernimmt damit eine Aufgabe, die früher die Religion erfüllte; doch mit gewissen Unterschieden. Der wichtigste ist, daß es hier keine Berufung auf die Autorität gibt, sei es die der Ueberlieferung oder eines heiligen Buches. Der zweitwichtigste ist, daß ein Philosoph nicht versuchen sollte, eine Sekte zu gründen; Auguste Comte versuchte es, sein Versuch schlug aber verdientermaßen fehl. Der dritte ist, daß man auf die geistigen Tugenden mehr Gewicht legen sollte, als man es seit dem Untergang der hellenischen Kultur gemeinhin tat.

Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Lehren der alten Philosophen und jenen, die unserer Zeit angemessen sind. Die alten Philosophen wandten sich an eine müßige Herrenschicht, die nach ihrem Gutdünken leben und, wenn es ihr beliebte, selbst eine unabhängige Stadt gründen konnte, mit Gesetzen, die der Niederschlag von ihres Meisters Lehren waren. Die überwältigende Mehrzahl der heutigen Gebildeten besitzt diese Freiheit nicht; sie müssen sich in dem gegebenen Rahmen der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt verdienen und können in ihrem Privatleben keine umwälzenden Neuerungen einführen, ohne vorher solche umwälzende Neuerungen in Politik und Wirtschaftsleben durchzusetzen. Daraus folgt, daß die ethische Ueberzeugung eines Menschen heute mehr auf der politischen Bühne und weniger im Privatleben zum Aus'druck kommen muß, als das im Altertum der Fall war. Und der Plan zu einer guten Lebensführung muß heute weniger ein individueller denn ein sozialer Plan sein. Als solchen hat ihn denn auch unter den Alten schon Plato im „Staat“ entworfen; aber viele von ihnen hatten eine mehr individualistische Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens.

Unter diesem Vorbehalt wollen wir nun sehen, was die Philosophie zur Ethik zu sagen hat.

Um mit den geistigen Tugenden zu beginnen: das Studium der Philosophie ist gegründet auf den Glauben, daß das Wissen ein Gutes ist, selbst wenn das, was man weiß, schmerzlich ist. Wer vom Geist der Philosophie durchdrungen ist - er sei Philosoph vom Fach oder nicht - wird wünschen, daß seine Ueberzeugungen so wahrheitsgetreu seien, als er sie nur gestalten kann, und wird das Wissen lieben, das Verweilen im Irrtum hassen. Dieser Grundsatz hat weitreichendere Folgen, als es zunächst scheinen möchte. Unsere Ueberzeugungen entspringen den verschiedensten Quellen: was uns Eltern und Lehrer in der Jugend erzählten, was mächtige Organisationen uns einreden, damit wir nach ihrem Willen handeln, was unsere Befürchtungen entweder verkörpert oder mildert, was unsere Selbstachtung hebt, und so weiter. Aus allen diesen Quellen kann uns durch Zufall die richtige Ueberzeugung kommen; wahrscheinlich aber werden sie uns in die entgegengesetzte Richtung führen. Daher wird uns nüchternes Denken zu einer genauen Ueberprüfung unserer Ueberzeugungen veranlassen, damit wir erkennen, welche von ihnen wir überhaupt mit Grund für wahr halten. Wenn wir klug sind, so werden wir diese befreiende Kritik besonders auf jene Ueberzeugungen anwenden, an denen zu zweifeln uns am schmerzlichsten ist, und auf jene, die uns am ehesten in gewaltsamen Konflikt mit Menschen bringen können, die gegenteiliger, aber ebenso unbegründeter Ansicht sind. Könnte diese Geisteshaltung Gemeingut werden, so würden wir geistigen Auseinandersetzungen ihre Hitze und Schärfe nehmen und daraus unschätzbaren Gewinn ziehen.

Eine zweite geistige Tugend ist die allgemeine Betrachtungsweise, die Unparteilichkeit. Ich empfehle hiezu folgendes Exempel: Wenn in einem Satz, der eine politische Ueberzeugung ausdrückt, Worte vorkommen, die in verschiedenen Lesern verschiedene, aber starke Gefühle wecken, so versuchen Sie, sie durch Buchstaben A, B, C, usw. zu ersetzen und dann nicht mehr an die jeweilige Bedeutung dieser Abkürzungen zu denken. Nehmen wir an, A sei England, B Deutschland und C Rußland. Solange Sie noch daran denken, was die Buchstaben bedeuten, wird Ihre Meinung über das Gelesene zum größten Teil davon abhängen, ob Sie Engländer, Deutscher oder Russe sind, was vom logischen Standpunkt aus ganz unerheblich ist. Wenn Sie in den Anfangsgründen der Algebra Beispiele rechnen über A, B und C, die einen Berg ersteigen, so nehmen Sie an den betreffenden Herren keinen gemütsmäßigen Anteil, und Sie tun am besten, die Lösung mit unpersönlicher Korrektheit zu erarbeiten. Würden Sie jedoch A mit sich selbst, B mit ihrem verhaßten Nebenbuhler und C mit dem Lehrer gleichsetzen, der die Aufgabe gestellt hat, so würde Ihre Rechnung durcheinandergeraten, und Sie würden zweifellos herausfinden, daß A der erste und C der letzte ist. Bei der Auseinandersetzung mit politischen Problemen ist diese gemütsmäßige Voreingenommenheit schlechthin unvermeidlich, und nur Sorgfalt und lange Uebung können Sie befähigen, darüber so objektiv zu denken wie über das Algebraexempel.

Das Denken in abstrakten Begriffen ist natürlich nicht der einzige Weg zur ethischen Unparteilichkeit. Sie läßt sich genau so gut, ja vielleicht sogar besser auf dem Wege der Nachempfindung verallgemeinerter Gefühle erreichen. Doch fällt dies den meisten Menschen schwer. Wenn Sie hungrig sind, so werden Sie sich, nötigenfalls auch unter großen Anstrengungen, Nahrung verschaffen; wenn aber Ihre Kinder hungrig sind, werden Sie vielleicht noch größere Anstrengungen machen. Wenn Ihr Freund dem Hungertode nahe ist, werden Sie sich wahrscheinlich bemühen, seine Not zu lindern. Wenn Sie aber hören, daß ein paar Millionen Inder oder Chinesen vom Tode durch Unterernährung bedroht sind, dann ist das Problem so ungeheuer und so fern, daß Sie es wahrscheinlich bald ganz vergessen, es sei denn, Sie tragen irgendeine amtliche Verantwortung dafür. Dennoch kann man bei entsprechender Veranlagung durch lebhafte Einfühlung die ethische Unvoreingenommenheit erwerben. Besitzt man diese ziemlich seltene Gabe nicht, so ist die Gepflogenheit, praktische Fragen nicht nur konkret, sondern auch abstrakt zu betrachten, der beste Ersatz.

Interessant sind die Beziehungen zwischen logischer und emotionaler Unvoreingenommenheit in der Ethik. Das Wort „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ predigt emotionale Unparteilichkeit; der Ausspruch „Ethische Vorschriften dürfen keine Eigennamen enthalten“ dringt auf logische Unparteilichkeit. Diese beiden Forderungen klingen sehr verschieden; prüft man sie aber, so wird man in ihrer praktischen Bedeutung kaum einen Unterschied finden. Wohlmeinende werden die überlieferte Form vorziehen, Logiker vielleicht die andere. Ich weiß nicht recht, welche dieser beiden Menschengattungen zahlreicher ist. Jedes der beiden Gebote würde, wenn die Staatsmänner sich dazu bekennten und die von ihnen vertretenen Völker sie annähmen, rasch zum Tausendjährigen Reich führen. Juden und Araber würden zusammenkommen und sich sagen: „Wir wollen zusehen, wie wir für uns beide zusammen das grüßtmögliche Gute erhalten können und nicht allzu kleinlich danach fragen, wie es zwischen uns verteilt wird.“ Offensichtlich würde jedem der beiden Völker weit mehr von dem zufallen, was zum Glücklichsein gehört, als jedes für sich allein heute bekommen kann. Dasselbe träfe auf Hindus und Moslems zu, auf die chinesischen Kommunisten und die Anhänger Tschiangkaischeks, auf Italiener und Jugoslawen, Russen und westliche Demokraten. Aber leider ist in allen diesen Auseinandersetzungen auf keiner Seite Logik oder Wohlwollen zu erwarten.

Man kann nicht verlangen, daß junge Leute, die sich eifrig wertvolles Fachwissen aneignen müssen, viel Zeit für das Studium der Philosophie erübrigen können. Aber selbst in der kurzen Zeit, die sich ohne Beeinträchtigung der Fachausbildung leicht erübrigen läßt, kann die Philosophie dem Studenten gewisse Dinge schenken, die ihn zu einem viel wertvolleren Menschen und Staatsbürger machen werden. Sie kann ihn an exaktes und sorgfältiges Denken gewöhnen, nicht allein in der Mathematik und den Naturwissenschaften, sondern auch in Fragen von weitreichender praktischer Bedeutung. Sie kann der Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens eine unpersönliche Weite und Tiefe verleihen. Sie kann dem Einzelnen einen gerechten Maßstab an die Hand geben für sich selbst im Verhältnis zur Gesellschaft, für das Verhältnis des heutigen Menschen zu seinen Vorgängern und Nachfahren, und für die ganze Menschheitsgeschichte im Verhältnis zum astronomischen Kosmos. Indem sie ihn groß denken lehrt, hilft sie ihm die Aengste und Nöte der Gegenwart überwinden und schenkt ihm soviel heitere Gelassenheit, als ein feinfühliger Mensch in unserer zerquälten und unsicheren Welt nur erringen kann.“

 

Philosophie des Abendlandes

 

Aus „Wikipedia“: „Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung (Originaltitel: A History of Western Philosophy, erschienen im Jahr 1945) von Bertrand Russell ist eine Einführung in die westliche Philosophie von den Vorsokratikern bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert. Die Philosophie des Abendlandes enthält neben den Ideen bedeutender Philosophen vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Zeit auch Russells eigene Gedanken und Interpretationen dieser Ideen …

Bertrand Russells „Geschichte der Philosophie“ ist eine köstliche Lektüre. Ich weiß nicht, ob man die köstliche Frische und Originalität oder die Sensitivität der Einfühlung in ferne Zeiten und fremde Mentalität bei diesem großen Denker mehr bewundern soll. Ich betrachte es als ein Glück, dass unsere so trockene und zugleich brutale Generation einen so weisen, ehrlichen, tapferen und dabei humorvollen Mann aufzuweisen hat. Es ist ein in höchstem Sinne pädagogisches Werk, das über dem Streite der Parteien und Meinungen steht.“ – Albert Einstein …

Stanisław Lem auf die Frage, welches Buch er auf eine einsame Insel mitnähme: „Eines? Nur eines? Wahrscheinlich wäre das eine sehr dicke, gewaltige Geschichte der Philosophie. Wenn ich Geschichte der Philosophie sage, habe ich nicht die beste, sondern eine konkrete im Sinn: die „History of Western Philosophy“ von Bertrand Russell. (...) Erstens ist das ein vorzügliches Werk, und zweitens ist sein Autor ein Mann, der seine Sympathie und Antipathie nicht verhehlt, der sie offen zum Ausdruck bringt, ja sogar soweit geht, dass er glatt mit Platon streitet ... dieses intensive Engagement an der ontischen, epistemologischen und auch moralischen Problematik berührt mich wirklich.““

https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_des_Abendlandes

Es gibt auch Menschen, die dieses Buch nicht mögen. Der Wurm gehört nicht dazu. Bertrand Russell zeigt auch hier, was ihn ausmacht: ein komplexes Thema einfach, aber mit Niveau darzustellen und sich zu erlauben, klar zu erkennen zu geben, wenn er etwas mag oder nicht mag.

 

Logicomix – Eine epische Suche nach Wahrheit

 

Apostolos Doxiadis und Christos H. Papadimitriou haben einen sehr schönen Comic gestaltet, an dem Bertrand Russell seine Freude gehabt hätte. Aus dem Klappentext: „Der Held und Suchende ist der brillante Mathematiker, Logiker und Philosoph Bertrand Russell. Schon in der Kindheit hatte er eine wahrhaft prometheische Idee: die Errichtung eines logischen Fundaments für die gesamte Mathematik.

Auf seiner Jagd nach absoluter Wahrheit trifft Russell auf legendäre Denker wie Gottlob Frege, David Hilbert und Kurt Gödel und findet einen leidenschaftlichen Schüler im großen Ludwig Wittgenstein. Dabei verliert er das Objekt seiner ihn bestimmenden Suche nie aus den Augen. Durch Liebe und Hass, Krieg und Frieden hält Russell an seiner Mission fest, die seine Karriere schließlich ebenso zu zerstören droht wie sein privates Glück – und ihn bis an den Rand des Wahnsinns führt.

Logicomix erzählt vom Ringen um die Lösung jener zeitlosen Fragen, die die Menschen seit ewigen Zeiten in Atem halten: vom im wahrsten Sinne des Wortes die Welt bewegenden Kampf zwischen unserer Vision von der Vernunft und dem Wahnwitz unserer Wirklichkeit.“

 

Religion

 

Religion (im Gespräch mit Woodrow Wyatt)

 

Haben Sie je religiöse Denkanstöße erlebt, Lord Russell?

Oh, ja. Als Jüngling war ich tief religiös. Ich interessierte mich mehr für Religion als irgend etwas anderes, ausgenommen vielleicht Mathematik. Und mein Interesse für Religion führte mich - was nicht oft der Fall zu sein scheint- zu der Frage,ob es einen Grund gab, an sie zu glauben. Ich stellte mir drei Fragen. Mir schien, daß Gott, die Unsterblichkeit und der freie Wille die drei wichtigstens Fragen seien, und ich untersuchte sie eine nach der anderen in umgekehrter Reihenfolge mit dem freien Willen beginnend, und allmählich gelangte ich zu dem Schluß, daß es keinen Grund gab, an eine von ihnen zu glauben. Ich meinte, daß ich nun sehr enttäuscht sein würde, aber merkwürdigerweise war dies nicht der Fall.

Wie kamen Sie dazu, sich davon zu überzeugen, daß es keinen Grund dafür gab, an eines dieser drei Dinge zu glauben?

Beim freien Willen, glaube ich, war mein Argument nicht zutreffend, und ich glaube nicht mehr, daß es noch schlüssig ist. Ich glaubte damals aber, daß auch die Bewegungen menschlicher Lippen beim Sprechen streng nach den Gesetzen der Dynamik erfolgen müssen, weil alle Bewegungen der Materie von den Gesetzen der Dynamik bestimmt sind, so daß der Mensch keine Herrschaft darüber hat, was er gerade gesagt hat. Ich meine nicht, daß dies ein zutreffendes Argument war, aber damals überzeugte es mich. Über die Unsterblichkeit - nun, es schien mir ganz klar, daß die Beziehung zwischen Körper und Geist, was dieser auch sein mag, viel enger ist, als im allgemeinen vermutet wird, und daß es keinen Grund gibt, zu glauben, ein Geist bleibe bestehen, wenn ein Gehirn zerfällt. Und was Gott anlangt, nun, da gibt es sehr viele Argumente, die zu Gunsten der Existenz Gottes vorgebracht worden sind, und ich meinte damals, und meine auch heute noch, daß jedes einzelne von ihnen unzutreffend ist und daß niemand solche Argumente anerkannt haben würde, wenn er nicht eben unbedingt an die Schlußfolgerungen hätte glauben wollen.

Ich verstehe nicht, was Sie unter den Gesetzen der Dynamik verstehen, die begründen, daß es so etwas wie den freien Willen nicht gibt.

Nun, ich muß erläutern, daß dies war, was ich als Jüngling glaubte. Ich dachte damals, daß infolge der Gesetze der Dynamik Bewegungen der Materie, angefangen bei den Ursprungsnebeln, völlig determiniert seien; so auch jede sprachliche Äußerung. Und deshalb glaubte ich, daß die Gesetze der Dynamik zur Zeit der Ursprungsnebel genau festlegen würden, was Herr X bei jeder gegebenen Gelegenheit sagen würde. Deshalb hätte Herr X keinen freien Willen in bezug auf das, was er sagen würde.

Meinen Sie, es sei sicher, daß es nichts Derartiges gibt wie Gott, oder nur, daß es nicht bewiesen ist?

Ich meine nicht, daß es sicher ist, daß es Derartiges nicht gibt - nein - ich glaube, daß das genau auf der gleichen Ebene liegt wie die Götter des Olymp, oder die nordischen Götter; auch sie mögen existieren, die Götter des Olymp oder Walhalla. Ich kann nicht beweisen, daß sie nicht existieren, aber ich glaube, der Gott der Christen besitzt keine größere Wahrscheinlichkeit als sie. Ich meine, sie sind eine bloße Möglichkeit.

Glauben Sie, daß die Religion gut oder schädlich in ihren Wirkungen ist?

Ich glaube, die meisten ihrer Wirkungen in der Geschichte waren schädlich. Die Religion veranlaßte die ägyptischen Priester , den Kalender festzulegen und das Auftreten von Sonnenfinsternissen so genau zu berechnen, daß sie mit der Zeit in der Lage waren, sie vorauszusagen. Ich meine, dies waren wohltätige Wirkungen der Religion; aber ich meine auch, die überragende Mehrheit der Wirkungen sind schlecht gewesen. Ich glaube, sie waren deshalb schlecht, weil es für wichtig angesehen wurde, daß die Menschen irgend etwas glaubten, wofür es keinen gültigen Beweis gab; und dies verfälschte das Denken eines jeden, verfälschte Erziehungssysteme und verursachte meines Erachtens eine totale sittliche Irrlehre; nämlich die Meinung, es sei richtig, bestimmte Dinge zu glauben, und falsch, bestimmte andere zu glauben, ganz unabhängig von der Frage, ob die fraglichen Dinge wahr oder falsch wären. In der Hauptsache meine ich, daß die Religion sehr viel-Schaden angerichtet hat.

Weitgehend dadurch, daß sie den Konservatismus und die Anhänglichkeit an überlieferte Gewohnheiten heiligte, und noch mehr dadurch, daß sie die Intoleranz und den Haß heiligte. Das Ausmaß an Intoleranz, das in die Religion besonders in Europa Eingang fand, ist ganz schrecklich.

Meinen Sie, daß es eine Art von Gedankenzensur gibt, die das freie Denken verhindert?

Durchaus. Ich glaube, wenn Sie praktisch jede Schule in der Welt - irgendeine Schule für Buben und Mädchen - nehmen, werden Sie finden, daß ein bestimmter Glaube gelehrt wird. In christlichen Ländern der eine Glaube und in kommunistischen Ländern ein anderer, in beiden aber wird etwas gelehrt, und die Beweisgründe für das, was gelehrt wird, werden nicht unparteiisch untersucht, und die Kinder werden nicht dazu ermutigt, herauszufinden, was über die andere Seite zu sagen ist.

Was hat den Menschen jahrhundertelang dazu gebracht, nach Religion zu verlangen?

Ich glaube, hauptsächlich die Angst. Der Mensch fühlt sich ziemlich ohnmächtig. Es gibt drei Dinge, die dem Menschen Angst machen. Zum einen, was die Natur ihm antun kann. Sie kann ihn durch einen Blitz erschlagen oder ihn in einem Erdbeben verschlucken. Zum andern, was andere Menschen ihm antun können - sie können ihn in einem Krieg töten. Und drittens, was sehr viel mit Religion zu tun hat, hat er Angst vor dem, wozu seine eigenen heftigen Leidenschaften ihn verleiten könnten - Dinge, von denen er in einem ruhigen Augenblick weiß, daß er sie bereuen würde. Aus diesem Grunde haben die meisten Menschen sehr viel Angst in ihrem Leben, und die Religion hilft ihnen dazu, von diesen Ängsten nicht so sehr geplagt zu werden.

Aber das ist nicht, was die Gründer der Religion selbst immer vorgeschrieben haben.

Nein, aber die Gründer der Religionen - ich gebrauche das Wort Religionen in der Mehrzahl - haben sehr wenig mit dem zu tun, was ihre Anhänger lehren. Wirklich sehr wenig. Nehmen wir ein Beispiel. Ich habe gefunden, daß Militärs meinen, der christliche Glaube sei in der Auseinandersetzung mit den Ostmächten sehr wichtig, und sie waren davon überzeugt, daß man sich nicht so tatkräftig dafür einsetzen würde, wenn man kein Christ ist. Nun, ich habe die Bergpredigt wieder gelesen und konnte kein Wort darin finden, das die Wasserstoffbombe befürwortet - kein einziges Wort.

Ja, glauben Sie denn, daß die Religion auch heute noch Schaden anrichte? Ich meine damit, daß viel von dem, was Sie kritisieren, sich vor langer Zeit ereignete. Wie steht es heute damit?

Heute ist es genau dasselbe. Denn dies Beispiel, das ich Ihnen mit den Wasserstoffbomben gab, ist keineswegs veraltet, wenn ich auch wünschte, es wäre so, und ich glaube, daß heutzutage die Religion, wie sie in den Kirchen verkörpert ist, aufrichtiges Denken im wesentlichen entmutigt, und Dingen Bedeutung beilegt, die nicht sehr wichtig sind. Ihr Sinn für das, worauf es ankommt, scheint ganz verkehrt zu sein.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Ja, sicherlich. Als das Römische Reich zusammenbrach, haben sich die Kirchenväter nicht viel um den Zusammenbruch des Römischen Reichs gekümmert. Worum sie sich kümmerten, war, wie die Jungfräulichkeit erhalten werden könnte. Das war es, was sie für wichtig hielten.

Was haben sie damals dafür getan?

Sie ermahnten das Volk und kümmerten sich nicht darum, ob die Armeen die Grenzen hielten, oder ob das Steuereystem reformiert wurde; sie hielten jenes für viel wichtiger als ein Reich zu haben. Heutigen Tags, wo die Menschheit in Verfall gerät, sehe ich, daß eminente Geistliche meinen, es sei viel wichtiger, die künstliche Befruchtung zu verhindern, als einen Weltkrieg zu verhindern, der uns alle umbringen wird. Das scheint mir ein mangelndes Gefühl für Proportionen anzuzeigen.

Ja, würden Sie aber nicht zustimmen, daß die Religionen bisweilen viel Gutes getan haben, etwa in der Verbreitung der Erziehung dort, wo kein anderes System vorhanden war, wie etwa in Burma,wo die buddhistischen Mönche eine riesige Arbeit bei der Erziehung der Armen geleistet haben?

Nun, ich glaube, das ist möglich. Ja, ich glaube, daß die Benediktiner auf diese Weise mancherlei Gutes getan haben, aber erst nachdem sie viel Schädliches getan haben. Zuerst taten sie sehr viel Schädliches und dann ein wenig Gutes.

Aber wie steht es mit den Menschen, die meinen, sie müßten einen Glauben oder eine Religion haben, sonst könnten sie überhaupt nicht mit dem Leben fertig werden?

Ich meine, Menschen, die dies glauben, zeigen eine Art Feigheit, die in jedem anderen Bereich als verächtlich angesehen würde. Wenn es aber im religiösen Bereich geschieht, dann wird das für bewundernswert gehalten, und ich kann keine Feigheit bewundern, auf welchem Gebiet sie sich auch immer zeigt.

Warum aber sagen Sie, es sei Feigheit?

Es ist Feigheit, wenn man sagt, man könne das Leben nicht ohne dies oder jenes ertragen. Jedermann sollte fähig sein, mit dem Leben fertigzuwerden, was auch immer das Leben ihm bietet. Das ist ein Teil von ... Mut.

Glauben Sie aber, es sei Feigheit in dem Sinne, daß Menschen ihre Probleme auf Gott, oder auf einen Priester oder etwa eine organisierte Religion abschieben und sich dann diesen Problemen nicht selbst stellen?

Ja. Denken wir an die umfassende Frage der sehr gefährlichen Lage, in der sich die Welt befindet. Ständig bekomme ich Briefe von Leuten, die mir schreiben, „Oh, Gott wird sich darum kümmern." Aber in der Vergangenheit hat ER es nie getan.Ich weiß nicht, warum man glaubt, ER werde es künftig tun.

Meinen Sie, es sei eine sehr unweise Doktrin, das zu glauben? Meinen Sie, Selbsthilfe sei wichtiger als Abhängigkeit von jemand anderem, der etwas für uns tun soll?

Sicherlich, ja.

Wenn aber die Religion schädlich ist und dennoch der Mensch immer darauf bestanden hat, eine zu haben, was ist dann die Antwort?

Oh, das ist nicht der Fall. Einige Menschen dachten so, und das sind die Menschen, die sich daran gewöhnt haben. In einigen Ländern gehen die Menschen beispielsweise auf Stelzen und möchten nicht ohne Stelzen gehen. Bei der Religion ist es dasselbe. Einige Länder haben sich daran gewöhnt. Ich habe jetzt ein Jahr in China verbracht, und ich fand, daß der gewöhnliche Durchschnittschinese keinerlei Religion hat; die Chinesen waren aber genauso glücklich - ich glaube, angesichts ihrer schlechten Lebensverhältnisse glücklicher, als die meisten Christen gewesen wären.

Ich glaube aber, ein Christ würde sagen, wenn er sie zum Christentum bekehren könnte, wären sie viel glücklicher.

Ich glaube nicht, daß sich dafür ein Beweis erbringen läßt.

Ja, sucht aber der Mensch nicht eher nach einem Glaubensgrund außerhalb seiner selbst, der größar als er selbst erscheint, nicht bloß als eine Sache der Feigheit oder der Anlehnung, sondern auch in dem Wunsch, etwas für diese Macht zu tun?

Nun, es gibt aber viele Dinge, die größer sind als man selbst. Ich meine, vor allen Dingen gibt es die Familie; dann gibt es die Nation; dann gibt es die Menschheit im ganzen. Alle diese sind größer als man selbst, und sie genügen völlig, um allen echten Regungen des guten Willens, die ein Mensch haben mag, einen Gegenstand zu geben.

Meinen Sie, daß die organisierte Religion die Menschheit dauernd im Griff haben wird?

Ich glaube, das hängt davon ab, ob die Menschen ihre sozialen Probleme lösen oder nicht. Ich glaube, wenn es weiterhin große Kriege und große Unterdrückungen gibt und viele Menschen ein sehr unglückliches Leben führen, dann wird wahrscheinlich die Religion fortbestehen, weil ich beobachtet habe, daß der Glaube an die Güte Gottes umgekehrt proportional ist zu ihrer Nachweisbarkeit im Leben. Wenn es überhaupt keine solche Erfahrung gibt, dann glauben die Menschen daran, und wenn die Dinge gut gehen, und man daran glauben könnte, dann glauben sie grade nicht dran. Deshalb meine ich, daß die Religion absterben wird, wenn die Menschen ihre sozialen Probleme lösen.Wenn sie es aber nicht tun, dann glaube ich nicht, daß es dazu kommen wird. Dafür lassen sich Beispiele in der Vergangenheit finden. Als die allgemeine Lage im achtzehnten Jahrhundert friedlich war, äußerten sich sehr viele gebildete Menschen als Freidenker. Dann kam die französische Revolution, und gewisse englische Aristokraten kamen zu der Schlußfolgerung, daß das Freidenkertum zur Guillotine führe, und deshalb gaben sie es auf und wurden alle tief religiös, woraus der Viktorianismus (mit seinem Muff und seiner Heuchelei) entstand. Und dasselbe ereignete sich bei der russischen Revolution. Die russische Revolution setzte die Menschen in Schrecken; sie meinten, wenn sie nicht an Gott glaubten, würde ihr Eigentum konfisziert, deshalb glaubten sie an ihn. Sie werden erkennen, daß diese sozialen Umstürze für die Religion sehr gut gewesen sind.

Meinen Sie, daß Sie und ich völlig ausgelöscht sein werden, wenn wir gestorben sind?

Ja, gewiß. Ich sehe nicht, warum nicht. Ich weiß, daß der Körper zerfällt, und ich glaube, es gibt überhaupt keinen Grund dafür, anzunehmen, daß der Geist weiterlebt, wenn der Körper sich aufgelöst hat.“

 

Tabu-Moral (im Gespräch mit Woodrow Wyatt)

 

Wollen Sie damit sagen, daß der Begriff der Sünde in Wirklichkeit in vielen Fällen ein Vorwand für Grausamkeit ist?

Ich glaube, weitgehend. Ich glaube, nur grausame Menschen konnten die Hölle erfunden haben. Menschen mit menschlichen Gefühlen hätten nicht gerne den Gedanken gehegt, daß diejenigen, die auf Erden Dinge tun, die von der Moral ihres Stammes verurteilt werden, ewig ohne jede Aussicht auf Beserung leiden werden. Ich glaube, nicht, daß anständige Menschen je diese Ansicht übernommen hätten.

Meinen Sie also, der Begriff der Sünde sei in Wirklichkeit eine Gelegenheit dafür, die eigenen aggressiven Gefühle auszuleben?

Ja, das glaube ich. Es ist im wesentlichen das, was man eine harte Moral nennen könnte. Sie dient dazu, anderen ohne schlechtes Gewissen Leiden zuzufügen, und deshalb ist sie eine schlechte Sache.

Wie sollen wir aber Dinge mißbilligen, wenn wir nicht, die Auffassung vertreten, es gäbe so etwas wie die Sünde?

Nun, die allgemeine Mißbilligung als solche in Verbindung mit dem Strafgesetz leistet, glaube ich, alles, was man überhaupt tun kann. Es muß eine gewisse Art von öffentlicher Meinung geben. Hier sehen Sie, wie wichtig es ist, daß wir die Geschichten aus der italienischen Renaissance lesen - Geschichten von der Art, wie sie die machiavellistischen Theorien hervorbrachten. Die öffentliche Meinung tolerierte damals Dinge, die in den meisten anderen Zeiten die öffentliche Meinung nicht tolerieren würde.

Würden Sie dennoch zugeben, daß manche Dinge böse sind?

Ich möchte das Wort „böse" nicht gebrauchen; ich würde sagen, einige Dinge richten mehr Schaden als Gutes an; und wenn man weiß, daß sie mehr Schaden als Gutes anrichten, dann täte man sie besser nicht. Wenn Sie das Wort „böse" gerne gebrauchen wollen, können sie das tun, aber ich halte es nicht für ein nützliches Wort.

Ein großer Teil der Tabu-Moral bezieht sich auf die sexuellen Beziehungen. Und ein sehr großer Teil dessen, was Sie geschrieben haben, handelt von den sexuellen Beziehungen. Welchen Rat würden Sie heute den Menschen geben, die sich im sexuellen Bereich vernünftig verhalten wollen?

Nun, ich möchte gewissermaßen als Vorwort sagen, daß nur etwa ein Prozent meiner Schriften den Sexus betrifft, aber das konventionelle Publikum ist derart sexbesessen, daß es von den übrigen neunundneunzig Prozent meiner Schriften nicht Notiz genommen hat. Ich möchte dies zunächst einmal feststellen, und ich meine, daß ein Prozent ein vernünftiger Anteil menschlichen Interesses für dieses Thema ist. Aber ich möchte die Sexualmoral genauso behandeln, wie ich alles übrige behandeln würde. Ich-möchte-sagen, wenn das, was man tut, niemanden schädigt, dann besteht kein Grund, es zu verurteilen. Und man sollte es nicht bloß aus dem Grunde verurteilen, weil irgendein altes Tabu gesagt hat, dies sei unrecht. Man sollte prüfen, ob es irgendeinen Schaden anrichtet oder ob dies nicht der Fall ist, und das ist die Grundlage für die Sexualmoral wie für alles übrige.

Würden Sie sagen,, daß die Vergewaltigung zu verurteilen ist, daß aber der außereheliche Geschlechtsverkehr, vorausgesetzt, daß er niemanden verletzt, nicht notwendigerweise verurteilt werden sollte?

Ja. Ich möchte durchaus behaupten, daß die Vergewaltigung genau dasselbe ist wie jede andere körperliche Gewaltanwendung. Was den außerehelichen Geschlechtsverkehr angeht, nun dann muß man die Umstände in Betracht ziehen, ob es in dem betreffenden Fall etwas dagegen zu sagen gibt oder ob das nicht der Fall ist. Aber man sollte nicht eine summarische Verurteilung immer und unter allen Umständen vornehmen.

Halten Sie es für richtig, daß es Regeln geben sollte darüber, was veröffentlicht werden darf und was nicht?

Nun, das ist eine Frage, bei der ich eine recht extreme Haltung einnehme. Eine Haltung, von der ich befürchte, daß sehr wenige Menschen mit ihr übereinstimmen. Ich meine, es dürfte überhaupt keine Regeln geben, die unanständige Publikationen verhindern. Ich meine dies deshalb, weil törichte Zensoren, wenn es solche Regeln gibt, ein wirklich wertvolles Werk verurteilen werden, weil es sie zufällig schockiert. Das ist einer der Gründe; ein anderer Grund ist der, daß ich glaube, Verbote erhöhen das allgemeine Interesse an der Pornographie ungeheuerlich, wie bei allem anderen. Ich besuchte oft Amerika während der Zeit der Prohibition (d. h. des Verbots der Herstellung und des Verkaufs alkoholischer Getränke in den USA seit Mitte des 19. Jahrhunderts, verschärft seit 1900, 1920 für die ganze Union eingeführt, 1934 aufgehoben wegen der Durchführungskosten und der zur Umgehung entstandenen Schmuggler- und Verbrecherorganisationen), und es gab dort viel mehr Trunkenheit als früher, bei weitem, und ich glaube, daß das Verbot der Pornographie ziemlich dieselbe Wirkung hat. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben, was ich von Verboten halte. Der Philosoph Empedokles glaubte, es sei sehr böse, Lorbeerblätter zu kauen, und er klagt, er müsse zehntausend Jahre in äußerster Dunkelheit verbringen,weil er Lorbeerblätter gekaut hatte. Nun hat mir nie jemand gesagt, ich dürfe keine Lorbeerblätter kauen, und ich habe es nie getan. Aber Empedokles, dem es verboten wurde, tat es. Und ich glaube, dasselbe trifft für die Pornographie zu ...

… und das war das Orakel zu Delphi. Es verdankte Existenz und Weiterbestehen dem Aberglauben, und es wollte den Aberglauben nicht vermindern; deshalb trat es für Menschenopfer noch ein, lange nachdem andere Griechen sie aufgegeben hatten. Das ist ein Beispiel. Ich kann Ihnen ein weiteres recht bedeutendes Beispiel geben. Immer hatte man geglaubt, es sei außerordentlich verwerflich, einen Leichnam in Stücke zu schneiden; Vesalius (1515-1564, Begründer der modernen Anatomie) war ein hervorragender Arzt zur Zeit des Kaiser Karl V., und ihm wurde klar, daß man sehr viele wertvolle medizinische Dinge wirklich nur tun könne, wenn man Leichen zerschnitt, und er pflegte sie zu zerschneiden. Nun war Kaiser Karl V. ein kranker Mann, und da Vesalius der einzige Arzt war, der ihm helfen konnte, beschützte er ihn. Sobald aber der Kaiser abgedankt hatte, gab es niemanden, der Vesalius schützte, und er wurde dafür verurteilt, einen Körper zerschnitten zu haben, von dem gesagt wurde, er sei noch nicht ganz tot gewesen; und zur Strafe mußte er eine Pilgerfahrt ins Heilige Land antreten. Auf dem Wege erlitt er Schiffbruch und starb in Not, und das war sein Ende. Und das alles, weil es dies Tabu gegen das Aufschneiden von Leichen gab. Moralische Tabus schaden sicherlich auch heutzutage. Nehmen Sie zum Beispiel die Frage der Geburtenkontrolle. Es gibt in gewissen Teilen der Gesellschaft dagegen ein sehr mächtiges Tabu, das es geradezu darauf anlegt, riesigen Schaden anzurichten. Einen ganz enormen Schaden. Es nimmt in Kauf, Elend und Krieg zu fördern und die Lösung vieler sozialer Probleme unmöglich zu machen. Dies ist meines Erachtens vielleicht das wichtigste, und ich glaube, es gibt eine ganze Anzahl weiterer Tabus dieser Art. Die Unauflöslichkeit der Ehe ist entschieden schädlich; sie beruht allein auf einer sehr alten Tradition und nicht auf einer Prüfung der heutigen Umstände.“

 

Warum ich kein Christ bin

 

„Wie ich bereits sagte, glaube ich nicht, dass der wahre Grund, warum Menschen einer Religion Glauben schenken, auch nur das Geringste mit Argumenten zu tun hat. Glauben schenken sie der Religion vielmehr aus emotionalen Gründen. Oft wird gesagt, die Religion anzugreifen sei von großem Übel, weil sie die Menschen tugendhaft mache. Das sagt man mir; doch ich habe noch nichts davon bemerkt. Vermutlich kennen Sie die Parodie auf dieses Argument in Samuel Butlers zweitem Roman, Erewhon Revisited. Sie erinnern sich, dass im ersten, Erewhon, ein gewisser Higgs vorkommt, der ein abgeschiedenes Land entdeckt, sich einige Zeit dort aufhält und schließlich mit einem Ballon entflieht. Zwanzig Jahre später kehrt er in das Land zurück und findet eine neue Religion vor, in der er selbst unter dem Namen „Sonnenkind“ verehrt wird, und es heißt, er sei in den Himmel aufgefahren. Nun soll gerade das Himmelfahrtsfest gefeiert werden, als er die Professoren Hanky und Panky zueinander sagen hört, sie hätten den Menschen Higgs nie zu Gesicht bekommen und hofften, es werde auch dabei bleiben. Diese Professoren aber sind die Hohenpriester der Religion des Sonnenkinds. Empört geht Higgs zu ihnen hin und sagt: „Ich werde diesen ganzen Humbug entlarven und dem Volk von Erewhon sagen, dass nur ich es war, der Mensch Higgs, der mit einem Ballon aufgestiegen ist.“ Woraufhin ihm erklärt wird: „Das dürfen Sie nicht tun, weil die ganze Moral unseres Landes an diesem Mythos hängt, und wenn die Leute einmal wissen, dass Sie nicht in den Himmel aufgefahren sind, werden sie alle bösartig.“ Davon lässt er sich überzeugen und geht ruhig von dannen.

Eben das ist die Idee - wir alle würden bösartig, wenn wir nicht an der christlichen Religion festhielten. Mir scheint jedoch, dass gerade diejenigen, die an ihr festgehalten haben, zum größten Teil außerordentliche Bosheit an den Tag legten. Man stößt auf die seltsame Tatsache, dass die Grausamkeit stets umso schlimmer und die Missstände umso größer waren, je stärker die Religion einer Epoche und je tiefer der dogmatische Glaube waren. Im sogenannten Zeitalter des Glaubens, als die Menschen bedingungslos an die christliche Religion als Ganzes glaubten, gab es die Foltern der Inquisition; es gab Millionen unglückseliger Frauen, die als Hexen verbrannt wurden; und jede erdenkliche Art von Grausamkeit wurde allen möglichen Menschen im Namen der Religion zugefügt.

Sehen Sie sich in der Welt um, und Sie stellen fest, dass jedes bisschen Fortschritt in der Entwicklung von Menschlichkeit, jede Verbesserung des Strafrechts, jeder Schritt zu einer besseren Behandlung der Farbigen oder zur Milderung der Sklaverei, jeder moralische Fortschritt, den es auf der Welt gegeben hat, durchgehend von den organisierten Kirchen der Welt bekämpft worden ist. Ich sage ganz bewusst, dass die christliche Religion in ihrer kirchlich organisierten Form der Hauptfeind des moralischen Fortschritts in der Welt war und bis heute ist.“

 

Hat die Religion nützliche Beiträge zur Zivilisation geleistet?

 

„Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit. Ich kann jedoch nicht leugnen, dass sie auch Beiträge zur Zivilisation geleistet hat. In frühen Zeiten half sie, den Kalender festzulegen, und sie veranlasste ägyptische Priester, so gewissenhaft über Finsternisse zu berichten, dass es ihnen mit der Zeit gelang, deren Auftreten vorherzusagen. Diese zwei Verdienste will ich gern anerkennen, aber sonst wüsste ich keine.

Das Wort „Religion“ wird heutzutage in einem sehr weiten Sinne gebraucht. Manche, die dem Einfluss eines extremen Protestantismus unterliegen, benutzen es, um jede ernsthafte persönliche Überzeugung hinsichtlich der Moral oder der Beschaffenheit des Universums zu bezeichnen. Dieser Gebrauch des Wortes ist ziemlich unhistorisch. Religion ist primär ein gesellschaftliches Phänomen. Die Kirchen mögen ihren Ursprung bestimmten Lehrern mit starken individuellen Überzeugungen verdanken, aber diese Lehrer hatten selten großen Einfluss auf die von ihnen gegründeten Kirchen, während die Kirchen gewaltigen Einfluss auf die Gemeinden hatten, in denen sie gediehen. Um das Beispiel zu nehmen, das für Mitglieder der westlichen Zivilisation am interessantesten ist: Die Lehre Christi, wie sie aus den Evangelien hervorgeht, hatte außerordentlich wenig mit der Ethik von Christen zu tun. Aus gesellschaftlicher und historischer Sicht ist das Wichtigste am Christentum nicht Christus, sondern die Kirche, und wenn wir uns ein Urteil über das Christentum als gesellschaftliche Kraft bilden wollen, dürfen wir unsere Informationen nicht aus den Evangelien beziehen. Christus lehrte, man solle sein Hab und Gut den Armen geben, man solle nicht kämpfen, man solle nicht die Kirche besuchen und Ehebruch nicht bestrafen. Weder Katholiken noch Protestanten haben große Lust gezeigt, seiner Lehre auch nur in einem dieser Punkte zu folgen. Es ist wahr, dass manche Franziskaner versucht haben, die Lehre apostolischer Armut zu verkünden, aber der Papst hat sie verdammt und ihre Lehre wurde für Ketzerei erklärt. Oder bedenken Sie einen Satz wie „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, und fragen Sie sich selbst, welchen Einfluss solche Worte auf die Inquisition oder auf den Ku-Klux-Klan genommen haben.

