Kipling

„Alles an dem Autor, für den ich in diesem Jahr als allerersten die Trommel rühren möchte, giert nach dem Superlativ:

- Er hat als Jüngster aller Zeiten den Literaturnobelpreis erhalten.

- Seine Millionen Leser haben ihn geliebt und verehrt und seine Figuren unsterblich gemacht.

- Sein Wortschatz ist der größte der angloamerikanischen Literatur seit Shakespeare.

- Kein Geringerer als Henry James, der mit Kollegenlob nun wahrlich knauserte, nannte ihn "das kompletteste Genie", das er je kennenlernen durfte.

Heute aber spaltet dieser Autor wie kein zweiter: In Teilen der akademischen Welt gilt er als eine Art leibhaftiger "Gottseibeiuns" der Literatur, die Erwähnung seines Namens ruft unter den politisch Korrekten konditionierte Reaktionen hervor wie die von Lord Voldemort in der Welt von Harry Potter. Ich spreche von Rudyard Kipling, geboren 1865 in Bombay, dem Autor des nicht genug zu rühmenden Indien-Romans "Kim", einem der besten Dichter der englischen Sprache und dem Verfasser so brillanter Erzählungen wie "Der Mann, der König sein wollte".

Seit Jahrzehnten versucht man, Rudyard Kipling mit zwei Einwänden aus dem Kanon der Weltliteratur zu verbannen. Einwand Nummer eins: War der Mann nicht Imperialist? Für einen Autor mit Kiplings Geburtsdatum und Herkunft ist das in etwa so belastend wie für einen Deutschen heute die Mitgliedschaft im Schäferhundverein.

Der zweite Einwand wiegt da schon schwerer – in Deutschland ist es sogar immer noch ein richtiges Totschlagargument. Ist Kipling kein Kinderbuchautor? Eine neue Übersetzung von Kiplings "Dschungelbücher" bietet Gelegenheit, sich vom Gegenteil zu überzeugen.

Andreas Nohl hat die Erzählungen über den Menschenwelpen Mowgli – den Wölfe im indischen Dschungel adoptierten, der eine Todfeindschaft mit dem lahmen Tiger Schir Kahn pflegt, dessen Mentoren der sinnenfrohe Panther Baghira, der rechtsgläubige Bär Balu und die weise Schlange Kaa sind – in ein vortreffliches Deutsch übersetzt.

Wer dieses Buches aufschlägt, wird mit dem "Gesetz des Dschungels" konfrontiert und mit einem Bild der Natur jenseits eines bloßen Spiegels der menschlichen Seele.

Auf den Seiten dieses Buches tanzen Elefanten, machen Mungos Jagd auf Kobras und Kobras Jagd auf Mungos. Und im Fluss lauern sieben Meter lange menschenfressende Krokodile mit der Parole im Rachen: "Achtet die Alten und Schwachen!"

Wer bei Kipling gelernt hat, solchen Krokodilen zu misstrauen, hat eine politische Lektion fürs Leben erhalten. Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, lassen Sie sich eines der großen Vergnügen der Weltliteratur nicht entgehen und lesen Sie "Das Dschungelbuch – Eins und Zwei" von Rudyard Kipling in der neuen Übersetzung von Andreas Nohl, erschienen im Steidl Verlag.“

http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/dschungelbuch-kipling-100.html

Nun ist der Wurm nicht immer der selben Meinung wie Denis Scheck, aber hier hat er Recht: ohne Wenn und Aber ist Rudyard Kipling, der vor 150 Jahren geboren wurde und vor 80 Jahren gestorben ist, einer der Großen der Weltliteratur.

 

Genauer Beobachter und hervorragender Erzähler

 

„Sein Einfluss reichte quer durch alle Schichten, von den einfachen Soldaten, deren Umgangssprache er in seinen Texten gerne folgte, bis zu König George V., dem er freundschaftlich verbunden war und viele Reden schrieb. Sein Gestus als Mahner, Warner, Aufrüttler und Moralist gab ihm jahrzehntelang die Autorität einer politischen Instanz, deren Äußerungen in Zeitungen verbreitet und in Parlamentsreden zitiert wurden. 1907 erhielt er als erster englischsprachiger Autor und bis heute jüngster den Literaturnobelpreis. Gedichtzeilen und Formulierungen von ihm sind im Englischen als Redensarten gebräuchlich wie sonst nur von Shakespeare oder aus der Bibel.“

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/die-erste-deutschsprachige-biographie-von-rudyard-kipling-13989427.html

Alexander Pechmann gibt im Vorwort zu seiner Übersetzung „Von Ozean zu Ozean – Unterwegs in Indien, Asien und Amerika“  von Rudyard Kiplings Reisebriefen einen recht guten Eindruck von ihm:

"„Seit letzten November war ich ein Wanderer auf dem Antlitz der Erde“, schrieb der zweiundzwanzigjährige Rudyard Kipling im Januar 1888 an seine Cousine Margaret Burne-Jones. „Aber welch ein Vagabundenleben! Habe ich Dir schon erzählt, wie der Pioneer mich engagierte und mich bat, einen Monat durch Rajputana zu reisen – die Heimat von hunderttausend Legenden und der große Kampfplatz Indiens? Meine großzügigen Vorgesetzten gaben mir 600 Rupien monatlich und zahlten mir die Zugfahrkarten. Ach Himmel. Gab es je etwas, das dieser zügellosen Wanderung durch eine der schönsten und ältesten Gegenden der Welt vergleichbar wäre?“