Das Gleiche wie für das Christentum gilt für den Buddhismus. Buddha war liebenswürdig und aufgeklärt; auf dem Totenbett lachte er darüber, dass seine Schüler ihn unsterblich glaubten. Die buddhistische Priesterschaft hingegen - wie sie etwa in Tibet existiert - war in höchstem Maße obskurantistisch, tyrannisch und grausam.

Dieser Unterschied zwischen einer Kirche und ihrem Gründer ist kein Zufall. Sobald den Reden eines bestimmten Menschen absolute Wahrheit unterstellt wird, sammeln sich Experten, um seine Reden auszulegen, und diese Experten gewinnen unfehlbar Macht, weil sie den Schlüssel zur Wahrheit besitzen. Wie alle anderen privilegierten Klassen benutzen sie ihre Macht zum eigenen Vorteil. In einer Hinsicht allerdings sind sie schlimmer als jede andere privilegierte Klasse, da ihr Geschäft darin besteht, eine unveränderliche, ein für allemal in absoluter Vollkommenheit offenbarte Wahrheit darzulegen, wodurch sie zwangsläufig zu Gegnern jedes intellektuellen oder moralischen Fortschritts werden. Die Kirche hat Galilei und Darwin bekämpft; heute bekämpft sie Freud. In den Zeiten ihrer größten Macht ist sie im Kampf gegen das intellektuelle Leben noch weiter gegangen. Papst Gregor der Große schrieb einem seiner Bischöfe einen Brief, der folgendermaßen begann: „Darnach aber haben wir erfahren, was wir nur anzuführen uns schämen, dass nämlich Deine Brüderlichkeit einigen Personen die Grammatik erkläre.“ Mit päpstlicher Autorität wurde der Bischof strengstens verwiesen, solch ruchlose Bemühungen zu unterlassen, und das lateinische Schrifttum konnte sich bis zur Renaissance nicht mehr erholen. Aber die Religion schadet nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch. Damit meine ich, dass sie ethische Vorschriften lehrt, die dem menschlichen Glück nicht zuträglich sind. Als vor einigen Jahren in Deutschland ein Volksentscheid darüber stattfand, ob die abgesetzten Fürstenhäuser weiterhin im Genuss ihres Privateigentums bleiben sollten, erklärten die deutschen Kirchen offiziell, es widerspreche der Lehre des Christentums, sie dessen zu berauben. Bekanntlich haben die Kirchen solange sie es wagten die Abschaffung der Sklaverei bekämpft, und mit ein paar gut beratenen Ausnahmen bekämpfen sie derzeit jede Bewegung, die auf ökonomische Gerechtigkeit abzielt. Der Papst hat den Sozialismus offiziell verurteilt.

Der schlimmste Zug an der christlichen Religion jedoch ist ihre Einstellung zur Sexualität - eine so krankhafte und unnatürliche Einstellung, dass man sie nur in Zusammenhang mit dem Siechtum der zivilisierten Welt zur Zeit des untergehenden Römischen Reichs verstehen kann. Nun hören wir manchmal Äußerungen in dem Sinne, das Christentum habe die Stellung der Frau gestärkt. Das ist eine der gröbsten Geschichtsverdrehungen. Frauen können keine annehmbare Stellung in einer Gesellschaft genießen, die es für das Allerwichtigste hält, dass sie nicht gegen einen äußerst strengen Moralkodex verstoßen. Die Mönche haben die Frau stets in erster Linie als Verführerin betrachtet und als diejenige gesehen, die unzüchtige Begierden erregt. Die Kirchenlehre besagt nach wie vor, Jungfräulichkeit sei das Beste, doch denen, die dazu absolut nicht fähig seien, solle die Ehe erlaubt sein. „Es ist besser freien, denn Brunst leiden“, wie Paulus brutal sagte …

Die christliche Hervorhebung der individuellen Seele hat sich tiefgreifend auf die Ethik christlicher Gemeinden ausgewirkt. Es ist eine Lehre, die fundamentale Ähnlichkeit mit der der Stoiker hat, genau wie diese in Gemeinden aufgeblüht, die keine politische Hoffnung mehr hegen konnten. Der natürliche Impuls eines wohlmeinenden, tatkräftigen Menschen besteht in dem Versuch, Gutes zu tun, doch wenn er aller politischen Macht und jeder Möglichkeit beraubt ist, Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, wird er von seinem natürlichen Streben abkommen und beschließen, das einzig Wichtige bestehe darin, gut zu sein. So erging es den frühen Christen; es führte zu einem Begriff persönlicher Heiligkeit ganz unabhängig von wohltätigen Werken, da Heiligkeit etwas sein musste, was von Menschen erlangt werden konnte, die keine Handlungsmöglichkeit besaßen. Auf diese Weise wurde die soziale Tugend aus der christlichen Ethik ausgeschlossen. Bis heute halten konventionelle Christen einen Ehebrecher für ruchloser als einen Politiker, der Bestechungsgelder nimmt, obwohl Letzterer vermutlich tausendmal mehr Schaden anrichtet. Der mittelalterliche Tugendbegriff, wie man ihn auf Bildern illustriert sieht, hatte etwas Verwaschenes, Schwaches und Rührseliges. Der tugendhafteste Mensch war der, der sich von der Welt zurückzog; die einzigen Männer der Tat, die für heilig erachtet wurden, waren jene, die das Leben und die Lebensgrundlage ihrer Untertanen im Kampf gegen die Türken verschwendeten, wie Ludwig der Heilige. Die Kirche hätte niemals jemanden wegen einer Reform des Finanzwesens, des Strafgesetzes oder des Rechtssystems für heilig erachtet. Solche bloßen Beiträge zum menschlichen Wohlergehen galten als belanglos. Ich glaube nicht, dass es im gesamten Kalender auch nur einen einzigen Heiligen gibt, dessen Heiligkeit einem Werk von öffentlichem Nutzen zu verdanken wäre. Mit dieser Trennung von sozialer und moralischer Person ging eine zunehmende Trennung von Körper und Seele einher, die in der christlichen Metaphysik ebenso überdauert hat, wie in den von Descartes abgeleiteten Theorien. Allgemein könnte man sagen, dass der Körper den sozialen und öffentlichen Teil eines Menschen repräsentiert, während die Seele für den privaten Anteil steht. Durch die Hervorhebung der Seele ist die christliche Ethik vollkommen individualistisch geworden. Ich glaube, es ist klar, dass die Bilanz all der Jahrhunderte des Christentums darin besteht, die Menschen egoistischer, in sich verschlossener gemacht zu haben, als sie es von Natur aus waren; denn die Impulse, die einen Menschen naturgemäß aus den Mauern seines Ego treiben, sind Sexualität, Elternschaft und Patriotismus oder Herdentrieb. Was die Sexualität betrifft, so hat die Kirche alles in ihrer Macht stehende getan, um sie schlechtzumachen und herabzusetzen; familiäre Zuneigung wurde sowohl von Christus selbst als auch von der Schar seiner Jünger verschrien; und Patriotismus hatte keinen Platz bei den unterdrückten Völkern des Römischen Reichs. Der Polemik gegen die Familie in den Evangelien wurde bisher nicht die verdiente Beachtung geschenkt. Die Kirche behandelt die Mutter Christi mit höchster Ehrfurcht, doch er selbst zeigte wenig von dieser Haltung. „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ (Joh 2,4), so war seine Art, zu ihr zu sprechen. Er sagte auch, er sei gekommen, den Menschen aufzubringen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider ihre Schwiegermutter, und wer Vater oder Mutter mehr liebe denn ihn, der sei seiner nicht wert (Mt 10,35-37). All das bedeutet eine Zerstörung der biologischen Familienbande um des Glaubens willen - eine Haltung, die viel zu der Intoleranz beitrug, die mit der Verbreitung des Christentums in die Welt gekommen war.

Dieser Individualismus kulminierte in der Lehre von der Unsterblichkeit der individuellen Seele, der im jenseitigen Leben ewige Seligkeit oder, je nach den Umständen, ewige Pein verheißen war. Die Umstände, von denen dieser folgenschwere Unterschied abhing, waren etwas merkwürdig. Starb jemand zum Beispiel unmittelbar nachdem ein Priester ihn mit Wasser besprengt und dabei bestimmte Worte gesprochen hatte, ging er in die ewige Seligkeit ein; während demjenigen, der nach einem langen und tugendhaften Leben ausgerechnet dann vom Blitz erschlagen wurde, als er gerade über einen abgerissenen Schnürsenkel fluchte, die ewige Qual vorbehalten war. Ich sage nicht, der moderne protestantische Christ glaube dies, ja bei angemessener theologischer Unterweisung glaubt es vielleicht nicht einmal der moderne katholische Christ; aber ich sage, dass dies die orthodoxe Lehre ist, an die auch in jüngster Zeit noch felsenfest geglaubt wurde. In Mexiko und Peru haben die Spanier Indianerkinder getauft, um ihnen sofort danach die Schädel einzuschlagen: Dadurch wollten sie sicherstellen, dass die Kinder in den Himmel kamen …

Vor dem Aufstieg des Christentums hatte es eine solche Verfolgungsmentalität in der Antike nie gegeben, es sei denn unter Juden. Liest man zum Beispiel Herodot, so findet man einen offenen und toleranten Bericht über die Gewohnheiten fremder Völker, die er besucht hatte. Sicher, gelegentlich mag er sich entsetzt über eine besonders barbarische Sitte äußern, aber im Allgemeinen steht er fremden Göttern und fremden Sitten wohlwollend gegenüber. Er trachtet nicht danach zu beweisen, dass jene, die Zeus bei einem anderen Namen nennen, zur ewigen Verdammnis verurteilt seien und getötet werden müssten, auf dass ihre Strafe so bald als möglich beginne. Diese Einstellung blieb den Christen vorbehalten. Gewiss, der moderne Christ ist weniger hart, aber das verdanken wir nicht dem Christentum, sondern Generationen von Freidenkern, die seit der Renaissance nicht abgelassen haben, die Christen wegen so vieler ihrer traditionellen Glaubenshaltungen an den Pranger zu stellen. Es ist schon komisch, den modernen Christen erzählen zu hören, wie milde und rational das Christentum doch sei, ohne sich darum zu scheren, dass alles, was es an Milde und Rationalismus gewonnen hat, auf den Lehren jener Männer beruht, die zu ihrer Zeit von allen orthodoxen Christen verfolgt wurden. Heute glaubt niemand mehr, dass die Welt im Jahr 4004 vor Christi Geburt erschaffen wurde; aber es ist noch nicht sehr lange her, da wurde jeder Zweifel daran für ein abscheuliches Verbrechen gehalten. Mein Ururgroßvater hatte aus der Tiefe der Lava, die er an den Hängen des Ätna beobachten konnte, den Schluss gezogen, dass die Welt älter sein müsse, als die Orthodoxen annahmen, und seine Meinung in einem Buch veröffentlicht. Für diese Missetat wurde er in der Grafschaft geschnitten und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Wäre er ein Mann geringerer Herkunft gewesen, wäre seine Strafe sicher härter ausgefallen. Es ist nicht das Verdienst der Orthodoxen, dass sie heute nicht all die Absurditäten von vor hundertfünfzig Jahren glauben. Die allmähliche Aufweichung der christlichen Lehre geschah gegen erbitterten Widerstand von innen, und nur infolge der freidenkerischen Angriffe …

Die Ursprünge der Kirche sind schwerer zu durchschauen. Zweifellos ist Angst die wichtigste Quelle der Religion; das sieht man bis heute, da alles, was Schrecken auslöst, geeignet ist, die Gedanken der Menschen auf Gott zu lenken. Ob Krieg, Pest oder Schiffbruch, alles erhöht die menschliche Bereitschaft, religiös zu werden. Die Religion verfügt jedoch über andere Anziehungskräfte als den Schrecken; sie reizt insbesondere unser menschliches Selbstwertgefühl. Wenn das Christentum die Wahrheit verkündet, sind die Menschen nicht so armselige Würmer, wie es scheint; sie interessieren den Schöpfer der Welt, der sich die Mühe macht, sich an ihnen zu freuen, wenn sie folgsam sind, und ihnen zu zürnen, wenn sie böse sind. Das ist ein großes Kompliment. Wir würden einen Ameisenhaufen nicht untersuchen, um herauszufinden, welche Tiere ihre Pflichten eifrig erfüllt haben, und wir würden es bestimmt nicht tun, um jede säumige Ameise einzeln herauszupicken und ins Feuer zu werfen. Wenn Gott solches für uns tut, erkennt er unsere Bedeutung an, und noch schöner ist es, wenn er die Guten unter uns mit ewiger Glückseligkeit im Himmel belohnt. Dann gibt es noch die relativ moderne Idee, die kosmische Entwicklung sei in ihrer ganzen Anlage auf Ergebnisse ausgerichtet, die wir als gut bezeichnen - das heißt Ergebnisse, die uns Freude bereiten. Auch hier ist es eine schmeichelhafte Annahme, das Universum werde von einem Wesen gelenkt, das unsere Vorlieben und Vorurteile teilt …

Der dritte psychologische Impuls, den die Religion mit einschließt, ist jener, der zum Begriff menschlicher Gerechtigkeit geführt hat. Mir ist bewusst, dass viele Freidenker diesen Begriff mit großem Respekt behandeln und der Meinung sind, er solle trotz des Verfalls der dogmatischen Religion bewahrt werden. In diesem Punkt kann ich ihnen nicht zustimmen. Wie mir scheint, macht eine psychologische Analyse der Gerechtigkeitsidee deutlich, dass sie auf unerwünschten Leidenschaften beruht und durch den Segen der Vernunft nicht gestärkt werden sollte. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören zusammen; es ist unmöglich, das eine ohne das andere zu betonen. Was aber bedeutet „Ungerechtigkeit“ in der Praxis? In der Praxis ist es ein Verhalten, das der Herde missfällt. Indem es als ungerecht bezeichnet und ein ausgeklügeltes ethisches System um diesen Begriff errichtet wird, liefert es der Herde eine Rechtfertigung dafür, die missliebigen Objekte mit Strafen zu überziehen, während es zugleich, da die Herde per definitionem gerecht ist, deren Selbstwertgefühl in dem Moment steigert, in dem sie ihrem Impuls zur Grausamkeit freien Lauf lässt. Das entspricht der Psychologie des Lynchens und anderer Methoden, Verbrecher zu bestrafen. Das Wesen des Begriffs der menschlichen Gerechtigkeit besteht also darin, ein Ventil für Sadismus zu schaffen, indem er Grausamkeit als Recht maskiert …

So scheint es also, dass die drei menschlichen Impulse, die sich in der Religion wiederfinden, Angst, Selbstgefälligkeit und Hass sind. Man könnte sagen, der Zweck der Religion bestehe darin, diesen Leidenschaften einen Anstrich von Ehrbarkeit zu verleihen, vorausgesetzt, dass sie sich in bestimmte Bahnen lenken lassen. Und weil es Leidenschaften sind, die in der Summe nur dazu beitragen, das Elend auf der Welt zu mehren, ist die Religion eine Kraft des Bösen, denn sie erlaubt den Menschen, ihnen hemmungslos nachzugeben, während sie ihre Triebe ohne den Segen der Religion wohl zumindest in gewissem Maß beherrschen würden.

Hier kann ich mir einen Einwand vorstellen, der von den meisten Strenggläubigen wahrscheinlich gar nicht vorgebracht würde, den es aber trotzdem zu prüfen lohnt. Hass und Angst, könnte gesagt werden, seien wesentliche menschliche Eigenschaften; die Menschheit habe immer Hass und Angst empfunden und so werde es auch bleiben. Das Beste, was damit zu machen sei, könnte man mir sagen, bestehe darin, sie dorthin zu lenken, wo sie weniger Schaden anrichten. Ein christlicher Theologe würde vielleicht sagen, die Kirche verfahre damit genauso wie mit dem Sexualtrieb, den sie verurteilt. Sie versucht, die Fleischeslust unschädlich zu machen, indem sie sie auf das Ehebündnis beschränkt. Folglich könnte man sagen, wenn die Menschheit unvermeidlich Hass empfinden müsse, sei es besser, ihn gegen diejenigen zu richten, die wirklich schädlich sind, und genau das tue die Kirche durch ihren Begriff von menschlicher Gerechtigkeit.

Auf dieses Argument gibt es zwei Antworten - eine vergleichsweise oberflächliche; und eine andere, die der Sache auf den Grund geht. Die oberflächliche lautet, der kirchliche Gerechtigkeitsbegriff sei nicht der bestmögliche; die tiefergehende läuft darauf hinaus, dass Hass und Angst mit unserem heutigen psychologischen Wissen und unserer heutigen industriellen Technik ganz aus dem menschlichen Leben beseitigt werden könnten.

Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Der kirchliche Begriff menschlicher Gerechtigkeit ist aus mehreren Gründen gesellschaftlich nicht wünschenswert - vor allem wegen seiner Geringschätzung von Intelligenz und Wissenschaft. Dieser Mangel geht auf die Evangelien zurück. Christus sagt, wir sollten werden wie die Kinder, aber Kinder können die Differenzialrechnung ebenso wenig verstehen wie die Prinzipien des Geldumlaufs oder die modernen Methoden der Krankheitsbekämpfung. Solches Wissen zu erlangen, gehört der Kirche zufolge nicht zu unseren Pflichten. Sie behauptet zwar nicht mehr, Wissen als solches sei sündig, wie sie es in ihren glorreichen Zeiten tat. Aber wenn auch nicht sündig, ist das Erlangen von Wissen doch gefährlich, da es zu intellektueller Überheblichkeit und somit zu einer Hinterfragung der christlichen Lehre führen kann. Nehmen wir als Beispiel zwei Männer, von denen einer ein ganzes Tropengebiet vom Gelbfieber befreit hat, im Lauf seiner Arbeit jedoch gelegentlich Beziehungen zu Frauen unterhielt, mit denen er nicht verheiratet war; der andere dagegen lebte faul und träge dahin, zeugte jedes Jahr ein Kind, bis seine Frau vor Erschöpfung starb, und kümmerte sich so wenig um seine Kinder, dass die Hälfte von ihnen durch vermeidbare Ursachen zu Tode kam, ließ sich aber nie zu unerlaubtem Geschlechtsverkehr hinreißen. Jeder gute Christ muss die Auffassung vertreten, dieser zweite Mann sei tugendhafter als der erste. Das ist natürlich abergläubisch und gegen alle Vernunft. Doch derartige Absurditäten sind unvermeidlich, solange die Vermeidung von Sünde für wichtiger gehalten wird als jeder aktiv erworbene Verdienst, und solange die Bedeutung des Wissens als hilfreiches Mittel für ein nützliches Leben nicht anerkannt wird.

Der zweite und fundamentalere Einwand gegen die von der Kirche praktizierte Art, Angst und Hass zu benutzen, ist der, dass es heute möglich wäre, die menschliche Natur durch erzieherische, ökonomische und politische Reformen fast vollständig von solchen Gefühlen zu befreien. Reformen im Erziehungswesen müssten die notwendige Grundlage dafür schaffen, denn Menschen, die Hass und Angst empfinden, werden diese ihre Gefühle auch bewundern und bestrebt sein, sie zu bewahren, obwohl wahrscheinlich eher unbewusst, wie es bei normalen Christen der Fall sein dürfte. Eine auf Angstfreiheit ausgerichtete Erziehung ist nicht schwierig zu gestalten. Man muss ein Kind nur freundlich behandeln, ihm eine Umgebung bieten, in der es ohne desaströse Folgen Initiative entwickeln kann, und es vor dem Kontakt mit Erwachsenen bewahren, die selbst panische Ängste haben - ob vor der Dunkelheit, vor Mäusen oder vor gesellschaftlicher Revolution. Ein Kind darf auch keinen schweren Strafen, Drohungen oder ernsten und übertriebenen Zurechtweisungen ausgesetzt werden. Es vor Hassgefühlen zu schützen, erfordert schon viel mehr Feingefühl. Situationen, die Eifersucht erregen, müssen durch genaues Augenmaß etwa in der Gleichbehandlung mehrerer Kinder sorgfältig vermieden werden. Ein Kind muss zumindest von einigen Erwachsenen, mit denen es zu tun hat, warmherzige Zuneigung erfahren, und es darf nicht in seinen natürlichen Aktivitäten und Neugierden behindert werden, es sei denn, sein Leben oder die Gesundheit wären in Gefahr. Insbesondere darf es kein Tabu sein, etwas über Sexualität zu erfahren, oder über Dinge zu sprechen, die konventionelle Zeitgenossen für unanständig halten. Wenn man diese einfachen Richtlinien von Anfang an befolgt, wird das Kind furchtlos und freundlich sein.

Beim Eintritt in das Erwachsenenleben jedoch wird sich ein so erzogener junger Mensch in eine Welt voller Ungerechtigkeit, voller Grausamkeit, voller vermeidbarem Elend geworfen fühlen. Die Ungerechtigkeit, die Grausamkeit und das Elend unserer modernen Welt sind ein Erbe der Vergangenheit, und ihre letzte Ursache ist ökonomischer Natur, weil der Kampf auf Leben und Tod um die Sicherung der Existenzmittel in früheren Zeiten unvermeidlich war. Heute ist er nicht mehr unvermeidlich. Mithilfe der gegenwärtigen industriellen Technik können wir, wenn wir wollen, ein erträgliches Dasein für alle schaffen. Wir könnten auch dafür sorgen, dass die Weltbevölkerung auf dem Stand ihres bereits erreichten Wachstums bliebe, würden wir nicht durch den politischen Einfluss der Kirchen, die Krieg, Pest und Hunger der Schwangerschaftsverhütung vorziehen, daran gehindert. Das Wissen, das uns erlauben könnte, einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit zu schaffen, ist vorhanden; das Haupthindernis, es für diesen Zweck einzusetzen, besteht in der Religionslehre. Die Religion hindert unsere Kinder, eine vernünftige Erziehung zu bekommen; die Religion hindert uns daran, die grundlegenden Ursachen des Krieges zu beseitigen; die Religion hindert uns daran, statt der grimmigen alten Lehren von Sünde und Strafe eine Ethik wissenschaftlicher Zusammenarbeit zu lehren. Es kann sein, dass die Menschheit an der Schwelle eines goldenen Zeitalters steht; aber wenn dem so ist, muss zuerst der Drache getötet werden, der das Tor bewacht, und dieser Drache ist die Religion.“

 

Überleben wir den Tod?

 

„Ein anderes Gefühl, das den Glauben an ein Weiterleben fördert, ist Bewunderung für die Vortrefflichkeit des Menschen. Wie der Bischof von Birmingham sagt: „Sein Geist ist ein weitaus feineres Werkzeug als alles, was es je gegeben hat ... er kann Gut und Böse unterscheiden. Er kann Westminster Abbey bauen. Er kann ein Flugzeug konstruieren. Er kann die Entfernung der Sonne berechnen ... Soll denn der Mensch beim Tod völlig zugrunde gehen? Verschwindet sein Geist, dieses unvergleichliche Werkzeug, wenn das Leben endet?“

Der Bischof argumentiert weiter, dass „das Universum zu einem intelligenten Zweck geplant wurde und regiert wird“, und dass es unintelligent gewesen wäre, den Menschen, nachdem er einmal geschaffen war, wieder zugrunde gehen zu lassen.

Darauf gibt es viele Antworten. Vor allem hat sich bei der wissenschaftlichen Erforschung der Natur gezeigt, dass das Eindringen moralischer oder ästhetischer Werte immer ein Hindernis für Entdeckungen war. Früher dachte man, die Himmelskörper müssten sich in Kreisen bewegen, weil der Kreis die vollkommenste Kurve sei; man glaubte, Arten seien unveränderlich, weil Gott nur Vollkommenes erschaffe und sie daher keiner Verbesserung bedürften, oder es sei zwecklos, Seuchen anders zu bekämpfen denn durch Buße, weil sie zur Strafe für Sünden geschickt würden, und so weiter. Nach allem, was wir entdecken konnten, hat sich jedoch gezeigt, dass unsere Werte der Natur gleichgültig sind und sie nur zu verstehen ist, wenn unsere Vorstellungen von Gut und Böse außer Acht gelassen werden. Das Universum mag einen Zweck haben, aber nichts von dem, was wir wissen, deutet darauf hin, dass dieser Zweck, wenn es ihn denn geben sollte, die geringste Ähnlichkeit mit unserem hat.

Das ist auch nicht verwunderlich. Dr. Barnes sagt uns, der Mensch könne Gut und Böse unterscheiden. Aber tatsächlich, das lehrt uns die Anthropologie, haben sich so vielfältige Ansichten über Gut und Böse herausgebildet, dass kein einziger Standpunkt von Dauer war. Wir können daher nicht sagen, der Mensch könne Gut und Böse unterscheiden, sondern nur, dass bestimmte Menschen es können. Welche Menschen? Nietzsche vertrat eine Ethik, die grundverschieden von der Christi war, und einige mächtige Regierungen habe seine Lehre übernommen. Wenn die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, als Argument für Unsterblichkeit gelten soll, müssen wir zuerst klarstellen, wem zu glauben sei, Christus oder Nietzsche, um dann zu argumentieren, Christen seien unsterblich, Hitler und Mussolini hingegen nicht, oder umgekehrt. Die Entscheidung wird selbstverständlich auf dem Schlachtfeld fallen, nicht in der Studierstube. Diejenigen, die das beste Giftgas haben, werden über die Ethik der Zukunft verfügen und somit die Unsterblichen sein …

Im Übrigen haben wir nur abstrakt eine so hohe Meinung vom Menschen. Konkret halten die meisten von uns die große Mehrheit der Menschen für sehr schlecht. Zivilisierte Staaten geben über die Hälfte ihrer Einnahmen dafür aus, gegenseitig ihre Bürger abzuschlachten. Führen wir uns die lange Geschichte der von moralischem Eifer inspirierten Handlungen vor Augen: Menschenopfer, Ketzerverfolgungen, Hexenjagden, Pogrome, bis hin zur pauschalen Vernichtung durch Giftgase, die wohl mindestens einer der Bischofskollegen von Dr. Barnes befürworten dürfte, da er Pazifismus für unchristlich hält. Sind diese Gräuel und die ethischen Lehren, die dazu angespornt haben, wirklich der Beweis für einen intelligenten Schöpfer? Und können wir wirklich wünschen, dass die Menschen, die sie verübt haben, ewig lebten? Die Welt, in der wir leben, kann als eine Folge von Wirren und Unglücken verstanden werden; wenn sie aber das Ergebnis einer zweckmäßigen Absicht ist, muss es die Absicht eines Teufels gewesen sein. Ich für meinen Teil finde Unglück eine weniger schmerzliche und plausiblere Hypothese.“

 

Kann Religion ein Heilmittel gegen unsere Schwierigkeiten sein?

 

„Die Frage, um die es hier geht, betrifft nicht nur den gegenwärtigen Zustand der Welt. Es ist eine viel allgemeinere Frage, die viele Jahrhunderte hindurch Gegenstand lebhafter Debatten war. Es ist die Frage, ob Gesellschaften ein hinreichendes Quäntchen an Moral leben können, ohne sich auf eine dogmatische Religion zu stützen. Ich persönlich glaube nicht, dass die Moral auch nur im Mindesten so von der Religion abhängt, wie religiöse Menschen meinen. Ich glaube sogar, dass einige sehr wichtige Tugenden eher bei denen zu finden sind, die religiöse Dogmen ablehnen, als bei denen, die sie übernehmen. Ich glaube, das gilt insbesondere für die Tugend der Wahrhaftigkeit oder intellektuellen Integrität. Unter intellektueller Integrität verstehe ich die Gepflogenheit, strittige Fragen anhand von Beweisen zu entscheiden oder offen zu lassen, wenn die Beweise nicht ausreichen. Diese Tugend, die von fast allen Anhängern jeglicher Glaubenslehre unterschätzt wird, ist meiner Ansicht nach von höchster gesellschaftlicher Bedeutung und könnte der Welt viel eher zugutekommen, als das Christentum oder irgendein anderes System des organisierten Glaubens …

Nehmen wir zum Beispiel Diebstahl. Eine Gemeinschaft, in der jeder stiehlt, ist für jeden unbequem, und es liegt auf der Hand, dass die meisten einem Leben, wie sie es sich wünschen, näherkommen, wenn Diebstähle in ihrer Gemeinschaft selten sind. Doch ohne Gesetze, Moral und Religion ergibt sich eine Schwierigkeit: Für jeden Einzelnen wäre die ideale Gemeinschaft eine, in der jeder andere ehrlich ist, und nur er allein ein Dieb. Daraus folgt, dass eine gesellschaftliche Institution notwendig ist, um das Interesse des Individuums mit dem der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe wird mehr oder weniger erfolgreich vom Strafrecht und von der Polizei erfüllt. Nun werden aber Straftäter nicht immer gefasst, und es mag sein, dass die Polizei zu viel Nachsicht gegenüber den Mächtigen übt. Wenn die Menschen überzeugt werden können, es gebe einen Gott, der Diebstahl auch dann bestraft, wenn die Polizei versagt, wird dieser Glaube wahrscheinlich für mehr Ehrlichkeit sorgen. Sofern die Bevölkerung bereits an Gott glaubt, wird sie gerne glauben, dass Gott Diebstahl verboten hat. Wie nützlich die Religion in dieser Hinsicht ist, veranschaulicht die Geschichte von Naboths Weingarten, die den König als den über die irdische Gerichtsbarkeit erhabenen Dieb zeigt …

Ich will nicht bestreiten, dass solche Überlegungen in den halbzivilisierten Gemeinschaften der Vergangenheit geholfen haben mögen, ein gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu fördern. Aber heute ist das, was auch immer an Gutem dabei herauskommen mag, wenn man der Moral eine theologische Begründung zuschreibt, untrennbar mit so bedrohlichen Übeln verbunden, dass das Gute bedeutungslos wird. Je weiter die Zivilisation voranschreitet, umso gewisser werden die irdischen Strafen, und umso ungewisser die göttlichen. Die Menschen sehen immer mehr Grund zu glauben, dass sie erwischt werden, wenn sie stehlen, und immer weniger Grund zu glauben, dass Gott sie, wenn sie nicht erwischt werden, dennoch bestrafen wird. Selbst hochreligiöse Menschen fürchten heute kaum noch, fürs Stehlen in die Hölle zu kommen. Sie denken sich, sie könnten rechtzeitig bereuen, und die Hölle sei jedenfalls weder so sicher noch so heiß, wie sie es einmal war. Die meisten Mitglieder zivilisierter Gemeinschaften stehlen nicht, und ich glaube, ihr Motiv ist gemeinhin die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Strafe hier auf Erden. Das entspricht der Tatsache, dass in einem vom Goldrausch erfassten Bergarbeiterlager oder einer sonstigen, ähnlich durcheinandergewirbelten Gemeinschaft fast jeder stiehlt.

Aber, könnte man nun sagen, auch wenn das theologische Verbot von Diebstahl nicht mehr so nötig sein mag, kann es doch auf jeden Fall nicht schaden, da wir alle möchten, dass niemand stiehlt. Das Problem ist nur, dass die herrschende Theologie, sobald Menschen die Neigung erkennen lassen, an ihr zu zweifeln, mit abscheulichen und schädlichen Mitteln abgesichert wird …

Die Übel des Kommunismus sind die gleichen wie die des Christentums im Zeitalter des Glaubens. Die Geheimpolizei der Sowjetunion (GPU) unterscheidet sich nur quantitativ von der Inquisition. Ihre Grausamkeiten sind von der gleichen Art, und der Schaden, den sie dem intellektuellen und moralischen Leben der Russen zufügt, ist von der gleichen Art wie der, den die Inquisitoren anrichteten, wo auch immer sie die Macht hatten. Die Kommunisten fälschen die Geschichte, und die Kirche tat es ebenso, bis zur Renaissance. Wenn die Kirche heute nicht so schlimm ist wie die Sowjetregierung, ist das dem Einfluss derer zu verdanken, die sie angegriffen haben: Vom Konzil von Trient bis zum heutigen Tag sind sämtliche Verbesserungen innerhalb der Kirche deren Feinden geschuldet. Es gibt viele, die sich gegen die Sowjetregierung wenden, weil sie die kommunistische Wirtschaftslehre ablehnen, aber das hat der Kreml mit den frühen Christen, den Franziskanern und der Mehrheit der christlichen Häretiker aus dem Mittelalter gemeinsam. Auch war die kommunistische Lehre nicht auf Häretiker beschränkt: Thomas Morus, ein orthodoxer Märtyrer, beschreibt das Christentum als kommunistisch und sagt, dies sei der einzige Aspekt der christlichen Religion, der sie den Utopisten anempfehle …

Es waren Christen, die Dreyfus unrechtmäßig anklagten, und Freidenker, die letztlich für seine Rehabilitierung sorgten. In der Neuzeit haben Christen Gräueltaten nicht nur dann verteidigt, wenn die Opfer Juden waren, sondern auch in anderen Zusammenhängen. Die Gräuel der Herrschaft König Leopolds im Kongo wurden von der Kirche verschleiert und heruntergespielt und erst durch einen hauptsächlich von Freidenkern angeführten Aufruhr beendet. Das ganze Argument, das Christentum habe einen erhebenden moralischen Einfluss ausgeübt, kann nur unter kompletter Missachtung oder Fälschung der historischen Beweislast aufrechterhalten werden.

Die übliche Antwort lautet, jene Christen, die Dinge taten, die wir verurteilen, seien keine „wahren“ Christen in dem Sinne, dass sie sich nicht an die Lehren Christi gehalten hätten. Man könnte natürlich ebenso gut sagen, die Sowjetregierung bestehe nicht aus wahren Marxisten, weil Marx gelehrt habe, dass Slawen schlechter seien als Deutsche, und diese Lehre vom Kreml nicht angenommen werde. Die Anhänger eines Lehrers weichen stets in einigen Punkten von der Lehre ihres Meisters ab. Wer beabsichtigt, eine Kirche zu gründen, sollte sich das merken. Jede Kirche entwickelt einen Selbsterhaltungstrieb und minimiert den Anteil dessen, was an der Lehre des Gründers nicht zweckdienlich ist. Auf jeden Fall aber beruht das, was die modernen Fürstreiter der christlichen Religion als „wahres“ Christentum bezeichnen, auf einem äußerst selektiven Verfahren. Es lässt vieles außer Acht, was in den Evangelien zu finden ist: So zum Beispiel die Parabel von den Schafen und den Böcken mitsamt der Lehre, dass die Bösen ewige Pein im Höllenfeuer leiden werden. Es greift bestimmte Stellen der Bergpredigt heraus, wobei selbst diese in der Praxis oft verworfen werden. So bleibt es beispielsweise Nicht-Christen wie Gandhi überlassen, die Lehre vom gewaltlosen Widerstand zu praktizieren. Die besonders gepriesenen Vorschriften sollen eine derart erhabene Moral verkörpern, dass ihr göttlicher Ursprung unabweislich sei. Und doch muss Professor Butterfield wissen, dass diese Vorschriften vor der Zeit Christi von Juden ausgesprochen wurden. Sie finden sich zum Beispiel in den Lehren des Rabbi Hillel und in den Testamenten der zwölf Patriarchen; bezüglich der Letzteren sagt Rev. Dr. Robert Henry Charles, eine führende Autorität auf diesem Gebiet: „Die Bergpredigt spiegelt an mehreren Stellen den Geist unseres Textes wieder und gebraucht sogar dieselben Redewendungen: Viele Abschnitte in den Evangelien weisen solche Spuren auf, und Paulus scheint das Buch als Vademekum benutzt zu haben.“ Wenn, wie uns manchmal gesagt wird, die Erhabenheit der ethischen Lehre die Göttlichkeit ihres Urhebers beweist, dann muss der unbekannte Autor dieser Testamente göttlich gewesen sein.

Dass die Welt sich in schlechter Verfassung befindet, ist unbestreitbar, aber die Geschichte liefert nicht den geringsten Grund für die Annahme, das Christentum böte einen Ausweg. Unsere Schwierigkeiten sind mit der Unerbittlichkeit einer griechischen Tragödie dem Ersten Weltkrieg entsprungen, der sowohl die Kommunisten als auch die Nazis hervorgebracht hat. Dieser Krieg war in seinen Anfängen ganz und gar christlich. Die drei Herrscher waren fromm, und die eher kriegerisch Gesonnenen im britischen Kabinett waren es ebenfalls. Widerstand gegen den Krieg kam in Deutschland und in Russland von den Sozialisten, die antichristlich waren, in Frankreich von Jaurès, dessen Mörder den Beifall ernsthafter Christen ernteten; in England von John Morley, einem bekannten Atheisten. Die gefährlichsten Züge des Kommunismus erinnern an die mittelalterliche Kirche. Sie bestehen aus fanatischer Begeisterung für Lehren, die in einem heiligen Buch enthalten sind, aus Unwillen, diese Lehren kritisch zu überprüfen, und barbarischer Verfolgung derer, die sie ablehnen. Wir dürfen nicht auf eine Wiederbelebung von Fanatismus und Bigotterie im Westen setzen, damit die Sache gut ausgeht. Wenn es zu einer solchen Wiederbelebung kommen sollte, bedeutete das nichts anderes, als dass die hassenswerten Züge des kommunistischen Regimes allgemein geworden wären. Was die Welt braucht, ist Vernunft, Toleranz und Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Teilen der menschlichen Familie. Diese Abhängigkeit hat durch die modernen Erfindungen enorm zugenommen, und die rein weltlichen Argumente für einen freundlichen Umgang mit unserem Nächsten sind viel stärker, als sie jemals waren. Auf solche Überlegungen müssen wir setzen, und nicht auf eine Rückkehr zu obskurantistischen Mythen. Man mag sagen, Intelligenz habe unsere Schwierigkeiten verursacht; aber es ist nicht das unintelligente Gegenteil, das sie lösen wird. Nur mehr und weisere Intelligenz kann eine glücklichere Welt schaffen.“

 

Religion und Moral

 

„Viele sagen uns, ohne den Glauben an Gott könne ein Mensch weder glücklich noch tugendhaft sein. Was die Tugend anbelangt, so kann ich nur von Beobachtungen, nicht aus eigener Erfahrung sprechen. Was das Glück anbelangt, so haben weder Erfahrung noch Beobachtung mir den Eindruck vermittelt, Gläubige seien im Durchschnitt glücklicher oder unglücklicher als Ungläubige. Es ist gang und gäbe, „große“ Gründe für sein Unglück anzuführen, weil es einfacher ist, stolz zu sein, wenn man die Schuld an der Misere auf mangelnden Glauben schieben kann, als wenn man sie der eigenen Galle zuschreiben muss. Was schließlich die Moral anbelangt, so hängt viel davon ab, was man unter diesem Begriff versteht. Ich für meinen Teil halte Freundlichkeit und Intelligenz für die wichtigsten Tugenden. Intelligenz wird durch jeglichen Glauben unterbunden, was auch immer geschehen mag; und Freundlichkeit wird durch den Glauben an Sünde und Strafe verhindert (der einzige Glaube übrigens, den die Sowjetregierung vom orthodoxen Christentum übernommen hat) …

In der Praxis gerät die herkömmliche Moral auf verschiedene Weise in Konflikt mit dem, was gesellschaftlich wünschenswert wäre. Ein Problem besteht in der Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Noch wichtiger ist die Begrenzung des Bevölkerungswachstums. Durch Verbesserungen im Bereich der Medizin hat diese Frage größere Bedeutung gewonnen denn je. Wenn die Völker und Stämme, die noch immer so gebärfreudig sind wie die Briten vor hundert Jahren, ihre diesbezüglichen Gewohnheiten nicht ändern, gibt es für die Menschheit keine Perspektive außer Krieg und Verelendung. Das weiß jeder intelligente Student, aber die theologischen Dogmatiker erkennen es nicht an.