Kiplings berufliche Karriere hatte in Lahore begonnen, wo er 1882, nach einer trostlosen Schulzeit in England, eine Stelle als Hilfskraft des Redakteurs der anglo-indischen Zeitung The Civil and Miliatary Gazette antrat. Schon wenige Monate später gelang es ihm, eigene Reportagen, Gedichte und Erzählungen zu veröffentlichen, die sich bald großer Beliebtheit erfreuten. Sein erster Gedichtband, Departmental Ditties and Other Verses, erschien 1886 und begründete seinen Ruf als scharfzüngiger und satirischer Beobachter der britischen Kolonialgesellschaft. Doch der Wechsel zur Zeitung The Pioneer in Allahabad ermöglichte Kipling, erstmals über ein ganz anderes Indien zu schreiben als jenes, „in dem Kommissare und Hilfskommissare, Gouverneure und Vizegouverneure, Adjutanten, Oberste und ihre Frauen, Majore, Hauptmänner und Subalternoffiziere umherwandern und befehlen und regieren und zanken und streiten und die Pferde verkaufen, die ihnen nicht gehören, und böse Geschichten über ihre Nachbarn verbreiten“. Während Lahore in der nördlichen Provinz Panjab und Allahabad im nordwestlich gelegenen Oudh unter britischer Verwaltung standen, war Rajputana, heute Rajasthan, in verschiedene kleine Fürstentümer zersplittert, die von einheimischen Feudalherren weitgehend traditionell regiert wurden. Der Einfluss der britischen Kolonialmacht, die mit den Rajputenstaaten protektionistische Allianzen geschlossen hatte, war dennoch fast überall sichtbar. Die lokalen Machthaber sicherten sich oft und gern die Dienste englischer Ingenieure und pensionierter Militärs, unterstützten von europäischen Ärzten und Missionaren gegründete Krankenhäuser und Schulen und duldeten „Politische Berater“ und Gesandte bei Hofe. Dennoch war es für den jungen Autor eine abenteuerliche Reise in eine unerforschte Welt.

Kipling berichtete seiner Cousine: „Ich schrieb eine Serie von Reisebriefen unter dem Titel Letters of Marque (Kaperbriefe) – die übrigens immer noch erscheint -, und ich reiste, ritt, fuhr und marschierte und schlief in Königspalästen oder unter den Sternen und sah, wie Panther getötet wurden, und hörte Tiger in den Bergen brüllen und erblickte sechs Tage lang kein weißes Gesicht und erkundete seit dreihundert Jahren verlassene Geisterstädte und besuchte prächtige Gesandtschaften, wo ich in feinem Leinen schwelgte, und einsame Stationen am Wegesrand, wo ich neben Eingeborenen auf Baumwollballen schlief und ganz vergaß, dass dort draußen eine Welt der Zeitungen und Telegrafen existierte.

Oh, es war ein gutes und sauberes Leben, und ich sah und hörte alle Arten von Menschen in vielerlei Lebenslagen, und ganz gleich, ob sie schwarz, weiß oder braun waren, sie erzählten mir ihre Geschichten, und ich schrieb drei Notizbücher voll und schritt mit ‚dem Tod und dem Morgen auf den Silberhörnern‘ und lernte, was es heißt, Hunger und Durst zu erleiden“.

Als wichtigster Begleiter diente ihm James Tods anschauliche Chronik Annals and Antiquities of Rajas’than aus den Jahren 1829 und 1832. Tod kam 1799 als junger Mann nach Indien und reiste von 1812 bis 1817 als Kundschafter der britischen Regierung durch die Rajputenstaaten. 1818 wurde er zum Gesandten ernannt und kehrte 1823 zurück nach England. Kiplings Anmerkungen zur Geschichte der von ihm besuchten Städte, Paläste und Festungen basieren fast ausschließlich auf Tods Aufzeichnungen, die er gelegentlich wörtlich zitiert.

Ausgerüstet mit dem historischen Wissen Tods und einem wachen Interesse an allem, was noch nicht mit „europäischen Scheußlichkeiten“ in Berührung gekommen war, distanzierte sich Kipling in seinen Reisebriefen immer wieder vom ironisch gezeichneten „Weltenbummler“, der Indien mit einem Blick durchs Zugfenster erkundet und mit einem Koffer voll billiger Andenken nach Hause fährt. Er knüpfte damit bewusst an die erfolgreichen Reiseschilderungen Mark Twains an, übernahm aber auch die Geringschätzung der in Indien geborenen und heimischen Engländer für Besucher, Touristen und vor allem Politiker aus der alten Heimat und erklärte sich als „anglo-indischer Cockney“ augenzwinkernd zum Komplizen seiner Leser. Mark Twain, der in späteren Jahren Rudyard Kipling freundschaftlich verbunden war, erkannte in diesen Texten tatsächlich das Werk einer verwandten Seele und bezeichnete sie in seiner Autobiografie als „kühne, ausschweifende, brillante Briefe, von denen außerhalb Indiens leider niemand wusste“. Trotz oder gerade wegen ihrer Spontaneität und Ungeschliffenheit sind sie ein unverzichtbarer Schlüssel zum Verständnis eines bis heute ebenso beliebten wie umstrittenen Autors und seiner Welt.“

Rudyard Kipling ist ein hervorragender Beobachter und Erzähler und spart nicht mit Kritik an den britischen Kolonialherren. Alexander Pechmanns Einschätzung als „scharfzüngiger und satirischer Beobachter der britischen Kolonialgesellschaft“ stimmt voll und ganz. Es ist ein wahrer Genuss, Rudyard Kiplings Werke zu lesen. Vor allem jene, die außerhalb Englands spielen – die sind dann quasi das „Salz in der Suppe“.

Frank Dietschreit: "Kein anderer westlicher Schriftsteller hat Indien so tief verstanden wie Kipling", hat Salman Rushdie einmal gesagt. Wenn wir das aberwitzige Gewusel der Kulturen, die schillernde Vielfalt aus überbordendem Reichtum und bitterer Armut verstehen wollen, wenn wir die sozialen Abgründe des traditionellen Kastensystems und die befreiende Kraft der Spiritualität begreifen wollen, dann sollten wir Kipling lesen – und vor allem natürlich seinen Roman über die Abenteuer des Waisenjungen Kim im Indien zum Ausgang des 19. Jahrhunderts.“

http://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2015/Rudyard-Kipling-Kim.html

 

Kritik an Rudyard Kipling

 

Wie Denis Scheck bereits anmerkte, wird Rudyard Kipling „in Teilen der akademischen Welt“ geschmäht. Aus Sicht des Wurms völlig zu Unrecht. Der Wurm möchte jedoch mit einem Punkt beginnen, der in der „akademischen Welt“ kaum wahr genommen wird.

1. Weltkrieg

Aus „Wikipedia“: „Kipling war stark antideutsch eingestellt und anfangs ein entschiedener Befürworter des Krieges. Doch 1915 fiel sein ältester Sohn John im Alter von 18 Jahren in der Schlacht von Loos. In tiefem Selbstzweifel und voller Schuldgefühl schrieb Kipling den Grabspruch für seinen Sohn: “If any question why we died, tell them, because our fathers lied” („Wenn jemand fragt, warum wir starben, sagt ihnen, weil unsere Väter gelogen haben“). Kipling hatte seinem Sohn ermöglicht, mit einem vorverlegten Geburtsdatum bei den Irish Guards seinen Militärdienst anzutreten.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudyard_Kipling

Der „entschiedene Befürworter des Krieges“ ist nicht zu entschuldigen.

„Die Vorgänge und Triebkräfte, die zum 4. August 1914 führten, waren keine Geheimnisse. Der Weltkrieg wurde seit Jahrzehnten vorbereitet, in breitester Öffentlichkeit, im hellichten Tage, Schritt für Schritt und Stunde um Stunde“ – was Rosa Luxemburg beschrieb (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/109-platz-an-der-sonne.html ) und unter anderem zusammen mit Jean Jaurès (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/108-humanitaet.html ) und Bertha von Suttner (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/101-die-waffen-nieder.html ) verhindern wollte - die alle wussten, was dieser Krieg bedeuten würde (und dies ausführlich beschrieben) -, hätte jedem, auch Rudyard Kipling bekannt sein müssen.

Nun, durch den Tod seines Sohnes, an dem er persönlich Schuld trägt, hat er zur Genüge für seine Einstellung gebüßt.

Rudyard Kipling war nun aber wahrlich nicht der Einzige, der zu Zeiten des 1. Weltkriegs nationalistisch drauf war:

„Die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches vom 16. Oktober 1914 war eine Erklärung, die von über 3000 deutschen Hochschullehrern, also fast der gesamten Dozentenschaft der 53 Universitäten und Technischen Hochschulen Deutschlands, unterzeichnet worden war. Sie folgte dem Manifest der 93 und rechtfertigte ähnlich diesem den Ersten Weltkrieg als Verteidigungskampf deutscher Kultur …

„Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche „Militarismus“ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.““

https://de.wikipedia.org/wiki/Erkl%C3%A4rung_der_Hochschullehrer_des_Deutschen_Reiches

https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_93

Dem Wurm ist nicht bekannt, dass an den unterzeichnenden Zeitgenossen groß Kritik geübt wurde und vor allem nicht an jenem, der heutzutage ein ganz, ganz anderes Image hat:

„„Es galt den edlen Männern aller Zeiten

Als ihres Strebens schönster, höchster Lohn,

Fürs Vaterland zu kämpfen und zu streiten

Als ganzer Mann und als getreuer Sohn.

 

Und rief die Not sie alle auf zur Wehre

Da fehlte „keiner“ in den wackern Reih’n,

Sie waren stolz, sich auf dem Feld der Ehre

Mit Leib und Blut dem Vaterland zu weihn.

 

Doch heute sind verhallt die Kampfeslieder,

Herein bricht eine neue feige Zeit,

Erbärmlich murmeln sie „Die Waffen nieder“,

Genug, genug, wir wollen keinen Streit.

 

Ist das das Volk, das, wenn Geschütze krachten,

Im Pulverdampf oft frohen Mutes stand,

Und das, stets ungebeugt, in vielen Schlachten

Der Feinde Scharen siegreich überwand?

 

Ermannet Euch! Gefährten, Freunde, Brüder,

Die ihr doch stets das Vaterland geliebt,

Nun merket wohl: Es gibt kein Waffen nieder,

Weil’s keinen Frieden ohne Waffen gibt!

 

Drum haltet fest den Säbel in der Rechten,

Laßt nimmer ihn entsinken eurer Hand

Und ruft die Not, dann seid bereit zu fechten,

Bereit zu sterben für das Vaterland.“

 

Sollte jemand wissen wollen, um wen es sich bei diesem 17jährigen edlen Säbel-Rassler handelt, der dieses Gedicht geschrieben hat: es handelt sich um Rainer Maria Rilke, der es als Antwort auf den Roman „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner dichtete.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/101-die-waffen-nieder.html

Kinderbuch-Autor?

„Der zweite Einwand wiegt da schon schwerer – in Deutschland ist es sogar immer noch ein richtiges Totschlagargument. Ist Kipling kein Kinderbuchautor?“

Der Vorwurf, ein Autor von Kinder- oder Jugendbüchern zu sein, ist unqualifiziert. Und wenn dieser Vorwurf „in Deutschland … immer noch ein richtiges Totschlagargument“ ist, spricht das nicht für die Deutschen bzw. deren Literatur-Betrieb.

Gut gemachte Kinder- oder Jugendbücher können alles beinhalten, was denkbar ist und ihre jungen Leser besser als im Erwachsenenalter beeinflussen.