Ich bin nicht der Meinung, ein Verfall des dogmatischen Glaubens könne ausschließlich Gutes bewirken. Ich gebe sofort zu, dass neue, von Dogmen beherrschte Systeme wie die der Nazis und der Kommunisten sogar schlimmer sind als die alten, aber sie hätten niemals so tief in die Köpfe der Menschen dringen können, wenn die orthodox-dogmatischen Regeln ihnen nicht schon in der Jugend eingetrichtert worden wären. Stalins Sprache ist voller Reminiszenzen an das theologische Seminar, in dem er seine Ausbildung erhielt. Was die Welt braucht, ist kein Dogma, sondern eine wissenschaftlich-forschende Geisteshaltung in Verbindung mit der Überzeugung, dass die Folter von Millionen nicht wünschenswert ist, ganz gleich, wer sie ihnen zufügt, ob Stalin oder eine nach dem Bild des Gläubigen erfundene Gottheit."

 

Mensch

 

Ideen, die der Menschheit genützt haben

 

„Bevor wir diesen Gegenstand erörtern, müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter einem Nutzen für die Menschheit verstehen. Nützt es der Menschheit, wenn sie zahlreicher, weniger dem Tier ähnlich, oder glücklicher wird? Oder wenn ihre Vergnügungen mannigfacher werden, ihr Wissen umfangreicher, ihr Verhältnis zueinander sich bessert? Alles dies trägt meines Erachtens, wie ich jetzt ausführen will, zum Nutzen der Menschheit bei.

Das Gebiet, auf dem Ideen dem Menschen zunächst ganz unzweifelhaft genützt haben, ist seine zahlenmäßige Vermehrung. Es muß einmal eine Zeit gegeberhaben, da der homo sapiens eine äußerst seltene Spezies darstellte, in steter Gefahr und Angst vor wilden Tieren kümmerlich in Dschungeln und Höhlen dahinvegetierte und sich mit Mühe seine Nahrung verschaffen konnte. Zu dieser Zeit hatte der biologische Vorteil seines größeren Verstandes, der mit der Weitergabe von Generation zu Generation noch zunahm, die Nachteile seiner langen Kindheit, seiner geringeren Beweglichkeit im Vergleich zu den Affen und seiner spärlichen Behaarung, die ihm keinen Kälteschutz bot, noch kaum wettgemacht. In jenen Tagen muß die Gesamtzahl der Menschen zweifellos außerst gering gewesen sein. Der Hauptzweck, dem die Menschheit im Laufe der Zeit ihre technischen Errungenschaften dienstbar machte; war die Vermehrung ihrer Gesamtzahl. Ich behaupte nicht, daß das ihre Absicht war; allein es war das tatsächliche Ergebnis. Wenn dies ein Grund zur Freude ist, dann können wir uns darüber freuen.

Wir sind auch in gewisser Hinsicht den Tieren immer unähnlicher geworden. Ich denke da besonders an zwei Dinge: erstens, daß erworbene Fähigkeiten, im Gegensatz zu angeborenen, im Leben des Menschen eine immer größere Rolle spielen, und zweitens, daß sein vorausschauendes Denken sein impulsives Handeln mehr und mehr bezähmt. In diesen beiden Punkten sind wir zweifellos den Tieren unähnlicher geworden.

Was das Glücklichsein betrifft, so bin ich da nicht so sicher. Gewiß gehen im Winter Scharen von Vögeln an Hunger zugrunde, wenn sie keine Zugvögel sind. Aber während des Sommers sehen sie dies schreckliche Ende nicht voraus, erinnern sich auch nicht mehr, wie knapp sie ihm im vergangenen Winter entronnen sind. Anders der Mensch. Ich weiß nicht, ob der Prozentsatz der Vögel, die im heurigen Winter (1946-47) an Hunger zugrunde ging, so groß ist wie der Prozentsatz an Menschen, der während derselben Zeit in Indien und Mitteleuropa verhungert ist. Aber dem Hungertod jedes einzelnen Menschen geht eine lange Angst voraus, und die Angst der ihm Nahestehenden begleitet ihn. Wir erleiden ja nicht nur die Uebel, die uns selbst befallen, sondern auch alle die, von denen uns der Verstand sagt, daß wir sie zu fürchten haben. Die vorbedachte und besonnene Unterdrückung unserer Impulse verhütet körperliches Uebel um den Preis von Sorge und Verdruß; „dafür ist uns auch alle Freud' entrissen“. Ich glaube nicht, daß die Gelehrten meines Bekanntenkreises, selbst wenn sie ein gesichertes Einkommen beziehen, so glücklich sind wie die Mäuse, die die Brosamen von ihrem Tische verzehren, während die gelehrten Herren ihr Nickerchen machen. Daher glaube ich nicht, daß in dieser Richtung überhaupt Fortschritte erzielt worden sind.

Anders steht es jedoch um die Mannigfaltigkeit der Vergnügungen. Ich las einmal von Löwen, denen man einen Film vorführte, der wilde Löwen auf ihren erfolgreichen Raubzügen zeigte; unsere Löwen konnten jedoch der Filmvorführung nichts abgewinnen. Nicht nur Musik, Dichtung, und Wissenschaft, sondern auch Fußball, Baseball und Alkohol bereiten Tieren keinerlei Vergnügen. Daher hat uns gewiß unser Verstand in die Lage versetzt, viel mannigfaltigere Vergnügungen zu genießen als die Tiere; doch haben wir diesen Vorteil damit erkauft, daß wir uns viel leichter langweilen als sie.

Man wird mir freilich einwenden, daß weder die Anzahl noch die Vielfalt der Vergnügungen die Herrlichkeit des Menschen ausmachen, sondern seine geistigen und sittlichen Vorzüge. Es liegt auf der Hand, daß wir mehr wissen als die Tiere, und man betrachtet dies allgemein als einen Vorteil, den wir über sie haben. Ob es wirklich einer ist, mag man bezweifeln. Jedenfalls aber unterscheiden wir uns dadurch vom unvernünftigen Tier.

Hat die Zivilisation uns gelehrt, einander freundschaftlich näherzukommen? Diese Frage ist leicht beantwortet. Die Rotkehlchen (die englische, nicht die amerikanische Spezies) picken ein ältliches Rotkehlchen mit ihren Schnäbeln zu Tode, während der Mensch (die englische, nicht die amerikanische Spezies) einem ältlichen Menschen eine Altersrente gewährt. Innerhalb der Herde sind wir zueinander freundlicher als viele Tierarten; allein in unserer Haltung gegenüber denen, die nicht zu unserer Herde gehören, sind wir trotz aller Sittenlehrer und Prediger so grausam wie nur irgend ein Tier, und unser Vrstand verleiht diesen Grausamkeiten ein Ausmaß, das selbst,die wildeste Bestie nicht erreicht. Man darf hoffen (freilich nicht sehr zuversichtlich), daß mit der Zeit die menschlichere Haltung sich durchsetzen wird; derzeit sind die Vorzeichen freilich nicht sehr günstig.

All diese verschiedenen Elemente muß man in Betracht ziehen, um festzustellen, welche Ideen der Menschheit am meisten genützt haben. Die Ideen, die hierhergehören, lassen sich allgemein in zwei Gruppen einteilen: einerseits wissenschaftliche und technische, andrerseits moralische und politische. Ich möchte zunächst die erstgenannten behandeln.

Die wichtigsten und schwierigsten Schritte wurden in vorgeschichtlicher Zeit unternommen. Wir wissen nicht, in welchem Entwicklungsstadium die Sprache einsetzte, dürfen aber als ziemlich sicher annehmen, daß sie nur ganz allmählich und schrittweise entstand. Ohne sie wäre es sehr schwer gewesen, die im Laufe der Zeit gemachten Erfindungen und Entdeckungen von Geschlecht zu Geschlecht weiterzugeben.

Ein anderer bedeutsamer Schritt, der in die Zeit vor oder nach dem Ursprung der Sprache fällt, war die Nutzbarmachung des Feuers. Ich glaube, daß das Feuer zuerst hauptsächlich der Abhaltung wilder Tiere diente, während unsere Vorfahren schliefen; offenbar hat man aber bald entdeckt, daß es angenehme Wärme spendet. Wahrscheinlich wurde irgendeinmal ein Kind gescholten, weil es Fleisch ins Feuer geworfen hatte; als man es aber herausnahm, fand man, aß es so viel besser schmeckte, und so begann die lange Geschichte der Kochkunst.

Die Zähmung der Haustiere, besonders der Kuh und des Schafes, muß dann das Leben viel behaglicher und sicherer gemacht haben. Es gibt eine ansprechende anthropologische Theorie, nach welcher man ursprünglich den Nutzen der Haustiere nicht voraussah, sondern alle die Tiere zu zähmen suchte, deren Verehrung einem die jeweilige Religion vorschrieb. Die Stämme, die Löwen und Krokodile verehrten, starben aus, während jene, denen Kuh oder Schaf als heilig galten, gediehen. Mir sagt diese Theorie zu, und da wir weder Beweise noch Gegenbeweise haben, darf ich wohl mit ihr liebäugeln.

Wichtiger noch als die Zähmung der Haustiere war die Erfindung des Ackerbaues, die jedoch blutdürstige Gebräuche in das religiöse Leben einführte, die sich jahrhundertelang erhielten. Fruchtbarkeitsriten brachten leicht Menschenopfer und Kannibalismus mit sich. Moloch wollte das Getreide nicht wachsen lassen, wenn er nicht im Blut von Kindern schwelgen konnte. Aehnlich dachten in Manchester die Anhänger der Niederkirche in den frühen Jahren des Industrialismus, als sie Kinder von sechs Jahren zwölf bis vierzehn Stunden am Tage arbeiten ließen, und zwar unter Arbeitsbedingungen, an denen die meisten starben. Heute hat man entdeckt, daß Getreide auch so wächst und Baumwollwaren auch erzeugt werden können, ohne daß man sie im Blut der Kinder tränkt. Im Falle des Getreides brauchte man zu dieser Entdeckung Jahrtausende; bei den Baumwollwaren kaum ein Jahrhundert. Also gibt es vielleicht doch Anzeichen für einen Fortschritt auf der Welt.

Die letzte große vorgeschichtliche Erfindung war die Kunst des Schreibens, die ja in der Tat eine Voraussetzung für die Geschichte war. Wie die Sprache, so entwickelte sich auch die Schrift erst nach und nach. In Form von Bildern, die eine Nachricht ausdrücken sollten, war sie wahrscheinlich so alt wie die Sprache, doch von den Bildern zur Silbenschrift und von da zum Alphabet war ein weiter Weg. In China wurde der letztgenannte Schritt nie getan.

In historischer Zeit finden wir die frühesten wichtigen Errungenschaften in Mathematik und Astronomie, die beide in Babylonien einige Jahrtausende vor dem Beginn unserer Zeitrechnung einsetzten. Anscheinend verknöcherte und erstarrte die Wissenschaft in Babylonien jedoch, lange bevor die Griechen zum erstenmal damit in Berührung kamen. Ihnen, den Griechen erst, verdanken wir Denkhaltungen und Forschungsmethoden, die sich seither stets als fruchtbar erwiesen haben. In den blühenden griechischen Handelsstädten kamen reiche Kaufherren, die von der Sklavenarbeit lebten, durch ihre Handelsverbindungen mit vielen Völkern in Berührung; einige davon waren noch ganz barbarisch, andere schon ziemlich zivilisiert. Was die zivilisierten Völker - Babylonier und Aegypter - zu bieten hatten, eigneten sich die Griechen schnell an. Sie begannen, über ihre eigenen herkömmlichen Sitten und Gebräuche nachzudenken, da sie erkannten, daß sie denen ihrer rückständigen Nachbarvölker ähnlich und doch zugleich davon verschieden waren, und so erhoben sich einige unter ihnen gegen Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. zu einem aufgeklärten Rationalismus, der auch heute noch nicht übertroffen werden kann. Xenophanes beobachtet; daß die Menschen sich Götter nach ihrem eigenen Ebenbilde schaffen: „Die Aethiopier machen ihre Götter schwarz und stumpfnasig; die Thraker sagen, ihre hätten blaue Augen und rotes Haar: ja, und wenn Ochsen, Löwen und Pferde Hände hätten und damit malen könnten und Kunstwerke hervorbringen wie die Menschen, so würden die Pferde ihren Göttern Pferdegestalt, die Ochsen Ochsengestalt verleihen und ihre Körper nach dem Ebenbild ihrer verschiedenen Gattungen formen.“

Einige unter den Griechen benützten ihre Loslösung von der Tradition zum Studium der Mathematik und Astronomie und erzielten in beiden ganz erstaunliche Fortschritte. Die Mathematik wurde von den Griechen nicht wie heute in den Dienst der Technik gestellt; sie war eine Beschäftigung der Vornehmen, die man um ihrer selbst willen schätzte, da sie unumstößliche Wahrheit schenkte und einen übersinnlichen Maßstab an die Hand gab, an dem gemessen die sichtbare Welt an Bedeutung verlor. Nur Archimedes nahm die neuzeitliche Verwendung der Mathematik vorweg, indem er Kriegsmaschinen zur Verteidigung von Syrakus gegen die Römer erfand. Ein römischer Soldat tötete ihn, und die Mathematiker zogen sich wieder in ihren elfenbeinernen Turm zurück.

Die Astronomie, der sich das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert, vor allem wegen ihres praktischen Nutzens für die Schifffahrt, mit glühendem Eifer widmeten, wurde von den Griechen unter Außerachtlassung jedes praktischen Zweckes studiert, bis sie im späteren Altertum mit der Astrologie verquickt wurde. Sie entdeckten schon sehr früh, daß die Erde rund ist, und schätzten ihren Umfang ziemlich genau. Sie fanden Methoden zur Berechnung der Entfernung zur Sonne und zum Mond, und Aristarch von Samos entwickelte sogar das vollständige kopernikanische System; aber seine Ansichten wurden von allen seinen Nachfolgern bis auf einen abgelehnt, und nach dem dritten Jahrhundert v. Chr. wurde kein bedeutender Fortschritt mehr erzielt. Zur Zeit der Renaissance wurde jedoch einiges von den Leistungen der Griechen bekannt und trug viel zum Aufblühen der neuzeitlichen Wissenschaft bei.

Die Griechen glaubten an Naturgesetze und drückten sie in mathematischen Begriffen aus. Diese Ideen haben sehr weitgehend den Schlüssel zum Verständnis der physischen Welt geliefert, das in der Neuzeit errungen wurde. Aber viele Griechen, unter ihnen Aristoteles, fielen dem Irrglauben zum Opfer, daß die Wissenschaft mit der Idee des Zweckes arbeiten könne. Aristoteles unterschied vier Arten von Ursachen, von denen uns hier nur zwei angehen: die „wirkende“ Ursache und die „Zweckursache“. Die wirkende Ursache ist das, was wir die Ursache schlechthin nennen würden; die „Zweckursache“ ist der Zweck. Wenn wir beispielsweise ein Gebirge durchwandern und gerade, als unser Durst unerträglich geworden ist, ein Gasthaus finden, dann: ist die wirkende Ursache des Gasthauses die Arbeit der Maurer, die es gebaut haben, während seine Zweckursache die Löschung unseres Durstes ist. Die Frage „Warum steht hier ein Gasthaus?“ könnte demnach auf zweierlei Art richtig beantwortet werden: „Weil es jemand hierhergebaut hat“ oder „Weil hier viele durstige Wanderer vorbeikommen“. Das eine ist die Erklärung durch die „wirkende“, das andere durch die „Zweckursache“. Wo es sich um menschliche Angelegenheiten handelt, ist oft die Erklärung durch die „Zweckursache“ am Platze, weil menschliche Handlungen ja einen Zweck haben. Wo es sich aber um die leblose Natur dreht, konnte man bisher mit wissenschaftlichen Mitteln nur „wirkende“ Ursachen entdecken, und der Versuch, Naturerscheinungen durch „Zweckursachen“ zu erklären, hat noch immer zu Scheinwissenschaft geführt. Nach allem, was wir wissen, kann Naturerscheinungen zwar ein Zweck zugrundeliegen; wenn dem aber so ist, so konnte man doch bisher keine Spur davon entdecken, und alle bekannten wissenschaftlichen Gesetze haben nur mit „wirkenden“ Ursachen zu tun. In dieser Hinsicht hat Aristoteles die Welt irregreführt und sie fand sich erst zur Zeit Galileis wieder auf den rechten Weg zurück.

Im siebzehnten Jahrhundert führten besondes Galilei, Descartes, Newton und Leibniz einen Fortschritt in unserem Verständnis der Natur herbei, der plötzlicher und überraschender kam als jeder andere in der Geschichte, ausgenommen der der frühen Griechen. Wohl besaßen einige der Theorien, mit denen die mathematische Physik jener Zeit arbeitete, nicht jene unbedingte Gültigkeit, die man ihnen damals beimaß. Wohl erfordern die neueren Fortschritte der Physik oft neue Arbeitshypothesen, die von denen des siebzehnten Jahrhunderts gänzlich verschieden sind. Diese lieferten gewiß nicht den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur, wohl aber zu sehr vielen. Die moderne Industrie- und Kriegstechnik beruht, mit der einzigen Ausnahme der Atombombe, immer noch zur Gänze auf einem System der Dynamik, das aus den Grundsätzen Galileis und Newtons hervorging. Dasselbe gilt immer noch zum größten Teil von der Astronomie, obwohl für gewisse Fragen, wie die nach der Ursache der Sonnenhitze, die neuen Entdeckungen der Quantenmechanik unerläßlich sind. Die Dynamik Galileis und Newtons beruhte auf zwei neuen Prinzipien und einer neuen Technik.

Das erste der neuen Prinzipien war das Gesetz der Trägheit, das besagte, daß jeder sich selbst überlassene Körper, der in Bewegung ist, diese Bewegung in derselben geraden Linie und mit derselben Geschwindigkeit fortsetzt. Die Bedeutung dieses Prinzips wird erst klar, wenn man die von den Scholastikern aus Aristoteles abgeleiteten Prinzipien dagegenhält. Vor Galilei glaubte man an einen grundlegenden Unterschied zwischen den Regionen unterhalb und oberhalb des Mondes. In den Regionen unterhalb des Mondes, der „sublunaren“ Sphäre, gab es Wechsel und Verfall; die „natürliche“ Bewegung der Körper war geradlinig, aber jeder einmal in Bewegung befindliche Körper würde, so glaubte man, wenn er sich selbst überlassen war, allmählich langsamer werden und plötzlich stehen bleiben. Oberhalb des Mondes hingegen war die „natürliche“ Bewegung der Körper kreisförmig, oder aus kreisförmigen Bewegungen zusammengesetzt, und in den Himmeln gab es keinerlei Wechsel oder Verfall, ausgenommen den periodischen Bahnenwechsel der Himmelskörper. Deren Bewegungen waren nicht spontan, sondern auf sie vom primum mobile übertragen; dieses war die äußerste der beweglichen Sphären und empfing selbst seine Bewegung von dem Unbewegten Beweger, d. h. von Gott. Niemand dachte daran, sich auf Beobachtungen zu stützen; so glaubte man zum Beispiel, ein Geschoß fliege zuerst eine Zeitlang horizontal und falle dann plötzlich senkrecht nach unten; man sollte meinen, jeder, der einen Springbrunnen beobachtete, hätte sehen müssen, daß die Tropfen im Bogen fallen. Von den Kometen, die erscheinen und wieder verschwinden, mußte man daher annehmen, sie seien zwischen Erde und Mond; denn wären sie über dem Mond gewesen, so hätten sie unzerstörbar sein müssen. Es liegt auf der Hand, daß sich aus so verworrenen Vorstellungen nichts Rechtes entwickeln konnte. Galilei faßte die Prinzipien, die die Erde und die Himmel beherrschen, in seinem einzigen Gesetz der Trägheit zusammen, nach dem ein einmal in Bewegung versetzter Körper nicht von selbst zum Stillstand kommt, sondern sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit geradlinig fortbewegt, sei es auf der Erde oder in einer der Himmelssphären. Dieses Gesetz ermöglichte die Begründung einer Wissenschaft von den Bewegungen der Materie, die jeden vermeintlichen Einfluß geistig-seelischer Art ausschaltete und so den Grund zu der rein materialistischen Physik legte,an die die Naturwissenschafter, wie fromm sie auch seien, seither glauben.

Vom siebzehnten Jahrhundert an wurde es immer klarer, daß wir uns von jedem ethischen oder ästhetischen Vorurteil freimachen müssen, wenn wir Naturgesetze verstehen wollen. Wir dürfen uns nicht länger vorstellen, daß edle Dinge edle Ursachen, intelligente Dinge intelligente Ursachen haben müssen oder daß Ordnung ohne einen himmlischen Polizisten unmöglich ist. Die Griechen bewunderten die Sonne, den Mond und die Planeten, und hielten sie für Götter; Plotin führt aus, wie weit sie den Menschen an Weisheit und Tugend überlegen sind. Anaxagoras, der darüber anders dachte und lehrte, wurde wegen Gottlosigkeit verfolgt und zur Flucht aus Athen gezwungen. Die Griechen leisteten sich auch die Auffassung, daß der Kreis die vollkommenste Figur sei und daher die Bewegungen der Himmelskörper kreisförmig oder doch von kreisförmigen abgeleitet sein müßten. Alle Vorurteile dieser Art mußten von der Astronomie des siebzehnten Jahrhunderts aufgegeben werden. Das kopernikanische System bewies, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, und brachte sogar einige kühne Geister auf den Gedanken, daß der Mensch vielleicht nicht der oberste Zweck des Schöpfers war. In ihrer Mehrzahl waren jedoch die Astronomen fromme Leute, und bis zum neunzehnten Jahrhundert glaubten die meisten von ihnen, ausgenommen in Frankreich, an die Genesis.

Es blieb der Geologie, Darwin und der Evolutionslehre vorbehalten, den Glauben britischer Naturwissenschafter zuerst zu erschüttern. Wenn sich der Mensch in unmerklichen Uebergängen aus niederen Lebensformen entwickelt hatte, so wurden damit eine Reihe schwieriger Fragen aufgeworfen. In welchem Entwicklungsstadium erwarben unsere Vorfahren den freien Willen? In welchem Zustand ihrer langen Aufwärtsentwicklung von der Amöbe erhielten sie unsterbliche Seelen? Wann wurden sie zum erstenmal einer Bosheit fähig, die einen wohlwollenden Schöpfer zwang, sie verdientermaßen ins ewige Feuer zu werfen? Die meisten waren der Meinung, daß eine solche Strafe für Affen zu hart wäre, trotz der fatalen Neigung dieser Tierchen, Europäern Kokosnüsse an den Kopf zu werfen. Wie aber stand es um den Pithecanthropus erectus? Hatte wirklich er den Apfel gegessen? Oder war es der Homo Pekiniensis, oder vielleicht der Piltdown-Mensch? Ich fuhr einmal nach Piltdown, konnte aber keine Anzeichen besonderer Verworfenheit in jenem Dörfchen bemerken; es schien sich auch seit urgeschichtlicher Zeit nicht sonderlich gewandelt zu haben. Dann waren es vielleicht die Neandertaler, die zuerst sündigten? Das klingt schon viel wahrscheinlicher, umso mehr, als sie ja in Deutschland lebten. Aber Spaß beiseite - auf solche Fragen kann es keine Antwort geben, und jene Theologen, die die Evolution nicht in Bausch und Bogen verwerfen, mußten ihre Anschauungen in beträchtlichem Ausmaß revidieren.

Eine der „erhabenen“ Vorstellungen, die sich als wissenschaftlich unbrauchbar erwiesen haben, ist die Seele. Ich will damit nicht sagen, daß es positive Beweise für ihre Nichtexistenz gibt; ich meine nur, daß die Seele, wenn sie existiert, doch in keinem auffindbaren Kausalgesetz eine Rolle spielt. Es gibt alle erdenklichen experimentellen Methoden, um festzustellen, wie sich Menschen und Tiere in verschiedenen Situationen verhalten. Man kann Ratten in Labyrinthe und Menschen in Stacheldrahtkäfige stecken und beobachten, welche Mittel sie anwenden, um daraus zu entkommen. Man kann Drogen anwenden und ihre Wirkung beobachten. Man kann eine männliche Ratte in eine weibliche verwandeln, obwohl ein entsprechendes Verfahren mit Menschen bisher noch nicht durchgeführt wurde, nicht einmal in Buchenwald. Es zeigt sich, daß man asoziales Benehmen durch medizinische Mittel oder durch die Schaffung einer besseren Umwelt bekämpfen kann, und die Idee der Sünde hat so einen ganz unwissenschaftlichen Beigeschmack erhalten, ausgenommen natürlich da, wo man sie auf die Nazis anwendet. Man hat allen Grund zur Hoffnung, daß durch das wissenschaftliche Studium der menschlichen Verhaltensweisen die Regierungen in Zukunft noch leichter als heute schon in der Lage sein werden, die Menschheit in feindselige Haufen blutdürstiger Verrückter zu verwandeln. Natürlich könnten die Regierungen auch das gerade Gegenteil tun und die Menschheit zu williger und freudiger Zusammenarbeit zu ihrem eigenen Glück anstatt zum Unglück anderer führen, aber nur, wenn es eine Weltregierung mit einem Monopol aller Kriegswaffen gibt. Ob dies eintreten wird, ist sehr die Frage.

Dies führt mich zu der zweiten Gruppe von Ideen, die dem Menschen genützt hat oder einmal nützen kann; ich meine moralische Ideen im Gegensatz zu technischen. Bisher habe ich die gesteigerte Beherrschung der Naturkräfte behandelt, die der Mensch durch die Naturwissenschaft erworben hat; sie ist zwar eine Vorbedingung für den Fortschritt auf vielen Gebieten, doch gewährleistet sie allein aus sich selbst noch nichts, was wünschenswert wäre. Im Gegenteil zeigen die gegenwärtige Weltlage und die Angst vor einem Atomkrieg, daß wissenschaftlicher Fortschritt ohne gleichzeitigen moralischen und politischen Fortschritt die Katastrophe nur verschlimmern kann, die irregeleitete Technik herbeiführen mag. In abergläubischen Momenten bin ich versucht, an die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu glauben, und ich fürchte dann, daß der ähnlichen, nur größeren Gottlosigkeit unserer eigenen Zeit eine noch tragischere und furchtbarere Heimsuchung bevorsteht. Vielleicht - so male ich mir das manchmal aus - will Gott nicht, daß wir den Mechanismus verstehen, mit dem er das materielle Universum lenkt. Vielleicht sind die Kernphysiker den letzten Geheimnissen so nahe gekommen, daß er die Zeit für gekommen hält, ihrer Arbeit Einhalt zu tun. Und welchen einfacheren Weg könnte er dazu einschlagen, als sie ihre Erfindungen bis zur Vernichtung der Menschheit fortsetzen zu lassen? Wenn ich mir vorstellen könnte, daß Rehe und Eichhörnchen, Nachtigallen und Lerchen sie überleben würden, dann könnte ich dieser Katastrophe mit einigem Gleichmut entgegensehen; der Mensch hat ja bewiesen, daß er nicht würdig ist, der Herr der Schöpfung zu sein. Allein man muß fürchten, daß die fürchterliche Alchimie der Atombombe alle Lebensformen gleichermaßen zerstören und die Erde für immer ein toter Klumpen bleiben wird, der sinnlos um eine nutzlose Sonne wirbelt. Ich kenne den unmittelbaren Anlaß nicht, der diese interessante Begebenheit auslösen wird. Vielleicht wird es ein Streit um persisches Oel, vielleicht eine Auseinandersetzung um den Handel mit China, vielleicht ein Kampf zwischen Juden und Mohammedanern um die Herrschaft in Palästina sein. Jeder Patriot wird einsehen, daß diese Fragen so bedeutend sind, daß man um ihretwillen die Ausrottung der Menschheit einer feigen Versöhnung vorziehen muß.

Sollten jedoch einige meiner Leser die Menschheit gerne weiterleben sehen, so ist es vielleicht der Mühe wert, den Bestand an moralischen Ideen zu überblicken, die große Männer der Welt verkündet haben und die, wenn sie Gehör fänden, dem größten Teil der Menschheit Glück statt Unglück bringen könnten.

Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, ist der Mensch ein seltsames Zwitterwesen zwischen Engel und Teufel. Er kann die Herrlichkeit der Nacht empfinden, die zarte Schönheit von Frühlingsblumen, die zarte Rührung der Elternliebe, die betörende Süßigkeit geistiger Erkenntnis. In einsichtsvollen Augenblicken überkommen ihn Visionen, wie das Leben gelebt und die Beziehungen von Mensch zu Mensch gestaltet werden sollten. Die allumfassende Liebe zur Menschheit ist ein Gefühl, das vielen zuteil wurde und noch mehr Menschen zuteil werden könnte, wenn es die Welt nicht so schwer machte. Dies ist die eine Seite des Bildes. Seine Kehrseite sind Grausamkeit, Habgier, Gleichgültigkeit und Anmaßung. Menschen, ganz normale Menschen zwingen Kinder, die Vergewaltigung ihrer Mütter mitanzusehen. Um politischer Ziele willen bereiten Menschen ihren Gegnern Jahre hindurch unaussprechliche Qualen. Wir wissen, wie die Nazis mit den Juden in Auschwitz verfuhren. An Massengrausamkeit stehen die von den Russen angeordneten Deutschenaustreibungen den von den Nazis verübten Greueltaten nicht viel nach. Und wie steht es mit uns edlen Engländern? Wir würden so etwas nie tun, o nein! Aber wir tun uns an saftigen Steaks und heißen Brötchen gütlich, während deutsche Kinder Hungers sterben, weil unsere Regierung sich scheut, unsere Empörung hervorzurufen, wenn sie uns zumutete, auf einen Teil unserer Genüsse zu verzichten. Wenn es ein Jüngstes Gericht gäbe, wie die Christen glauben, wie, glauben Sie, würden Ihre Entschuldigungen vor diesem endgültigen Tribunal sich anhören?

Moralische Ideen gehen manchmal Hand in Hand mit politischen Entwicklungen; manchmal überholen sie sie auch. Die Brüderlichkeit aller Menschen ist ein Ideal, das seinen ersten Auftrieb politischen Entwicklungen verdankt. Als Alexander den Osten eroberte, ging er daran, den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren auszumerzen; zweifellos deshalb, weil sein griechisch-mazedonisches Heer zu klein war, ein so riesiges Reich mit Gewalt zu halten. Er zwang seine Offiziere, Frauen aus dem barbarischen Adel zu heiraten, während er selbst, um ein doppelt glänzendes Beispiel zu geben, gleich zwei Barbarenprinzessinnen heiratete. Infolge dieser Politik verschwand allmählich der Stolz und die Exklusivität der Giechen, und die griechische Kultur breitete sich in vielen Ländern nichthellenischer Bevölkerung aus. Zeno, der Begründer der Stoa, der zur Zeit der Eroberung durch Alexander wahrscheinlich noch im Knabenalter stand, war ein Phönizier, und unter den führenden Stoikern waren wenige Griechen. Die Stoiker waren denn auch die geistigen Urheber der Idee, daß alle Menschen Brüder seien. Sie lehrten, alle seien Kinder des Zeus, und der Weise kenne keinen Unterschied zwischen Griechen und Barbaren, Sklaven und Freien. Als Rom die gesamte zivilisierte Welt unter seiner Herrschaft vereinigte, begünstigte die politische Lage die Ausbreitung dieser Lehre. In einer neuen Form, den breiten Massen und ihrem Gefühlsleben besser angepaßt, vertrat das Christentum dann eine ähnliche Lehre. Christus sagte: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, und auf die Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ antwortete er mit dem Gleichnis vom Guten Samariter. Wer sich heute vergegenwärtigen will, wie dies Gleichnis von seinen Zuhörern aufgenommen wurde, muß das Wort „Samariter“ durch „Deutscher“ oder „Japaner“ ersetzen. Ich fürchte, viele Christen von heute würden sich gegen eine solche Auslegung wehren, weil sie sie zu der Erkenntnis zwänge, wie weit sie sich von der Lehre des Stifters ihrer Religion entfernt haben. Eine ähnliche Lehre hatten schon viel früher die Buddhisten vertreten. Nach ihnen erklärte der Erleuchtete, er könne nicht glücklich sein, solange auch nur ein Mensch noch unglücklich sei. Es mag den Anschein haben, als hätten diese erhabenen ethischen Lehren auf die Welt kaum gewirkt; in Indien starb der Buddhismus aus, in Europa nahm man dem Christentum die meisten jener Elemente, die es von Christus überkommen hatte. Doch wäre dies meines Erachtens eine oberflächliche Ansicht. Das Christentum machte, sobald es den Staat erobert hatte, den Gladiatorenkämpfen ein Ende - nicht, weil sie grausam, sondern weil sie Götzendienst waren. Das Ergebnis war gleichwohl die Einschränkung der weitverbreiteten, systematischen Erziehung zur Grausamkeit, durch die das gemeine Volk in den römischen Städten entartete. Das Christentum tat auch viel, das Los der Sklaven zu lindern. Es richtete Wohlfahrtsorganisationen und Spitäler ein. Wenn auch die große Mehrheit der Christen es leider gar sehr an christlicher Nächstenliebe fehlen ließ, so lebte doch das Ideal weiter und beseelte zu allen Zeiten hervorragende Heilige. In neuer Form ging es in den Liberalismus der Neuzeit über und bleibt die Inspiration für viele unserer Hoffnungen in unserer düsteren Welt.

Die Losungsworte der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sind religiösen Ursprungs. Von der Brüderlichkeit habe ich schon gesprochen. Die Gleichheit war ein Merkmal der Orphischen Gesellschaften im alten Griechenland, von denen viele christliche Dogmen mittelbar herrühren. Zu diesen Gesellschaften wurden Sklaven und Frauen auf gleichem Fuß mit Bürgern zugelassen. Platos Eintreten für das Frauenstimmrecht, das manche neuzeitliche Leser überrascht hat, geht auf orphische Gebräuche zurück. Die Orphiker glaubten an Seelenwanderung und meinten, eine Seele, die in einem Leben im Körper eines Sklaven wohnt, könne in einem anderen Leben einem König gehören. Vom religiösen Standpunkt gesehen, ist es daher Torheit, zwischen einem Sklaven und einem König zu unterscheiden; beiden ist die Würde eigen, die einer unsterblichen Seele zukommt, und keiner kann in religiöser Hinsicht darüber hinaus noch mehr für sich beanspruchen. Diese Anschauung ging aus der Orphik in die Stoa und in das Christentum über. Lange Zeit hatte sie wenig praktische Wirkung, aber schließlich half sie, wann immer günstige Umstände es ermöglichten, mit, die Ungleichheiten im Sozialgefüge abzuschleifen. Man lese beispielsweise John Woolmans Journal. John Woolman war ein Quäker und einer der ersten Amerikaner, die gegen die Sklaverei auftraten. Zweifellos war der eigentliche Grund seines Eintretens für die Sklaven Menschlichkeit; aber er verstand es, dies Gefühl zu stärken und ihm in Auseinandersetzungen mehr Gewicht zu verschaffen durch die Berufung auf christliche Lehren, dies offen zu verleugnen seine Mitmenschen sich scheuten.

Die Freiheit als Ideal hat eine sehr abwechslungsreiche Geschichte. Im Altertum konnte Sparta als totalitärer Staat damit so wenig anfangen wie die Nazis. Aber die meisten griechischen Stadtstaaten gewährten ein Ausmaß an Freiheit, das wir heute für übertrieben halten würden und tatsächlich für übertrieben halten, wenn es heute von ihren Nachkommen in derselben Weltgegend praktiziert wird. Politik wurde mit Meuchelmorden und rivalisierenden Heeren gemacht, deren eines hinter der Regierung stand, das andere sich aus Flüchtlingen zusammensetzte. Die Flüchtlinge machten oft mit den Feinden der Stadt gemeinsame Sache und folgten beim siegreichen Einmarsch den Eroberern auf den Fersen. Diese Handlungsweise war ganz allgemein, und trotz vieler Schönrednerei in den Werken moderner Historiker über die Loyalität der Griechen zum Stadtstaat hielt anscheinend niemand ein solches Benehmen für besonders schändlich. Das hieß die Freiheit übertreiben, und die Reaktion darauf war die Verherrlichung Spartas.

Das Wort, „Freiheit“ hat zu verschiedenen Zeiten seltsame Bedeutungen gehabt. In der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Rom bedeutete es das Recht mächtiger Senatoren, Provinzen auszuplündern und sich dadurch zu bereichern. Brutus, den die meisten englischsprechenden Leser als den hochgemuten Helden von Shakespeares „Julius Caesar“ kennen, war in Wirklichkeit ein ganz anderer Mann. Er pflegte einer Stadtgemeinde eine 60prozentige Anleihe zu gewähren; konnte sie dann die Zinsen nicht zahlen, so warb er eine Privatarmee an und belagerte sie, was ihm sein Freund Cicero milde verwies. Heutzutage hat das Wort „Freiheit“ im Munde von Industriemagnaten eine ganz ähnliche Bedeutung. Abgesehen von diesen Absonderlichkeiten gibt es zwei ernsthafte Auslegungen des Begriffes „Freiheit“: einerseits die Freiheit eines Volkes von fremder Herrschaft, andererseits die Freiheit des Bürgers, seinen rechtmäßigen Beschäftigungen nachzugehen. In einer wohlgeordneten Welt müßten beide gewissen Beschränkungen unterworfen sein; leider hat man aber die erstgenannte im absoluten Sinn aufgefaßt. Ich werde auf diesen Gesichtspunkt gleich zurückkommen, möchte aber zunächst über die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers sprechen.

Diese Art Freiheit fand ihren Weg in die praktische Politik zunächst in der Form der Toleranz, einer Lehre, die im siebzehnten Jahrhundert viele Anhänger fand, da es weder Protestanten noch Katholiken gelang, die Gegenpartei auszurotten. Nachdem sie einander hundert Jahre lang bekämpft hatten - ein Kampf, der seinen Höhepunkt in den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erreichte - und nachdem man erkennen mußte, daß als Ergebnis des ganzen Blutvergießens am Ende wieder fast genau das gleiche Kräfteverhältnis bestand wie am Anfang, wiesen einige geniale Männer - meist Holländer - darauf hin, daß vielleicht alles Morden unnötig gewesen sei, und daß man den Menschen gestatten könne, über Fragen wie Konsubstantiation, Transsubstantiation und Kommunion unter beiderlei Gestalten nach eigenem Ermessen zu denken. Die Lehre von der religiösen Toleranz kam nach England mit dem holländischen König Wilhelm; zugleich kamen die Bank von England und die Staatsschuld. Eigentlich waren sie alle drei Erzeugnisse des Handelsgeistes.

Zu jener Zeit war der größte theoretische Verfechter der Freiheit John Locke, der sich eingehend mit dem Problem befaßte, wie man die größtmögliche Freiheit mit dem unerläßlichen Mindestmaß an Regierungsgewalt in Einklang bringen könne; eine Frage, die seine Nachfolger in der liberalen Tradition seither beschäftigt hat und heute noch beschäftigt.

Neben der Religionsfreiheit wurden auch Presse- und Redefreiheit sowie Freiheit vor willkürlicher Verhaftung im neunzehnten Jahrhundert wenigstens in den westlichen Demokratien zu selbstverständlichen Grundrechten. Aber sie hatten in den Herzen und Hirnen der Menschen viel weniger tiefe Wurzeln geschlagen als man damals glaubte, und heute ist auf dem größten Teil der Erdoberfläche nichts mehr davon übrig, weder in der Theorie noch in der Praxis. Stalin konnte den Standpunkt weder verstehen noch achten, der Churchill bestimmte, sich durch das Ergebnis einer Volkswahl auf friedlichem Wege absetzen zu lassen. Ich bin entschiedener Anhänger einer demokratischen indirekten Demokratie als der besten Regierungsform für alle, die die erforderliche Toleranz und Selbstzucht besitzen, mit der allein sie arbeiten kann. Aber ihre Anhänger irren, wenn sie glauben, man könne sie von heute auf morgen in Ländern einführen, wo dem Durchschnittsbürger immer noch alle Uebung im Geben und Nehmen, der Voraussetzung der Demokratie, fehlt. In einem Balkanland stellte vor nicht allzulanger Zeit eine Partei, die bei den allgemeinen Wahlen knapp unterlegen war, ihre Ueberlegenheit wieder her, indem sie von den Abgeordneten der Gegenpartei eine Anzahl erschießen ließ, die hinreicht, ihr wieder die Mehrheit zu sichern. Typisch für den Balkan - so dachte man damals im Westen, und vergaß ganz, daß Cromwell und Robespierre ebenso vorgegangen waren.

Und damit komme ich zu dem letzten großen politischen Ideenpaar, dem die Menschheit jeden kleinen Erfolg der sozialen Organisation, den sie überhaupt erzielt hat, verdankt. Ich meine die Idee des Rechtes und der Regierung. Von diesen beiden ist die Regierung die ursprünglichere. Regierung kann auch ohne Recht leicht bestehen, nicht aber Recht ohne Regierung - was die Initiatoren des Völkerbundes und des Kellogg-Paktes vergessen hatten. Die Regierung läßt sich definieren als eine Konzentration aller Kräfte einer Gemeinschaft in einer bestimmten Organisation, die kraft dieser Konzentration in der Lage ist, den einzelnen Staatsbürger zu regieren und dem Druck auswärtiger Staaten zu widerstehen. Der Krieg hat von jeher die Regierungsgewalt am meisten gefördert. Die Ueberwachung des Einzelnen durch den Staat ist in Zeiten des Krieges oder drohender Kriegsgefahr immer schärfer, als wenn man den Frieden für gesichert hält. Wo aber Regierungen ihre Macht zum eventuellen Widerstand gegen Angriffe von außen erwarben, da bedienten sie sich ihrer natürlich, wenn sie konnten, zur Förderung ihrer eigenen Interessen auf Kosten des Staatsbürgers. Bis vor kurzem war die absolute Monarchie die krasseste Form dieses Mißbrauchs der Macht. Aber im totalitären Staat von heute hat man ihn viel weiter getrieben, als Xerxes, Nero oder irgend ein Tyrann früherer Zeiten sich hätte träumen lassen.

Die Demokratie wurde als Mittelweg zwischen Regierungsgewalt und persönlicher Freiheit erdacht. Es ist klar, daß eine Regierungsgewalt nötig ist, wenn irgendetwas bestehen soll, das den Namen Zivilisation verdient; aber die Universalgeschichte zeigt, daß jede Menschengruppe, der Macht über eine andere verliehen wird, diese Macht mißbraucht, wenn sie es straflos tun kann. Als die Männer des zweiten Triumvirats in Rom Geld zum Kampf gegen Brutus und Cassius brauchten, stellten sie Listen der Reichen auf, erklärten sie zu Staatsfeinden, schnitten ihnen die Köpfe ab und zogen ihr Vermögen ein. Ein solches Vorgehen ist heute in Amerika und England nicht möglich. Daß es unmöglich ist, verdanken wir nicht nur der Demokratie, sondern auch der Lehre von der persönlichen Freiheit. Diese besteht praktisch aus zwei Teilen: einmal darin, daß niemand bestraft werden darf, außer im Zuge eines gesetzlichen Verfahrens, und zum anderen darin, daß es einen Bereich geben muß, innerhalb dessen die Handlungsweise eines Menschen der Kontrolle durch die Regierung nicht unterliegt. Hieher gehören Rede-, Presse- und Religionsfreiheit; früher gehörte auch die Freiheit der Wirtschaft dazu. Alle diese Lehren unterliegen natürlich in der Praxis gewissen Einschränkungen. Die Briten mißachteten sie früher in Angelegenheiten Indiens. Die Pressefreiheit gilt nicht für Lehren, die man für gefährlich und umstürzlerisch hält. Auf die Redefreiheit könnte sich nicht berufen, wer öffentlich zur Ermordung eines unbeliebten Politikers auffordert Aber ungeachtet dieser Einschränkungen hat sich die Lehre von der persönlichen Freiheit in der ganzen englischsprecheriden Welt als sehr wertvoll erwiesen, wie jeder ihrer Angehörigen rasch erkennen wird, wenn er sich in einem Polizeistaat befindet.

In der Geschichte der sozialen Entwicklung wird man finden, daß fast stets die Errichtung irgend einer Regierungsgewalt der erste Schritt war und Versuche, Regierungsgewalt mit persönlicher Freiheit zu vereinbaren, erst später folgten. In der Weltpolitik haben wir noch nicht einmal den ersten Schritt getan, obwohl heute klar ist, daß eine Weltregierung für die Menschheit mindestens ebenso wichtig ist wie eine Nationalregierung. Es läßt sich meines Erachtens ernsthaft bezweifeln, ob die nächsten zwanzig Jahre der Menschheit eine größere Katastrophe bringen würden, wenn jede Regierungsgewalt überhaupt abgeschafft würde, als sie sie bringen werden, wenn keine arbeitsfähige Weltregierung errichtet wird. Ich finde oft die Meinung vertreten, eine Weltregierung würde einen Druck auf die Regierten ausüben; ich leugne nicht, daß das der Fall sein könnte, wenigstens auf einige Zeit; aber Nationalregierungen waren schon Tyrarinen, als sie neu waren, und sie sind es heute noch in den meisten Ländern; dennoch würde wohl kaum jemand aus diesem Grund die Anarchie innerhalb einer Nation befürworten.

Ein geordnetes soziales Leben beruht, soll es auch nur irgendwie wünschenswert erscheinen, auf der Synthese und dem Ausgleich bestimmter allmählich entwickelter Ideen und Einrichtungen: Regierung, Recht, persönliche Freiheft und Demokratie. Persönliche Freiheit gab es natürlich schon, bevor es noch Regierungen gab; wo sie aber ohne Regierung herrschte, war ein zivilisiertes Leben unmöglich. Als zuerst Regierungen geschaffen wurden, brachten sie Sklaverei, absolute Monarchie und in der Regel einen von einer machtvollen Priesterkaste aufgezwungenen Aberglauben mit sich. Das waren alles sehr schlimme Mißstände, und man kann Rousseaus Sehnsucht nach dem Leben des edlen Wilden nachfühlen. Dies aber war nur ein romantisches Idealbild; in Wirklichkeit war das Leben des Wilden, wie Hobbes sagte, „garstig, tierisch und kurz“. Die Geschichte des Menschen kennt gelegentliche einschneidende Krisen. Es muß solch eine Krise gegeben haben, als die Affen ihre Schwänze verloren, und eine weitere, als unsere Ahnen anfingen, aufrecht zu gehen und ihr schützendes Fell einbüßten. Wie ich oben bemerkte, vermehrte sich die menschliche Bevölkerung des Erdballs, die einmal sehr gering gewesen sein muß, mit der Erfindung des Ackerbaues bedeutend, und in unserer Zeit noch einmal durch die Fortschritte der Industrie und Medizin. Aber die moderne Technik hat uns in eine neue Krise gestürzt, und uns bleiben nur zwei Wege offen: entweder muß der Mensch wieder eine seltene Spezies werden, wie zur Zeit des Homo Pekiniensis, oder wir müssen lernen, uns einer Weltregierung zu unterwerfen. Jede solche Regierung, sei sie nun gut, schlecht oder keines von beiden, wird das Fortleben der Spezies Mensch ermöglichen; und wie im Laufe der letzten 5000 Jahre die Menschen allmählich aus dem Despotismus der Pharaonenzeit die glorreichen Höhen der amerikanischen Verfassung erklommen haben, so mögen sie vielleicht in den nächsten 5000 Jahren von einer schlechten Weltregierung zu einer guten fortschreiten. Errichten sie aber keinerlei Weltregierung, so wird der neue Fortschritt auf einem niedereren Stande einsetzen, vielleicht dem wilder Stämme, und wird erst nach einer katastrophalen Zerstörung beginnen können, vergleichbar nur mit dem biblischen Bericht über die Sintflut. Wenn wir die lange Entwicklung des Menschen überschauen - ein seltenes, gehetztes Tier, das sich vor der Raserei der wilden Tiere, die er nicht erlegen konnte, dürftig in Höhlen verbarg; sich von den rohen Früchten der Erde, die er nicht zu ziehen verstand, kümmerlich nährte; wirklich vorhandene Schrecken noch durch eingebildete, durch Geister, Unholde und bösen Zauber verschlimmerte; dann sich allmählich zum Herrn über seine Umwelt aufschwang durch die Erfindung des Feuers, des Schreibens, der Waffen, und schließlich der Wissenschaft; dann ein soziales Gefüge errichtete, das privater Gewalttat einen Riegel vorschob und dem täglichen Leben eine gewisse Sicherheit verlieh; die Muße, die ihm seine-Geschicklichkeit verschaffte, nicht nur müßigem Wohlleben, sondern dem Dienst am Schönen und der Enthüllung der Naturgeheimnisse widmete; allmählich, wenn auch unvollkommen, immer mehr Mitmenschen als Verbündete zu gemeinsamer Erzeugung statt als Feinde zu betrachten lernte, die versuchen, einander zu berauben – wenn wir diesen langen und dornenvollen Weg betrachten, so wird der Gedanke unerträglich, daß wir ihn vielleicht nochmals von Anfang an gehen müssen, weil wir versagten, als es galt, den einen Schritt zu tun, auf den uns die Ereignisse der Vergangenheit, richtig betrachtet, schon vorbereitet haben. Der soziale Zusammenlang, der sich bei den Affen auf die Familie beschränkte, dehnte sich schon in vorgeschichtlicher Zeit auf den Stamm aus und erreichte gerade zu Beginn der Geschichte den Umfang kleiner Königreiche in Ober- und Unterägypten und Mesopotamien. Aus diesen kleinen Staaten erwuchsen die großen Reiche des Altertums, und dann allmählich die heutigen Großstaaten, viel größer als selbst das Römerreich. Erst die jüngsten Ereignisse haben die kleineren Staaten jeder wirklichen Unabhängigkeit beraubt, sodaß heute nur mehr zwei übrigbleiben, die sich ihre volle Unabhängigkeit und ihre Entschlußfreiheit bewahrt haben: ich meine natürlich die Vereinigten Staaten und die USSR. Alles, was wir brauchen, um die Menschheit vor der Katastrophe zu retten, ist der Schritt von zwei unabhängigen Staaten zu einem einzigen — nicht durch Krieg, was verhängnisvoll wäre, sondern durch ein Uebereinkommen.

Kann dieser Schritt vollzogen werden, so werden alle großen Errungenschaften der Menschheit binnen kurzem eine Aera der Glückseligkeit und des Wohlstandes heraufführen, die man sich nie zuvor träumen ließ. Unsere technischen Fertigkeiten werden uns in die Lage versetzen, die Armut auf dem ganzen Erdball auszumerzen, ohne daß hiezu mehr als vier bis fünf Stunden täglicher produktiver Arbeit nötig sind. Die Krankheiten, die in den letzten hundert Jahren rapid abnahmen, wird man noch weiter herabdrücken können. Die Muße, die durch Organisation und Wissenschaft gewonnen wird, wird zweifellos sehr weitgehend dem reinen Vergnügen gewidmet werden, aber es wird eine Anzahl Menschen übrigbleiben, denen der Dienst an Kunst und Wissenschaft immer noch am Herzen liegen wird. Nach der Abschüttelung der wirtschaftlichen Fesseln, die an die bloßen materiellen Lebensnotwendigkeiten binden, wird eine ganz neue Freiheit herrschen, und die große Masse der Menschen wird jene sorglose Abenteuerlust genießen, die die reichen athenischen Jünglinge in Platos Dialogen auszeichnet. Alles dies liegt durchaus im Bereich der technischen Möglichkeiten. Es erfordert zu seiner Verwirklichung nur Eines: daß die Machthaber und die Völker, die hinter ihnen stehen, es für wichtiger hielten, sich selbst am Leben zu erhalten, als ihre Feinde zu töten. Kein sehr erhabenes oder schwieriges Ideal, möchte man meinen, und doch eines, das menschliche Einsicht bisher nicht erreicht hat.

Der gegenwärtige Augenblick ist der bedeutsamste und entscheidendste, in dem sich die Menschheit jemals befand. Von unser aller Einsicht während der nächsten zwanzig Jahre hängt es ab, ob die Menschheit in eine nie dagewesene Katastrophe stürzt oder aber einen neuen Zustand der Glückseligkeit, Sicherheit, Wohlfahrt und Einsicht erreicht. Ich weiß nicht, welchen der beiden Wege sie einschlagen wird. Wir haben schwerwiegende Gründe zur Besorgnis; doch haben wir noch genug Aussichten auf eine gute Lösung, so daß die Hoffnung nicht vergeblich scheint. Und in dieser Hoffnung müssen wir handeln.“

 

Ideen, die der Menschheit geschadet haben

 

„Die Unglücksfälle, die dem Menschen zustoßen können, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: erstens die, welche ihm die außermenschliche Umwelt, und zweitens die, welche ihm der Mitmensch zufügt. Diese zweite Gruppe ist mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt des Menschen zu einem immer größeren Prozentsatz aller Unglücksfälle geworden. In alten Zeiten hatte beispielsweise die Hungersnot natürliche Ursachen und forderte, obwohl man sie nach Kräften bekämpfte, zahlreiche Opfer. Heute sehen sich weite Gebiete einer Hungersnot gegenüber; allein obgleich auch natürliche Ursachen dazu beigetragen haben, so liegen doch ihre tieferen Ursachen beim Menschen selbst. Sechs Jahre lang setzten die zivilisierten Völker der Welt ihre besten Kräfte ein, einander zu töten, und es fällt ihnen nun schwer, sich plötzlich darauf umzustellen, einander am Leben zu erhalten. Nun sie Ernten vernichtet, landwirtschaftliche Maschinen demontiert und das Transportwesen unterbunden haben, ist es schwer, die Nahrungsknappheit hier durch Ueberfluß von dort zu beheben, was unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen ein leichtes wäre. Wie dies Beispiel zeigt, ist heute der Mensch der schlimmste Feind des Menschen. Zwar sorgt die Natur immer noch dafür, daß wir sterblich sind, aber die Fortschritte der Medizin werden immer mehr Menschen ein langes und reiches Leben bescheren. Wir hegen angeblich den Wunsch nach einem ewigen Leben und freuen uns auf die nicht endende Glorie des Himmels, die wundersamerweise nie eintönig werden soll. Fragt man aber wirklich einen aufrichtigen, nicht mehr jungen Menschen, so wird er einem sehr wahrscheinlich antworten, er habe das Leben im Diesseits kennengelernt und trage kein Verlangen, im Jenseits noch einmal als Neugeborener anzufangen. Für die Zukunft wird man daher annehmen dürfen, daß die bei weitem schlimmsten Uebel, mit denen die Menschen zu rechnen haben, jene sind, die sie einander durch Dummheit, Bosheit oder beides zusammen zufügen.

Ich glaube, die Leiden, die Menschen einander und dadurch mittelbar sich selbst zufügen, haben ihre Hauptquelle nicht so sehr in Ideen oder Ueberzeugungen als in üblen Leidenschaften. Aber Ideen und Prinzipien, die wirklich schädlich sind, dienen in der Regel, wenn auch nicht immer, als Deckmantel übler Leidenschaften. In Lissabon geschah es manchmal bei öffentlichen Ketzerverbrennungen, daß man einem Verurteilten auf Grund eines besonders erbaulichen Widerrufs die Gnade erwies, ihn zu hängen, bevor man ihn den Flammen übergab. Dies empörte die Schaulustigen so sehr, daß die Behörden sie nur mit Mühe davon abhalten konnten, an dem reuigen Sünder Lynchjustiz zu üben und ihn auf eigene Faust zu verbrennen. Der Anblick der sich vor Schmerzen krümmenden Opfer war wirklich eine der Hauptvergnügungen, auf die sich das Volk freute, da sie Abwechslung in sein etwas eintöniges Dasein brachte. Ich zweifle nicht, daß dieses Vergnügen viel zu der allgemeinen Ansicht beitrug, die Verbrennung von Ketzern sei eine rechtschaffene Handlung. Dasselbe gilt vom Krieg. Kräftige und brutale Leute finden oft Gefallen am Kriege, vorausgesetzt, daß er siegreich endet und Vergewaltigung und Plünderung nicht allzu streng geahndet werden. Dies trägt viel zur Ueberzeugung von der Rechtmäßigkeit der Kriege bei. Dr. Arnold, der Held von „Tom Browns Schulzeit“ und gefeierte Reformer der Public Schools, geriet an einige Sonderlinge, die es für einen Fehler hielten, Schüler zu verprügeln. Wer seinen grimmigen Entrüstungsausbruch gegen diese Anschauung liest, wird zu dem Schluß kommen müssen, daß die Prügelstrafe dem Dr. Arnold Genuß bereitete und er sich dies Vergnügen nicht nehmen lassen wollte.

Es wäre leicht, noch ein Vielfaches der obigen Beispiele dafür anzuführen, daß Ueberzeugungen, die die Grausamkeit rechtfertigen, selbst grausamen Impulsen entsprungen sind. Wenn wir frühere Anschauungen, die heute als absurd gelten, Revue passieren lassen, so werden wir in neun von zehn Fällen finden, daß sie die Verhängung von Leiden guthießen. Nehmen wir zum Beispiel die Heilbehandlung. Als die Betäubungsmittel erfunden wurden, hielt man sie für einen sündhaften Versuch, Gottes Willen zu durchkreuzen. Den Wahnsinn führte man auf Besessenheit vom Teufel zurück und glaubte, man könne die bösen Geister, die in einem Verrückten wohnten, austreiben, indem man diesem Schmerzen bereitete, bis es den Geistern unbehaglich wurde. In dieser Anschauung befangen, behandelte man Verrückte Jahre hindurch mit systematischer und gewissenhafter Grausamkeit. Ich kenne keine medizinische Fehlbehandlungen, die nicht für den Patienten eher unangenehm als angenehm gewesen wäre. Oder nehmen wir die moralische Erziehung. Denken wir nur, wieviel Brutalität sich rechtfertigen ließ mit dem Sprichwort:

„Dein Hund, dein Weib, der Nußbaum dein,

wollen mit Schlägen erzogen sein.“

Ich habe keine Erfahrungen über die moralische Auswirkung der Geißelung auf Nußbäume, aber kein zivilisierter Mensch würde heute dem Sprichwort in bezug auf Ehegattinnen rechtgeben. Der Glaube an die erzieherische Wirkung der Strafe ist schwer auszurotten, meines Erachtens hauptsächlich deshalb, weil er unseren sadistischen Eingebungen so sehr entgegenkommt.

Aber obwohl die Leidenschaften an den Uebelständen im menschlichen Leben mehr Schuld tragen als die Ueberzeugungen, so wohnt doch diesen, besonders wo sie althergebracht, systematisch und in Organisationen verankert sind, große Macht inne, wünschenswerte Meinungsänderungen zu verzögern und Leute, die sonst nach keiner Richtung hin ausgeprägte Gefühle haben, nach der falschen Richtung hin zu beeinflussen. Da mein Thema „Ideen, die der

Menschheit geschadet haben“ heißt, so werde ich besonders schädliche Ueberzeugungen behandeln.

In der Vergangenheit stechen da zunächst jene Ueberzeugungen am meisten hervor, die man, je nach persönlicher Voreingenommenheit, religiöse oder abergläubische nennen kann. Man glaubte, Menschenopfer würden bessere Ernten bringen, zunächst aus rein magischen Gründen, dann auch, weil man das Blut der Opfer für den Göttern wohlgefällig hielt, die gewiß nach dem Ebenbilde ihrer Anbeter geschaffen waren. Wir lesen im Alten Testament, daß die völlige Ausrottung besiegter Völker religiöse Pflicht und selbst die Schonung ihrer Rinder und Schafe schon Sünde war. Düstere Schrecken und Leiden im Jenseits bedrückten schon die Gemüter der Aegypter und Etrusker, setzten sich aber erst mit dem Siege des Christentums ganz durch. Düstere Heilige, die sich aller sinnlichen Freuden enthielten, einsam in der Wüste lebten, sich Fleisch und Wein und den Umgang mit Frauen versagten, waren dennoch nicht verpflichtet, sich aller Genüsse zu enthalten. Geistige Genüsse hielt man für den körperlichen überlegen, und unter den geistigen nahm die Betrachtung der ewigen Qualen, denen Heiden und Ketzer im Jenseits unterworfen sein würden, einen hohen Rang ein. Es ist ein Nachteil der Askese, daß sie nur in sinnlichen Freuden Böses sieht, und doch sind in Wirklichkeit nicht nur die edelsten, sondern auch die allerniedrigsten Genüsse rein geistiger Art. Denken wir an das Vergnügen, das Miltons Satan bei der Betrachtung des Bösen empfindet, das er der Menschheit zufügen könnte. Milton läßt ihn sagen:

„Der Geist ist selbst sich Ort, und in sich selbst

Schafft er aus Himmel Höll', aus Hölle Himmel“,

und seine Psychologie unterscheidet sich nicht sehr von der Tertullians, der frohlockt bei dem Gedanken, daß er vom Himmel auf die Leiden der Verdammten werde niederschauen können. Die asketische Enthaltung von Sinnenfreuden hat weder Freundschaft noch Toleranz noch eine jener anderen Tugenden gefördert, die eine nicht abergläubische Lebensanschauung uns wünschen lassen möchte. Im Gegenteil, wer sich selbst quält, meint ein Recht zu haben, auch andere zu quälen; und nimmt gerne jedes Dogma an, das ihn in diesem Recht bestärkt.

Leider ist die asketische Form der Grausamkeit nicht auf die schrofferen Formen des christlichen Dogmas beschränkt, die heute selten in ihrer früheren Grausamkeit geglaubt werden. Die Welt hat neue, drohende Spielarten derselben psychologischen Beschaffenheit hervorgebracht. Die Nazis lebten in den Jahren vor ihrer Machtergreifung arbeitsam und opferten viele Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die ihnen der Augenblick bot, getreu ihrem Glauben an die Leistung und an Nietzsches Forderung, daß der Mensch hart werden solle. Selbst nach der. Machtergreifung erforderte das Schlagwort „Kanonen statt Butter“ immer noch den Verzicht auf sinnliche Freuden zugunsten der geistigen Genüsse, die man angesichts des bevorstehenden Sieges empfand - gerade jener Genüsse also; mit denen sich Miltons Satan über die Qualen im höllischen Feuer tröstet. Dieselbe Mentalität findet man bei ernsthaften Kommunisten, denen Luxus ein Uebel, harte Arbeit die oberste Pflicht und allgemeine Armut der Weg zum tausendjährigen Reich ist. Die Mischung von Askese und Grausamkeit ist mit der Milderung des christlichen Dogmas nicht verschwunden, sondern hat neue Formen angenommen, die dem Christentum feindlich gegenüberstehen. Dieselbe Mentalität lebt noch zu einem großen Teil fort: die Menschheit zerfällt in Heilige und Sünder; die Heiligen werden im nazistischen oder kommunistischen Himmel die ewige Seligkeit erlangen, während die Sünder liquidiert werden oder aber solche Qualen erleiden müssen, wie man sie für Menschen in Konzentrationslagern nur ersinnen konnte; sie reichen natürlich nicht an jene heran, die, wie man glaubte, der Allmächtige in der Hölle bereiten konnte, sind aber immerhin die schlimmsten, die Menschen mit ihren beschränkten Mitteln erzielen können. Den Heiligen steht dann noch eine schwere Bewährungsfrist bevor, auf die „der Ruf der Triumphierenden, der Gesang der Feiernden“ folgt, wie die christliche Hymne die Freuden des Himmels beschreibt.

Da diese Geisteshaltung so hartnäckig scheint und sich so leicht hinter ganz neuen Dogmen verbirgt, muß sie ihre Wurzeln ziemlich tief in der Natur des Menschen haben. Das ist das Gebiet, auf dem die Psychoanalytiker tätig sind. Nun liegt es mir zwar ferne, alle ihre Lehren zu unterschreiben, aber ich glaube, daß ihre allgemeine Arbeitsweise wichtig ist, wenn wir die Wurzel des Uebels in unserem innersten Herzen bloßlegen wollen. Die Polarität von Sünde und rächender Strafe liegt anscheinend vielem zugrunde, was zum Stärksten in der Religion wie in der Politik gehört. Ich kann nicht, wie einige Psychoanalytiker, glauben, daß das Gefühl der Sünde angeboren sei; freilich halte ich es für ein Produkt der ganz frühen Kindheit. Könnte dies Gefühl ausgemerzt werden, so nähmen meines Erachtens die Grausamkeiten in aller Welt ganz gewaltig ab. Angenommen, daß wir alle Sünder sind und Strafe verdienen, so läßt sich offenbar sehr viel für ein System sagen, das die Strafe nicht auf uns selbst, sondern auf andere fallen läßt. Die Kalvinisten würden kraft unverdienter Gnade in den Himmel eingehen, und ihre Erwartung, daß Sünde Strafe verdiene, würde nur eine stellvertretende Genugtuung erfahren. Aehnlich denken die Kommunisten. Wir können nicht darüber entscheiden, ob wir als Kapitalisten oder Proletarier zur Welt kommen wollen; werden wir aber als Proletarier geboren, so sind wir unter den Auserwählten; als Kapitalisten sind wir es nicht. Ohne jede freie Entscheidung unsrerseits, lediglich durch den Zwang des wirtschaftlichen Determinismus werden wir vom Schicksal im einen Fall in die Reihe der Auserwählten, im anderen der Gegenseite eingereiht. Marx's. Vater wurde Christ, als Marx ein kleiner Junge war, und wenigstens einige der Dogmen, die er damals angenommen haben muß, haben anscheinend in der Psychologie seines Sohnes ihre Früchte getragen.

Eine seltsame Auswirkung der Bedeutung, die jeder von uns sich selbst beimißt, ist die Vorstellung, die Handlungen unserer Mitmenschen zielten auf unser eigenes Glück oder Unglück ab. Wenn man im Zug an einer Wiese vorüberfährt, auf der Kühe weiden, so kann man sie manchmal erschreckt davonstieben sehen. Wäre die Kuh ein Metaphysiker, so würde sie folgendermaßen argumentieren: „Alles, was in meinen eigenen Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen enthalten ist, bezieht sich auf mich selbst. Daher schließe ich induktiv, daß alles im Universum sich auf mich bezieht. Daher will mir dieser lärmende Zug entweder Gutes oder Böses tun. Ich kann nicht annehmen, daß er Gutes im Schilde führt, da er sich in so furchterregender Form nähert; daher werde ich mich als weise Kuh bemühen, ihm zu entrinnen.“ Wollte man dieser metaphysischen Wiederkäuerin erklären, daß der Zug nicht beabsichtigt, die Schienen zu verlassen, und mit dem Geschick der Kuh gar nichts zu tun hat, so wäre das arme Tier verwirrt, daß es etwas so Unnatürliches geben könne. Der Zug, der ihr weder Gutes noch Böses will, würde ihr kälter, unergründlicher und schrecklicher erscheinen als ein Zug, der ihr Uebles wollte. Genau so geht es dem Menschen. Der Lauf der Natur bringt ihm manchmal Glück, manchmal Unheil. Er kann nicht glauben, daß das Zufall ist. Die Kuh, die sich einer Gefährtin erinnert, welche sich auf die Schienen verirrte und von einem Zug überfahren wurde, würde ihren philosophischen Erwägungen weiter nachhängen, wenn sie mit jener bescheidenen Intelligenz ausgestattet wäre, die die meisten Menschen auszeichnet, und würde zu dem Schluß kommen, daß die unglückliche Kuh für ihre Sünden von dem Gott der Eisenbahn bestraft wurde. Sie wäre froh, wenn dessen Priester entlang den Schienen Zäune aufstellten, und würde jüngere und keckere Kühe warnen, niemals zufällige Oeffnungen im Zaun zu benützen, da der Lohn der Sünde der Tod ist. Durch ähnliche Mythen ist es den Menschen unter Wahrung ihrer Selbstüberhebung gelungen, viele Unglücksfälle zu erklären, denen sie ausgesetzt sind. Aber manchmal kommt das Unheil über die ganz Tugendhaften, und was sollen wir dann sagen? Unser Gefühl, daß wir der Mittelpunkt des Universums sein müssen, wird uns auch dann hindern, zuzugeben, daß Unglücksfälle uns einfach zustießen, ohne daß irgend jemand sie beabsichtigte; und da wir theoretisch nicht sündhaft sind, muß unser Unglück auf irgend eine Bosheit von außen zurückgehen, das heißt, auf jemand, der uns aus purem Haß verletzen will, nicht in der Hoffnung, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Aus dieser Geisteshaltung entstand der Glaube an Dämonen, Hexen und Schwarze Kunst. Die Hexe schadet ihrem Nächsten aus reinem Haß, nicht aus Gewinnsucht. Der Hexenglaube lieferte bis ungefähr zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einen höchst willkommenen Vorwand für das süße Gefühl selbstgerechter Grausamkeit. Er konnte sich auf die Bibel berufen, die sagt: „Du sollst keine Hexe am Leben lassen.“ Und aus diesem Grund bestrafte die Inquisition nicht nur Hexen, sondern auch alle, die nicht an Hexerei glaubten, da der Unglaube daran Ketzerei war. Die Naturwissenschaft brachte einiges Licht in die Kausalzusammenhänge der Natur und zerstörte so den Glauben an die Zauberei, konnte aber die Angst und das Gefühl der Unsicherheit, aus dem er enstanden war, nicht völlig bannen. Heute finden dieselben Gefühle ein Ventil in der Angst vor fremden Völkern, einer Angst, die, wie man zugeben muß, der Verstärkung durch den Aberglauben nicht sonderlich bedarf.

Eine Hauptursache falscher Ueberzeugungen ist der Neid. In jeder Kleinstadt wird man bei Befragen der verhältnismäßig Wohlhabenden finden, daß sie alle das Einkommen ihrer Nachbarn übertreiben, was ihnen einen Vorwand gibt, sie des Geizes zu beschuldigen. Die Eifersucht der Frauen ist unter Männern sprichwörtlich, aber in jedem großen Amt wird man unter männlichen Beamten genau die gleiche Eifersucht finden. Wird einer von ihnen befördert, so heißt es bei den anderen: „Na ja! Der N. N. versteht es eben, sich mit den Großen gut zu stellen. Ich hätte genau so rasch aufsteigen können wie er, hätte ich mich zu der Kriecherei erniedrigt, deren er sich nicht schämt. Gewiß hat seine Arbeit einen oberflächlichen Schliff, aber sie ist nicht solid, und früher oder später werden die oben ihren Fehler einsehen.“ Das werden alle Mittelmäßigen sagen, wenn es einem wirklich Fähigen vergönnt ist, nach Verdienst hochzukommen, und deshalb neigt man zu einer Rangordnung nach Dienstjahren, die mit dem wirklichen Verdienst nichts zu tun hat und daher diese neidische Unzufriedenheit nicht aufkommen läßt.

Eins der schlimmsten Ergebnisse unserer neidischen Veranlagung ist eine vollkommen verzerrte Auffassung vom wirtschaftlichen Selbstinteresse des Einzelnen wie des Staates. Ich möchte dies an Hand eines Gleichnisses zeigen. Es war einmal eine mittlere Stadt, in der es eine Anzahl Fleischer, Bäcker usw. gab. Ein Fleischer, der außergewöhnlich geschäftstüchtig war, entdeckte, daß er viel mehr Gewinn haben würde, wenn alle übrigen Fleischer Bankrott machten und er ein Monopol bekäme. Dies gelang ihm auch, indem er sie systematisch unterbot, obwohl bis dahin seine Verluste seine Kapital- und Kreditreserven beinahe aufgezehrt hatten. Gleichzeitig war ein geschäftstüchtiger Bäcker auf dieselbe Idee verfallen und hatte sie zu einem ähnlich erfolgreichen Abschluß geführt. In jedem Geschäftszweig, der vom Warenverkauf an Kunden lebte, hatte sich dasselbe ereignet. Jeder der erfolgreichen Monopolisten freute sich nun darauf, ein Vermögen zu machen, aber leider waren die ruinierten Fleischer nicht mehr in der Lage, Brot zu kaufen, und ebenso erging es den ruinierten Bäckern mit dem Fleisch. Ihre Angestellten hatten sie entlassen müssen; die waren anderswohin gezogen. Die Folge war, daß zwar der Fleischer und der Bäcker jeder ein Monopol hatten, aber weniger verkauften als früher. Sie hatten vergessen, daß ein Geschäftsmann durch die Konkurrenz zwar Schaden erleiden, ihn aber durch seinen Kundenstock wieder gutmachen kann, und daß der Kundenstock größer wird, wenn der allgemeine Wohlstand zunimmt. Der Neid hatte sie veranlaßt, ihre ganze Aufmerksamkeit der Konkurrenz zuzuwenden und ihr eigenes Gedeihen, das von den Kunden abhing, zu vernachlässigen.

Dies ist eine Fabel, und die Stadt, von der ich sprach, hat es nie gegeben. Man setze aber für die Stadt die Welt ein, und für Einzelmenschen ganze Völker, und man hat ein vollkommenes Bild der Wirtschaftspolitik, die heute auf der ganzen Welt verfolgt wird.

Jedes Volk ist überzeugt, daß seine Wirtschaftsinteressen denen jedes anderen Volkes entgegengesetzt sind, und daß es profitieren muß, wenn man andere Völker in Armut und Not treibt. Im ersten Weltkrieg hörte ich oft von Engländern, wie ungeheuer der britische Handel von der Zerstörung des deutschen Handels profitieren würde; das sollte eine der schönsten Früchte unseres Sieges sein. Nach dem Krieg hätten wir zwar gerne einen Absatzmarkt auf dem europäischen Festland gehabt, und die westeuropäische Industrie hing von der Ruhrkohle ab; wir brachten es aber nicht über uns, der Ruhrkohlenindustrie mehr als einen verschwindenden Prozentsatz ihrer Vorkriegsproduktion zu gestatten. Die ganze Philosophie des wirtschaftlichen Nationalismus, die heute in aller Welt herrscht, beruht auf dem Irrglauben, daß die Wirtschaftsinteressen eines Volkes denen eines anderen Volkes notwendigerweise entgegengesetzt seien. Dieser Irrglaube erzeugt Völkerhaß und Rivalität und ist daher ein Kriegsgrund, der die Tendenz hat, sich selbst zu bestätigen, denn wenn einmal Krieg ausgebrochen ist, wird der Widerstreit der nationalen Interessen nur zu wahr. Versucht man jemand, sagen wir in der Stahlindustrie, klarzumachen, daß der Wohlstand anderer Länder ihm möglicherweise Vorteile bringt, so wird er einem unmöglich folgen können, weil die einzigen Ausländer, die er kennt, seine Konkurrenten in der Stahlindustrie sind. Alle anderen Ausländer sind ihm vage Gestalten, an denen er keinerlei gemütsmäßigen Anteil nimmt Dies ist die psychologische Wurzel des wirtschaftlichen Nationalismus; des Krieges, der vom Menschen selbstverschuldeten Hungersnot und aller anderen Uebelstände, die unserer Zivilisation ein schreckliches und schmähliches Ende bereiten werden, wenn wir uns nicht dazu bekehren lassen, unsere gegenseitigen Beziehungen großzügiger und weniger hysterisch zu betrachten.

Eine andere Leidenschaft, die politisch schädlichen Irrglauben erzeugt, ist der Stolz - der Stolz auf Volkszugehörigkeit, Rasse, Geschlecht, Klasse oder Glaubensbekenntnis. In meiner Jugend galt Frankreich noch als der Erbfeind Englands, und ich lernte als eine unbestreitbare Wahrheit, daß ein Engländer drei Franzosen schlagen könne. Als Deutschland zum Feind wurde, mäßigte sich diese Anschauung und die Engländer hörten auf, sich über die Vorliebe der Franzosen für Froschschenkel lustig zu machen. Aber trotz der Bemühungen der Regierung brachten es, glaube ich, nur wenige Engländer über sich, die Franzosen wirklich als ebenbürtig zu betrachten. Wenn Amerikaner und Engländer den Balkan kennenlernen, verfolgen sie mit Staunen und Verachtung den gegenseitigen Haß der Bulgaren und Serben, oder der Ungarn und Rumänen.

Für sie liegt es auf der Hand, daß diese Feindschaften absurd sind und der Glaube jedes dieser kleinen Völker an seine eigene Ueberlegenheit objektiv grundlos ist. Aber die meisten von ihnen können einfach nicht einsehen, daß der Nationalstolz einer Großmacht seinem Wesen nach ebenso wenig zu rechtfertigen ist wie der eines kleinen Balkanstaates.

Rassenstolz ist noch schädlicher als Nationalstolz. Als ich in China war, fiel mir auf, daß die gebildeten Chinesen vielleicht noch zivilisierter waren als alle anderen Menschen, die ich das Glück hätte zu treffen. Dennoch fand ich eine ganze Reihe grober und unwissender Weißer, die selbst die besten Chinesen lediglich wegen ihrer gelben Hautfarbe verachteten. Im allgemeinen traf dies auf die Briten mehr als auf die Amerikaner zu; doch gab es auch Ausnahmen. Ich befand mich einmal in Begleitung eines chinesischen Gelehrten, eines Mannes von ungeheurem Wissen nicht nur der überlieferten chinesischen Art, sondern auch der, die an westlichen Universitäten gelehrt wird, eines Mannes von so umfassender Bildung, wie ich sie kaum zu erreichen hoffen durfte. Er und ich betraten zusammen eine Garage, um ein Auto zu mieten. Der Garagenbesitzer war ein Amerikaner übler Sorte, der meinen chinesischen Freund wie seinen Schuhputzer behandelte und ihn verächtlich als Japaner bezeichnete; mein Blut kochte über seine Dummheit und Bosheit. Die ähnliche Haltung der Engländer in Indien, die durch ihre politische Macht noch verschärft wurde, war eine der Hauptursachen der Reibungen zwischen Briten und gebildeten Indern. Wo man an die Ueberlegenheit einer Rasse über eine andere glaubt, tut man es kaum jemals mit gutem Grund; wo sich ein solcher Glaube hält, wird er durch militärische Ueberlegenheit gestützt. Solang die Japaner siegreich waren, verachteten sie den Weißen genau so, wie der Weiße sie verachtet hatte, solange sie noch schwach waren. Manchmal jedoch hat das Gefühl der Ueberlegenheit mit militärischer Tapferkeit nichts zu tun. Die Griechen sahen auf die Barbaren herab, auch zu Zeiten, wo die Barbaren sie an Kriegsstärke übertrafen. Die aufgeklärteren Griechen waren der Meinung, Sklaverei ließe sich da rechtfertigen, wo die Griechen die Herren, die Barbaren die Sklaven waren; sonst sei sie unnatürlich. Die Juden nährten im Altertum einen ganz besonderen Glauben an ihre eigene rassische Ueberlegenheit; seit das Christentum Staatsreligion wurde, huldigen die Nichtjuden einer ebenso irrationalen Ueberzeugung ihrer Ueberlegenheit über die Juden. Ueberzeugungen dieser Art stiften unermeßlichen Schaden; es sollte ein Ziel der Erziehung und Bildung sein - ist es leider nicht - sie auszumerzen. Eben sprach ich von der anmaßenden Haltung, die sich die Engländer im Umgang mit Indern leisteten und die im Lande natürlich böses Blut machte; aber das indische Kastensystem war selbst das Ergebnis aufeinanderfolgender Einfälle „überlegener“ Rassen aus dem Norden, und ist ganz ebenso verwerflich wie die Anmaßung der Weißen.

Der Glaube an die Ueberlegenheit des männlichen Geschlechts, der heute bei den westlichen Völkern offiziell ausgestorben ist, ist ein seltsames Beispiel für die Sünde des Stolzes. Es hat, glaube ich, nie einen Grund gegeben, an irgendeine angeborene Ueberlegenheit des männlichen Wesens zu glauben, außer seine stärkeren Muskeln. Ich besichtigte einmal eine Anzahl Zuchtbullen; was solch einen Bullen zu einem Prachtexemplar machte, war nichts anderes als die Vorzüge seiner Ahninnen als Milchkühe. Hätten aber die Bullen selbst die Stammbäume entworfen, so wären sie ganz anders ausgefallen. Von den weiblichen Vorfahren hätte es da nur geheißen, daß sie gelehrig und tugendhaft waren, während die männlichen Vorfahren für ihre Heldentaten im Kampf Lob eingeheimst hätten. Was nun die Rinder betrifft, so können wir die jeweiligen Verdienste der beiden Geschlechter unparteiisch abwägen; im Falle unserer eigenen Spezies fällt uns das schon schwerer. Die Ueberlegenheit des Mannes war früher leicht zu demonstrieren, denn wenn eine Frau die ihres Mannes bezweifelte, so konnte er sie schlagen. Die Männer galten als vernünftiger als die Frauen, erfinderischer, weniger Sklaven ihrer Gefühle und dergleichen mehr. Als die Frauen noch kein Stimmrecht hatten, leiteten die Anatomen aus dem Studium des Gehirns eine Reihe scharfsinniger Argumente ab, um zu beweisen, daß die geistigen Fähigkeiten des Mannes größer sein mußten als die der Frau. Diese Argumente erwiesen sich eins nach dem andern als trügerisch, wurden aber immer wieder durch andere ersetzt, die dieselben Schlüsse zuließen. Man glaubte lange, daß der männliche Fötus nach sechs Wochen eine Seele bekomme, der weibliche hingegen erst nach drei Monaten. Auch diese Meinung wurde aufgegeben, seitdem die Frauen das Stimmrecht besitzen. Thomas von Aquin erwähnt beiläufig als etwas ganz Selbstverständliches, daß Männer vernünftiger seien als Frauen. Ich meinerseits kenne keinen Beweis dafür. Einige wenige Menschen besitzen ein Fünkchen Vernunft auf diesem oder jenem Gebiet, aber soweit meine Beobachtungen reichen, sind solche Fünkchen unter Männern nicht häufiger als unter Frauen.