„Harry Potter“ von Joanne K. Rowling etwa beschreibt sehr deutlich das Heraufziehen einer Diktatur und welche Personen sich aus welchen Gründen dieser anschließen. Da kommt kein Sachbuch ran.

Rudyard Kipling hat zwei Bücher von Weltruhm geschrieben, die von Kindern (und vielen Erwachsenen) gerne gelesen werden: „Das Dschungelbuch“ http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-dschungelbuch-2076/1 und die „Nur So Geschichten“ http://gutenberg.spiegel.de/buch/nur-so-geschichten-5675/1

„Kim gilt vielen, weil die Hauptfigur ein 13-jähriger Junge ist, als Jugendbuch. Ein Irrtum. Kim ist vieles: ein Entwicklungs- und Bildungsroman, ein Epos über die Probleme des Erwachsenwerdens, eine abgründige Geschichte über die Suche nach Weisheit, ein multikulturelles Pamphlet, ein spannender Spionage-Thriller, eine aufrüttelnde Sozialstudie, ein ironisch variiertes Märchen aus Tausendundeiner Nacht, ein Roadmovie, ein Aufruf zu religiöser Toleranz. Mit einem Wort: Weltliteratur.“

http://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2015/Rudyard-Kipling-Kim.html

Im Zug, auf der Straße, in den Städten, in den Dörfern kommt Kim mit allen möglichen Menschen des damaligen Indien zusammen, mit dessen unterschiedlichen Nationalitäten, sozialen Schichten, Religionen, Gepflogenheiten. Wer sich für Indien interessiert, für den ist „Kim“ immer noch ein „Muss“.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/kim-5785/1

Aus „Wikipedia“:

„Ab Mitte der 1880er Jahre bereiste er den indischen Subkontinent als Korrespondent des in Allahabad erscheinenden The Pioneer. Gleichzeitig wurden seine Bücher erfolgreich; bis 1888 hatte er bereits sechs Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, darunter Soldiers Three (1888). Eine Kurzgeschichte dieser Zeit war Der Mann, der König sein wollte (The Man Who Would Be King), die 1975 mit Sean Connery und Michael Caine in den Hauptrollen verfilmt wurde.

In seinen Plain Tales from the Hills (Schlichte Geschichten aus Indien, 1888) überlieferte er der Nachwelt wunderschöne Geschichten aus dem anglo-indischen Milieu und machte sich einen Namen als Autor von Abenteuergeschichten.

Im folgenden Jahr, 1889, kehrte Kipling nach England zurück und ließ sich in London nieder, wo er in mehrere renommierte Clubs aufgenommen wurde. Zu seinen literarischen Freunden und Förderern gehörten Henry Rider Haggard und Henry James. Schnell wurde er berühmt für seine realistischen Erzählungen und die Gedichte, in die er die Rhythmen der Umgangssprache und den Slang, beispielsweise von Soldaten, meisterhaft integrierte. Seine Lyrik übte einen großen Einfluss auf Bertolt Brecht aus.

Sein erster Roman Das fahle Licht (The Light that Failed) erschien 1890. Die Handlung spielt in der damaligen Gegenwart, zum Großteil in London, teils aber auch in Indien und im Sudan. Erzählt wird die traurige Geschichte des Künstlers Dick Heldar, der nach einem Krieg im Sudan, der ihm eine Augenverletzung einbrachte, in den 1890er Jahren nach England zurückkehrt. Nun widmet er sich wieder der Malerei. Mit seinen realistischen Landschaftsbildern aus dem Sudan kann er aber nicht genug verdienen. Daher malt er auch romantische Porträts, die mehr einbringen. Da sein Augenlicht immer schwächer wird, beschließt er, sein Meisterwerk, das Gemälde Melancholia, noch zu vollenden, bevor die vollständige Erblindung das Malen unmöglich macht. Als Modell für das Gemälde dient ihm die Prostituierte Bessie. Als das Gemälde fertig ist, bricht Dick erschöpft zusammen. Bessie zerstört das Gemälde. Als Dick später seine Freundin Maisie einlädt, das Gemälde zu besichtigen, das er nun nicht mehr sehen kann, bringt diese es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es zerstört wurde. Aber Bessie kommt zurück und sagt ihm, was sie getan hat. Verzweifelt schließt sich Dick seiner alten Truppe im Sudan wieder an. Als die Truppe in eine Schlacht zieht, überredet er seinen Freund Torpenhow, ihn auf ein Pferd zu setzen. Er reitet mit der Truppe mit, wird vom Pferd geschossen und stirbt.

Eine von Kiplings berühmtesten Balladen ist The Ballad of East and West, die mit “Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet” beginnt. Die Ballade berichtet von den Konflikten zwischen den Briten und Eingeborenen in Indien. Sie ist im Stil einer sogenannten Border Ballad verfasst.

1892 heiratete er Caroline Balastier; ihr Bruder, ein amerikanischer Autor, war ein Freund Kiplings. Kipling lebte mit seiner Frau die nächsten vier Jahre in den Vereinigten Staaten. In dieser Zeit begann er Kinder- und Jugendbücher zu schreiben, unter anderem sein heute in Deutschland (auch durch den Disney-Zeichentrickfilm) bekanntestes Werk Das Dschungelbuch (The Jungle Book) und Das zweite Dschungelbuch (The Second Jungle Book), die in den Jahren 1894 und 1895 entstanden.

Nach Streitereien mit Verwandten kehrte die Familie nach England zurück. 1897 veröffentlichte Kipling den Roman Captains Courageous: A Story of the Grand Banks (auf Deutsch erschienen unter den Titeln Die mutigen Kapitäne, Brave Seeleute, Über Bord, Junge Abenteurer auf See und Fischerjungs), in dem er Erlebnisse und Eindrücke aus Amerika verarbeitete. Der Held dieser Abenteuergeschichte ist Harvey Cheyne, ein verzogener und verzärtelter Millionärssohn. Während einer stürmischen Atlantiküberquerung fällt er über Bord und wird vor der Küste von Neufundland von der Mannschaft des Kabeljaufischers We’re Here aus Gloucester gerettet. Die Fischer glauben nicht an den Reichtum seines Vaters und weigern sich, mitten in der einträglichen Fangsaison an die Küste zurückzukehren, um Harvey abzusetzen. So ist er gezwungen, sich mit der Situation abzufinden und auf dem Boot seiner Retter seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Buch kann als „Bildungsroman viktorianischer Prägung“ bezeichnet werden: körperliche Abhärtung, Selbstbeherrschung und die Bereitschaft, gehorchen zu lernen und gelegentlich eine Tracht Prügel hinzunehmen, waren nach Meinung Kiplings und der Verfechter der viktorianischen Tradition die Voraussetzungen, unter denen Knaben zu Männern werden. Der einst vor allem bei jugendlichen Lesern sehr populäre Abenteuerroman ist ohne jeden Gefühlsüberschwang geschrieben und schildert realistisch und spannend das Leben auf See. Der kraftvolle Stil ist von Robert Louis Stevenson beeinflusst, wird aber – was Knappheit und Konzentration auf das Wesentliche betrifft – von Kipling noch übertroffen.

Ebenfalls 1897 entstand anlässlich des 60. Thronjubiläums von Königin Victoria das Gedicht Recessional – ein pessimistischer, warnender Blick auf die Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit des Britischen Empire. Im folgenden Jahr reiste Kipling nach Afrika, freundete sich mit dem britischen Imperialisten Cecil Rhodes an und begann erneut Material für ein weiteres Kinderbuch zu sammeln, Genau-so-Geschichten (Just so Stories), das 1902 erschien. Kipling schrieb dieses Buch für seine Tochter Josephine. In diesen phantasie- und humorvollen Geschichten versuchte er, die ständigen Warum-Fragen kleiner Kinder auf heitere Weise zu beantworten. Dazu gehören zum Beispiel: Wie das Elefantenkind seinen Rüssel bekam, Wie der Leopard zu seinen Flecken kam und Wie der erste Brief geschrieben wurde. 1899 wurde Kipling in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Zu einem Synonym des Imperialismus wurde der Titel seines Gedichts The White Man’s Burden von 1899, mit dem er die Zivilisierung der „Wilden“ zu einer ethischen Last verklärt, die dem „weißen Mann“ auferlegt sei. Vor dem Hintergrund des Spanisch-Amerikanischen Krieges, in dem die USA Kuba und die Philippinen eroberten, richtet sich das Gedicht an den US-Präsidenten Theodore Roosevelt, mit dem Kipling persönlich bekannt war. Kiplings Botschaft ist, dass moderne, dynamische Staaten wie die USA die stagnierenden europäischen Kolonialmächte wie Spanien zurückdrängen und die Bürde für die Entwicklung der Menschen in den Kolonien auf ihre Schultern nehmen müssen. Das Gedicht gilt als eines der wesentlichen Zeugnisse des Imperialismus; sein Titel wurde sprichwörtlich.

1901 erschien der Roman Kim, der bis heute als eines von Kiplings bedeutendsten Werken gilt. Kim, Sohn eines irischen Soldaten, wächst als Waisenkind auf den Straßen von Lahore auf, wo er trotz seiner britischen Abstammung als „Eingeborener“ gilt. Den Roman durchzieht eine Kriminal- und Spionagegeschichte, die als Anlass dient, Kim durch große Teile Indiens reisen und die jeweiligen Gebräuche erleben zu lassen. Der Roman war das Lieblingsbuch von Jawaharlal Nehru. Er gilt – auch in Indien – als eine der besten literarischen Darstellungen Indiens in der Kolonialzeit.

Während des Burenkriegs hielt sich Kipling zeitweise in Südafrika auf. 1907 wurde ihm als erstem englischen Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen. In diesen Jahren entstanden zwei Poesie- und Erzählbände: 1906 Puck of Pook Hill und 1910 Belohnungen und Feen (Rewards and Fairies). Dieser Band enthält eines seiner beliebtesten Gedichte: If—, das Khushwant Singh als beste Kurzzusammenfassung der Bhagavad Gita bezeichnet hat.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudyard_Kipling

So viele Kinderbücher kann der Wurm da nicht erkennen. Kurzum: Wer Rudyard Kipling als Kinderbuch-Autor abtut, ist dumm.

Im „Projekt Gutenberg“ gibt’s noch weitere Geschichten von ihm zu lesen:

http://gutenberg.spiegel.de/autor/rudyard-kipling-322

Hier gibt es viele seiner Geschichten im englischen Original:

http://www.gutenberg.org/browse/authors/k#a132

Und eine interessante Seite, die sich mit ihm beschäftigt:

http://www.kiplingsociety.co.uk/kip_fra.htm

Imperialist?