Die Vorherrschaft des Mannes hat einige sehr unglückliche Ergebnisse gezeitigt. Sie hat die innigste menschliche Bindung, die Ehe, zu einem Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven gemacht, anstatt Zu einem Bund gleichberechtigter Partner. Sie machte es überflüssig für einen Mann, einer Frau zu gefallen, um sie als seine Frau zu gewinnen, und beschränkte so die Künste der Werbung auf außereheliche Verhältnisse. Durch die Abschließung, die sie ehrbaren Frauen aufzwang, machte sie sie langweilig und uninteressant; die einzigen Frauen, die interessant und unternehmungslustig sein durften, waren ans der Gesellschaft ausgestoßen. Da ehrbare Frauen so langweilig waren, wurden oft die zivilisiertesten Männer in den zivilisiertesten Ländern homosexuell. Der Umstand, daß es keine Gleichheit in der Ehe gab, bestärkte die Männer noch in ihren selbstherrlichen Gewohnheiten. Dies alles ist heute in zivilisierten Ländern so gut wie vorbei, aber es wird lange dauern, bis sowohl Männer wie Frauen gelernt haben, ihr Benehmen den geänderten Verhältnissen vollkommen anzupassen. Jede Emanzipation hat zunächst gewisse schlimme Folgen: sie ruft bei den früher Ueberlegenen Verstimmung, bei den früher Unterlegenen Selbstherrlichkeit hervor. Aber wir dürfen hoffen, daß die Zeit auch hier heilen wird.

Eine andere Ueberlegenheit, die in schnellem Aussterben begriffen ist, ist die der Klasse; sie lebt heute nur noch in Sowjetrußland fort. In diesem Land ist der Sohn eines Proletariers gegenüber dem eines Bourgeois im Vorteil; in der übrigen Welt gelten solche erbliche Privilegien als ungerecht. Die Klassengegensätze sind jedoch noch lange nicht zur Gänze verschwunden. In Amerika ist jedermann überzeugt, daß in der gesellschaftlichen Rangordnung niemand über ihm steht, er gibt aber nicht zu, daß viele unter ihm stehen, denn seit Jefferson gilt die Lehre von der Gleichheit aller Menschen nur nach oben, nicht nach unten. Wo immer man über dieses Thema in allgemeinen Begriffen spricht, herrscht eine abgrundtiefe und weitverbreitete Heuchelei. Wie man darüber wirklich denkt und fühlt, ist aus zweitklassigen Romanen ersichtlich, wo man erfährt, wie schrecklich es ist, nicht aus dem richtigen Milieu zu stammen, und wo von einer Mesalliance soviel Aufhebens gemacht wird wie früher an einem kleinen deutschen Fürstenhof. Solange es noch krasse Besitzunterschiede gibt, ist hier eine Aenderung schwer abzusehen. In England, wo der Snobismus tief verwurzelt ist, hat der kriegsbedingte Einkommensausgleich stark auf die Gemüter gewirkt, und den Jüngeren scheint heute der Snobismus ihrer Väter ein wenig lächerlich. Es herrscht immer noch sehr viel beklagenswerter Snobismus in England, aber er betrifft heute mehr die Erziehung und die Sprechweise als das Einkommen oder die gesellschaftliche Stellung im alten Sinn des Wortes.

Eine andere Spielart desselben Gefühls ist der Glaubensstolz. Nach meiner kürzlichen Rückkehr aus China hielt ich vor mehreren Frauenvereinigungen Amerikas Vorträge über dieses Land. Unter meinen Zuhörern war immer eine ältere Frau, die während des Vortrages anscheinend schlief, mich aber stets nachher mit unheilverkündender Miene fragte, warum ich es unterlassen hatte, darauf hinzuweisen, daß die Chinesen, die ja Heiden seien, natürlich keine Tugenden besitzen könnten. Ich stelle mir vor, die Mormonen von Salt Lake City müssen sich ähnlich benommen haben, als die ersten Nichtmormonen unter ihnen aufgenommen wurden. Das ganze Mittelalter hindurch waren Christen und Mohammedaner von der Verworfenheit der Gegenseite felsenfest überzeugt und konnten es nicht über sich gewinnen, ihre eigene Ueberlegenheit auch nur anzuzweifeln.

Das alles sind wohltuende Gründe, sich „erhaben“ zu fühlen. Wir brauchen zu unserem Glück die verschiedensten Stützen für unsere Selbstachtung. Wir sind Menschen, daher ist der Mensch der Zweck der Schöpfung. Wir sind Amerikaner, daher ist Amerika Gottes eigenes Land. Wir sind Weiße, und daher hat Gott Ham und seine Nachkommen verflucht, die schwarz waren. Wir sind Protestanten oder Katholiken, und daher sind Katholiken oder Protestanten, je nachdem, ein Greuel. Wir sind Männer, daher sind die Frauen unvernünftig; oder Frauen, daher sind die Männer gefühllos und roh. Wir gehören zum Osten, daher ist der Westen wild und verworren; oder wir wohnen im Westen, und darum ist der Osten kraftlos und erschöpft. Wir sind geistige Arbeiter, daher zählen nur die Gebildeten; oder manuell; darum ist es allein manuelle Arbeit, die dem Menschen Würde verleiht. Schließlich hat jeder von uns vor allem eine Tugend, die ganz einzig in ihrer Art ist - wir sind wir! Mit diesen tröstenden Ueberlegungen ziehen wir in den Kampf gegen die Welt; ohne Sie gebräche es uns vielleicht an Mut. Wie die Dinge liegen; würden wir uns ohne sie vielleicht unterlegen fühlen, weil wir das Gefühl der Ebenbürtigkeit noch nicht kennen. Könnten wir uns zur ehrlichen Ueberzeugung durchringen, daß wir unseren Mitmenschen ebenbürtig, und weder überlegen noch unterlegen sind, dann würde unser Leben vielleicht weniger einem Kampf gleichen und wir bedürften nicht so vieler berauschender Mythen, um uns Mut anzutrinken.

Einer der interessantesten und verhängnisvollsten Irrtümer, dem Menschen und ganze Völker erliegen können, ist es, sich für das besondere Werkzeug des göttlichen Willens zu halten. Wir wissen, daß beim Einfall der Israeliten in das Gelobte Land sie die Vollstrecker des göttlichen Willens waren und nicht die Hethiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perizziter, Hiviter oder Jebbusiter. Hätten diese anderen umfangreiche Geschichtswerke verfaßt, so hätte der Sachverhalt vielleicht ein wenig anders ausgesehen. Und in der Tat hinterließen denn auch die Hethiter einige Inschriften, aus denen man nie vermuten möchte, was für verworfene Kreaturen sie waren. Man entdeckte - freilich erst „nach begangener Tat“ - daß Rom von den Göttern zur Weltherrschaft bestimmt war. Dann kam der Islam mit seiner fanatischen Ueberzeugung, daß jeder im Kampf für den wahren Glauben gefallene Soldat schnurstracks ins Paradies eingehe, ein verheißungsvolleres Paradies als das der Christen, da Houris anziehender sind als Harfen. Cromwell war überzeugt, daß er das von Gott ausersehene Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Unterdrückung von Katholiken und Königstreuen sei. Andrew Jackson war der Arm der Vorsehung zur Befreiung Nordamerikas vom Alpdruck der Spanier, die den Sabbath entheiligten. Heute liegt das Schwert der göttlichen Vorsehung in den Händen der Marxisten. Hegel meinte, die Dialektik habe mit schicksalhafter Notwendigkeit Deutschland die Oberherrschaft verliehen. „Nein“, sprach Marx, „nicht Deutschland, sondern dem Proletariat“. Diese Lehre ist den früheren vom Auserwählten Volk und der göttlichen Vorsehung verwandt. In ihrem Fatalismus sieht sie den Kampf ihrer Gegner als einen Kampf gegen das Schicksal, und fordert, der Kluge solle sich daher so schnell wie möglich auf die Seite des Siegers schlagen. Deshalb ist dies Argument politisch so gut zu gebrauchen. Der einzige Einwand ist der, daß es eine Einsicht in die Absichten Gottes voraussetzt, die kein vernünftiger Mensch für sich beanspruchen kann, und daß es bei ihrer Durchführung eine rücksichtslose Grausamkeit rechtfertigt, die verwerflich wäre, wenn unser Programm rein irdischen Ursprungs wäre. Es ist gut, Gott auf unserer Seite zu wissen, aber einigermaßen verwirrend, den Feind vom Gegenteil genau so überzeugt zu finden. Wie es in den unsterblichen Versen eines Dichters aus dem ersten Weltkrieg so schön heißt:

Gott strafe England, und God save the King.

Gott dies und das – „Du lieber Gott“, sprach Gott,

„um Arbeit braucht mir nun nicht bange sein!“

Der Glaube an eine göttliche Sendung ist eine der vielen vermeintlichen Gewißheiten, die dem Menschengeschlecht geschadet haben. Ich glaube, eins der weisesten Worte, die jemals gesprochen wurden, war die Mahnung Cromwells an die Schotten vor der Schlacht von Dunbar: „Ich beschwöre euch um Christi Barmherzigkeit willen, denkt daran, daß ihr Unrecht haben könntet!“ Aber die Schotten dachten nicht daran, und so mußte er sie im Kampf besiegen. Schade daß Cromwell diese Mahnung nie an sich selbst richtete. Die meisten und schlimmsten Uebel, die der Mensch dem Menschen zugefügt hat, entsprangen dem felsenfesten Glauben an die Richtigkeit falscher Ueberzeugungen. Die Wahrheit zu kennen ist schwieriger als die meisten glauben, und mit rücksichtsloser Entschlossenheit zu handeln, in dem Glauben, man habe die Wahrheit in Erbpacht, heißt Unheil heraufbeschwören. Lange Ueberlegungen, daß man gegenwärtige sichere Leiden zufügen müsse, um eines zweifelhaften zukünftigen Vorteils teilhaftig zu werden, sind stets mit Argwohn zu betrachten, denn, wie Shakespeare sagt, „Das Kommende ist noch ungewiß“. Selbst der Klügste geht weit irre, wenn er auch nur auf zehn Jahre die Zukunft vorhersagen will. Gewisse Leute werden diese Lehre für unmoralisch halten, aber schließlich heißt es auch im Evangelium: „Seid nicht ängstlich besorgt für den morgigen Tag.“

Im öffentlichen wie im Privatleben kommt es auf Toleranz und Freundlichkeit an, nicht aber auf die Anmaßung einer übermenschlichen Gabe, in die Zukunft zu schauen.

Statt diesen Aufsatz „Ideen, die der Menschheit geschadet haben“ zu betiteln, hätte ich ihn vielleicht einfach „Ideen haben der Menschheit geschadet“ überschreiben können, denn da wir nun einmal die Zukunft nicht vorhersagen können und unzählige verschiedene Ansichten darüber denkbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgend ein von irgend jemand gehegter Glaube wahr sein könne, sehr gering. Was immer wir in zehn Jahren für wahrscheinlich halten - abgesehen von Dingen wie dem morgigen Sonnenaufgang, die nichts mit den Beziehungen der Menschen untereinander zu tun haben - es wird fast mit Sicherheit falsch sein. Ich finde diesen Gedanken tröstlich, wenn ich an gewisse düstere Prophezeihungen denke; deren ich selbst mich voreilig schuldig gemacht habe.

Aber man wird mir einwenden: Wie anders ist denn eine Staatskunst möglich, wenn nicht unter der Voraussetzung, daß sich die Zukunft bis zu einem gewissen Grad vorhersagen läßt? Ich räume gern ein, daß eine gewisse Voraussicht notwendig ist, und will nicht sagen, daß wir völlig im Dunklen tappen. Es ist eine ziemlich sichere Prophezeihung, daß ein Mensch, den ich einen Schurken und Narren heiße, mich nicht gerade lieben wird, und daß siebzig Millionen Menschen es ebensowenig tun werden, wenn ich ihnen dasselbe sage. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß ein Wettbewerb im Halsabschneiden unter den Wettbewerbern nicht das Gefühl guter Kameradschaft wird aufkommen lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, wenn zwei Staaten einander an einer Grenze modern gerüstet gegenüberstehen und ihre führenden Staatsmänner sich in gegenseitigen Beschimpfungen ergehen, daß die Völker auf beiden Seiten mit der Zeit unruhig werden, und die eine Seite zum Angriff übergehen wird, aus Angst, die andere könne ihr zuvorkommen. Man kann auch mit Sicherheit annehmen, daß ein großer moderner Krieg nicht einmal den Wohlstand der Sieger heben wird. Solche Verallgemeinerungen sind nicht schwer einzusehen. Schwierig ist es, die Folgen einer bestimmten Politik auf lange Sicht in allen Einzelheiten vorauszusehen. Bismarck gewann durch äußersten Scharfsinn drei Kriege und einigte Deutschland. Das Ergebnis seiner Politik auf lange Sicht war, daß Deutschland zwei vernichtende Niederlagen hinnehmen mußte. Diese sind darauf zurückzuführen, daß Bismarck die Deutschen lehrte, die Interessen aller Völker mit Ausnahme Deutschlands zu mißachten, und einen Angriffsgeist heraufbeschwor, der schließlich die Welt gegen seine Nachfolger zusammenschloß. Uebertriebene Selbstsucht, sei es des Einzelnen oder eines Volkes, ist unklug. Sie mag sich mit Glück durchsetzen, schlägt sie aber fehl, so ist der Fehlschlag fürchterlich. Wenige werden sich dieser Gefahr aussetzen wollen, außer sie werden getragen von einer Theorie, denn nur Theorien machen Menschen ganz unvorsichtig.

Wenden wir uns nun vom moralischen dem rein geistigen Standpunkt zu, so müssen wir uns fragen, ob die Sozialwissenschaft zur Aufstellung von Kausalgesetzen beitragen kann, die die Staatsmänner in ihren politischen Entscheidungen unterstützen können. Einige wirklich bedeutsame Lösungen sind bekannt geworden, zum Beispiel, wie man Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit, die nach dem letzten Krieg die Welt heimsuchten, verhütet. Von denen, die sich die Mühe nahmen, die Frage zu stüdieren, wird heute auch allgemein anerkannt, daß nur eine Weltregierung einen Krieg verhüten und die Zivilisation bestenfalls noch einen weiteren großen Krieg überstehen kann. Aber obwohl man das weiß, wirkt sich dieses Wissen nicht aus; es ist noch nicht in die Massen gedrungen, und e's ist nicht stark genug, dunkle Interessen in Schach zu halten. Ja, eigentlich besitzen wir schon viel mehr sozialwissenschaftliche Erkenntnis, als die Politiker sich zunutze machen wollen oder können. Manche schreiben dies Versagen der Demokratie zu, aber für mich tritt es in der Autokratie mehr als in jeder andern Regierungsform hervor. Der Glaube an die Demokratie kann jedoch, wie jeder andere Glaube, soweit getrieben werden, daß er fanatisch und daher schädlich wird. Ein Demokrat braucht nicht zu glauben, daß eine Mehrheit immer weise Entscheidungen treffen wird; woran er glauben muß, das ist die Notwendigkeit, daß der Mehrheitsentscheid, ob klug oder unklug, angenommen werden muß, bis die Mehrheit einen anderen Beschluß faßt. Und das glaubt er nicht aus irgend einer mystischen Auffassung von der Weisheit des einfachen Mannes, sondern weil er es für den besten praktischen Weg hält, die Herrschaft des Gesetzes an Stelle willkürlicher Gewalt zu setzen. Auch glaubt der Demokrat nicht unbedingt, daß die Demokratie immer und überall das beste System ist. Es gibt viele Völker, denen die Selbstbeherrschung und politische Erfahrung mangelt, die zur erfolgreichen Arbeit parlamentarischer Einrichtungen nötig sind, und wo der Demokrat ihnen zwar die erforderliche politische Erziehung wünschen, aber doch einsehen wird, daß es nutzlos ist, ihnen vorzeitig ein System aufzudrängen, das fast mit Sicherheit zusammenbrechen muß. Man kann in der Politik, wie anderswo auch, nicht absolut handeln: was jetzt und hier gut ist, kann später und anderswo schlecht sein, und was dem politischen Empfinden eines Volkes Rechnung trägt, mag einem anderen vollkommen sinnlos scheinen. Das allgemeine Ziel des Demokraten ist es, eine Gewaltregierung durch eine Regierung zu ersetzen, die die Zustimmung des Volkes hat; das aber erfordert eine gewisse Erziehung auf Seiten der Bevölkerung. Nehmen wir an, ein Volk zerfiele in zwei fast gleiche Teile, die einander hassen und darauf brennen, einander an die Gurgel zu springen, so wird der zahlenmäßig kaum schwächere Teil sich der Gewaltherrschaft des anderen nicht ergeben fügen, noch wird die zahlenmäßig leicht überlegene Gruppe im Augenblick des Sieges jene Mäßigung an den Tag legen, die den Bruch heilen könnte.

Die Welt von heute braucht zweierlei: erstens Organisation - politische Organisation zur Verhütung von Kriegen, wirtschaftliche Organisation zur Sicherung produktiver Arbeit, besonders in den vom Krieg zerstörten Ländern, erzieherische Organisation, um einen gesunden Internationalismus ins Leben zu rufen. Zweitens bedarf sie gewisser moralischer Eigenschaften - jener, die seit Jahrhunderten von Sittenlehrern gefordert wurden, freilich bisher mit wenig Erfolg. Vor allem bedürfen wir der Nächstenliebe und der Toleranz, nicht irgend eines fanatischen Glaubens, den uns die verschiedenen um sich greifenden Ismen anpreisen. Diese beiden Ziele, das organisatorische und das ethische, stehen meines Erachtens in enger Wechselbeziehung; wäre eins von ihnen erreicht, so würde das andere bald folgen. Aber im wesentlichen wird die Welt, soll sie auf dem richtigen Wege fortschreiten, dies auf beiden Gebieten zugleich tun müssen. Man wird die üblen Leidenschaften, die natürlichen Nachwirkungen des Krieges, allmählich eindämmen und jene Organisationen immer weiter ausbauen müssen, die der gegenseitigen Hilfeleistung dienen. Man wird mit dem Verstand und mit dem Herzen einsehen müssen, daß wir alle eine große Familie sind, und keiner von uns sein Glück auf dem Unglück des anderen fest begründen kann. Heute trüben sittliche Mängel unser klares Denken, und verworrenes Denken begünstigt wiederum sittliche Mängel. Vielleicht werden, obwohl ich es kaum zu hoffen wage, die Schrecken der Wasserstoffbombe die Menschheit zu Vernunft und Toleranz bringen. Sollte sie es tun, so werden wir ihre Erfinder segnen dürfen.“

 

Zur Genealogie des Unsinns

 

„Nach allem, was man mir gesagt und mich gelehrt hat, ist der Mensch mit Vernunft begabt. Ein ganzes langes Leben hindurch habe ich eifrig nach einer Bestätigung dieser These Ausschau gehalten - leider ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil, ich mußte beobachten, wie die Menschheit mehr und mehr dem Wahnsinn verfiel. Ich habe gesehen, wie sich große Nationen - einst Bannerträger der Kultur - von Leuten in die Irre führen ließen, hinter deren bombastischem Geschrei sich der reinste Unsinn verbarg, und ich habe erlebt, daß Grausamkeit, Verfolgung und Aberglaube mit Riesenschritten einem Punkt zusteuerten, wo niemand mehr ein Lob der Vernunft wagen darf, ohne sogleich als lächerlicher alter Tropf, als bedauerliches Ueberbleibsel einer längst überlebten Zeit abgestempelt zu werden. In der Erkenntnis, daß bloße Verzweiflung nie zu etwas nütze gewesen ist, beschloß ich, mich dieser zwecklosen und schädlichen Gemütsverfassung durch ein aufmerksameres und genaueres Studium der Vergangenheit zu entziehen. Ich machte dabei wie einst Erasmus die Entdeckung, daß die Torheit ebenso alt ist wie die Menschheit selbst und daß die Menschen trotzdem nicht ausgestorben sind. Und da sich der Wahnwitz der eigenen Zeit leichter ertragen läßt, wenn man ihn vor dem Hintergrund vergangener Dummheiten betrachtet, will ich im folgenden versuchen, den Unfug unserer Tage an den Tollheiten früherer Jahrhunderte zu messen. Vielleicht gewinnen wir auf diese Weise den nötigen Abstand und damit die Erkenntnis, daß unsere Zeit letzten Endes auch nicht viel schlimmer ist als frühere Epochen, die von unseren Vorfahren überstanden wurden, ohne daß es zur letzten und äußersten Katastrophe kam.

Soviel ich weiß, war es Aristoteles, der den Menschen zum erstenmal als ein vernunftbegabtes Wesen bezeichnete, und zwar mit der wohl nicht sehr überzeugenden Begründung, daß manche Leute rechnen könnten. Der griechische Philosoph unterscheidet drei verschiedene Seelen: eine allen Organismen innewohnende Pflanzenseele, die lediglich für die Ernährung und das Wachstum zu sorgen hat, eine das Tier und den ihm übergeordneten Menschen zur Fortbewegung befähigende Tierseele und eine mit dem souveränen göttlichen Geist identische, auch Intellekt genannte Denkseele, an der die Menschen entsprechend dem Grade ihrer Weisheit teilhaben. Durch den Intellekt, das heißt durch das Denkvermögen, wird der Mensch in den Rang eines animal rationale erhoben. Nach Aristoteles äußert sich das Denken auf mannigfache Weise, nirgends aber so deutlich und so überzeugend wie in der Beherrschung der Rechenkunst - eine Auffassung, die auf die Besonderheit des griechischen Zahlensystems zurückgeht. Die Mängel dieses Systems machten schon das kleine Einmaleins zu einer schwierigen Angelegenheit, ganz abgesehen von verwickelteren Rechenaufgaben, die nur sehr gewitzte Leute mit Anstrengung zu bewältigen vermochten. Heute lösen Rechenmaschinen diese Aufgaben, und obwohl sie schneller und zuverlässiger arbeiten als die gescheitesten Menschen, würde es doch niemandem einfallen, sie für unsterblich zu erklären oder ihre Leistungen auf göttliche Inspiration zurückzuführen. Mit der Verminderung der Rechenschwierigkeiten sank auch der Respekt vor der Rechenkunst um einige Grade, und wenn die Philosophen uns auch immer noch versichern, was für feine Kerle wir sind, unserer arithmetischen Heldentaten wegen rühmt uns keiner mehr.

Da wir also nicht mehr auf die Rechenkünstler deuten können, wenn wir beweisen wollen, daß der Mensch ein mit Vernunft begabtes Wesen und seine Seele wenigstens zum Teil unsterblich sei, müssen wir uns nach einem Ersatz umtun. Aber wo sollen wir ihn suchen? Bei den Staatsmännern, die uns und die Welt so glorreich in unsere gegenwärtige Lage hineinmanöveriert haben? Oder vielleicht in den Reihen der Literaten? Oder bei den Philosophen?

Ich gebe zu, daß alle drei Gruppen berechtigten Anspruch auf unsere Wahl hätten, schlage aber doch vor, daß wir uns zuallererst bei denen umsehen, die gemeinhin als die weisesten und zugleich würdigsten Menschen anerkannt werden: bei den Geistlichen. Wenn sie nicht vernünftig sind - welche Hoffnung bleibt dann für uns so viel geringere Sterbliche? Und es hat leider Zeiten gegeben - ich muß es aussprechen, wenn auch mit allem schuldigen Respekt - es hat Zeiten gegeben, in denen man an der Weisheit des Klerus zweifeln mußte, und sonderbarerweise waren es gerade die Zeiten seiner größten Macht und seines höchsten Einflusses.

Das von unseren Neuscholastikern vielgerühmte Zeitalter des Glaubens umfaßte die Epochen, in denen der Geistlichkeit alles nach Wunsch ging. Das tägliche Leben jener Zeit war voll von den Wundertaten der Heiligen und den Zauberstücken des Teufels und der Schwarzkünstler. Tausende von Frauen und Mädchen starben als Hexen den Flammentod auf dem Scheiterhaufen, und die verworfene Menschheit wurde mit Hungersnöten und Pestilenz, mit Erdbeben, Ueberschwemmungen und Feuersbrünsten für ihre Sünden bestraft. Und doch war sie damals noch sündhafter als heute, so unwahrscheinlich das klingen mag.

Im streng wissenschaftlichen Sinne war die Welt so gut wie unerforscht. Einige wenige Gelehrte konnten sich wohl dunkel erinnern, daß man im alten Griechenland Beweise für die Kugelform der Erde erbracht hatte, aber die meisten Menschen lachten wie über einen guten Witz, wenn man ihnen von Antipoden erzählte. Die Annahme, daß auf der entgegengesetzten Erdhälfte ebenfalls Menschenwesen existierten, wäre ja Ketzerei gewesen. Man war allgemein der Ueberzeugung, daß der meisten Menschen die Verdammnis harre - heute vertreten die Katholiken einen etwas milderen Standpunkt - und überall, an jeder Ecke, sah man Gefahren lauern, besonders in der Umgebung der Mönche, die nicht einmal in Frieden ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Auf alle Speisen, die sie zum Munde führten, ließen sich Dämonen nieder, die darauf brannten, sich der Körper unvorsichtiger Esser zu bemächtigen, die nicht vor jedem Bissen das Kreuz schlugen. Altmodische Leute sagen noch heute „Gott segne Sie!“, wenn jemand niest; aber sie haben vergessen, warum sie es tun. Man glaubte früher, daß während des Niesens die Seele den Leib verlasse, wobei es leicht geschehen konnte, daß auf der Lauer liegende Dämonen in den entseelten Leib des Menschen eindrangen, bevor die Seele auf ihren angestammten Platz zurückzukehren vermochte. Durch die Segensformel aber wurden die Geister des Unheils verscheucht.

Während der letzten vierhundert Jahre, in denen der Mensch mit Hilfe der sich stetig weiterentwickelnden Wissenschaft die Natur und ihre Kräfte erkennen und beherrschen lernte, hat die Geistlichkeit einen immer aussichtsloseren Kampf gegen die Wissenschaft geführt, sowohl auf dem Gebiet der Astronomie und Geologie, wie auf dem der Anatomie und Physiologie, der Biologie, Psychologie und Soziologie. Ihr Rückzug vollzog sich in Etappen. Nachdem sie von den Astronomen besiegt worden war, tat sie ihr Bestes, um die Geologie am Aufstieg zu hindern. Dann bekämpfte sie Darwin und seine biologischen Theorien, wie sie heute die wissenschaftlichen Theorien der Psychologie und der Pädagogik bekämpft. In jeder neuen Phase bemüht sie sich, den Schleier des Vergessens über ihren früheren Obskurantismus zu breiten, um zu verhüten, daß die Oeffentlichkeit ihre gegenwärtige, Fortschritts- und Kulturfeindlichkeit richtig erkennt. Man möge mir gestatten, einige eklatante Beispiele von Unvernunft anzuführen, die sich der Klerus seit dem Emporkommen der Wissenschaft geleistet hat, um dann zu untersuchen, wie es mit der übrigen Menschheit steht.

Als Benjamin Franklin den-Blitzableiter erfand, empörte sich die Geistlichkeit Englands und Amerikas mit der begeisterten Unterstützung König Georgs III. über diesen gottlosen Versuch, dem Wiüen des Allmächtigen entgegenzuarbeiten. Denn wie alle rechtschaffenen Menschen wissen müssen und auch wissen, ist der Blitz eine gottgesandte Strafe für den Unglauben oder eine andere schwere Sünde - fromme und tugendsame Menschen werden nie vom Blitz erschlagen! Wenn Gott also irgendeine sündige Seele züchtigen wollte, durfte Benjamin Franklin den göttlichen Willen nicht durchkreuzen, ja man mußte annehmen, er wolle dem Verbrecher Vorschub leisten. Aber Gott zeigte sich der Gelegenheit gewachsen, wenn man dem Bischof Price glauben darf, welcher damals zu den führenden kirchlichen Persönlichkeiten der Stadt Boston zählte. Da der Blitz durch die „von dem übergescheiten Dr. Franklin erfundenen Eisenspitzen“ unwirksam gemacht worden war, wurde Massachusetts mit Erdbeben geschlagen. In einer Predigt äußerte Dr. Price: „In Boston gibt es die meisten Blitzableiter, und wie wir gesehen haben, wurde Boston am schwersten von der Erdbebenkatastrophe heimgesucht. Oh - es gibt kein Entrinnen vor der allmächtigen Hand Gottes!“ Allem Anschein nach aber hat die Vorsehung dann doch die Hoffnung aufgegeben, Boston von seiner Verworfenheit heilen zu können, denn obwohl der Blitzableiter dort allmählich zur Selbstverständlichkeit wurde, blieben Erdbeben in Massachusetts eine Seltenheit. Trotzdem kann man dem von Dr. Price vertretenen Standpunkt auch heute noch begegnen. Einer der einflußreichsten Männer der Neuzeit, Mahatma Gandhi, hat sich anläßlich einer Erdbebenkatastrophe in Indien zumindest sehr ähnlich geäußert; auch er hielt seinen Landsleuten mahnend ihre Sünden vor, die seiner Ueberzeugung nach das furchtbare Unglück herausgefordert hatten.

Selbst in meinem heimatlichen Inselreich sind solche Vorstellung noch lebendig. Während des ersten Weltkrieges bemühte sich die englische Regierung um eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Als im Jahre 1916 an verschiedenen Fronten einige Rückschläge eintraten, erhielten die Zeitungen Zuschriften eines schottischen Geistlichen, der die militärischen Rückschläge dem Umstand zuschrieb, daß mit Zustimmung der Regierung am heiligen Sonntag Kartoffeln gepflanzt worden waren. Allerdings blieb England das äußerste Unheil erspart, weil sein Verstoß gegen die Bibel sich auf diesen einen Punkt beschränkte, wohingegen die Deutschen alle zehn Gebote übertraten.

Wenn man den Aussagen frommer Leute Glauben schenken darf, läßt Gott bei seinen Barmherzigkeitsbezeigungen ganz merkwürdige Gesichtspunkte walten. So trug sich beispielsweise folgendes zu: der Dichter des berühmten Chorals „Rock of Ages“, Augustus Toplady, zog eines Tages von einem Vikariat in ein anderes um. Eine Woche nach dem Umzug brannte die von ihm verlassene Pfarrei nieder, wobei dem neuen Vikar großer Schaden entstand. Toplady sagte daraufhin seinem Herrgott Dank für die wunderbare Errettung; was sein geschädigter Amtsbruder getan hat, ist nicht bekannt. Oder ein anderer Fall: in seinem Buch „The Bible in Spain“ berichtet George Borrow gerührt, wie er ohne jede Unbill über eine von Banditen unsicher gemachte Paßhöhe gelangte. Die nächste Touristengesellschaft hingegen wurde überfallen und ausgeraubt; einige der Reisenden verloren sogar ihr Leben. Als Borrow davon erfuhr, machte er es wie der Vikar Toplady; er dankte Gott aus vollem Herzen für seine weise Führung.

Obwohl unsere Lehrbücher schon seit langem auf den Erkenntnissen des Kopernikus fußen, sind Religion und Moral von diesen neuen astronomischen Theorien unberührt geblieben; nicht einmal den Glauben an die Astrologie vermochten sie zu zerstören. Nach wie vor sind die Menschen überzeugt, daß der göttliche Weltenplan mit besonderer Rücksicht auf den Menschen entworfen wurde und daß eine gerechte Vorsehung für die Belohnung der Guten und für die Bestrafung der Bösen sorgt.

Ich bin zuweilen recht entsetzt über die Gotteslästerungen aus dem Munde von „frommen“ Menschen. Wenn man zum Beispiel die Nonnen fragt, warum sie sich sogar in der Badewanne nicht völlig auskleiden, obwohl sie doch dort ganz unbeobachtet seien, antworten sie mit sanftem Vorwurf: „Sie vergessen den lieben Gott!“ Sie scheinen sich also Gott als eine Art Voyeur vorzustellen, der kraft seiner Allmacht durch die Badezimmerwände späht, dessen vorwitzige Absichten sich aber mit einem Badekostüm durchkreuzen lassen.

Ueberhaupt hat der Begriff „Sünde“ für mich etwas ungemein Verwirrendes - wahrscheinlich, weil ich von Natur sündhaft bin. Was ist Sünde? Wenn man mir antwortete: „Das Verursachen unnötiger Leiden“, so wäre ich damit einverstanden. Tatsächlich aber wird häufig gerade das Gegenteil, also die Verhütung unnötiger Leiden, als „Sünde“ ausgelegt.

Vor einigen Jahren wurde im englischen Oberhaus ein Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Euthanasie bei besonders schmerzhaften und nachgewiesenermaßen unheilbaren Krankheiten eingebracht. Der Antrag bezeichnete die Zustimmung des Patienten und ärztliche Gutachten von verschiedenen Seiten als unerläßliche Voraussetzung eines solchen Gesetzes. Daß man in diesem Falle die Entscheidung dem Patienten überlassen müsse, erschien mir in meiner Einfalt ganz selbstverständlich. Der damalige Erzbischof von Canterbury, Englands amtlicher Sündenexperte, legte jedoch das Irrige einer solchen Auffassung dar. Die Einwilligung des Patienten mache die Euthanasie zum Selbstmord, erklärte er, und Selbstmord sei Sünde. Die versammelten Lordschaften hörten auf die Stimme des Fachmannes und lehnten den Gesetzesentwurf ab. Und so müssen die Krebskranken dem Erzbischof und seinem Gott zuliebe weiterhin Monate der qualvollsten Agonie durchstehen, es sei denn, ihre Aerzte oder Schwestern haben sich so viel menschliches Mitempfinden bewahrt, daß sie auch eine Mordanklage auf sich nehmen. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, daß ein Gott Freude empfindet, wenn er seine hilflosen Geschöpfe unnütz leiden sieht. Und wenn es eine Gottheit von so grenzenloser Grausamkeit gäbe, würde ich sie ganz gewiß nicht für anbetungswürdig halten. Aber das beweist eben nur, wie tief ich in moralischer Hinsicht gesunken bin.

Ebenso unklar erscheint mir, was nun Sünde ist und was nicht. Als der englische Tierschutzverein den Papst um seine Unterstützung bat, lehnte er dies ab mit der Begründung, daß der Mensch den niederen Tieren gegenüber keine Verpflichtungen habe und daß die Mißhandlung von Tieren nicht als Sünde anzusprechen sei. Denn Tiere haben keine Seele. Andererseits gilt es als Sünde, wenn ein Mann die Schwester seiner verstorbenen Frau heiraten möchte, auch wenn beide Teile die Heirat ersehnen. Nicht etwa weil Schwager und Schwägerin in einer ehelichen Verbindung unglücklich werden könnten, sondern weil gewisse Bibelstellen es verbieten.

Das Dogma von der Wiederauferstehung hat die sonderbarsten Konsequenzen. Vor nicht allzu langer Zeit errechnete ein Schriftsteller auf höchst originelle Weise das genaue Datum des Weltendes. Er ging von dem Gedanken aus, daß die für den menschlichen Körper unerläßlichen Aufbaustoffe in genügender Menge vorhanden sein müssen, solle am Jüngsten Tage jedermann mit dem Nötigen ausgestattet sein. Nach sorgfältiger Bestandsaufnahme der verfügbaren Rohstoffmengen gelang es ihm, den Tag festzustellen, an dem allesVorhandene aufgebraucht sein würde. Am gleichen Tage müßte es nach seiner Auffassung mit der Welt zu Ende sein, da andernfalls eine leibliche Auferstehung unmöglich wäre. Unglücklicherweise ist mir das Datum entfallen, aber ich glaube, es liegt nicht mehr allzu fern.

Thomas von Aquino, der offizielle Philosoph der katholischen Kirche, erörterte des langen und breiten ein sehr ernstes, von den modernen Theologen schmählich vernachlässigtes Problem. Er stellte sich einen Kannibalen vor, der nie etwas anderes zu sich genommen hat als Menschenfleisch und dessen Eltern die gleiche Geschmacksrichtung hatten. Jedes Partikelchen seines Körpers müßte von Rechts wegen einem anderen gehören. Man kann nun nicht gut annehmen, daß alle von Kannibalen gefressenen Menschen auch in Ewigkeit zu kurz kommen sollen. Was aber wird dann aus dem Kannibalen selbst? Wie soll man ihn nach allen Regeln der Kunst in der Hölle rösten, wenn sein ganzer Körper unter die rechtmäßigen Besitzer aufgeteilt werden muß ?' Ich gebe dem Heiligen recht, wenn er diese Frage als ein recht schwieriges Problem bezeichnet.

Orthodoxe Christen erheben in diesem Zusammenhang einen recht merkwürdigen Einwand gegen die Feuerbestattung, der darauf schließen läßt, daß sie nur eine recht geringe Meinung von der Allmacht Gottes haben. Sie behaupten, es sei für Gott schwieriger, eine verbrannte als eine in der Erde von den Würmern zerfressene Leiche wieder zum Leben zu erwecken. Zweifellos wäre es recht mühselig, die Partikel aus der Luft zu sammeln und den chemischen Verbrennungsprozeß umzukehren, doch wäre es bestimmt eine Blasphemie, anzunehmen, daß dies für Gott eine unlösbare Aufgabe sei. Ich muß daraus folgern, daß die Ablehnung der Feuerbestattung offene Ketzerei darstellt, nehme jedoch an, daß meine Feststellung orthodoxe Christen kaum beeindrucken wird.

Die Kirche hat ihre Zustimmung zu Leichenöffnungen im Interesse der medizinischen Wissenschaft nur sehr zögernd und mit großem inneren Widerstreben gegeben. Als ein Pionier in der Frage der Sektion kann Vesalius bezeichnet werden, der Hofarzt Kaiser Karls V. Seines großen Könnens wegen gewährte ihm der Kaiser jeden erdenklichen Schutz. Nach dem Tode Karls jedoch geriet Vesalius bald in Ungelegenheiten. Man legte ihm zur Last, einen Menschen seziert zu haben, der unter dem Messer noch Lebenszeichen von sich gegeben habe, und klagte ihn des Mordes an. Nur der Vermittlung König Philipps II. hatte Vesalius es zu verdanken, daß er mit dem Leben davonkam. Das Inquisitionsgericht übte Nachsicht und verurteilte ihn lediglich zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Auf der Heimreise strandete sein Schiff, und er starb an Entkräftung. Noch Jahrhunderte nach diesem Vorfall durften die Medizinstudenten der Päpstlichen Universität in Rom nur an geschlechtslosen Gliederpuppen arbeiten.

Der Glaube an die Heiligkeit des Leichnams ist weit verbreitet. Bei den Aegyptern steigerte er sich zu dem Wunsch, die Leichen vor der Verwesung zu bewahren, und so entstand der Brauch des Einbalsamierens, der heute noch in China verbreitet ist. Ein von den Chinesen als Dozent für westliche Medizin verpflichteter französischer Chirurg berichtet, daß seine Bitte, ihm Leichen zu Sektionszwecken zur Verfügung zu stellen, mit größtem Entsetzen aufgenommen wurde. Tote könne er nicht haben, bedeutete man ihm, dafür aber lebende Verbrecher in beliebiger Zahl. Daß er sich mit dieser Lösung nicht einverstanden erklären wollte, war seinen chinesischen Brotgebern völlig unbegreiflich.

Es gibt zwar viele Arten der Sünde, darunter allein sieben Todsünden, das für den Satan ergiebigste Feld aber ist und bleibt der Sexus. Die orthodoxen katholischen Ansichten über diesen Gegenstand kann man beim Apostel Paulus, beim heiligen Augustinus und bei Thomas von Aquino nachlesen. Alle drei erklären das Zölibat für das einzig Richtige, haben jedoch nichts gegen eine Heirat einzuwenden, wenn jemand zur Enthaltsamkeit zu schwach ist. Der durch den Wunsch nach Kindern veranlaßte Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe gilt als erlaubt. Hingegen ist jede außereheliche geschlechtliche Beziehung sündhaft, und auch der eheliche Geschlechtsverkehr wird zur Sünde, sobald die Eheleute die Empfängnis zu verhüten trachten: Ebenso gilt die Unterbrechung der Schwangerschaft als Sünde, selbst dann, wenn nach ärztlicher Ansicht keine andere Möglichkeit besteht, das Leben der Mutter zu erhalten. Denn Aerzte sind nicht unfehlbar, und sofern er will, kann Gott ein Menschenleben jederzeit durch ein Wunder retten - eine Auffassung, die beispielsweise in der Gesetzgebung des amerikanischen Staates Connecticut ihren Niederschlag gefunden hat. Geschlechtskrankheiten sind nach Ansicht der katholischen Kirche Gottes Strafe für fleischliche Sünden. Zwar kann diese Strafe auf dem Wege über einen schuldigen Gatten auch eine völlig unschuldige Frau und ihre noch unschuldigeren Kinder treffen, aber das Walten der Vorsehung ist nun einmal geheimnisvoll, und ein Zweifel an Gottes Gerechtigkeit wäre Blasphemie. Man darf auch nicht fragen, weshalb es die göttlich verordneten Geschlechtsleiden erst seit der Zeit des Kolumbus gibt. Da venerische Krankheiten gottgewollte Strafen für sündige Leidenschaften sind, gelten alle Maßnahmen zu ihrer Verhütung - ausgenommen ein tugendhafter Lebenswandel! - als Sünde. Auf dem Papier ist das Band der Ehe unlöslich, in Wirklichkeit aber sind viele nur dem Schein nach verheiratet. Und während sich für einflußreiche Katholiken häufig ein Grund zur Annullierung ihrer Ehe findet, gibt es für die Armen und Niedrigen keinen Ausweg, höchstens wenn Impotenz vorliegt. Wer sich scheiden läßt und ein zweitesmal heiratet, macht sich in Gottes Augen des Ehebruchs schuldig.

In Gottes Augen? Eine verwirrende Formulierung. Was sieht Gott? Alles, sollte man meinen. Offenbar aber ist diese Ansicht irrig. Das Scheidungsparadies Reno zum Beispiel sieht Gott nicht, denn niemand kann in Gottes Augen geschieden werden. Und wie ist es mit den Standesämtern? Nach meinen Feststellungen gehen die ehrenwertesten Leute bei nur standesamtlich getrauten Ehepaaren ohne Hemmungen ein und aus, wohingegen sie um keinen Preis der Welt ein Haus betreten würden, in dem die freie Liebe ihr Unwesen treibt. Standesämter scheint Gott also wahrzunehmen.

Einige sehr bedeutende Männer fanden selbst die Haltung der katholischen Kirche in sexuellen Fragen noch bedauerlich lax. Tolstoi und Mahatma Gandhi haben uns im Greisenalter versichert, daß jedweder Geschlechtsverkehr verwerflich sei, auch in der Ehe und wenn er vom Wunsch nach Kindern bestimmt ist. Genau so dachten die Manichäer, die sich nur deshalb nicht um ihren Fortbestand zu sorgen schienen, weil sie sich vertrauensvoll auf die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur verließen. Natürlich ist die Ansicht der Manichäer ketzerisch. Nicht weniger ketzerisch aber wäre die Behauptung, daß die Ehe genau so lobenswert sei wie das Zölibat. Tolstoi hielt den Tabakgenuß für fast ebenso verworfen wie die Sinnenlust. In einem seiner Romane raucht ein mit Mordgedanken umgehender Mann zunächst einmal eine Zigarette, um sich in die nötige mörderische Raserei hineinzusteigern. Dabei ist nirgendwo in der Bibel das Rauchen verboten worden. Der englische Romancier Samuel Butler meint allerdings, daß der Apostel Paulus das üble Tabakkraut bestimmt verdammt haben würde, wenn er es gekannt hätte.

Befremdlich finde ich die Haltung von Kirche und Oeffentlichkeit dem sogenannten „petting“ gegenüber. Wofern es die „Grenze“ nicht überschreitet, hat niemand etwas dagegen einzuwenden. Ueber den genauen Verlauf dieser Grenze aber sind sich selbst die Kasuisten nicht ganz einig; jedenfalls war bisher nicht zu erfahren, an welchem Punkt die Sünde einsetzt. Ein sehr orthodoxer katholischer Priester hat sich einmal dahin geäußert, daß ein Beichtvater, wenn er sich nichts Böses dabei denke, einer Nonne ruhigen Gewissens die Brüste streicheln dürfe. Ich bin allerdings nicht sicher, ob man ihm heute an maßgebender Stelle recht geben würde.

Unsere moderne Moral ist ein Gemisch aus rein vernunftbedingten Regeln für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in einer festen Gemeinschaft und aus traditionellen Verboten, die ursprünglich von irgendeinem alten Aberglauben herrühren und schließlich durch die heiligen Bücher der verschiedenen Religionen - die Bibel der Christen, den Koran der Mohammedaner, die heiligen Schriften der Hindus und der Buddhisten - zu Moralgesetzen erhoben wurden. Bis zu einem gewissen Grade stimmen diese Regeln und Verbote überein. So stützt sich beispielsweise das Verbot von Mord und Diebstahl sowohl auf die menschliche Vernunft wie auf das Wort Gottes. Hingegen wird der Schweine- oder Rindfleischgenuß nur von bestimmten Religionen verurteilt. Unbegreiflich, daß sich moderne Menschen ihre Moral noch immer von uralten und äußerst primitiven Nomaden- oder Bauernstämmen vorschreiben lassen, obwohl ihnen unmöglich verborgen geblieben sein kann, daß die Aufklärungsarbeit der Wissenschaft inzwischen sowohl unser Denken wie die sozialen Verhältnisse entscheidend gewandelt hat. Um so unbegreiflicher und deprimierender, als viele dieser kritiklos hingenommenen Gebote und Verbote sehr oft völlig unnötiges Leid und Elend verursachen. Gäbe es mehr Güte in der Welt, hätte schon längst jemand auf die eine oder andere Weise zu verstehen gegeben, daß diese heiklen Gebote genau so wenig ernst genommen zu werden brauchen, wie dasjenige: „Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen.“

Der Begriff Sünde ist voll logischer Widersprüche. Auf der einen Seite lehrt man uns, daß die Sünde im Ungehorsam gegen Gottes Gebote bestehe, auf der anderen Seite spricht man von Gottes Allmacht. Ist Gott wirklich allmächtig, so kann nichts gegen seinen Willen geschehen. Wenn also der Sünder Gottes Gebot mißachtet, muß Gott selbst es so gewollt haben - eine Auffassung, zu der sich beispielsweise der heilige Augustinus in kühner Folgerichtigkeit bekennt; seiner Meinung nach fällt der Mensch in Sünde, weil Gott ihn mit Blindheit geschlagen hat. Die meisten modernen Theologen aber empfinden es als unfair, daß der Mensch für Sünden in die Hölle wandern:soll, die man ihm letzten Endes gar nicht zur Last legen kann. Denker wie Spinoza folgen aus der für sie selbstverständlichen göttlichen Allmacht, daß es überhaupt keine Sünde geben kann. Eine schreckenerregende Behauptung! Wie? protestierten Spinozas Zeitgenossen empört, Neros Mord an seiner Mutter wäre also keine Sünde? Und daß Adam vom verbotenen Apfel gegessen hat, soll auch nicht Sünde gewesen sein? Demnach gäbe es also überhaupt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten? Spinoza wand sich unter dem Ansturm dieser Fragen, aber eine befriedigende Antwort hat er nicht gefunden. Denn wenn alles auf Erden mit Gottes Willen geschieht, muß auch der Muttermord des Kaisers Nero Gottes Wille gewesen sein. Und da Gott gut ist, bleibt nur zu folgern, daß dieser Mord ebenfalls etwas Gutes war. Dieser Schlußfolgerung kann man nicht entrinnen.

Wer ernsthaft glaubt, daß Sünde Ungehorsam gegen Gott ist, muß wohl oder übel die These von Gottes Allmacht fallen lassen, wenn er mit der Logik auf gutem Fuß bleiben will. Gewisse liberale Theologen haben sich denn auch von dieser These gelöst, wobei sie allerdings auf neue Schwierigkeiten stießen. Wie soll man wissen, was wirklich Gottes Wille ist? Wenn die Kräfte des Bösen irgendwie an der Macht teilhaben, können sie uns mit Leichtigkeit als Gottes Wort vorspiegeln, was in Wahrheit ihr eigener teuflischer Wunsch und Wille ist. Diese Auffassung vertraten zum Beispiel die Gnostiker, die das Alte Testament als Ausgeburt eines bösen Geistes ansahen.

Sobald wir auf die eigene Vernunft verzichten und uns mit irgendeiner Autorität zufrieden geben, finden wir aus den Schwierigkeiten überhaupt nicht mehr heraus. Auf wen oder auf was sollen wir uns verlassen? Auf das Alte Testament? Auf das Neue Testament? Auf den Koran? Jeder Mensch ist in eine bestimmte Gemeinschaft hineingeboren, und gewöhnlich wählt er sich zur Richtschnur, was diese Gemeinschaft für heilig hält, nie aber die betreffende heilige Schrift als Einheit, sondern immer nur ihm zusagende Abschnitte daraus; der Rest wird ohne weiteres ignoriert. Es hat eine Zeit gegeben, in der keine Bibelstelle so häufig zitiert und so gründlich befolgt wurde wie das Wort: „Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.“ Heutzutage wird diese Stelle nach Möglichkeit mit Stillschweigen übergangen oder allenfalls mit einer Entschuldigung erwähnt. Auch der Heiligen Schrift entnehmen wir also nur, was sich mit unseren vorgefaßten Meinungen deckt.

Die meisten religiösen Ueberzeugungen entspringen einer individuellen oder sich auf eine bestimmte Abkunft stützende Selbstüberheblichkeit. Selbst der Begriff der Sünde entsteht aus einem solchen übersteigerten Selbstgefühl. Der oben erwähnte George Borrow erzählt, wie er eines Tages einen Prediger aus Wales kennenlernte, der so schwermütig war, daß sein Mitgefühl wach wurde. Auf vorsichtiges Befragen gestand ihm der Prediger bekümmert, daß er sich als Siebenjähriger gegen den Heiligen Geist versündigt habe. „Mein lieber Freund“, rief Borrow erleichtert, „das darf Sie nicht beunruhigen! Ich kenne Dutzende von Leuten mit dem gleichen Kummer. Bilden Sie sich ja nicht ein, durch dieses Mißgeschick von der übrigen Menschheit abgeschnitten zu sein! Wenn Sie sich nur etwas umtun, werden Sie feststellen, daß viele Menschen unter diesem Alpdruck leiden.“ Von Stund an war der Prediger geheilt. An der Rolle eines Sünders unter vielen lag ihm nichts; gerade das scheinbar Besondere, Einmalige seines Falles hatte er genossen.

Nicht alle Sünder sind so ausgesprochen egozentrisch. Aber die Theologen scheinen an dem Gedanken Gefallen zu finden, daß dem Menschen nicht nur Gottes ganz besondere Liebe, sondern auch sein furchtbarster Haß gilt. Wir brauchen uns nur zu erinnern, was Milton über Gottes Weisungen nach dem Sündenfall berichtet:

Zuerst erhielt die Sonne den Befehl,

So sich mit ihren Strahlen zu bewegen,

Daß sie der Erde Kält‘ und Hitze lieh,

Die kaum ertragbar, daß vom Norden sie

den Winter und vom Süd' den Sommer rufe.

Die Folgen mögen reichlich unangenehm gewesen sein. Dennoch muß sich Adam meiner Meinung nach recht geschmeichelt gefühlt haben, daß Gott, nur um ihn zur Räson zu bringen, ein so großartiges astronomisches Schauspiel in Szene gesetzt hatte. Die Theologie hält den Menschen für das wichtigste und bedeutendste Element des Universums, und da alle Theologen Menschen sind, ist diese Auffassung nirgendwo auf nennenswerten Widerstand gestoßen.

Als dann die Evolutionstheorie zur Mode wurde, nahm die Verherrlichung des Menschen neue Formen an. Man erklärte uns, die Evolution hätte nur dies eine große Ziel gehabt; durch all die Millionen Jahre, in denen es nur Urschleim und Fossilien gab, und ebenso später in den Zeitaltern der Dinosaurier und Riesenfarne, der wilden Bienen und Blumen habe Gott nur immer diesen grandiosen Höhepunkt seines Schöpfungswerkes vor Augen gehabt. Und als die Zeit gekommen war, schuf Gott den Menschen - einschließlich solcher Exemplare wie Nero und Caligula, Hitler und Mussolini, deren überirdische Herrlichkeit den langwierigen und mühevollen Vorbereitungsprozeß allerdings vollauf rechtfertigt. Ich für mein Teil könnte eher an die ewige Verdammnis glauben, als an diese lächerlichste und lahmste aller Theorien vom Krönungswerk des Schöpfers, das wir als das Resultat seines letzten und höchsten Bemühens ansehen sollen. Weshalb übrigens „Bemühen“? Hat ein allmächtiger Gott es nötig, sich anzustrengen? Konnte er das glorreiche Endprodukt seiner Schöpfung nicht auch ohne einen so langwierigen und langweiligen Prolog zustande bringen?

Abgesehen davon, daß es fraglich scheint, ob der Mensch tatsächlich etwas so Herrliches ist, wie die Evolutionstheologen uns glauben machen wollen, sollte die zeitliche Begrenztheit des Lebens auf unserem Planeten zu denken geben. Ueber den Weltuntergang sind die verschiedensten Theorien im Umlauf. Nach der einen wird die Erde allmählich erkalten und vereisen, nach einer anderen verflüchtigt sich mit der Zeit die den Erdball umgebende schützende Lufthülle, eine dritte sagt Wassermangel voraus, und Sir James Jeans glaubt an eine Explosion der Sonne und prophezeit, daß alle Planeten sich in Gas verwandeln werden. Was von alledem geschehen und was zuerst geschehen wird, weiß niemand. Sicher ist nur, daß die Menschheit eines Tages aussterben wird. Natürlich hat diese Aussicht für die orthodoxen Theologen nichts sonderlich Erschreckendes, denn ihr Glaube an die Unsterblichkeit gibt ihnen ja die Gewißheit, daß der Mensch nach der Katastrophe auf Erden im Himmel beziehungsweise in der Hölle weiterexistieren wird. Weshalb macht man dann aber so viel Aufhebens von irdischen Vorgängen?

Eigendünkel ist nicht die einzige Ursache falscher Ueberzeugungen. Aus der Liebe zum Uebernatürlichen und Wunderbaren entsteht zumindest ebensoviel Unheil.

Ich kannte einst einen wissenschaftlich interessierten Zauberkünstler, der seine Tricks immer nur einem kleinen Zuschauerkreis vorführte. Nach der Vorstellung nahm er-sich jedesmal die Teilnehmer einzeln vor und ließ jeden seine Beobachtungen niederschreiben. Das Resultat war in fast allen Fällen um vieles erstaunlicher als die eigentliche Leistung des Taschenspielers, die sich in der schriftlichen Darstellung der Zuschauer meist in ein Wunder verwandelte, das er auch bei größter Meisterschaft niemals hätte zustande bringen können. Trotzdem waren alle Beteiligten überzeugt, daß ihre Aufzeichnungen genau dem entsprachen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Noch schlimmner wird die Verfälschung der Wahrheit, wenn es sich um Gerüchte handelt. A erzählt B, daß er am Abend zuvor den bekannten Anti-Alkoholiker X in leicht angeheitertem Zustand getroffen habe. B erzählt C, A habe den guten X vor Trunkenheit torkeln sehen. C erzählt D, X sei in bewußtlosem Zustand im Rinnstein aufgelesen worden. Und D erzählt E, es sei offenes Geheimnis, daß X sich Abend für Abend sinnlos betrinke. Hier spricht allerdings noch ein anderes Motiv mit; nämlich die Bosheit. Wir alle denken von unseren Nachbarn lieber schlecht als gut und glauben darum auch das Schlimmste, ohne viel nach Beweisen zu fragen. Aber auch ohne das Stimulans der Bosheit ist der Mensch jederzeit bereit, dem Erstaunlichen, dem Ausgefallenen oder Wunderbaren blindlings Glauben -zu schenken, sofern es nicht zufällig mit irgendeinem seiner Vorurteile kollidiert.

Bis zum achtzehnten Jahrhundert ist die Geschichte voll von wundersamen Begebenheiten, die von modernen Historikern ignoriert werden, nicht weil sie relativ ungenügend belegt sind, sondern weil der moderne Geschmack der Gebildeten dem wissenschaftlich Wahrscheinlichen den Vorzug gibt. Shakespeare schildert, was sich am Abend vor Cäsars Ermordung zutrug:

Ein Sklave, den Ihr wohl von Ansehn kennt,

Hob seine linke Hand empor; sie flammte

Wie zwanzig Fackeln auf einmal, und doch,

Die Glut nicht fühlend, blieb sie unversengt.

Auch kam

- seitdem steckt' ich mein Schwert nicht ein -

Beim Kapitol ein Löwe mir entgegen.

Er funkelte mich an, ging mürrisch weiter

Und tat mir nichts. Auf einen Haufen hatten

Wohl hundert bleiche Weiber sich gedrängt,

Entstellt von Furcht;

Die schwuren, daß sie Männer

Mit feur'gen Leibern wandern auf und ab

Die Straße sahn.

Shakespeare hat diese Wunder nicht erfunden; sie sind den Berichten angesehener Historiker entnommen, auf die sich unsere ganze Kenntnis von Cäsar und von den Vorgängen um Cäsar stützt. Wenn ein großer Mann stirbt oder ein gewaltiger Krieg ausbricht, geschehen immer irgendwelche Wunderdinge. Selbst die neueste Zeit macht darin keine Ausnahme, wie die „Engel von Mons“ beweisen, die 1914 den englischen Truppen Mut zusprachen. Man hat für solche Begebenheiten fast niemals Belege aus erster Hand, und moderne Historiker lehnen sie rundweg ab - wenn es sich nicht gerade um einen Vorfall von religiöser Bedeutung handelt.

Jede starke Gemütsbewegung trägt den Keim zu einer Legende in sich. Beschränkt sich die Gemütswallung auf einen Einzelnen, so gilt der Betreffende bei seinen Mitmenschen als mehr oder minder verrückt, wenn er seine selbsterfundenen Geschichten als Tatsachen zum besten gibt Wird jedoch ein Kollektiv von diesem Gefühl erfaßt - beispielsweise in Kriegen -, so denkt niemand daran, die sich ganz natürlich bildenden Legenden richtigzustellen. Im September 1914 glaubten nahezu alle Engländer, daß russische Truppen auf ihrem Wege zur Westfront englisches Gebiet passiert hätten. Kein einziger hatte die Russen mit eigenen Augen gesehen, aber jeder kannte irgend jemanden, der behauptete, sie gesehen zu haben.

Die Neigung zur Legendenbildung verbindet sich häufig mit Grausamkeit. So werden den Juden seit dem Mittelalter immer wieder Ritualmorde angedichtet, obwohl sich niemals auch nur der Schatten eines Beweises für eine solche Beschuldigung finden ließ, und kein Mensch mit gesundem Verstand jemals wirklich daran geglaubt bat. Und doch gibt es immer wieder Menschen, die solchen Erzählungen Glauben schenken. Ich habe zarentreue Russen getroffen, die von den Bluttaten der Juden felsenfest überzeugt waren - ganz zu schweigen von den Nationalsozialisten, für die es über diese Sache nicht den geringsten Zweifel gab. Solche Legenden bieten einen ausgezeichneten Vorwand für Grausamkeiten, und daß sie ohne weiteres geglaubt werden, beweist, daß der Mensch im Unterbewußtsein nach einem Opfer verlangt, das er verfolgen und peinigen kann.

Bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts hielt man die Geisteskranken ganz allgemein für Besessene. Man war der Meinung, daß jedes Schmerzempfinden des gestörten Patienten sich auf den in seinem Körper hausenden Dämon übertrage, und folgerte daraus, daß man den Kranken, um ihn zu heilen, so lange peinigen müsse, bis der böse Geist sich entschließe, ihn zu verlassen.

Man prügelte also die Irren auf roheste Weise - auch einen König wie Georg III. von England, als er dem Wahnsinn verfiel. Merkwürdig und peinlich ist, daß all die vielen völlig sinnlosen Heilmethoden, an die man in der an Torheiten reichen Geschichte der Medizin geglaubt hat, ausnahmslos mit erhöhten Leiden für die Patienten. verbunden waren. Als endlich Betäubungsmittel erfunden wurden, lehnten sich fromme Leute entschieden gegen ihre Anwendung auf, in der Ueberzeugung, daß Schmerzen gottgewollt seien und aus diesem Grunde nicht beseitigt werden dürften. Irgend jemand aber machte darauf aufmerksam, daß Adam in tiefen Schlaf versank, bevor ihm Gott die bewußte Rippe herausoperierte, womit als bewiesen gelten konnte, daß Männer einen Anspruch auf Betäubungsmittel haben; Frauen hingegen hatten weiter zu leiden - um des göttlichen Fluches willen, den Eva auf sich geladen hatte. In der westlichen Welt hat das Frauenstimmrecht mit dieser Ansicht aufgeräumt, wohingegen die japanischen Frauen ihre Kinder noch heute ohne jedes Betäubungsmittel zur Welt bringen müssen. Da die Japaner nicht an unsere Schöpfungsgeschichte glauben, muß irgendein anderer Grund für diesen Sadismus vorliegen.

Für die seit jeher beliebten Faseleien über „Rasse“ und „Blut“, die von den Nationalsozialisten zum offiziellen Glaubensbekenntnis erhoben wurden, gibt es keine sachliche Rechtfertigung irgendwelcher Art. Sie werden als Wahrheiten hingenommen, weil sie dem Selbstgefühl schmeicheln und dem Hang zur Grausamkeit entgegenkommen. In der einen oder anderen Form hat es diese Trugschlüsse schon immer gegeben; sie sind so alt wie die Zivilisation. Sie mögen ihre äußeren Formen ändern, ihr Inhalt bleibt immer der gleiche.

Schon bei Herodot lesen wir von der Macht des Blutes; er erzählt, wie der Knabe Cyrus in völliger Unkenntnis seiner königlichen Abkunft von Hirten großgezogen wurde. Doch im Alter von zwölf Jahren zeigte er im Spiel mit gleichaltrigen Bauernjungen eine so königliche Haltung, daß die Wahrheit über seine hohe Geburt ans Licht kam - eine Variante der uralten Legende, der man in der Mythologie aller indo-europäischen Völker begegnet. Selbst recht moderne Menschen hört man sagen, daß das Blut „sich verrät“. Vergeblich versuchen die Physiologen mit Hilfe wissenschaftlicher Beweise klarzumachen, daß es zwischen dem Blut eines Negers und dem eines Weißen keinen Unterschied gibt. Das Amerikanische Rote Kreuz bestimmte beim Eintritt der Vereinigten Staaten in den letzten Weltkrieg aus Rücksicht auf das allgemeine Vorurteil, daß für Bluttransfusionen kein Blut von Negern verwandt werden dürfe. Nach heftigen Protesten gegen diesen Beschluß gestattete das Rote Kreuz schließlich die Verwendung von Negerblut, aber nur für schwarze Patienten. Aehnlich war es in Deutschland, wo ein „arischer“ Soldat auf keinen Fall mit jüdischem Blut „infiziert“ werden durfte, wenn eine Bluttransfusion nötig war.

Der Rassengedanke äußert sich je nach der Staatsform in jedem Lande verschieden. Wo umher die Monarchie feste Wurzeln geschlagen hat, werden die Angehörigen des königlichen Geschlechts für wertvoller gehalten als ihre Untertanen. Noch bis in die jüngste Zeit hinein hat-man allen Ernstes geglaubt, daß der Mann von Geburt intelligenter sei als die Frau. Selbst ein so aufgeklärter Geist wie Spinoza teilte diese Auffassung und ließ sich von ihr bewegen, gegen das Frauenstimmrecht Einspruch zu erheben.

Bei weißen Völkern gelten die farbigen Rassen - insbesondere die schwarze - noch heute als minderwertig, wogegen für die Japaner die gelbe Rasse die wertvollste ist. Auf Haiti werden Christusstatuen in Schwarz und Teufelsstatuen in Weiß gehalten. Aristoteles und Plato waren von der Ueberlegenheit der Griechen über die Barbaren so felsenfest überzeugt, daß sie die Sklaverei für durchaus gerechtfertigt hielten, sofern nur der Herr ein Grieche und der Sklave Barbar war. Die amerikanischen Einwanderungsgesetze ziehen Angehörige der nordischen Rasse den Slawen, Romanen oder anderen weißen Völkern vor. Der Nationalsozialismus dagegen war der Ansicht, daß es einwandfrei nordische Menschen fast nur noch in Deutschland gebe. Die Norweger hatten mit Ausnahme von Quisling und Genossen ihre Rasse durch Vermischung mit Finnen, Lappen oder ähnlich minderwertigen Elementen selbstverständlich längst verdorben. So wird die Politik zum Maßstab für den rassischen Wert und Unwert eines Menschen oder eines Volkes. Daß alle biologisch „reinen nordischen“ Typen Hitler liebten, stand für die Nationalsozialisten außer Zweifel; wer es nicht tat, lieferte den Beweis, daß in seinen Adern unreines Blut floß.

Natürlich ist das alles blühender Unsinn, und jeder, der sich mit Rassenfragen näher befaßt hat, weiß, daß es Unsinn ist. In amerikanischen Schulen werden Kinder der denkbar verschiedensten Abstammung nach dem gleichen, pädagogischen System unterrichtet und erzogen, und Intelligenzprüfungen haben einwandfrei ergeben, daß von Wertunterschieden im Sinne der von den Rassentheoretikern aufgestellten Behauptungen keine Rede sein kann. In jeder Völker- oder Rassengruppe gibt es intelligente und dumme Kinder. Zwar werden sich in den Vereinigten Staaten die geistigen Fähigkeiten farbiger Kinder wahrscheinlich nicht so vorteilhaft entwickeln wie die der weißen Kinder, weil selbst im heutigen Amerika noch ein gewisses Vorurteil gegen die farbige Rasse besteht; sobald man aber die natürliche Begabung von den Einflüssen der Umgebung scheidet und sie gesondert betrachtet, kommt man zu dem Schluß, daß es rassische Intelligenzunterschiede einfach nicht gibt. Der Begriff der Rassenüberlegenheit ist ein Mythos, entstanden aus der anmaßenden Selbstüberschätzung einiger weniger Machthaber. Vielleicht gibt es eines Tages überzeugendere Unterlagen; vielleicht sind die Pädagogen eines Tages in der Lage zu beweisen, daß Juden im Durchschnitt intelligenter seien als Angehörige anderer Völker. Bis jetzt aber existieren solche Beweise noch nicht, und alles Gerede von überlegenen Rassen ist Unsinn.

Auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Europas angewandt, wird jede Rassentheorie vollends zur Groteske. Es gibt in Europa keine einzige „reine“ Rasse. In den Adern der Russen fließt zum Teil tatarisches Blut, die Deutschen haben einen starken slawischen Einschlag, die Bevölkerung Frankreichs setzt sich aus Kelten, Germanen und Angehörigen der mediterranen Rasse zusammen. Desgleichen die Bevölkerung Italiens, deren Zusammensetzung noch erweitert wird durch die von den Römern eingeführten Sklaven. Das rassisch „unreinste“ Volk sind vielleicht die Engländer. Und es liegt nicht der geringste Beweis vor, daß die Zugehörigkeit zu einer „reinen“ Rasse irgendwelche Vorzüge mit sich bringt. Die reinsten heute noch existierenden Rassen bilden die Pygmäen, die Hottentotten und die australischen Ureinwohner (die vermutlich noch reineren Tasmanier sind ausgestorben), deren Kultur man als einigermaßen zurückgeblieben bezeichnen kann. Andererseits sind die Bewohner des alten Hellas aus der Verschmelzung zugewanderter nördlicher Barbaren mit Einheimischen hervorgegangen; die zivilisiertesten Griechen - Athener und lonier - waren die rassisch „unreinsten“ Elemente. Wie man sieht, beruhen die angeblichen Vorzüge der Rassenreinheit auf purer Einbildung.

Der Aberglauben vom Blut nimmt häufig Formen an, welche mit der eigentlichen Rassenidee nichts mehr zu tun haben. Allem Anschein nach ist der Mord ursprünglich deswegen verurteilt worden, weil nach religiöser Auffassung das Blut des Opfers den Ritus schändete.

Gott sprach zu Kain: „Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Nach Ansicht einiger Anthropologen sollte das Kainszeichen den Mörder lediglich vor dem rächenden Blut des Ermordeten verbergen - ähnlich wie man sich ursprünglich durch die Trauerkleidung nur den drohenden Uebergriffen des Toten entziehen wollte. In vielen alten Lebensgemeinschaften wurde zwischen Mord und Totschlag kein Unterschied gemacht; in beiden Fällen verlangte der Ritus die religiöse Reinigung. Der Aberglaube, daß Blut etwas Unreines und Verunreinigendes sei, geistert noch heute in dem für den ersten Kirchgang der Wöchnerinnen geltenden Brauch und in gewissen mit der Menstruation zusammenhängenden Tabus. Die Vorstellung, daß ein Kind „Blut von seines Vaters Blut“ sei, ist ebenfalls Aberglaube; in Wirklichkeit geht nur das Blut der Mutter in das Kind ein. Wenn das Blut wirklich so wichtig ist, wie man uns glauben machen will, kann einzig das Mutterrecht den authentisch en Nachweis der Abstammung garantieren.

In Rußland, wo die Bevölkerung seit der Revolution unter dem Einfluß der marxistischen Theorien nach ihrer wirtschaftlichen Herkunft klassifiziert wird, hatten die sowjetischen Machthaber ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden wie seinerzeit die deutschen Rassentheoretiker mit den „nordischen“ Skandinaviern. Zwei verschiedene Glaubenssätze mußten auf einen Nenner gebracht werden. Der eine hieß: Die Proletarier sind gut, alle übrigen Menschen sind schlecht; der andere lautete: Die Kommunisten sind gut, alle anderen Menschen sind schlecht. Nur durch Sinnänderung der Ausdrücke konnte zwischen beiden Theorien eine Verbindung hergestellt werden. Aus dem „Proletarier“ wurde ein loyaler Sowjetuntertan (so wurde Lenin, obwohl er adliger Abstammung war, zum Proletariat gerechnet), und der «Kulak» - ursprünglich der russische Großbauer - war hinfort identisch mit jedem Bauern, der gegen das Kollektivsystem opponierte. Zu solchen Absurditäten kommt es, sobald irgendwo der Wahn umgeht, daß eine bestimmte Menschengruppe von Natur besser sei als eine andere. Wünscht man in Amerika einen verdienstvollen Farbigen ganz besonders zu ehren, so sagt man - allerdings erst wenn er tot ist: „Der Verstorbene war ein wahrhaft ,weißer' Mensch!“ Bei einer mutigen Frau spricht man von einem „männlichen Einschlag“. Macbeth sagt, wenn er den hohen Mut seines Weibes preist:

„Gebär mir Söhne nur!

Aus deinem unbezwungenen Stoffe können

Nur Männer sprossen.“

Alle diese Redensarten erklären sich aus dem zähen Festhalten an törichten Verallgemeinerungen.

Sogar auf wirtschaftlichem Gebiet herrscht der Aberglaube. Weshalb schätzen die Menschen Gold und Edelsteine? Bestimmt nicht nur ihres Seltenheitswertes wegen. Es gibt eine Anzahl Elemente, die sogenannten Edelerden, die viel seltener sind als Gold, und für die mit Ausnahme einiger besonders interessierter Wissenschaftler trotzdem niemand einen roten Heller ausgeben würde. Es gibt eine Theorie - und sie hat viel für sich -, derzufolge Gold und Edelsteine ursprünglich nach den ihnen zugeschriebenen Zauberkräften bewertet wurden. Die Fehler der modernen Regierungen lassen erkennen, daß dieser Irrglaube unter den sogenannten „Männern des praktischen Lebens“ noch heute verbreitet ist.

Nach dem ersten Weltkriege wurde ein Abkommen getroffen, daß Deutschland gewaltige Summen an England und Frankreich, und die europäischen Siegermächte ihrerseits Riesensummen an die Vereinigten Staaten zu zahlen hatten. Alle Vertragspartner wollten in bar bezahlt werden. Offenbar übersahen die „Realisten“, daß es so viel Geld auf Erden gar nicht gibt. Und sie übersahen ferner, daß Geld nutzlos ist, wenn es nicht für den Einkauf von Waren verwandt wird. Da sie es nicht für diesen Zweck benutzten, hatte kein Mensch davon Nutzen. Die Vorstellung von einer an das Gold gehefteten geheimnisvollen Kraft ließ es als der Mühe wert erscheinen, das gelbe Metall erst in Transvaal auszugraben und dann in Amerika wieder einzugraben, d. h. in unterirdischen Banktresoren zu verstecken. Natürlich hatten sich eines Tages die Barmittel der Schuldnerländer erschöpft, und da sie nicht Waren bezahlen durften, machten sie bankrott. Die anschließende Weltwirtschaftskrise war also eine unmittelbare Folge der noch immer lebendigen Vorstellung, daß dem Golde eine magische Kraft innewohne. Heute scheint dieser Aberglaube überwunden zu sein, aber man kann gewiß sein, daß ein anderer an seine Stelle treten wird.

Die Politik wird weitgehend beherrscht von sentenziösen, jeder Wahrheit baren Platitüden. Eine der populärsten und, so wie sie heute angewandt wird, unzutreffendsten Thesen ist die von der Unveränderlichkeit der sogenannten „menschlichen Natur“. Niemand kann die Gültigkeit oder Ungültigkeit dieser Theorie beweisen, ohne zuvor den Begriff „menschliche Natur“ definiert zu haben. Wenn aber jemand diese Weisheit mit wichtiger und unheilkündender Miene von sich gibt, will er damit nur sagen, daß sich seiner Meinung nach alle Menschen allerorten in Ewigkeit so benehmen werden wie seine Mitbürger in seinem Heimatstädtchen.

Schon ein klein wenig Anthropologie genügt, um mit diesem Irrtum aufzuräumen. In Tibet müssen die Frauen sich mehrere Männer nehmen, weil einer allein sie angesichts der dort herrschenden Armut nicht ernähren könnte. Trotzdem ist das tibetanische Familienleben nicht weniger glücklich und harmonisch als in anderen Ländern. Bei vielen unzivilisierten Stämmen besteht die Sitte, einem Gast als Zeichen der Höflichkeit die eigene Frau auszuleihen. Die australischen Ureinwohner unterziehen sich bei Eintritt der Mannbarkeit einer äußerst schmerzhaften Operation, die ihre sexuelle Potenz für den Rest ihres Lebens erheblich herabmindert. Der Kindermord, welcher der menschlichen Natur doch widersprechen sollte, war vor dem Aufkommen des Christentums gang und gäbe; Plato empfiehlt ihn als nützliches Mittel zur Verhütung der Ueberbevölkerung.

Es gibt Eingeborenenstämme, denen der Begriff des persönlichen Eigentums völlig fremd ist, und selbst in hochzivilisierten Staaten setzen wirtschaftliche Zweckmäßigkeitserwägungen sich häufig über die „menschliche Natur“ hinweg. Wenn in Moskau, wo großer Wohnraummangel herrscht, eine unverheiratete Frau ein Kind erwartet, erheben gelegentlich mehrere Männer Anspruch auf die Vaterschaft, weil der behördlich anerkannte Vater berechtigt ist, das Zimmer der Frau zu teilen, und ein halbes Zimmer immer noch besser ist als gar keines.

Die „menschliche Natur“ ist vielmehr äußerst variabel, sie ist ein Ergebnis der jeweiligen Erziehung. Obwohl, wie jeder weiß, die Befriedigung des Hungers und des Geschlechtstriebes zu den elementarsten menschlichen Bedürfnissen gehört, hatten z. B. die alten ägyptischen Eremiten den Sexualtrieb völlig in sich abgetötet und die Nahrungsaufnahme auf das Allernotwendigste beschränkt. Durch entsprechende Diät und Uebung wird der Mensch je nach Lust und Laune seiner Erzieher ungebärdig oder gefügig, herrisch oder sklavisch. Es gibt keinen Unsinn, den man der Masse nicht durch geschickte Propaganda mundgerecht machen könnte. Plato wollte seine „Republik“ auf einen Mythos gegründet wissen, den er selbst als absurd bezeichnete, und war doch ganz mit Recht davon überzeugt, daß ihn die Griechen am Ende schlucken würden. Hobbes vertrat den Standpunkt, daß ein Volk seine Regierung unter allen Umständen verehren und respektieren müsse, ganz gleich, ob sie etwas tauge oder nicht. Als man ihm entgegenhielt, daß die Allgemeinheit sich wohl kaum für einen so unvernünftigen Gedanken erwärmen würde, verwies er darauf, daß es schließlich auch gelungen sei, der christlichen Lehre und sogar dem Dognia von der Transsubstantiation in weiten Kreisen Glauben zu verschaffen. Hätte Hobbes die von den nationalsozialistischen „Idealen“ überzeugte Hitler-Jugend noch erlebt, hätte er seine Auffassung noch deutlicher bestätigt gefunden.

Mit dem Entstehen größerer Staatsgebilde gewannen die Regierungen immer stärkeren Einfluß auf die Ueberzeugungen der Menschen. So wurden viele Römer duich das Beispiel ihrer Kaiser bestimmt, zum Christentum überzutreten, während in den von den Arabern eroberten Teilen des Römischen Reiches die Bevölkerung ihren christlichen Glauben mit dem Islam vertauschte. Die Aufteilung Westeuropas in protestantische und katholische Gebiete entsprach der religiösen Haltung der verschiedenen Herrscherhäuser des sechzehnten Jahrhunderts. Nie zuvor indessen ist der Einfluß der Regierungen stärker gewesen als gerade in unseren Tagen. Ein Glaube mag noch so unbegründet sein - sobald er die Handlungen der Masse zu bestimmen beginnt, erwächst ihm eine eminente Bedeutung. In diesem Sinne hatten auch die dem japanischen, dem russischen und dem deutschen Volk vor dem letzten Kriege von ihren Regierungen eingehämmerten Ueberzeugungen beträchtliche Auswirkungen. Da jede dieser Ueberzeugungen etwas anderes besagte, konnten sie unmöglich alle richtig, wohl aber samt und sonders falsch sein. Unglücklicherweise riefen sie einen glühenden Vernichtungswillen hervor, der sich zuweilen bis zur völligen Aufgabe des Selbsterhaltungstriebes steigerte. Nach den jüngeren Erfahrungen kann niemand bestreiten, daß es bei ausreichender militärischer Stärke ein Kinderspiel ist, ein ganzes Volk in einen Haufen fanatischer Irrsinniger zu verwandeln. Ebenso einfach wäre es natürlich, geistig gesunde und vernünftige Menschen heranzubilden. Aber viele Regierungen wollen das gar nicht, weil vernünftig denkende Menschen ihre in der Regierung sitzenden Politiker nicht einfach kritiklos bewundern würden.

Wie verderblich die Theorie von der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur ist, wird an der aus ihr abgeleiteten dogmatischen Behauptung deutlich, daß es immer Kriege geben wird, weil der Mensch auf Grund seiner ganzen Beschaffenheit danach verlange. Selbstverständlich wird jeder unter normalen Bedingungen aufgewachsene und erzogene Mensch bei einer Provokation das Bedürfnis empfinden, zurückzuschlagen. Diesem elementaren Trieb wird er aber nur dann folgen, wenn er eine Erfolgschance für sich sieht. Ohne Zweifel fühlt man sich auch provoziert, wenn man von einem Polizisten angehalten wird, und doch wird man keine Prügelei mit ihm vom Zaun brechen, weil man genau weiß, daß der Polizist die überlegene Macht des Staates hinter sich hat. Ich habe auch noch nicht bemerken können, daß Männer, die aus irgendeinem Grunde nie an einem Kriege teilgenommen haben, sich deshalb benachteiligt fühlen oder gar Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Die Schweden beispielsweise, die seit 1814 keinen Krieg mehr erlebt haben, sind die glücklichsten und harmonischsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Der einzige Schatten auf ihrem Glück ist die Befürchtung, sie könnten in einen künftigen Krieg hineingezogen werden. Wenn die politische Struktur unserer Gesellschaft einen Krieg zu einem von vornherein aussichtslosen Geschäft stempeln würde, könnte ihn kein noch so starker menschlicher Urtrieb erzwingen, und kein normaler Mensch würde sein Ausbleiben beklagen. Mit den gleichen Argumenten, mit denen man jetzt die Unvermeidlichkeit des Krieges zu beweisen sucht, hat man seinerzeit den Brauch des Duellierens verteidigt; und wer von uns fühlte sich heute in der Entwicklung seiner Persönlichkeit gehemmt, weil er seine Kräfte nicht mehr im Zweikampf messen darf?

Ich persönlich bin der Ueberzeugung, daß es keinen Unsinn gibt, den eine Regierung ihren Untertanen nicht einreden könnte. Man stelle mir eine angemessene Armee zur Verfügung und gebe mir die Möglichkeit, sie so zu bezahlen und zu ernähren, daß ihr Los sich von dem des Durchschnittsbürgers angenehm unterscheidet - und ich mache mich anheischig, die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb von dreißig Jahren davon zu überzeugen, daß zwei und zwei drei ist, daß Wasser gefriert, wenn man es erhitzt, und kocht, wenn es sich abkühlt, und dergleichen Unsinn mehr. Selbstverständlich würden die Leute trotz dieser neuen Erkenntnisse den Teekessel nicht in den Eisschrank stellen, wenn sie kochendes Wasser brauchen. Daß Wasser durch Kälte zum Kochen gebracht wird, würde eine Sonntagswahrheit bleiben, etwas Heiliges und Mystisches, das nur in ehrfurchtsvollem Ton erwähnt werden dürfte, im praktischen Leben aber keine Anwendung fände. Wer sich einfallen ließe, die mystische Doktrin mit dreisten Worten zu verleumden, würde sich damit außerhalb des Gesetzes stellen und hätte als Ketzer dem „Kältetod“ auf dem Scheiterhaufen zu erwarten. Alle, die dem neuen Staatsglauben nicht begeistert zustimmten, müßten aus dem Lehramt oder anderen wichtigen Staatsstellungen entfernt werden. Nur den höchsten Würdenträgern dürfte gestattet sein, in leicht angetrunkenem Zustand einander zuzuflüstern, welch haarsträubender Unfug das Ganze sei; sie würden dann lachen und weitertrinken. Leider ist, was ich hier skizziere, nicht einmal Karikatur; denn es deckt sich nahezu völlig mit dem, was unter einigen modernen Regierungssystemen tatsächlich geschieht.