Alexander Pechmann: „Als Kind seiner Zeit zweifelte er nicht an der Rechtmäßigkeit der Kolonialisierung und hielt es, wie viele seiner Landsleute, sogar für eine moralische Pflicht, die Segnungen westlicher Zivilisation in die Welt zu tragen. Er glaubte, dass sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt ohne die britischen Kolonialherren undenkbar wäre und dass der Frieden zwischen den Religionen und Bevölkerungsgruppen des Kolonialreichs nur durch eine starke Militärmacht bewahrt werden könnte. Dass dieses Militär oft genug dazu benutzt wurde, gewaltsam wirtschaftliche Interessen einzelner Unternehmer durchzusetzen, ignorierte Kipling. Jene, die sich den Besatzern entgegenstellen, werden schlicht „dacoits“ oder „dakus“ genannt – bewaffnete Banditen -, nach den Motiven für den Widerstand fragt der Autor nicht. Es wäre jedoch zu einfach, Kiplings Reportagen als Werk eines überzeugten Imperialisten abzustempeln. Zu seiner Vorstellung vom britischen Weltreich gehörte immer auch eine grundlegende Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen. Er war ein entschiedener Gegner der christlichen Missionierung, und er rechnete damit, dass die Kolonien früher oder später ihre Unabhängigkeit erlangen würden. Die durch westeuropäischen Einfluss begonnenen Modernisierungsprozesse in Fernost betrachtete er durchaus kritisch. Zur Zeit von Kiplings Asienreise standen diese gesellschaftlichen Entwicklungen, die im Grunde den Ursprung unserer gegenwärtigen Globalisierung darstellen, noch ganz am Anfang. Dennoch erlaubte er sich während seines Japanaufenthalts die Frage, ob die Übernahme westlicher Technologie, Mode, Kultur, Industrie und Politik nicht zwangsläufig zum unwiederbringlichen Verlust der ureigenen Traditionen, des Lebensstils und der kulturellen Leistungen führen musste.“

Der heutige Gutmensch macht es sich einfach, die heutige politische Korrektheit auf vergangene Zeiten anzuwenden.

Rudyard Kipling muss auf jeden Fall zugute gehalten werden, dass er sich in die kolonialisierten Völker hinein versetzen und sie verstehen kann und sie realistisch beschreibt. Und das Verhalten der kolonialistischen Gesellschaft durchaus kritisiert. Als Beispiel dafür mag die Kurzgeschichte „Lispeth“ gelten: http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlichte-geschichten-aus-den-indischen-bergen-5978/2

Interpretierbar ist Rudyard Kiplings Gedicht „Die Bürde des Weißen Mannes“. Vielfach gilt es als Warnung, dass zuerst große Mühen und viele Tote warten und es kaum Dank dafür geben wird. Möge jeder sich sein eigenes Urteil bilden:

https://de.wikipedia.org/wiki/The_White_Man%E2%80%99s_Burden

„Die Vorstellung, daß die Sklavenbefreiung der Güte einer weisen Elite zu danken sei, hatte für viele Briten etwas tief Beruhigendes. Dieses Vertrauen in wohlmeinende britische Absichten verwandelte sich allmählich in die Rechtfertigung von mehr als 100 Jahren Eroberung und Kolonialismus in Afrika und einer immensen und oft blutigen Expansion der imperialen Territorien in Indien und Fernost.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/139-irgendein-mensch-sollte-darum-besorgt-sein-diesem-schrecken-ein-ende-zu-machen.html

Was mensch auch immer davon halten mag – diese „wohlmeinenden britischen Absichten“ hatten nun wirklich nicht alle, aber doch viele. Wenn Rudyard Kipling der Überzeugung war, „dass sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt ohne die britischen Kolonialherren undenkbar wäre und dass der Frieden zwischen den Religionen und Bevölkerungsgruppen des Kolonialreichs nur durch eine starke Militärmacht bewahrt werden könnte“, wird er nicht Unrecht gehabt haben.

Den kolonisierten Völkern zumindest in Teilen die „Zivilisation“ zu bringen, war eine nicht zu unterschätzende Motivation des Kolonialismus. Zivilisation, die sich unter anderem in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen, Rechtswesen, Gleichberechtigung der unterschiedlichen Völker und technischem Fortschritt auswirkte. Nicht zu unterschätzen ist die Eigenart der Europäer (im Gegensatz zu den meisten Einheimischen), die Geschichte, Kultur, Geographie, Fauna und Flora der kolonialisierten Völker detailliert zu beschreiben und eventuell Museen über diese Themen anzulegen, damit auch die Einheimischen sich einen Eindruck von ihrer Kultur machen konnten (Rudyard Kiplings Vater war Leiter des Museums von Lahore).

Dass die Kolonien durch Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft und von Rohstoffen sowie auf der anderen Seite dem Zwang, Waren aus dem „Mutterland“ abnehmen zu müssen, wirtschaftlich zu leiden hatten, ist ein anderer Punkt. Der übrigens noch heute im Gange ist. Mensch schaue sich nur die Lebensmittel in den jeweiligen Supermärkten an. Ob in Osteuropa oder in Afrika – die Lebensmittel kommen zu einem großen Teil aus Westeuropa, so dass es sich für die einheimischen Bauern kaum noch lohnt, selbst etwas anzubauen.

Wer sich mit einem Menschen aus einer früheren Kolonie unterhält, wird oft zu hören bekommen „Ja, der europäische Kolonialismus war schlimm, sehr schlimm sogar – aber ohne diesen Kolonialismus wäre es noch schlimmer gewesen". Alleine dadurch, dass sich die unterschiedlichen Völker gegenseitig abgeschlachtet hätten.

Eine Geschichte aus Marokko, die durchaus auch für andere Länder typisch ist: Wer sich einen Fahrer bucht und im Hohen Atlas eine Tages-Tour unternimmt, kann dann vom Fahrer zu hören bekommen: „Mein Großvater war am Bau dieser Gebirgs-Straße durch die Franzosen beteiligt. Die Franzosen mögen eigene Vorteile durch die Straße gehabt haben – aber sie kommt allen Einwohnern zugute. Die eigenen Herrscher hätten diese Straße nicht bauen lassen. Sie wären weder am Wohlergehen des Landes noch an dem der Einwohner interessiert gewesen. Ihr Interesse galt und gilt ausschließlich ihrem eigenen Wohlergehen.“

Gegen das Argument des Bringens der zivilisatorischen Fortschritte gibt es Gutmenschen, die der Meinung sind, die kolonialisierten Völker hätte mensch in Ruhe ihren eigenen Weg gehen lassen sollen.

Bei diesem Argument des sich-nicht-Einmischens sollte der Gutmensch allerdings berücksichtigen, dass es dann mit dem Schutz von Minderheiten aber sehr schnell aus gewesen wäre.

Der Wurm nimmt sich auch heute durchaus das Recht heraus, Staaten und Gesellschaften, die anhand ihrer Traditionen leben, zu kritisieren. Nein, es ist nicht in Ordnung, Kindern Teile des Körpers abzuschneiden (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/25-tiefer-schnitt-ins-leben.html ), Frauen als Menschen 2. Klasse zu behandeln oder einem Dieb die Hand abzuhacken (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/41-frau-am-steuer-ungeheuer.html).

Lange Rede, kurzer Sinn: Nein, der Wurm macht Rudyard Kipling keinen Vorwurf, ein böser Imperialist gewesen zu sein.

 

Legendärer Namibia-Forscher Heinrich Vedder

 

Zum Schluss noch ein Bericht über den Namibia-Forscher Heinrich Vedder, der den positiven Kolonialismus verkörpert. Gleichzeitig wird klar, dass der „edle Wilde“ der früheren und heutigen Gutmenschen ein Hirngespinst ist.

„Auf Heinrich Vedder bin ich eher zufällig gestoßen. Relativ ziellos habe ich im Shop vom Museum von Swakopmund im Bücherregal rumgestöbert und bin auf die „Geschichten am Lagerfeuer“ gestoßen.

Im Klappentext heisst es: „… Manch einem älteren Leser werden die Geschichten von Dr. Vedder aus früheren Afrikanischen Heimatkalendern, die in den beiden Büchern „Am Lagerfeuer“ und „Am Lagerfeuer der andern“ zusammengefasst waren, noch in wehmütiger Erinnerung sein. Die Geschichten berichten einfühlsam von Land und Leuten, Sitten und Gebräuchen, Pflanzen und Tieren. So hat sich die Namibia Wissenschaftliche Gesellschaft entschlossen, eine Auswahl der schönsten Geschichten unter einem ähnlichen Titel neu zu veröffentlichen …“

Na, das war doch genau das Richtige. Tatsächlich war das Buch noch besser, als ich dachte.

Die Geschichte der Missionare als Teil des Kolonialismus ist oft sehr unschön, um es harmlos auszudrücken. Aber es gab auch viele Aufrechte unter ihnen, die sich um die einheimische Bevölkerung kümmerten, sich an deren Geschichte und Kultur interessierten. Zu dieser Sorte Missionar zählte Heinrich Vedder (1877-1972).

Als er 1903 für die Rheinische Mission nach Namibia kam, machte er sich sofort an das Studium der unterschiedlichen Sprachen der einheimischen Völker, analysierte die Sprachstrukturen, legte Wörterbücher an und verfasste erste Grammatiken. Später schrieb er Schulbücher in diesen Sprachen.

Neben unzähligen Veröffentlichungen ist es vor allem ein Buch, das als Standardwerk der Landesgeschichte gilt. Es trägt den Titel „Das alte Südwestafrika“ und beschreibt die Historie von der Entdeckung der südwestafrikanischen Küste bis zum Tode Mahareros im Jahre 1890.

Im Begleittext zu seiner Biographie heisst es: „Geboren als Sohn eines kleinen Ravensberger Heuerlings, wurde er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten Südwestafrikas, der Zeit seines Lebens von Idealismus und Selbstlosigkeit durchdrungen war. Das Leben Dr. Heinrich Vedders, eines bescheidenen, in sich ruhenden und gütigen Menschen, war beherrscht von dem Streben nach Erkenntnis. Er war nicht nur Missionar, sondern auch Historiker, Sprachforscher, Völkerkundler und Lehrer.“

Aus dem „Lagerfeuer“-Buch geht hervor, dass er auch noch als Arzt tätig war und 1925 Gründungsmitglied der Südwestafrikanischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.

Ein hoch gebildeter Mensch also, der aber aus der Praxis kommt, die Praxis und die einfachen Menschen liebt. In seinen Geschichten spürt man schon eine leichte Distanz zu den Theoretikern „aus dem Norden“ oder dem „gelehrten Professor aus einer Universitätsstadt Südafrikas“ und zu sonstigen „gelehrten Leuten“.

Vedder liebt das Land und seine Leute über alles. Er schildert zwar die „zehn Plagen“ (allerlei schädliche Insekten, Unkraut, Hitze, Dürre, Überschwemmungen nach heftigen Regenfällen), aber: „Und dennoch lieben wir unser Land und seine Sonne und seine Weiten und seinen blauen Himmel und seine stillen, leuchtenden Sterne … Zehn Plagen? Lass gut sein! Andere Länder haben auch ihre Plagen und ein jeglicher Tag sogar hat seine eigene Plage …“ Mit Begeisterung folgen dann die „zehn Vorzüge Südwest-Afrikas“.

Das Streben nach Erkenntnis lässt ihn über Gott und vor allem die Welt forschen. Im „Lagerfeuer“-Buch beschreibt er 4 „merkwürdige Bäume“, den Webervogel und freut sich mit den Kindern an der Natur, auch dann, wenn er entdeckt, dass seine kleine Tochter einem Ochsenfrosch ein Kleidchen anzieht und mit zu sich ins Bett nimmt.

Wir erfahren einiges über die afrikanischen Sprachen, speziell über die der Nama mit ihren Schnalzlauten, über alte Rechtsprechung bei den Herero (Sohn des Häuptlings klaut im Laden eines finnischen Kaufmanns eine Uhr, Häuptling beschimpft Sohn und lässt ihn schlagen, Sohn fühlt sich entehrt und bringt sich um, nach dreitägigen Beratungen wird finnischer Kaufmann für schuldig am Tod des Häuptlings-Sohnes befunden (er mit seiner Uhr steht ja am Anfang der Kette) und dazu verurteilt, dem Häuptling 40 Ochsen für den Verlust des Sohnes zu zahlen, Kaufmann verzweifelt, befreundeter Missionar rät ihm, erst mal als Zeichen des guten Willens 3 oder 4 Ochsen abzuliefern, Kaufmann tut das und hat fortan seine Ruhe) und wir erfahren über weitere landeskundliche Sachen wie alte angebliche Grabstätten.

Schön sind die Erlebnisse, die Vedder mit den Eingeborenen hat: Es kommt zu wunderlichen Missverständnissen und Vedder lernt einiges von ihnen, gerade im medizinischen Bereich.

Breiten Raum nehmen im „Lagerfeuer“-Buch die Buschmänner ein. Vedder lebte jahrelang in deren unmittelbarer Nähe und kennt sie wie kein zweiter. Er selbst unterscheidet zwischen den San im Westen und Norden Namibias sowie den Kalaharibuschmännern, die in der Kalahari leben. In der Lebensweise unterscheiden sie sich kaum voneinander, wohl aber in Körperbau, Sprache, Sitten und Gebräuchen.

Am meisten bekannt waren mir die Buschmänner von 2 Filmen vom südafrikanischen Regisseur Jamie Uys: „Die lustige Welt der Tiere“ und „Die Götter müssen verrückt sein“. Beides lustige Filme, die dieses Völkchen sympathisch rüber bringen. Aber natürlich nur oberflächlich. Vedder ist da sehr genau und hinterher meint man, alles über sie zu wissen. Über die mir auffälligsten Sachen will ich hier kurz schreiben:

Es werden Leute umgebracht aus Gründen, die für einen heutigen Europäer kaum verständlich sind:

- die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Sippen sind sehr genau bekannt. Übertritt ein Mann oder eine Frau diese Grenze, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Giftpfeil von der heimischen Sippe abgefeuert wird. Vedder erklärt dies damit, dass das Gebiet kaum die eigene Sippe ernähren kann und ein Eindringling die wenigen Ressourcen auch noch entwendet. So weit, so gut. Das aber führt dann unweigerlich zur Blutrache, die dann ziemlich brutal ausgefochten wird. Es gibt kaum zwei Sippen, die miteinander befreundet sind.

- eine untreue Frau wird von ihrem Mann umgebracht

- Verstoß gegen Traditionen können ebenfalls tödlich enden. Vedder schildert einen Fall, bei dem eine Frau vor dem Neujahrsfest wilde Zwiebelchen ausgrub, um sie zu essen – ihr Mann schlug sie kurzerhand tot

- Diebstahl innerhalb der eigenen Sippe; Vedder berichtet allerdings nur von Kindern, die getötet werden

- Vedder erzählt die Geschichte eines Bergdama, der zufällig zu den Hütten der Buschmänner gelangt und in Panik gerät: Mit Sicherheit wird ihm unterstellt, zum Klauen hier zu sein. Flüchten macht keinen Sinn, da die Buschmänner ihn gleich verfolgen würden. Die Überlegung, dem Vormann der Buschmänner ein Stück Tabak zu schenken, verwarf er gleich wieder: Die Männer, die nichts bekommen, werden neidisch, ihm zürnen und ihn erschlagen. Die Idee: Er zerschabt seinen Tabak, zündet sich bei der Ankunft der Buschmänner seine Pfeife an, begrüßt sie und gibt die Pfeife ringsum. Und alle sind zufrieden.

Jean-Jacques Rousseau ist einer der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit. Unter anderem sind heute der Begriff „zurück zur Natur“ und die Idee vom „edlen Wilden“ in aller Munde und in den meisten Köpfen. Vedders Ausführungen haben mir wieder vor Augen gebracht, dass bei aller Sympathie der „Wilde“ leider nicht edel ist.

Weitere Auffälligkeiten: Buschmänner sparen nicht, legen keine Vorratshaltung an. Wäre bei ihrer Lebensweise auch kaum möglich. Wenn es etwas zu futtern gibt, ist es schnell weg, auch wenn es noch so viel ist. Vedder erzählt, dass er mal für einen Monat weg musste und für diese Zeit „seine“ Buschmänner mit ordentlich Mais versorgte. Er kam jedoch schon nach einer Woche zurück – und der ganze Mais war weg. Ein Bergdama berichtete ihm, dass die Buschmänner Tag und Nacht Mais gekocht und gegessen hätten …

Wenn man ein paar Spielregeln beachtet, wird der Buschmann das Eigentum anderer respektieren. Es ist kein Problem, auf Buschmannland eine Farm zu errichten. So lange die Buschmänner Wild jagen, Veldkost sammeln und Zugang zur Wasserstelle haben können. Ist dies nicht der Fall, gibt es Probleme. Bevor ihn ein Giftpfeil von einer anderen Buschmannsippe ereilt, holt er sich lieber Vieh vom Farmer – von irgend was müssen die ja leben.

Vedder weiss noch viele weitere interessante Geschichten über die Buschmänner (und nicht nur die) zu erzählen. Ich wollte in dem Zusammenhang erwähnen, dass heute nur noch sehr wenige Buschmänner ihr traditionelles Leben führen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Es ist ein Genuss, die Geschichten von Heinrich Vedder zu lesen. Jeder, der sich für das frühere Namibia interessiert, wird in seinen Schriften fündig werden.“

http://www.geo.de/reisen/community/tipp/507927/Namibia-Die-Stellung-des-Missionars

http://www.namibiana.de/de/catalogsearch/result/?order=relevance&dir=desc&q=Vedder+Heinrich

http://www.edwin-grub-media.de/reiseberichte/afrika/namibia.html