Die Entdeckung, daß man mit wissenschaftlichen Mitteln den Menschen umformen und seine Handlungen bestimmen kann und daß die Regierenden es in der Hand haben, die Massen in jede beliebige Richtung zu dirigieren, ist eine der Ursachen unseres Unglücks. Zwischen einer Gemeinschaft geistig freier Bürger und einem nach modernen Propagandamethoden zusammengeschweißten Kollektiv besteht der gleiche Unterschied wie zwischen einem Haufen Rohmaterial und einem Schlachtschiff. Unglücklicherweise ist man dahinter gekommen, daß sich die allgemeine Schulpflicht - ursprünglich nur dazu bestimmt, allen Menschen das Erlernen des Lesens und Schreibens zu ermöglichen - auch für andere Zwecke eignet, daß sie, wenn man den entsprechenden Unsinn verzapfen läßt, geistigen Konformismus und kollektive Begeisterung bewirken kann. Wenn wenigstens alle Regierungen den gleichen Unsinn lehren ließen! Das Unheilwäre dann nicht ganz so schlimm. Leider aber predigt jede Regierung ihren eigenen Weg zur Glückseligkeit, und eben diesen Unterschieden entspringen die großen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Glaubensbekenntnisse. Wenn die Menschheit je in Frieden leben soll, müssen die Regierungen entweder auf sämtliche Dogmen überhaupt verzichten, oder sich zumindest darauf einigen, ein einziges Dogma festzulegen, das für alle Völker verbindlich ist. Die erste Möglichkeit wird wohl in Ewigkeit ein utopisches Ideal bleiben. Wie aber wäre es, wenn alle Staatsoberhäupter einmütig verkündeten, die Politiker aller Länder seien Musterexemplare an Charakterfestigkeit und Weisheit? Vielleicht werden die den nächsten Krieg überlebenden Politiker ein Gemeinschaftsprogramm dieser Art für ratsam halten.

Leider aber ist nicht nur der völlige geistige Konformismus gefährlich, auch übertriebene Originalität birgt ihre Tücken. Es gibt gewisse „fortschrittliche Denker“, die sich einbilden, jedem recht geben zu müssen, dessen Ansichten von den landläufigen Ueberzeugungen abweichen. Das scheint mir verfehlt, denn es wäre sonst wirklich allzu einfach, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Leider gibt es unendlich viele Möglichkeiten, sich zu irren und die meisten Narren greifen eher ausgefallene Irrtümer auf als ausgefallene Wahrheiten.

Ein Elektrotechniker, mit dem ich einmal zufällig zusammentraf, überfiel mich nach kurzer Begrüßung mit den Worten: „Es gibt zwei Methoden der Heilung durch den Glauben: die von Christus geübte und die von der Mehrzahl der Mitglieder der Christian Science angewandte. Ich heile nach der Methode Christi.“ Wenig später wurde der Mann wegen betrügerischer Buchführung ins Gefängnis gesteckt; im Bereich der Justiz ist mit dem Glauben nicht viel anzufangen. Ich kannte auch einen angesehenen Irrenarzt, der zur Philosophie hinüberwechselte und eine neue Logik lehrte, die er nach seinem eigenen freimütigen Bekenntnis von seinen Patienten übernommen hatte. Wie man nach seinem Tode feststellte, hatte er testamentarisch die Gründung einer Professur für seine originellen wirtschaftlichen Methoden verfügt; leider aber hatte er vergessen, die für den neuen Lehrstuhl erforderlichen Geldmittel zu hinterlassen. Arithmetik und Irrenlogik scheinen sich also nicht gut miteinander zu vertragen. Solcher Kuriositäten gibt es viele. Einmal kam ein Mann mit der Bitte zu mir, ich möge ihm doch einige meiner Bücher empfehlen, er interessiere sich so sehr für Philosophie. Ich tat ihm den Willen. Am nächsten Tag erschien er wieder und erklärte mir, er habe nur einen einzigen Satz von dem Gelesenen verstehen können, und der sei falsch. Als ich mich erkundigte, welchen Satz er meine, antwortete er: „Sie sagen, daß Julius Cäsar tot ist, und das stimmt nicht.“ Auf meine erstaunte Frage, weshalb er an dieser Feststellung zweifle, erwiderte er: „Weil ich Julius Cäsar bin.“ - Ich glaube, schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß exzentrisches Denken nicht immer und unter allen Umständen gleichbedeutend ist mit richtigem Denken.

Die Wissenschaft, die dem Volksglauben gegenüber von jeher einen schweren Stand hatte, muß augenblicklich einen besonders harten Kampf auf dem Gebiet der Psychologie und der Kriminologie durchstehen. Personen, die über die menschliche Natur genau Bescheid zu wissen meinen, sind gewöhnlich rat- und hilflos, wenn sie über ein aus normaler Veranlagung begangenes Verbrechen zu richten haben.

Manche Knaben wollen trotz aller Bemühungen ihrer nächsten Umgebung nicht lernen, „stubenrein“ zu werden, wie man bei Tieren sagen würde. Personen, die gern betonen, daß sie keinen Unfug dulden, sind bei solchen Gelegenheiten sofort mit Strafen bei der Hand: der Junge wird geschlagen, und wenn sich das Vergehen wiederholt, bekommt er ärgere Schläge. Dabei wissen alle Mediziner, die sich mit diesen Fällen näher befaßt haben, daß sich das Uebel durch Strafen nur verschlimmert. Bisweilen hat es körperliche Ursachen, meist aber ist mit der Seele des betreffenden Kindes etwas nicht in Ordnung. Im letzteren Falle kann das Leiden nur geheilt werden, wenn der bisweilen sehr tief sitzende und vermutlich unbewußte seelische Kummer behoben wird. Aber für die meisten Menschen ist es eine Freude und ein Genuß, jemand zu haben, den sie bestrafen können, wenn er sie irritiert, und darum wird die ärztliche Auffassung einfach als „eingebildeter Unsinn“ abgetan. Auch der Fall der Exhibitionisten gehört hierher. Immer wieder schickt man diese Unglücklichen ins Gefängnis, und sobald sie in Freiheit sind, werden sie rückfällig. Ein auf diese Anomalie spezialisierter Arzt äußerte einmal im Gespräch mit mir, daß man Exhibitionisten sehr einfach heilen könnte, wenn man sie in Hosen kleidete, die man hinten schließt. Aber dieses Mittel wird natürlich gar nicht versucht, weil es die menschlichen Rachegelüste nicht befriedigt.

Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß sich solche Vergehen, die ihrem seelischen Ursprung nach als „gesund“ gelten können, unter Umständen durch Strafen verhindern lassen, niemals jedoch Verbrechen, die einer anormalen Veranlagung entspringen. Zum Teil haben sich die modernen Gerichte diese Auffassung schon zu eigen gemacht. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Diebstahl, dessen Motiv ein sozusagen „vernünftiges“ Selbstinteresse ist, und der in den Bereich des Anormalen gehörenden Kleptomanie. Ebenso wird der von einem Wahnsinnigen verübte Mord anders beurteilt als die Bluttat eines geistig Gesunden. Sexuelle Verirrungen dagegen erregen einen solchen Abscheu, daß man bis heute nicht gewagt hat, sie an die für derartige Fälle allein zuständige ärztliche Instanz zu verweisen. Nun ist sittliche Entrüstung im großen und ganzen ein nützlicher gesellschaftlicher Faktor, richtet sie sich jedoch gegen die Opfer von Krankheiten, deren höchstens der Psychiater Herr werden kann, wird sie schädlich und verwerflich.

Dasselbe gilt auch für die Weltpolitik. Der erste Weltkrieg hat natürlich heftige Ressentiments gegen die Deutschen ausgelöst, die nach ihrer Niederlage entsprechend hart bestraft wurden. Im zweiten Weltkrieg aber kam man zu der Einsicht, daß der Versailler Vertrag lächerlich milde gewesen sei, da er ja, wie man sehe, den Deutschen keine Lehre erteilt habe. Diesmal werde man rigoroser vorzugehen wissen, wurde eifrigst versichert. Meines Erachtens aber hätten wir die Wiederholung der deutschen Aggression vielleicht eher verhüten können, wenn wir die kleineren Nationalsozialisten nicht als strafwürdige Verbrecher, sondern als geistig Kranke angesehen hätten. Natürlich müssen Wahnsinnige in Schach gehalten werden; aber man überwacht und isoliert sie aus Gründen der Vorsicht und nicht etwa, um sie zu bestrafen. Und soweit es die Vorsicht zuläßt, bemüht man sich nach Kräften, ihnen ihr Los so angenehm wie möglich zu machen. Jeder weiß, daß ein zu Gewalttaten neigender Geisteskranker durch schlechte Behandlung noch gewalttätiger wird. Selbstverständlich hat es viele Verbrecher unter den Nationalsozialisten gegeben, aber ein großer Teil muß mehr oder minder geisteskrank gewesen sein. Wenn es gelingen soll, Debtschland zu einem friedlichen Glied der westeuropäischen Völkergemeinschaft zu machen, muß das Gerede von der besonderen Schuld des deutschen Volkes ein Ende haben. Wer bestraft wird, lernt seine Richter in den seltensten Fällen lieben. Und solange die Deutschen die übrige Menschheit hassen, bleibt der Frieden eine fragwürdige Angelegenheit.

Wenn man von den abergläubischen Vorstellungen der Wilden oder auch der alten Babylonier und Aegypter liest, fragt man sich verwundert, wie es möglich ist, daß Menschen jemals etwas so Absurdes glauben konnten. Aber die unter den Ungebildeten der modernen zivilisierten Staaten herrschenden Ansichten und Ueberzeugungen sind oft nicht minder grotesk.

So hat man mir z. B. ernsthaft versichert, daß alle im März geborenen Menschen von Pech verfolgt seien und die im Mai zur Welt gekommenen ganz besonders zu Hühneraugen neigten. Ich kenne den Ursprung und die Geschichte dieses speziellen Aberglaubens nicht, nehme aber an, daß er auf die Weisheiten der babylonischen oder ägyptischen Priester zurückgeht. Ein Glaube nimmt stets in den höheren Gesellschaftsschichten seinen Anfang und sinkt dann, wie der Schlamm in den Flüssen, nach und nach immer tiefer. Es können drei- bis viertausend Jahre vergehen, ehe er auf dem Grund angelangt ist. Im heutigen Amerika muß man immer darauf gefaßt sein, ein farbiges Dienstmädchen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit Plato zitieren zu hören, natürlich nicht gerade eine der Stellen, die von den Gelehrten angeführt zu werden pflegen, sondern irgendeinen dem großen Griechen unterlaufenen Unsinn, wie beispielsweise die Bemerkung, daß Männer, die nicht nach Weisheit streben, zur Strafe als Frauen wieder auf die Welt kommen.

Nichts ist vielleicht so weit verbreitet wie der Glaube an bestimmte Pech- und Glückstage. In früheren Zeiten pflegten sich selbst Generale auf den Schlachtfeldern danach zu richten. Und noch heute ist das Vorurteil gegen den Freitag und gegen die Zahl 13 höchst lebendig. Seeleute ziehen es vor, an einem Freitag nicht in See zu stechen, und die meisten Hotels haben keine Zimmernummer 13 und kein 13. Stockwerk. Auch dieser Aberglaube wurde einst von sogenannten Weisen in die Welt gesetzt. Heute betrachten ihn die gleichen Kreise als harmlose Torheit, und vermutlich werden viele Ansichten und Ueberzeugungen unserer heutigen Gelehrten in zweitausend Jahren als ebenso töricht gelten. Der Mensch ist und bleibt nun einmal ein leichtgläubiges Wesen. Irgend etwas muß er immer glauben, und wenn sich ihm nichts Besseres bietet, dann nimmt er auch mit dem Unwahrscheinlichen vorlieb.

Der Glaube an die „Natur“ und das „Natürliche“ ist eine Quelle vieler Irrtümer. Ganz besonders wirkt er sich in der Medizin aus, der er auch heute noch zu schaffen macht. Gewiß vermag der menschliche Körper mancher Krankheiten auch ohne äußere Hilfe Herr zu werden. Kleinere Schnittwunden heilen ohne jedes Dazutun, Erkältungen vergehen, wie sie gekommen sind, und sogar ernsthafte Krankheiten klingen bisweilen ohne ärztliche Hilfe ab. Trotzdem sollte man der Natur auch in harmloseren Fällen medizinische Unterstützung angedeihen lassen. Nicht desinfizierte Schnittwunden führen leicht zu Blutvergiftungen, aus Erkältungen können Lungenentzündungen entstehen, und bei ernsten Erkrankungen gibt es überhaupt keine Entschuldigung für den Verzicht auf ärztlichen Beistand, es sei denn, der Patient befinde sich an einem Ort, wo ihm ein Arzt unerreichbar ist. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich ist, war früher „unnatürlich“, so das Bekleiden des Körpers und das Waschen. Wo nicht wenigstens ein gewisses Maß von Reinlichkeit herrscht, haben Seuchen wie der Typhus, der heute bei westlichen Nationen nur in Ausnahmefällen vorkommt, leichtes Spiel. Bis zum heutigen Tage wird das Impfen von manchen Menschen als etwas „Unnatürliches“ angesehen. Wer so denkt, ist inkonsequent, denn in gewissen Fällen, zum Beispiel bei Knochenbrüchen, glaubt kein Mensch an die Möglichkeit einer „natürlichen“ Heilung. Daß wir gekochtes Fleisch essen und unsere Häuser und Wohnungen heizen, ist im Grunde „unnatürlich“. Der chinesische Philosoph Laotse, der um 600 vor Christo gelebt haben soll, betrachtete alle Straßen, Brücken und Schiffe als „widernatürlich“. Er verließ China aus Protest gegen diese technischen Erfindungen und beschloß sein Leben unter den Barbaren des Westens. Noch jeder zivilisatorische Fortschritt galt als „unnatürlich“, solange er neu und ungewohnt war.

Auch die Empfängsnisverhütung wird vor allem deswegen abgelehnt, weil sie nach Ansicht vieler Menschen „widernatürlich“ ist. (Aus unerfindlichen Gründen verstößt das Zölibat nicht gegen die Natur - ich kann mir nur denken, weil es nicht neu ist.) Malthus sah nur drei Möglichkeiten zur Verhütung der Uebervölkerung: moralische Enthaltsamkeit, Laster und Elend. Wie er selbst zugab, schied die Enthaltsamkeit als allgemein Wirksames Mittel von vornherein aus. Das „Laster“ - sprich: die Empfängnisverhütung - mußte ihn als Geistlichen mit Abscheu erfüllen. Blieb als einziger Weg das Elend. Aus der sicheren Geborgenheit des eigenen behaglichen Pastorats blickte er gelassen auf die mitleidende Menschheit und bewies den Idealisten, die das Elend mit irgendwelchen Reformen zu lindern hofften, wie aussichtslos ihr Unterfangen sei.

Heute sind die Theologen weniger ehrlich. Sie behaupten, daß Gott niemals hungern lassen werde, auch wenn der Mäuler noch so viele wären. Dabei übersehen sie die Tatsache, daß er immer wieder Hungersnöte zugelassen hat, denen Millionen Menschenleben zum Opfer fielen. Falls sie aber wirklich glauben sollten, was sie sagen, so müßten sie der Auffassung sein, daß Gott seine Haltung künftig ändern und sich von jetzt an eine ununterbrochene Speisung der Fünftausend begeben werde. Vielleicht werden sie auch entgegnen, daß das Leben hienieden keine Rolle spiele, daß nur das Leben im Jenseits von Bedeutung sei. Wie aber läßt sich das mit ihrer theologischen Ansicht vereinbaren, daß die Mehrzahl der Kinder, denen allein ihr Widerstand gegen die Empfängnisverhütung zum Leben verhilft, ohnehin nach dem Tode in die Hölle wandern muß? Soll man annehmen, daß sie es für gut und richtig halten, wenn viele Millionen in Ewigkeit Höllenqualen erleiden müssen, und daß sie nur aus diesem Grunde eine Besserung der irdischen Lebensverhältnisse ablehnen? Ich muß ehrlich bekennen, daß mir im Vergleich zu ihnen der kühle Malthus geradezu barmherzig erscheint.

Als Gegenstand unserer leidenschaftlichsten Liebe und leidenschaftlichsten Abneigung erweckt die Frau vielfältige und zwiespältige Gefühle, die ihren Niederschlag in der Sprichwörter-„Weisheit“ gefunden haben.

Fast jeder erlaubt sich zum Thema Frau sinnlose Verallgemeinerungen. Wenn verheiratete Männer zu verallgemeinern anfangen, weiß man, daß sie nach ihrer Ehehälfte urteilen. Sprechen Frauen über die Frau, so schwebt ihnen stets die eigene Person vor. Es müßte amüsant sein, eine Geschichte der männlichen Ansichten über die Frau zu schreiben.

Zur Zeit des Altertums, da die Vormachtstellung des Mannes außer Frage stand und noch niemand etwas von christlicher Ethik wußte, waren die Frauen harmlose, aber ziemlich dumme Geschöpfe. Der Mann, der sie ernst nahm, durfte sich nicht wundern, mit leiser Verachtung behandelt zu werden. Noch weiter ging Plato, der gegen das Drama hauptsächlich einwandte, daß sich der Bühnenautor beim Schöpfen von Frauenrollen in die weibliche Psyche hineinversetzen müsse und sich auf diese Weise quasi mit der Frau identifiziere.

Mit dem Christentum änderte sich die Rolle der Frau: sie wurde nun die große Verführerin. Gleichzeitig aber sprach man ihr die Eignung zur Heiligen zu. Im viktorianischen Zeitalter glaubte man mehr an die Heilige als an die Versucherin, weil ein viktorianischer Mann seine Empfänglichkeit für weibliche Verführungskünste unmöglich zugeben konnte. Da die Männerwelt die Frau unter allen Umständen dem politischen Leben fernhalten wollte; machte sie sich das Argument der überlegenen weiblichen Tugend zunutze und behauptete scheinheilig, daß die rücksichtslosen Praktiken der Politik mit hehrer Tugend unvereinbar seien.

Auch die ersten Frauenrechtlerinnen operierten mit der sittlichen Ueberlegenheit der Frau, verständlicherweise in entgegengesetzter Richtung: sie erklärten kategorisch, daß die Frau unbedingt in die Politik eingreifen müsse, weil das ganze politische Leben durch sie ein anderes, edleres Gesicht bekommen würde. Da sich diese Auffassung inzwischen als illusorisch herausgestellt hat, hört man jetzt weniger von der moralischen Größe der Frau. Andererseits gibt es noch heute Männer, die zäh an der albernen Theorie von der Verführerin festhalten.

Die Frauen selbst sehen sich größtenteils als das mit Vernunft begabte Geschlecht, dem es obliegt, das durch die Torheiten der unüberlegten Männer angerichtete Unheil wiedergutzumachen. Ich für mein Teil mißtraue allen Verallgemeinerungen über Frauen, gleichgültig ob sie aus männlichem oder weiblichem Munde kommen, ob sie schmeichelhaft oder herabsetzend, veraltet oder modern sind; denn meines Erachtens entspringen sie samt und sonders einem Mangel an Erfahrung.

Wie grundunvernünftig beide Geschlechter sich zur Frau stellen, wird in Romanen, namentlich in schlechten Romanen, ganz besonders deutlich. In einem minderwertigen Roman aus der Feder eines Mannes ist die Heldin eine Frau, in die der Autor bis über beide Ohren verlieht ist, ein mit allen Reizen des Körpers und der Seele ausgestattetes, aber etwas hilfloses und darum des männlichen Schutzes besonders bedürftiges Wesen. Bisweilen ist sie aber auch der Gegenstand verzweifelten Hasses - siehe Shakespeares Kleopatra - und das verworfenste Geschöpf, das sich denken läßt. Wenn der männliche Autor das Bild seiner Heldin entwirft, gibt er nicht Beobachtungen aus dem Leben wieder, sondern er vergegenständlicht, was er persönlich fühlt und empfindet. Bei seinen übrigen weiblichen Gestalten ist er schon objektiver, und manchmal hat man sogar den Eindruck von wirklichkeitsnahen Charakteren. Aber sobald er sich in eine seiner Figuren verliebt, nimmt ihm der aus seiner Leidenschaft aufsteigende Nebel die klare Sicht. Auch bei weiblichen Schriftstellern begegnet man zwei Sorten Frauen. Die eine - bezaubernd und voller Güte, Gegenstand verwerflicher Lust ünd reiner Liebe, zart besaitet, hochherzig und stets falsch beurteilt - entspricht der Vorstellung, die die Autorin von sich selbst hat. Die andere ist der von allen übrigen Frauen repräsentierte Typ, der als kleinlich, hämisch, grausam und hinterhältig geschildert wird. Offenbar ist es für beide Teile - Mann und Frau - nicht so einfach, sich ohne Vorurteil über das weibliche Geschlecht zu äußern.

Verallgemeinerungen über nationale Charaktereigenschaften sind genau so häufig und so ungerechtfertigt wie Verallgemeinerungen über die Frau.

Bis 1870 galten die Deutschen als eine Nation bebrillter Professoren, die in ihrer eigenen inneren Welt lebten und für äußere Dinge kaum einen Blick hatten. Seit der Reichsgründung hat man diese Ansicht erheblich revidieren müssen. Die meisten Angehörigen anderer Nationen sind noch heute der Meinung, daß die Franzosen ununterbrochen in Liebesaffären verstrickt seien. Wenn sie dann Gelegenheit haben, sich an Ort und Stelle umzusehen, sind sie erstaunt und womöglich enttäuscht über die Intensität des französischen Familienlebens.

Vor der russischen Revolution besaßen alle Russen in den Augen der übrigen Welt eine mystische slawische Seele, die sie zwar für ein normales vernünftiges Leben untauglich machte, ihnen dafür aber die Tiefen einer Weisheit erschloß, die praktischer veranlagte Nationen niemals erhoffen durften. Eines Tages aber war alles ganz anders. Plötzlich hatte das russische Volk nichts mehr mit Mystik, Seele und Weisheit, sondern nur noch mit den handgreiflichsten irdischen Zielen zu schaffen.

Die Welt beurteilt den Charakter einer Nation entweder nach ihren prominenten Repräsentanten - also nach einigen wenigen Einzelpersonen - oder nach der in dieser Nation gerade an der Macht befindlichen Gesellschaftsklasse. Wenn sich also im politischen Status einer Nation etwas ändert, wird sie im selben Moment von den übrigen Völkern entsprechend anders beurteilt. Womit bewiesen wäre, daß jedwede Verallgemeinerung über diesen Gegenstand unsinnig ist.

Man braucht nicht übermenschlich klug und weise zu sein, um den vielen Irrtümern aus dem Wege zu gehen, die uns auf Schritt und Tritt umlauern. Es gibt einige simple Regeln, mit deren Hilfe man, wenn auch nicht alle, so doch die gröbsten Irrtümer vermeiden kann.

Handelt es sich um eine Frage, die durch Beobachtung geklärt werden kann, so überlasse man die Beobachtung keinem anderen - man beobachte selbst! Aristoteles hätte sich und der Nachwelt den Irrtum, daß der Mann mehr Zähne besitze als die Frau, ersparen können, wenn er Madame Aristoteles nur ein einziges Mal in den Mund geschaut und sich persönlich von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugt hätte. Er hat es nicht getan, weil er auch so Bescheid zu wissen meinte. Wir alle neigen dazu, etwas genau wissen zu wollen, von dem wir in Wirklichkeit keine blasse Ahnung haben. Die Schriftsteller der Antike und des Mittelalters behaupteten, genauestens über Salamander und Einhörner im Bilde zu sein, und obwohl keiner von ihnen, jemals ein Einhorn oder einen Salamander zu Gesicht bekommen hatte, fühlten sie nicht die geringste Verpflichtung, ihre dogmatischen Feststellungen durch eigene Anschauung zu erhärten.

Viele Dinge lassen sich allerdings nicht ganz so einfach überprüfen. Dennoch kann man selbst die leidenschaftlichsten Ueberzeugungen auf Vorurteile hin untersuchen. Aergert man sich beispielsweise über eine der eigenen Auffassung entgegengesetzte Meinung, so kann man sicher sein, daß die Gründe für den eigenen Standpunkt nicht die besten sind. Wollte mir jemand weismachen, daß zwei und zwei gleich fünf sei oder daß Island am Aequator liege, so würde ich eher Mitleid als Zorn für ihn empfinden, es sei denn, ich verstünde so herzlich wenig von Arithmetik bzw. von Geographie, daß meine eigene Ueberzeugung durch eine solche Behauptung ins Wanken geraten könnte. Die wildesten Kontroversen werden gerade um solche Fragen geführt, die keine der streitenden Parteien hieb- und stichfest beantworten kann. Wenn die Theologie ihre Ansichten nicht länger durchzusetzen vermag, schreitet sie zu Verfolgungen - ein Mittel, auf das die Mathematik nicht angewiesen ist; denn in der Mathematik herrscht Wissen, während die Theologie sich nur auf Meinungen stützen kann. Sobald man also Aerger verspürt, wenn eine der eigenen entgegengesetzte Ansicht laut wird, empfiehlt es sich, auf der Hut zu sein. Bei näherer Untersuchung des Falles wird man sehr wahrscheinlich feststellen müssen, daß die persönliche Ueberzeugung weit über das Beweisbare hinausgeht.

Ein gutes Mittel, sich gewisser dogmatischer Vorurteile zu entledigen, ist der Versuch, sich in die Auffassungen anderer Gesellschaftsschichten hineinzudenken. Als junger Mensch habe ich viele Reisen unternommen; ich besuchte Frankreich, Deutschland und die Vereinigten Staaten und stellte befriedigt fest, daß meine insularen Vorurteile sich durch dieses Wanderleben allmählich abzuschleifen begannen. Wer keine Reisemöglichkeiten hat, sollte die Zeitung einer Partei lesen, der er ablehnend gegenübersteht, und sich unter Menschen begeben, die in allem anderer Meinung sind. Kommen einem dann die Leute, die in dieser Zeitung schreiben, oder die neuen Bekannten wahnsinnig, pervers oder verworfen vor, so bedenke man, daß die anderen vermutlich von uns selbst den gleichen Eindruck haben. Beide Teile können mit dieser Ansicht recht haben, auf keinen Fall aber können sich beide täuschen. Diese Ueberlegung sollte zu einer gewissen Vorsicht mahnen.

Aber nicht immer schlägt das Vertrautwerden mit fremden Gewohnheiten zum Segen aus. Als im siebzehnten Jahrhundert die Mandschus China eroberten, mußten alle Chinesinnen - so erforderte es die Sitte - winzig kleine Füße haben und die Mandschus sich ihr Haar zu Zöpfen flechten. Statt daß nun beide ihren lächerlichen Brauch aufgegeben hätten, übernahm jeder Teil auch noch die absurde Sitte des anderen. Also trugen fortan auch die Chinesen Zöpfe, und sie hielten an dieser Gewohnheit fest, bis durch die Revolution im Jahre 1911 die Mandschuherrschaft abgeschüttelt wurde.

Wer genügend psychologische Phantasie besitzt, male sich eine Diskussion mit einem Partner aus, der irgendein anderes Vorurteil unterhält. Eine solche imaginäre Auseinandersetzung hat der realen Kontroverse gegenüber einen großen Vorteil: den der Unabhängigkeit von Zeit und Raum. Mahatma Gandhi z. B. betrachtete Eisenbahnen, Dampfer und Maschinen als ein Unglück für sein Volk und hätte am liebsten die gesamte industrielle Entwicklung Indiens rückgängig gemacht. Heute dürfte es nur noch ganz wenig Menschen geben, welche die Auffassung des indischen Reformators teilen, da in den westlichen Ländern die Errungenschaften der Technik allgemein als selbstverständlich hingenommen werden. Will man indessen über jeden Zweifel hinaus gewiß sein, daß man die in dieser Hinsicht vorherrschende Meinung zu Recht teilt, wäre es vielleicht ganz klug, sich zu fragen, was Gandhi unter Umständen gegen die eigenen Argumente vorgebracht haben würde.

Ich persönlich bin durch solche imaginäre Zwiegespräche des öfteren von meinem ursprünglichen Standpunkt abgekommen. Auf jeden Fall sind meine Behauptungen wesentlich zurückhaltender und bescheidener geworden, seit ich erkannt habe, daß es ein Gebot der Klugheit ist, auch dem Gegner Vernunft zuzubilligen.

Ganz besondere Vorsicht erscheint geboten, wenn die Meinung der anderen deiner Eigenliebe schmeichelt. In neun von zehn Fällen sind Männer wie Frauen von der Ueberlegenheit des eigenen Geschlechts in tiefster Seele überzeugt. Beide Teile haben imponiereride Unterlagen für ihre Behauptung vorzuweisen. Als Mann kann man jederzeit darauf verweisen, daß die meisten Genres der Dichtkunst und der Wissenschaft männlichen Geschlechts sind. Ist man eine Frau, So kann man mit dem Gegenargument aufwarten, daß die meisten verbrecherischen Elemente aus der Männerwelt stammen. Dieses Problem ist grundsätzlich unlösbar und nur unsere Eitelkeit hindert uns an dieser Erkenntnis. Genau so ist es mit der Beurteilung anderer Völker. Jeder von uns hält die eigene Nation für besser, schöner und größer als. alle übrigen. Da wir uns jedoch der Einsicht nicht verschließen können, daß jedes Land seine charakteristischen Vorzüge und Fehler hat, verschieben wir ganz einfach die Wertmaßstäbe, und zwar so lange, bis wir feststellen können, daß unsere eigenen nationalen Qualitäten die einzig wichtigen und wünschenswerten sind und unsere Schwächen demgegenüber überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Jeder Vernünftige wird zugeben müssen, daß auch diese Frage niemals auf schlüssige Art zu klären ist. Man wird deswegen so schwer mit der menschlichen Ueberschätzung der Gattung Mensch fertig, weil man diesen Punkt nicht mit einem anderen, nichtmenschlichen Geist diskutieren kann.

Meines Erachtens wäre das über die ganze Welt verbreitete Laster der Selbstüberheblichkeit nur dann erfolgreich zu bekämpfen, wenn jeder von uns sich immer wieder vor Augen hielte, daß die menschliche Existenz nur eine kurze Episode irn Leben eines winzigen Planeten in einem kleinen Winkel des Universums darstellt und daß es in anderen Regionen des Kosmos Lebewesen geben kann, die uns Menschen vielleicht im gleichen Verhältnis überlegen sind wie wir den Quallen.

Aber nicht immer entspringt Dogmatismus der Selbstüberschätzung. Auch Furcht macht fanatisch; sie ist sogar eine der Hauptursachen für alle Arten von Fanatismus. Bisweilen verfährt sie direkt; so wenn sie schwache Gemüter mit Gespenstergeschichten in Schrecken setzt oder wenn sie in Kriegszeiten Katastrophengerüchte ausstreut. Sehr oft aber operiert sie indirekt, indem sie dem Menschen irgend etwas Tröstliches verheißt - etwa ein Lebenselixier oder die ewige Seligkeit für ihn selbst und ewige Höllenpein für seine Feinde. Die Furcht kennt viele Spielarten: Furcht vor dem Tode, vor der Dunkelheit oder vor dem Unbekannten, Herdenangst und jenes vage, an nichts Bestimmtes gebundene Furchtgefühl, das Menschen zu befallen pflegt, die sich ihre Aengste nicht eingestehen wollen. Wer seine Befürchtungen vor sich selbst verheimlicht und sich nicht entschieden gegen ihre mythenbildende Kraft schützt, wird über viele hochwertige Dinge, namentlich über Dinge der Religion, immer nur falsch und ungerecht urteilen können. Furcht zeugt Aberglauben, und auch die meisten Grausamkeiten sind Produkte der Furcht. In der Ueberwindung der eigenen Furcht besteht mithin der erste Schritt zur Weisheit. Das gilt sowohl für den Wahrheitssucher wie für den um eine möglichst anständige Lebensführung bemühten Idealisten.

Wir haben zwei Möglichkeiten, der Furcht zu entgehen: entweder müssen wir uns einreden, daß wir gegen jedes Unglück gefeit sind, oder wir müssen den Mut haben, mutig zu sein. Das letztere ist sehr schwierig und an irgendeinem Punkt hört der Mut bei jedem Menschen auf. Deshalb hat man dem ersten Weg von jeher den Vorzug gegeben. Schon die Zaubereien der Primitiven bezweckten nichts anderes als Sicherung der eigenen Person und der eigenen Habe. Verwünschungen, Talismane, Zaubersprüche, Beschwörungen, dies alles diente zur Abwehr eventuellen Unheils. Der Glaube an die Gefahren bannende Kraft dieser Mittel erhielt sich durch sämtliche Jahrhunderte der babylonischen Zivilisation in fast unveränderter Gestalt. Von Babylon aus griff er dann auf das Reich Alexanders des Großen über, und noch später wurde er im Verlauf der Verschmelzung von römischen und hellenischen Kulturelementen von den Römern übernommen, die ihn ihrerseits dem Christentum und dem Islam überlieferten. Heute ist der Glaube an Zauberformeln duich die Wissenschaft etwas gemildert. Aber noch immer sind viele Menschen von der glückbringenden Kraft der Maskottchen überzeugt - fester und tiefer, als sie vor sich selbst und vor anderen wahrhaben wollen - und nach wie vor gilt die von der Kirche inzwischen ausrangierte Hexerei bei den katholischen Massen als eine der vielen Möglichkeiten zur Sünde.

Die an sich grobe Methode, Gefahren und Schrecken durch Zauberei abzuwenden, hatte außerdem noch den Nachteil der geringen Wirksamkeit, denn leider bestand immer die Möglichkeit, daß die bösen Zauberer über die guten triumphieren. Im fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert brachte die Furcht vor Hexen und Zauberern Hunderttausende von Frauen und Männern auf den Scheiterhaufen. Allmählich aber kamen andere, insbesondere auf das zukünftige Leben bezogene Glaubensformen auf, die der Furcht auf bessere Weise Herr zu werden trachteten. Nach Plato hat Sokrates am Tage seines Todes die Ueberzeugung geäußert, daß er nach seinem Heimgang in Gesellschaft der Götter und der abgeschiedenen Helden leben werde, umgeben von gerechten Geistern, die gegen seine endlosen Argumentationen nichts einzuwenden haben würden. Plato selbst vertritt in seinem „Staat“ den Standpunkt, daß der Staat beim Volke heitere und erfreuliche Ansichten über das Jenseits erzwingen müsse - nicht etwa aus Wahrheitsgründen, sondern um die Todesbereitschaft der Soldaten auf den Schlachtfeldern zu stärken. Von den traditionellen Mythen über den Hades wollte er nichts wissen, weil sie die Abgeschiedenen als unglücklich darstellen und ein trauriges Bild von ihrem Leben entwerfen.

Die orthodoxe Christenheit hat im Zeitalter des Glaubens sehr bestimmte Regeln für die Erlangung des Seelenheils aufgestellt. Als erstes muß der auf Erlösung Hoffende getauft werden. Alsdann darf er sich keine theologischen Irrtümer irgendwelcher Art zuschulden kommen lassen, und schließlich muß er beim Nahen des Todes alle seine Sünden bereuen und vor dem Sterben Absolution empfangen. Die strenge Befolgung dieser Vorschriften bewahrt den Christenmenschen zwar nicht vor dem Fegefeuer, aber sie garantiert ihm, daß er zum Schluß doch noch in den Himmel kommt. Eine Kenntnis der Theologie ist für den Himmelsaspiranten nicht unbedingt vonnöten. Nach der maßgeblichen Erklärung eines großen Kardinals ist den Forderungen der Orthodoxie vollauf Genüge getan, wenn der Sterbende auf seinem letzten Lager murmelt: „Ich glaube alles, was die Kirche glaubt, und die Kirche glaubt alles, was ich glaube.“ Diese sehr genauen Anweisungen hätten es den Katholiken eigentlich leicht machen müssen, den direkten Weg zum Himmel zu finden. Dennoch lastete die Furcht vor der Hölle nach wie vor auf ihnen, und zwar so schwer, daß die Kirche sich in jüngerer Zeit zu einer erheblichen Milderung der Dogmen über die Auswahl der Verdammten veranlaßt sah. Die von vielen modernen Christen vertretene Doktrin, daß alle Menschen in den Himmel kommen, mußte eigentlich die Todesfurcht beheben. Aber sie ist etwas so Instinktives, daß sie sich nicht so ohne weiteres bezwingen läßt. F. W. H. Myers, den der Spiritismus zum Glauben an ein Fortleben im Jenseits bekehrt hatte, fragte einmal eine Frau, die vor nicht langer Zeit ihre Tochter verloren hatte, was ihrer Ansicht nach aus der Seele des Mädchens geworden sei. Die Mutter antwortete: „Nun, ich hoffe zu Gott, daß sie die Freuden der ewigen Seligkeit genießt; aber ich wollte, Sie sprächen lieber nicht von so unerfreulichen Dingen.“ Trotz aller Bemühungen der Theologie bleibt der Himmel den meisten Menschen eben doch etwas „Unerfreuliches“.

Selbst so überfeinerte Religionstheorien wie die Mark Aurels oder Spinozas beschäftigten sich eingehend mit der Furcht und ihrer Ueberwindung. Für die Stoiker stellte sich das Problem sehr einfach dar, nach ihrer Meinung besaß der Mensch nur ein einziges wirklich wertvolles Gut: die Tugend, deren ihn kein Feind berauben konnte - und sie folgerten daraus, daß man keinen Feind zu fürchten brauche. Leider aber wollte niemand glauben, daß es nichts Wünschenswerteres und Erstrebenswerteres auf Erden gebe als die Tugend. Nicht einmal Mark Aurel vermochte sich zu dieser Auffassung durchzuringen, obwohl er als Kaiser alles tat, um seine Untertanen zur Tugend zu erziehen und sie vor Barbaren, Hungersnöten und Pestilenz zu schützen. Spinozas Lehre ist der Mark Aurels sehr ähnlich. Auch für ihn ist Gleichgültigkeit gegen weltlichen Besitz und weltliche Freuden das einzig wertvolle Gut des Menschen. Wie Mark Aurel redete er sich und anderen ein, daß körperliches Leiden und ähnliche Dinge im Grunde nicht von Uebel seien. Fraglos eine edle und erhabene Methode, der Furcht zu entrinnen, doch geht sie von einer falschen Voraussetzung aus. Und wenn die Menschen sich vorbehaltlos danach richten wollten, würden sie nicht nur gegen ihre eigenen Leiden und Schmerzen, sondern in erster Linie gegen die ihres Nächsten unempfindlich werden.

Unter dem Einfluß intensiver Furcht wird nahezu jeder abergläubisch. Die Seeleute, die den Propheten Jonas über Bord geworfen hatten, waren fest davon überzeugt, daß der Sturm, in dem ihr Boot zu zerschellen droht; durch den rächenden Geit des Ertrunkenen entfesselt sei. In ähnlicher Gemütsverfassung fielen die Japaner bei der großen Erdbebenkatastrophe von Tokio über Koreaner und Liberale her und metzelten sie blindwütig nieder. Die Karthager schrieben ihre Niederlagen in den Punischen Kriegen der sträflichen Nachlässigkeit zu, mit der sie seit langem die Anbetung des großen Götzen Moloch betrieben hatten. Moloch verlangte nach Kindesopfern, und zwar bevorzugte er Kinder von Aristokraten. Die karthagischen Adelsfamilien aber hatten sich angewöhnt, statt ihrer eigenen Nachkommenschaft die weniger wertvollen Kinder der Plebejer zu opfern. Nun schlug ihnen das Gewissen, und als ihr Unglück seinen Höhepunkt erreicht, lieferten sie auch die aristokratischsten Kleinen pflichtschuldigst ans Messer. Sonderbarerweise trugen die Römer trotz dieser höchst demokratischen Reform bei ihren Gegnern schließlich den Sieg davon.

Kollektive Furcht fördert den Herdentrieb und führt zu rücksichtsloser Grausamkeit gegen alle, die nicht zur Herde gehören. So brachte die Furcht vor fremden Truppen die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution hervor, und selbst das Sowjetregime wäre vermutlich toleranter gewesen, wenn es sich in den ersten Jahren nicht so vielen Feinden gegenübergesehen hätte. Furcht gebiert Grausamkeit und begünstigt deshalb jeden Aberglauben, der Grausamkeit zu rechtfertigen scheint. Unter dem Alpdruck intensiver Furcht kann jeder Einzelne, jedes Kollektiv, jede Nation der Unvernunft oder Unmenschlichkeit zum Opfer fallen. Aus diesem Grunde ist der Feige im allgemeinen grausamer und für jede Art Aberglauben anfälliger als der Mutige. Unter „Mut“ verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht nur Furchtlosigkeit dem Tode gegenüber, sondern Unerschrockenheit in jeder Beziehung und in allen Lebenslagen. Viele Menschen, die jederzeit tapfer sterben würden, bringen nicht den Mut auf, offen auszusprechen oder auch nur bei sich selbst zu denken, daß die Sache, für die man sie in den Tod schicken will, schlecht sei und das Opfer eines Menschenlebens nicht rechtfertigt. Für die meisten Menschen ist üble Nachrede schlimmer als der Tod. Dies ist einer der Gründe, weshalb in Zeiten allgemeiner Erregung so selten jemand von der vorherrschenden Meinung abzuweichen wagt. Kein Karthager würde je ein Wort gegen den Moloch geäußert haben, weil dazu mehr Mut gehört hätte als zum Tode in der Schlacht.

Aber ich glaube, wir sind etwas zu feierlich geworden. Nicht immer ist der Aberglaube schlankweg abzulehnen. Ganz im Gegenteil, er trägt nicht selten zur Erheiterung unseres Lebens bei.

So erhielt ich einmal einen Brief, in dem mir der ägyptische Gott Osiris unter anderem seine Telephonnummer mitteilte und um meinen Anruf bat - er wohnte damals in einem Vorort von Boston. Obwohl ich darauf verzichtet habe, mich seinen Jüngern anzuschließen, bereitete mir seine Epistel großes Vergnügen. Ich erhalte auch manchmal Briefe, in denen die Absender sich als den kommenden Messias bezeichnen und mich beschwören, dieses wichtige Faktum unter allen Umständen in meinen Vorträgen zu erwähnen.

Zur Zeit der Prohibition existierte in Amerika eine Sekte, die der Ansicht war, daß bei der Feier des heiligen Abendmahls statt des Weines Whisky getrunken werden müsse. Dieser Glaubenssatz berechtigte die Sekte, einen angemessenen Schnapsvorrat zu unterhalten und verschaffte ihr nicht wenige Anhänger.

Für eine bestimmte englische Sekte sind die Briten die verlorengegangenen zehn Stämme des Alten Testaments, während sie nach Auffassung einer anderen Glaubensgemeinschaft nur als die Stämme Ephraim und Manasse zu gelten haben. Jedesmal, wenn ich mit einem Mitglied einer der beiden Sekten zusammentreffe, bekenne ich mich freimütig zu der Auffassung der anderen, woraus sich schon so manche angenehme Diskussion ergeben hat.

Sehr sympathisch finde ich auch die Leute, die sich mit dem Studium der Cheopspyramide abgeben, in der nie erlahmenden Hoffnung, eines Tages ihre Hieroglyphen entziffern und die in ihnen enthaltene mystische Botschaft enträtseln zu können. Viele großartige Bücher wurden über diesen Gegenstand geschrieben, und einige von ihnen sind mir von ihren Autoren eigenhändig überreicht worden. Ich fand es allerdings immer ein wenig seltsam, daß die geschichtlichen Prophezeiungen der Cheopspyramide bis zum Veröffentlichungsdatum des jeweiligen Erläuterungswerkes haargenau stimmen, indessen an Zuverlässigkeit verlieren, sobald sie über diesen Zeitpunkt hinausgehen. Gewöhnlich rechnet der Autor mit dem baldigen Ausbruch kriegerischer Verwicklungen in Aegypten und im Anschluß daran mit dem Erscheinen des Antichrist. Da dieser aber inzwischen schon so häufig aufgetreten ist, sieht sich der Leser solchen Voraussagen gegenüber zur Skepsis genötigt.

Meine ganz besondere Bewunderung und Verehrung gilt einer Prophetin, die um 1820 im Norden des Staates New York am Rande eines Sees lebte. Eines Tages verkündete sie ihren zahlreichen Anhängern, daß sie wie Christus auf dem Wasser wandeln könne und daß sie beabsichtige, diese wunderbare Fähigkeit an dem und dem Tage, vormittags um elf Uhr, unter Beweis zu stellen. Pünktlich zur angegebenen Zeit hatten sich Tausende von Gläubigen am Ufer des Sees eingefunden, um dem Wunder beizuwohnen. Und die Prophetin sprach zu ihnen: „Glaubt ihr alle, ohne zu zweifeln, daß ich über das Wasser gehen kann?“ Wie aus einem Munde antworteten die Tausende: „Ja!“ – „Dann brauche ich es euch nicht vorzuführen“, erklärte die Prophetin feierlich, und alle gingen höchst erbaut nach Hause.

Es würde wohl recht uninteressant und eintönig in der Welt zugehen, wenn ein so nüchternes Gebilde wie die Wissenschaft an die Stelle dieser bunten, schwärmerischen Vorstellungen treten würde. Vielleicht sollten wir uns freuen, daß es Menschen wie die alles profane Wissen ablehnenden Wiedertäufer geben konnte, die das Erlernen des Abc für Sünde hielten, oder den südamerikanischen Jesuiten, der sich absolut nicht zu erklären vermochte, wie das Faultier in der kurzen Zeit seit der Sintflut den weiten Weg vom Berge Ararat bis nach Peru hatte zurücklegen können - eine Leistung, die bei der schon sprichwörtlich langsamen Fortbewegung dieses Geschöpfes ans Wunderbare grenzte.

Den wahrhaft weisen Mann freut alles, was in Hülle und Fülle vorhanden ist, nichts aber wurde ihm je reichlicher geliefert auf dieser Welt als der Unsinn.“

 

Die höhere Tugend der Unterdrückten

 

„Nach einer hartnäckigen Wahnidee, in der die Menschheit befangen ist, sind gewisse Menschengruppen sittlich besser oder schlechter als andere. Diese Ueberzeugung tritt in vielen verschiedenen Formen auf, deren keine sich verstandesmäßig begründen läßt. Es ist nur natürlich, zunächst von uns selbst eine gute Meinung zu haben, und weiter, wenn unser Denken in primitiven Bahnen verläuft, von unserem Geschlecht, unserer Klasse, unserem Volk und unserer Zeit. Hingegen pflegen die Männer der Feder, besonders die Moralisten, ihre Selbstachtung weniger unverhüllt auszudrücken. Sie neigen zu einer schlechten Meinung über ihre Mitmenschen und Bekannten und daher zu einer guten von jenen Teilen der Menschheit, denen sie nicht selbst angehören. Lao-Tse bewunderte „die reinen Menschen von ehedem“, die vor dem Beginn der konfuzianischen Sophisterei lebten. Tacitus und Madame de Stael bewunderten die Deutschen, weil sie keinen Kaiser hatten. Locke hielt viel vom „intelligenten Amerikaner“, weil ihn kartesische Spitzfindigkeiten nicht irremachten.

Eine recht seltsame Spielart dieser Bewunderung für Menschengruppen, denen die Bewunderer nicht selbst angehören, ist der Glaube an die höhere Tugend der Unterdrückten: der unterworfenen Völker, der Armen, Frauen und Kinder. Das achtzehnte Jahrhundert eroberte Amerika von den Indianern, machte die Bauern zu armen Schwerarbeitem und führte die Greuel des frühen Industrialismus ein, schwelgte aber gleichzeitig in der Verherrlichung des „edlen Wilden“ und der „einfachen Chronik der Armen“. Tugend, so hieß es, war an den Höfen nicht zu finden; aber Hofdamen konnten sie, indem sie sich als Schäferinnen herausputzten, beinahe erringen. Und was das männliche Geschlecht betraf:

„Selig, wer sich mit der kargen

Väterscholle kann bescheiden!“

Dennoch zog Pope für seinen Teil London und seine Villa in Twikkenham vor.

In der französischen Revolution wurde die höhere Tugend der Armen zu einer Frage der Parteizugehörigkeit, und sie ist es seitdem geblieben. Für die Reaktionäre wurden die Armen zum „Pöbel“ oder „Mob“. Die Reichen entdeckten zu ihrer Ueberraschung, daß es Leute gab, die so arm waren, daß sie nicht einmal eine „karge Väterscholle“ ihr eigen nennen konnten. Die Liberalen hingegen idealisierten nach wie vor den armen Landmann, während sozialistische und kommunistische Intellektuelle es mit dem städtischen Proleratriat ebenso machten - eine Mode, die erst im zwanzigsten Jahrhundert Bedeutung gewann und auf die ich daher später zurückkommen werde.

Im neunzehnten Jahrhundert ersetzte der Nationalismus den edlen Wilden durch den Patrioten eines unterdrückten Volkes. Die Griechen galten bis zu ihrer Befreiung von den Türken, die Ungarn bis zum Ausgleich von 1867, die Italiener bis 1870 und die Polen bis nach dem ersten Weltkrieg in romantischer Weise als begabte und poetische Völker, die zu idealistisch gesinnt waren, als daß sie es in dieser bösen Welt zu etwas bringen konnten. Den Iren schrieben die Engländer einen besonderen Zauber und mystische Einsicht zu, und zwar bis 1921, als man entdeckte, daß die Kosten ihrer weiteren Unterdrückung unerschwinglich wurden. Diese Völker errangen eins nach dem anderen ihre Unabhängigkeit, und es stellte sich heraus, daß sie nicht anders waren als alle anderen auch; allein die Erfahrung, die man mit den schon Befreiten gemacht hatte, zerstörte keineswegs die Illusionen über die, welche noch im Kampf um ihre Unabhängigkeit standen. Alte Damen in England schwärmen immer wieder von der „Weisheit des Ostens“ und amerikanische Intellektuelle vom „Erdbewußtsein“ des Negers.

Die Frauen, die ja Gegenstand der stärksten Gefühle sind, sah man noch irrationaler als die Armen oder die unterdrückten Völker. Ich denke dabei nicht an die Aeußerungen der Dichter, sondern an die nüchterne Meinung von Leuten, die sich für Rationalisten halten. Die Kirche nahm hier zwei entgegengesetzte Haltungen ein: einerseits war das Weib die Versucherin, die Mönche und andere zur Sünde verführte; andrerseits war sie der Heiligkeit in beinahe höherem Maße fähig als der Mann. Theologisch wurden diese beiden Typen durch Eva und die Jungfrau Maria verkörpert. Im neunzehnten Jahrhundert trat die Versucherin in den Hintergrund; es gab natürlich „schlechte“ Frauen, aber die ehrenwerten Viktorianer wollten, im Gegensatz zum heiligen Augustinus und seinen Nachfolgern, nicht zugeben, daß solche Sünderinnen sie versuchen konnten, und liebten es nicht, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Art Mittelding zwischen der Madonna und der Dame der Ritterzeit wurde zum Ideal der gewöhnlichen verheirateten Frau erhoben. Sie war zart und zierlich, sie hatte den Schmelz einer Blüte, der durch die Berührung mit der rauhen Welt weggewischt werden, und Ideale, die unter der Berührung mit dem Bösen leiden konnten. Wie die Kelten, die Slawen und der edle Wilde, aber in noch höherem Maße, war sie ein geistiges Wesen, was sie dem Manne überlegen, aber für das Geschäftsleben, die Politik oder die Verwaltung ihres eigenen Vermögens ungeeignet machte. Diese Anschauung ist immer noch,nicht ganz ausgestorben. Erst kürzlich sandte mir in Erwiderung auf eine Rede, die ich zugunsten gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit gehalten hatte, ein englischer Lehrer eine Flugschrift, die voh einem Lehrerverband veröffentlicht wurde und die gegenteilige Meinung vertritt, die sie mit sonderberen Argumenten stützt. Es heißt dort von der Frau: „Wir geben ihr mit Freuden den Vorrang als einer geistigen Kraft; wir anerkennen und verehren sie als das ,Engelhafte im Menschen'; wir anerkennen ihre Ueberlegenheit in aller Anmut und Verfeinerung, deren wir als Menschen fähig sind; wir wünschen, daß sie alle ihre gewinnenden fraulichen Eigenschaften behält.“ „Daher erlassen wir diesen Aufruf“ - daß Frauen sich mit niedrigerer Bezahlung zufriedengeben sollten – „nicht aus Selbstsucht, sondern aus Achtung und Ergebenheit gegenüber unseren Müttern, Gattinnen, Schwestern und Töchtern ... Unsere Sache ist eine heilige Sache, ein wahrer geistiger Kreuzzug.“

Vor fünfzig oder sechzig Jahren hätte ein solcher Ton keinen Kommentar ausgelöst, außer bei einer Handvoll Feministen; heute, da die Frauen das Stimmrecht erworben haben, scheint er uns ein Anachronismus. Der Glaube an ihre „geistige“ Ueberlegenheit war eine unerläßliche Voraussetzung für den Entschluß, sie wirtschaftlich und politisch weiterhin rechtlos zu halten. Als die Männer in dieser Schlacht besiegt waren, mußten sie die Frauen achten und gaben es daher auf, ihnen als Trost für ihre untergeordnete Stellung „Ehrfurcht“ zu erweisen.

Eine ähnliche Entwicklung hat die Auffassung vom Kinde bei den Erwachsenen durchgemacht. Kinder galten wie die Frauen, theologisch gesehen, als böse, besonders bei den Anhängern der Niederkirche. Sie waren Kinder des Satans, sie waren noch nicht wiedergeboren; wie Dr. Watts so unvergleichlich sagte:

„Ein Streich nur von des Herrn allmächt'ger Rute

kann junge Sünder schnell zur Hölle senden.“

Es war daher notwendig, sie zu „erlösen“. In Wesleys Schule „wurde einst eine allgemeine Bekehrung erzielt, ... ausgenommen nur ein einziger armer Junge, der sich unglücklicherweise dem Einfluß des Heiligen Geistes widersetzte, wofür er tüchtig durchgeprügelt wurde ...“ Aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als die elterliche Autorität, wie die der Könige, der Priester und der Ehemänner sich bedroht fühlte, kamen feinere Methoden zur Unterdrückung des Ungehorsams in Mode. Kinder waren „unschuldig“; wie gute Frauen, so hatten auch sie den „Schmelz einer Blüte“; man mußte sie vor dem Bösen bewahren, auf daß ihr Schmelz nicht verloren gehe. Darüber hinaus war ihnen eine besondere Art Weisheit eigen. Wordsworth machte diese Anschauung im englischen Sprachbereich populär. Er schuf als erster die Mode, Kinder auszustatten mit

„Edlen Trieben, die, was sterblich ist an uns,

erzittern ließen gleich ertappten Sündern.“

Niemand hätte im achtzehnten Jahrhundert zu seiner kleinen Tochter gesagt (außer sie wäre tot gewesen):

„Du ruhst tagaus, tagein im Schoße Abrahams

und betest vor des Tempels innrem Heiligtum.“

Aber im neunzehnten Jahrhundert wurde diese Anschauung gang und gäbe, und ehrbare Angehörige der Anglikanischen Kirche - oder selbst der katholischen - schämten sich nicht, unter Mißachtung der Erbsünde mit der modernen Irrlehre zu liebäugeln, daß

„... wir kommen auf Wolken der Herrlichkeit

von Gott, der unsere Heimat ist:

In unsrer Kindheit ist der Himmel rings um uns.“

Es kam, was kommen mußte. Es schien bald nicht recht, ein Geschöpf, das in Abrahams Schoß lag, zu verprügeln oder an Stelle „edler Triebe“ die Rute zu gebräuchen, um es „gleich einem ertappten Sünder erzittern zu lassen“. Und so sahen sich Eltern und Lehrer des Vergnügens, das ihnen die Verhängung von Strafen bereitet hatte, beraubt; es entwickelte sich eine Theorie der Erziehung, die verlangte, auch die Wohlfahrt des Kindes zu berücksichtigen und nicht nur die Willkür und das Machtbewußtsein der Erwachsenen.

Der einzige Trost, den die Erwachsenen sich gestatten durften, war die Erfindung einer neuen Psychologie des Kindes. Die Kinder sind nun, nachdem sie der traditionellen Theologie als Glieder Satans und den Erziehungsreformern als Mystisch erleuchtete Engel galten, wieder die kleinen Teufel von ehedem - aber nicht mehr theologische Dämonen, inspiriert vom Gottseibeiuns, sondern wissenschaftliche, Freudsche Greuelgeschöpfe, inspiriert vom Unbewußten. Sie erscheinen, das muß gesagt sein, nun viel schlimmer als in den Traktaten der Mönche; in modernen pädagogischen Werken entwickeln sie einen Erfindungsreichtum und eine Hartnäckigkeit in sündhaften Vorstellungen, der in der Vergangenheit mit Ausnahme des heiligen Antonius nichts vergleichbar ist. Ist nun dies alles endlich die objektive Wahrheit? Oder ist es bloß eine geistige Entschädigung der Erwachsenen, da sie nun die kleinen Racker nicht mehr durchbleuen dürfen? Freuds Anhänger würden antworten, beides sei, von der jeweiligen Gegenseite aus gesehen, richtig.

Wie aus den angeführten Beispielen hervorgeht, ist das Stadium, in dem den Unterdrückten die höhere Tugend zugeschrieben wird, vorübergehend und unsicher. Es setzt erst ein, wenn sich das schlechte Gewissen der Unterdrücker regt, und das rührt sich erst, wenn ihre Macht nicht mehr gesichert ist. Die Idealisierung des Opfers ist eine Zeitlang nützlich; wenn die Tugend das höchste Gut ist, und wenn die Unterwerfung die Menschen tugendhaft macht, dann erweist man ihnen eine Wohltat, wenn man ihnen die Macht verweigert, da diese ihre Tugend zerrütten würde. Wenn es für einen Reichen schwierig ist, in das Himmelreich einzugehen, so handelt er edel, wenn er seinen Reichtum behält und so seine ewige Seligkeit zugunsten seiner ärmeren Brüder aufs Spiel setzt. Edle Selbstaufopferung war es, die die Männer bewog, den Frauen das schmutzige Geschäft der Politik abzunehmen, und so fort. Aber früher oder später wird die unterdrückte Schicht ihre höhere Tugend ins Treffen führen als einen Grund, ihr die Macht zu geben, und die Unterdrücker werden sich mit ihren eigenen Waffen angegriffen sehen. Ist schließlich die Macht gleichmäßig verteilt, so wird jeder einsehen, daß alles Gerede von der höheren Tugend Unsinn und zur Begründung des Anspruchs auf Gleichheit ganz unnötig war.

Was die Italiener und Ungarn, die Frauen und Kinder betrifft, so haben wir schon den ganzen Kreis dieser Entwicklung durchlaufen. Wir befinden uns aber noch mitten darin in dem einen Fall, der gegenwärtig von größter Bedeutung ist - nämlich dem des Proletariats. Die Bewunderung des Proletariats ist sehr modern. Wenn man im achtzehnten Jahrhundert das Lob der „Armen“ sang, so dachte man dabei immer an die Armen auf dem Lande. Jeffersons Demokratie hörte beim städtischen Pöbel auf; er wünschte, daß Amerika ein Land der Ackerbauer bleibe. Die Bewunderung des Proletariats gehört wie die von Staudämmen, Kraftwerken und Flugzeugen zur Ideologie des Maschinenzeitalters. Menschlich betrachtet, hat sie so wenig für sich wie der Glaube an die Zauberkraft der Kelten, die slawische Seele, die Intuition der Frauen und die Unschuld der Kinder. Wäre es wirklich so, daß schlechte Ernährung, unzulängliche Bildung, Mangel an Luft und Sonne, ungesunde Wohnverhältnisse und Ueberarbeitung bessere Menschen hervorbringen als gute Ernährung, frische Luft, angemessene Schul- und Wohnverhältnisse und ein vernünftiges Maß an Freiheit, dann bräche die ganze Forderung nach wirtschaftlichem Wiederaufbau in sich zusammen und wir dürften uns freuen und frohlocken, daß ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung jene Vorteile genießt, welche die Tugend fördern. Aber obwohl dies Argument sich förmlich aufdrängt, halten es doch viele sozialistische und kommunistische Intellektuelle für unerläßlich, sich den Anschein zu geben, als fänden sie die Proletarier liebenswerter als andere Menschen, während sie gleichzeitig ihre Absicht verkünden, jene Verhältnisse zu beseitigen, die nach ihrer Lehre allein gute Menschen hervorbringen können. Die Kinder wurden idealisiert von Wordsworth, entidealisiert von Freud. Marx war der Wordsworth des Proletariats; sein Freud muß erst kommen.“

 

Nette Menschen

 

„Ich möchte einen Artikel zum Lob der netten Menschen schreiben. Aber vielleicht wird der Leser zuerst wissen wollen, wer die Menschen sind, die ich für nett halte. Den Kern ihrer wesentlichen Eigenschaft zu treffen, dürfte wohl etwas schwierig werden, deshalb beginne ich damit, einige Typen aufzuzählen, die unter das Stichwort fallen. Unverheiratete Tanten sind immer nett, besonders natürlich, wenn sie reich sind; Geistliche sind nett, bis auf die Ausnahmen derer, die sich nach einem vorgetäuschten Selbstmord mit einem Chormitglied nach Südafrika absetzen. Junge Mädchen, das muss ich leider sagen, sind heutzutage selten nett. Als ich jung war, waren die meisten noch ziemlich nett; das heißt, sie teilten die Ansichten ihrer Mütter, nicht nur über Dinge, sondern, was bemerkenswerter ist, auch über Personen, sogar über junge Männer. Sie sagten in den richtigen Momenten „Ja, Mama“ und „Nein, Mama“; sie liebten ihren Vater, weil es ihre Pflicht war, ihn zu lieben, und ihre Mutter, weil diese sie davor bewahrte, auch nur das Geringste falsch zu machen. Wenn sie eine Verlobung eingingen, um in den Ehestand zu treten, verliebten sie sich mit schicklicher Zurückhaltung; einmal verheiratet, erkannten sie es als eine Pflicht an, ihren Ehemann zu lieben, gaben anderen Frauen jedoch zu verstehen, dass es ihnen sehr schwerfiel, diese Pflicht zu erfüllen. Sie waren nett zu ihren Schwiegereltern, machten aber zugleich klar, dass jede weniger pflichtbewusste Person es nicht gewesen wäre; sie sprachen nicht gehässig über andere Frauen, sondern schürzten nur ihre Lippen auf eine Weise, dass man sehen konnte, was sie gesagt haben würden, wäre nicht ihre engelhafte Güte gewesen. Dies ist der Frauentypus, den man rein und edel nennt. Ein Typus, den es heute leider kaum noch gibt, es sei denn unter den Alten.

Zum Glück haben die Überlebenden noch immer große Macht: Sie beherrschen das Erziehungswesen, in dem sie sich nicht ohne Erfolg bemühen, einen viktorianischen Standard von Heuchelei aufrechtzuerhalten; sie beherrschen die Gesetzgebung bezüglich der sogenannten „moralischen Fragen“ und haben durch ihren Einfluss den hervorragenden Beruf des Alkoholschmugglers geschaffen und auf dauerhafte Grundlagen gestellt; sie sorgen dafür, dass die jungen Männer, die für unsere Zeitungen schreiben, eher die Meinungen der netten alten Damen zum Ausdruck bringen als ihre eigenen, wodurch sie den jungen Leuten zu einem erweiterten Horizont für ihre Stilmittel und die Vielfalt ihres psychologischen Vorstellungsvermögens verhelfen. Sie halten zahllose Freuden lebendig, derer man sonst schnell überdrüssig geworden wäre. So zum Beispiel den Spaß, auf der Bühne schlechte Wörter zu hören oder ein Fitzelchen mehr nackte Haut zu sehen als gewöhnlich. Vor allem aber erhalten sie die Freuden der Jagd. Bei einer homogenen Landbevölkerung, wie sie etwa in einer englischen Grafschaft gegeben ist, sind die Leute dazu verdammt, Füchse zu jagen; das ist teuer und manchmal sogar gefährlich. Überdies kann der Fuchs nicht genau erklären, wie sehr er es verabscheut, gejagt zu werden. Unter all diesen Aspekten ist die Jagd auf Menschen ein besserer Sport, doch ohne die netten Leute wäre es schwierig, sie mit gutem Gewissen zu jagen. Diejenigen, die von den Netten verurteilt werden, sind Freiwild. Auf den Ruf „Horrido“ versammelt sich die Jagdgesellschaft, und das Opfer wird in Gefangenschaft gebracht oder in den Tod getrieben. Es ist ein besonders schöner Sport, wenn das Opfer eine Frau ist, weil er dann sowohl die Eifersucht der Frauen als auch den Sadismus der Männer befriedigt. Ich kenne hier und heute eine Ausländerin, die in England in einer glücklichen, wenngleich außerehelichen Beziehung lebt, mit einem Mann, den sie liebt und der sie liebt; unglücklicherweise sind ihre politischen Meinungen nicht so konservativ, wie es zu wünschen wäre, obwohl es nur Meinungen sind, mit denen sie nichts anrichtet. Die netten Leute jedoch haben das als Vorwand benutzt, um Scotland Yard auf ihre Spur zu setzen, und nun wird sie in ihr Heimatland zurückgeschickt, zum Verhungern. In England wie in Amerika haben Ausländer einen schlechten Einfluss auf die Moral, und wir alle schulden der Polizei unseren Dank für die Umsicht, mit der sie dafür sorgt, dass es nur höchst tugendhaften Ausländern gestattet wird, unter uns zu leben.

Man darf allerdings nicht glauben, alle netten Menschen seien Frauen, obschon das Nettsein für eine Frau natürlich viel selbstverständlicher ist, als für einen Mann. Tatsächlich gibt es außer den Geistlichen eine ganze Reihe anderer netter Männer. So etwa diejenigen, die reich geworden sind und sich dann von den Geschäften zurückgezogen haben, um ihren Reichtum für wohltätige Zwecke zu verwenden; auch Richter sind fast immer nett. Man kann jedoch nicht sagen, alle Männer, die für Recht und Ordnung stehen, seien nett. Ich erinnere mich, einmal, in meiner Jugend, als Argument gegen die Todesstrafe von einer netten Frau gehört zu haben, der Henker könne kaum ein netter Mann sein. Ich habe nie einen Henker persönlich gekannt und war daher nicht in der Lage, dieses Argument empirisch zu überprüfen. Ich kenne jedoch eine Dame, die einem Henker im Zug begegnet ist, ohne zu wissen, wer er war, und als sie ihm wegen des kühlen Wetters eine Wolldecke anbot, sagte er, „Oh, Madam, Sie täten das bestimmt nicht, wenn Sie wüssten, wer ich bin“, was darauf hinzuweisen scheint, dass er eigentlich doch nett war. Aber er muss eine Ausnahme gewesen sein. Typisch ist wohl eher der Henker aus Dickenst Barnaby Rudge, der absolut kein netter Mann ist.

Ich glaube allerdings nicht, dass wir mit der netten Dame, die ich soeben zitiert habe, darin übereinstimmen sollten, die Todesstrafe nur deshalb zu verurteilen, weil der Henker wahrscheinlich nicht nett ist. Um ein netter Mensch sein zu können, muss man vor der rauen Wirklichkeit geschützt werden, und von denen, die für den Schutz sorgen, ist nicht zu erwarten, dass sie die Nettigkeit der Beschützten teilen. Stellen Sie sich zum Beispiel den Schiffbruch eines Passagierdampfers vor, der viele farbige Arbeiter befördert; die weiblichen Passagiere erster Klasse, vermutlich lauter nette Frauen, sollen zuerst gerettet werden, aber damit das geschehen kann, müssen Männer verhindern, dass die farbigen Arbeiter die Rettungsboote überschwemmen, und es ist unwahrscheinlich, dass ihnen dergleichen mit netten Methoden gelingt. Einmal in Sicherheit, werden die geretteten Frauen sofort Mitleid bekommen mit den armen Arbeitern, die ertrinken mussten, doch diese Weichherzigkeit ist überhaupt erst dank der rauen Männer, die sie verteidigt haben, möglich geworden.

Im Allgemeinen überlassen nette Menschen die Beaufsichtigung der Welt ihren Gefolgsleuten, weil sie das Gefühl haben, diese Arbeit sei nicht unbedingt so, dass eine wirklich nette Person sie gern ausüben würde. Es gibt jedoch einen Bereich, den sie nicht delegieren, nämlich den der üblen Nachrede und des Skandals. Die Menschen können nach der Macht ihrer Zungen in eine Hierarchie der Nettigkeit eingeordnet werden. Wenn A gegen B spricht und B gegen A, wird sich die Gesellschaft, in der sie leben, im Allgemeinen darauf einigen, dass einer von ihnen eine öffentliche Pflicht erfüllt, während der andere von Boshaftigkeit getrieben wird; wer die öffentliche Pflicht erfüllt, ist der nettere von beiden. Somit ist beispielsweise die Rektorin einer Schule netter als eine Hilfslehrerin, aber eine Dame aus dem Schulamt ist noch netter als die beiden. Gezielter Klatsch kann leicht dazu führen, dass das Opfer seinen oder ihren Lebensunterhalt verliert, und selbst wenn dieses äußerste Ergebnis nicht erreicht wird, kann er jemanden zum Paria machen. Er ist daher eine starke Kraft des Guten, und wir sollten dankbar sein, wenn es die Netten sind, die davon Gebrauch machen.

Das Hauptmerkmal netter Menschen sind deren lobenswerte Bemühungen und eine Verbesserung der Wirklichkeit. Gott hat die Welt erschaffen, aber nette Menschen haben den Eindruck, sie hätten die Sache besser machen können. Dem göttlichen Werk sind viele Dinge eigen, die - wenngleich es Blasphemie wäre, sie sich anders zu wünschen - doch alles andere als nett zu erwähnen sind. Manche Geistlichen haben behauptet, dass die Menschheit, hätten Adam und Eva den Apfel nicht gegessen, auf eine harmlose „Vegetationsweise“, wie Edward Gibbon es nennt, vermehrt worden wäre. Diesbezüglich ist Gottes Plan sicher unergründlich. Es ist schön und gut, ihn wie besagte Geistlichen im Licht einer Sündenstrafe zu betrachten, aber das Ärgerliche an dieser Sicht ist, dass nette Menschen für eine Strafe halten mögen, was andere leider Gottes recht vergnüglich finden. Es scheint daher, als sei die Strafe so angelegt, dass sie die Falschen trifft. Eines der wichtigsten Ziele der netten Menschen besteht darin, diese zweifellos unbeabsichtigte Ungerechtigkeit auszugleichen. Sie wollen sicherstellen, dass die biologisch gegebene „Vegetationsweise“ entweder heimlich oder frigide vollzogen werde, und dass jene, die es heimlich tun und dabei ertappt werden, wegen des Schadens, der ihnen durch einen Skandal entsteht, netten Menschen ausgeliefert seien. Sie wollen auch sicherstellen, dass so wenig Wissen wie möglich auf anständige Weise über das Thema verbreitet werde; sie versuchen den Zensor zu bewegen, Bücher und Stücke zu verbieten, in denen die Sache anders dargestellt wird, denn als eine Gelegenheit zu widerwärtigem Gekicher; damit haben sie Erfolg, wo und insoweit sie die Gesetze und die Polizei beherrschen. Niemand weiß, warum der menschliche Körper so geschaffen wurde, wie er ist, da man annehmen muss, dass die göttliche Allmacht ihn auch so hätte machen können, dass er die Netten nicht schockieren müsste. Aber vielleicht gab es einen guten Grund. Seit dem ersten Aufschwung der Textilindustrie in Lancashire bestand in England stets ein enges Bündnis zwischen Missionaren und dem Baumwollhandel, weil Missionare die Wilden lehren, den menschlichen Körper zu bedecken, und somit die Nachfrage nach Baumwollwaren steigern. Wäre am menschlichen Körper nichts gewesen, dessen man sich schämen müsste, hätte dem Textilhandel eine wichtige Profitquelle gefehlt. Dieses Beispiel zeigt, dass wir nie zu fürchten brauchen, die Verbreitung von Tugendhaftigkeit könne unsere Profite schmälern.

Wer auch immer den Ausdruck „die nackte Wahrheit“ erfunden haben mag, hat eine wichtige Verbindung erfasst. Nacktheit ist für alle gemeinsinnigen Menschen schockierend, und die Wahrheit ebenso.

Es kommt kaum darauf an, um welchen Bereich es geht; man findet schnell heraus, dass die Wahrheit so beschaffen ist, dass nette Menschen sie nicht in ihr Bewusstsein lassen wollen. Jedes Mal, wenn ich das Unglück hatte, anwesend zu sein, während vor Gericht ein Fall verhandelt wurde, über den ich einiges aus erster Hand wusste, war ich verblüfft über die Tatsache, dass keine Spur von schlichter Wahrheit durch die ehrwürdigen Pforten des Gerichts gelassen wird. Nicht die nackte Wahrheit dringt in den Gerichtshof ein, sondern eine Wahrheit in Hofbekleidung, mit der sie ihre weniger anständigen Teile verhüllt. Ich sage nicht, dies treffe auf Prozesse zu, in denen es um eindeutige Straftaten wie Mord oder Diebstahl geht, aber es trifft auf all jene zu, bei denen ein Element von Vorurteil mitwirkt, wie im Fall politischer Prozesse oder solcher wegen Unsittlichkeit. Ich glaube, in dieser Hinsicht ist England schlimmer als Amerika, weil England die fast unsichtbare und halb unbewusste Beherrschung aller Unannehmlichkeiten mithilfe der Anstandsgefühle zur Perfektion gebracht hat. Wenn man vor Gericht eine unliebsame Tatsache aussprechen will, wird man erfahren, das verstoße gegen das Beweisrecht, und nicht nur der Richter und der gegnerische Anwalt, sondern auch der eigene Anwalt wird verhindern, dass besagte Tatsache ans Licht kommt.

Die gleiche Art von Irrealität durchdringt die Politik, aus Rücksicht auf die Gefühle netter Menschen. Versuchen Sie, eine nette Person davon zu überzeugen, dass ein Politiker ihrer Partei ein gewöhnlicher Sterblicher sei, nicht besser als die Masse der Menschheit, wird sie das empört zurückweisen. Infolgedessen müssen Politiker notwendig makellos erscheinen. Meistens schließen sich die Vertreter aller Parteien stillschweigend zusammen, damit nichts an die Öffentlichkeit dringt, was ihrem Beruf schaden könnte, denn die parteilichen Unterschiede trennen die Politiker gewöhnlich weniger, als der Berufsstand sie vereint. Auf diese Weise ist es den netten Menschen möglich, ihr fantastisches Bild von den großen Männern der Nation zu bewahren, und die Schulkinder können glauben gemacht werden, höchste Ehren seien nur durch reine Tugend zu erlangen. Gewiss, es gibt außergewöhnliche Zeiten, in denen die Politik wirklich bitter wird, und zu jeder Zeit gibt es Politiker, die als nicht hinreichend respektabel gelten, um dem informellen Berufsverband anzugehören. Parnell zum Beispiel wurde erst erfolglos der Komplizenschaft mit Mördern beschuldigt und anschließend erfolgreich eines Verstoßes gegen die Moral überführt, wie ihn selbstredend keiner seiner Ankläger auch nur im Traum begangen hätte. In Europa werden heutzutage die Kommunisten ausgegrenzt, während es in Amerika die extrem Radikalen und die Gewerkschaftsagitatoren sind; es gibt keine große Organisation netter Menschen, die bewundernd hinter ihnen stünde, und wenn sie gegen den Kodex der gesellschaftlichen Konventionen verstoßen, können sie nicht auf Gnade hoffen. So verbinden sich die unerschütterlichen Moralvorstellungen der netten Menschen mit der Verteidigung des Eigentums und beweisen wieder einmal ihren unschätzbaren Wert.

Nette Leute argwöhnen zu Recht Spaß an der Freude, wann immer sie einer solchen auf die Spur kommen. Sie wissen: Wer viel lernt, muss viel leiden, und sie folgern, dass wer viel leidet, auch viel lernt. Deswegen haben sie das Gefühl, Weisheit zu verbreiten, indem sie Leid verbreiten; und da Weisheit besser ist als Perlen, fühlen sie sich gerechtfertigt, ihr Vorgehen als Wohltat zu begreifen. So werden sie zum Beispiel einen öffentlichen Kinderspielplatz einrichten, um sich selbst zu überzeugen, dass sie Philanthropen sind, dann aber so viele Benutzungsvorschriften erlassen, dass kein Kind dort so glücklich sein kann wie auf der Straße. Sie werden ihr Bestes tun, um zu verhindern, dass Spielplätze, Theater und dergleichen sonntags geöffnet sind, weil dies genau der Tag ist, an dem man seine Freude daran haben könnte. Junge Frauen, die als Angestellte für sie arbeiten, werden so weit wie möglich daran gehindert, sich mit jungen Männern zu -unterhalten. Die nettesten Leute, die ich kennengelernt habe, trugen diese Haltung sogar in den Schoß der Familie hinein und ließen ihre Kinder nur lehrreiche Spiele spielen. So leid es mir tut, muss ich jedoch sagen, dass dieses Maß an Nettigkeit heute weniger üblich ist als früher. In den alten Tagen lernten die Kinder:

„Ein Streich mit seiner Allmacht' Rute

Lässt junge Sünder schnell zur Hölle fahren"

und es verstand sich von selbst, dass solches wohl geschehen würde, wenn Kinder übermütig wurden oder sich Beschäftigungen hingaben, die nicht geeignet waren, sie auf ein geistliches Amt vorzubereiten. Die auf solchen Ansichten beruhende Erziehung wird in The History of the Fairchild vorgeführt, einer unschätzbar wertvollen Arbeit darüber, wie man nette Menschen produziert. Ich kenne jedoch wenige Eltern, die diesem hohen Maßstab heute noch gerecht werden. So traurig es ist, hat sich weitgehend die Meinung durchgesetzt, Kinder sollten ihren Spaß haben, und es ist zu befürchten, dass diejenigen, die nach derart laxen Prinzipien erzogen werden, als Heranwachsende keinen angemessenen Abscheu vor der Lust bekommen.

Die Zeit der netten Leute, fürchte ich, ist fast vorbei; zwei Dinge läuten ihr Ende ein. Das erste ist der Glaube, es schade nichts, glücklich zu sein, vorausgesetzt, dass niemand anders darunter leidet; das zweite ist die Abneigung gegen Heuchelei, eine Abneigung, die ebenso ästhetisch wie moralisch ist. Die Empörung wurde in beiderlei Hinsicht durch den Krieg geschürt, als die netten Menschen aller Länder das Heft fest in der Hand hatten und die Jungen im Namen der höchsten Moral dazu brachten, sich gegenseitig abzuschlachten. Nachdem alles vorbei war, begannen die Überlebenden sich zu fragen, ob Lügen und Elend, von Hass getrieben, wirklich die höchste Tugend darstellen. Ich fürchte, es wird einige Zeit vergehen, ehe man sie wieder dazu bringen kann, diese fundamentale Lehre jeder wirklich erhabenen Ethik zu akzeptieren.

Im Kern besteht das Wesen netter Menschen darin, das Leben zu hassen, wie es sich im Streben nach Zusammenarbeit, im Übermut von Kindern und vor allem in der Sexualität offenbart, von der sie in Gedanken ganz besessen sind. Mit einem Wort, nette Menschen sind jene, die eine schmutzige Fantasie haben.“

 

Die Rolle des Individuums (im Gespräch mit Woodrow Wyatt)

 

Sie legen der Frage nach der Rolle des Individuums eine erhebliche Bedeutung bei. Warum haben Sie ihr soviel Bedeutung beigelegt?

Weil wir alle wichtigen menschlichen Fortschritte, die uns seit Beginn der historischen Zeiten bekannt sind, Individuen verdanken, von denen die meisten auf harten öffentlichen Widerstand stießen.

Meinen Sie, daß die Angst vor der öffentlichen Meinung viele Menschen davon abgehalten hat, gute und vernünftige Dinge zu tun?

Ja, sie hat eine sehr tiefe Wirkung, besonders in Zeiten der Aufregung, in denen es sehr viel Massenhysterie gibt. Sehr viele Menschen haben Angst davor, gegen die Massenhysterie anzugehen, was zur Folge hat, daß schlechte Dinge dort triumphieren, wo sie nicht zur Herrschaft gelangen sollten …

Wie steht es mit Menschen außerhalb dieser Gruppen?

Nehmen wir einen sehr bemerkenswerten Fall, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Amerika zutrug. Es gab zwei Männer, Sacco und Vanzetti, die des Mordes angeklagt waren. Die Beweise waren völlig unzureichend, und nachdem sie verurteilt worden waren, wurde eine kleine Gruppe von Menschen ernannt, um die Beweise nachzuprüfen. Zu ihnen gehörte der Präsident der Harvard-Universität, er und die übrigen urteilten, daß die Männer schuldig seien, und sie wurden hingerichtet. Ich glaube, jeder, der die Beweise ganz unparteiisch prüfte, müsse zu dem Schluß gelangen, sie seien nicht ausreichend, um eine Verurteilung zu rechtfertigen.

Meinen Sie, daß sogar der Präsident der Harvard-Universität wußte, daß sie unschuldig waren?

Ich meine, er muß es gewußt haben. Ich kann es nicht bestimmt sagen, weil ich nicht in seiner Seele lesen kann. Aber ich meine, er muß es gewußt haben.

Also beugte er sich nur der öffentlichen Meinung?

Ja.“

 

 

Denken und seine Gedanken seinen Mitmenschen mitzuteilen, ist wichtig. Nicht weniger wichtig ist das Handeln. Die Freunde Bertrand Russells dürfen sich auf den 2. Teil freuen. Denn dort geht es um sein Handeln.

 

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm