Go East

Der Wurm sagt: „Und da gibt es Leute, die allen Ernstes behaupten, dass die Frieden liebenden europäischen Staaten gar keinen Krieg wollten, sondern „hineingeschlittert“ seien. Menschen tendieren dazu, je öfter sie einen vollkommenen Blödsinn hören, diesen umso mehr zu glauben. Ein Wurm kann jedoch logisch denken und geht davon aus, dass solche Menschen, die diesen Unfug mit dem „Hineinschlittern“ in den 1. Weltkrieg von sich geben, entweder dumm sind oder lügen. Aus welchen Gründen auch immer.“ http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/109-platz-an-der-sonne.html

 

Passend dazu ein Zitat von George Orwell: "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit."

Staaten machen gewöhnlicherweise für ihre Außenpolitik Langzeitpläne. Damit das Volk nicht gegen unpopuläre Entscheidungen rebelliert, werden für die Kontrolle der Gegenwart Journalisten eingespannt und für die Kontrolle der Vergangenheit Historiker.

Um die Historiker vorwegzunehmen, für die sich der 1. Weltkrieg als Zukunftsmodell anbietet:

- es gibt keine Schuldigen am Krieg, vor allem nicht Deutschland (alle sind „hineingeschlittert“)

- wenn es deutsche Kriegsverbrechen gab, werden sie relativiert mit dem Ziel, sie als unbedeutend darzustellen

-  der Krieg ging in die falsche Richtung – eigentlich hätte er zur Gänze Richtung Osten gehen müssen

- Historiker, die früher etwas anderes behaupteten, werden diffamiert, etwa, indem sie „unsauber“ arbeiteten oder ihre Thesen als „überholt“ gelten

 

Ein Vertreter dieser Sorte ist Jörg Friedrich, der von den „natürlichen Ausdehnungsräumen“ des deutschen Staates daher faselt und dass Deutschland den falschen Krieg geführt hätte  – anstatt sich unnötigerweise mit dem Westen abzuplagen, hätten die vereinten Kräfte gleich Richtung Osten gehen sollen.

Passt ganz gut in die derzeitige Politik. Der Wurm hatte letztes Mal noch behauptet, wer behauptet, dass Deutschland oder die am Krieg beteiligten Regierungen in den Krieg „hinein geschlittert“ seien, sei dumm oder er lügt. Möglicherweise trifft auf Jörg Friedrich und Konsorten beides zu.

http://www.dctp.tv/filme/joerg-friedrich-kriege-ohne-grund/

https://www.youtube.com/watch?v=nHyzqMQtsc8

http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2210772/%221-Weltkrieg-nicht-nur-deutsche-Schuld%22

 

In einem lesenswerten Artikel kommen Ulrich Rippert und Peter Schwarz zu folgendem Schluss: „Nun hat sich der deutsche Imperialismus erneut das Ziel gesetzt, die Ukraine, Georgien und andere Länder, die einst der Sowjetunion und dem Zarenreich angehörten, aus dem Einflussbereich Moskaus zu lösen und in den Einflussbereich der von Deutschland dominierten Europäischen Union einzugliedern. Er arbeitet dabei mit politischen Kräften wie der Partei Swoboda und der Vaterlandspartei zusammen, die Skoropadsky und den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera als Nationalhelden verehren.“

https://www.wsws.org/de/articles/2014/07/31/muen-j31.html

 

Der Wurm wird gleich ausführlich aus diesem Artikel zitieren. Vorher wollte er noch kurz auf die Journalisten und deren Kontrolle der Gegenwart eingehen. Wer sich in der letzten Zeit gewundert haben sollte, warum alle deutschen Leitmedien in Bezug auf Russland und die Ukraine einen dermaßen Unfug zusammen schreiben und offensichtlich übelste Propaganda betreiben (siehe etwa http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/95-kriegshetzer.html oder http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/106-falsche-flagge.html ), braucht sich jetzt nicht mehr zu wundern: das Ziel der deutschen Außenpolitik liegt in den "natürlichen Ausdehnungsräumen" und der Schwächung Russlands. Notfalls mit militärischer Gewalt.

 

Propaganda in Zeiten des Krieges

Anbei ein Auszug aus einem Artikel von Mathias Bröckers über Kriegspropaganda:

„Am Beispiel des Ersten Weltkriegs formulierte Arthur Ponsonby 1928 die Strukturgesetze der Kriegspropaganda - sie gelten, wie die aktuelle Berichterstattung über die Ukraine zeigt, noch immer.

Von Lord Arthur Ponsonby (1871-1946), einem britischen Politiker und Friedensaktivisten, stammt nicht nur das berühmte Diktum, dass das erste Opfer des Kriegs die Wahrheit ist - "When war is declared, truth is the first casualty". In seinem 1928 veröffentlichten Buch "Falsehood in Wartime" ("Lüge in Kriegszeiten") versuchte Ponsonby auch die Strukturelemente dieser Lügen und Fälschungen zu beschreiben, wie er sie am Beispiel des Ersten Weltkriegs beobachtet hatte:

- Wir wollen den Krieg nicht.

- Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung.

- Der Führer des Gegners ist ein Teufel.

- Wir kämpfen für eine gute Sache.

- Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen.

- Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich.

- Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.

- Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.

- Unsere Mission ist heilig.

- Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

In ihrem Buch über "Die Prinzipien der Kriegspropaganda" (Präzisionsschläge sorgen für Kollateralschaden) hat die Historikerin Anne Morelli 2004 diese von Ponsonby definierten Prinzipien auf ihre Gültigkeit abgeklopft und vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Kriegen in Jugoslawien und Irak zahlreiche Belege dafür gefunden:

"Wir schenken heute Lügenmärchen genauso Glauben wie die Generationen vor uns. Das Märchen von kuwaitischen Babys, die von irakischen Soldaten aus ihren Brutkästen gerissen wurden, steht dem von belgischen Säuglingen, denen man angeblich die Hände abgehackt hat (dies wurden den deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg zugeschrieben), in nichts nach.

Ponsonbys Prinzipien scheinen tatsächlich so etwas wie die zehn Gebote der medialen Kriegsführung darzustellen - und sind auch in dem aktuellen Konflikt um die Ukraine Punkt für Punkt zu beobachten. "Wir", der Westen, USA/EU/NATO, wollen natürlich keinen Krieg, fordern aber von den Bürgern größere "Rüstungsanstrengungen" (Nato-Sprecher Rasmussen) und mehr "militärische Verantwortung" (Gauck) auf sich zu nehmen. Das gegnerische Lager ("Russen" und "Pro-Russen") zwingt uns dazu, denn ihre Führer sind echte Teufel ("Putin") - die Titelseiten von "Newsweek" (Jetzt reicht es!) und "Spiegel" (SPIEGEL schließt Russland-Forum nach drei Stunden) in dieser Woche lassen keinen anderen Schluss zu. Wir dagegen kämpfen natürlich immer für die gute Sache: für "Mädchenschulen" in Afghanistan, für "Demokratie" im Irak, gegen einen irren "Diktator" in Libyen, den "Schlächter" Assad in Syrien und an der Seite der "Zivilgesellschaft" in der Ukraine. Für "Freiheit" und "Menschenrechte" betreiben wir "humanitäre Interventionen", die durch ihre "Präzisionsschläge" die unvermeidlichen "Kollateralschäden" so gering wie möglich halten …

Das dröhnende Schweigen, mit dem USA/NATO/EU auf die Veröffentlichung von Radar- und Satellitendaten zum MH-17-Absturz durch den russischen Generalstab reagierte, spricht Bände - nicht nur in Bezug auf die Qualität der zuvor geäußerten wüsten Anschuldigung in Richtung Russland, sondern auch auf die Verkommenheit der westlichen Medien, die eine Aufklärung der Unglücksursache und eine Offenlegung der ukrainischen und amerikanischen Daten nicht einmal fordern. Geschweige denn, ihre Regierungen für diese Nicht-Aufklärung in irgendeiner Weise kritisieren. Stattdessen wird mit den oben zitierten Titelbildern die faktenfreie Propaganda um eine weitere Stufe eskaliert.

"Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie's lesen", notierte der Wiener Schriftsteller Karl Kraus, nachdem auf eine Falschmeldung der deutschen und österreichischen Presse über einen französischen Bombenabwurf auf Nürnberg Ende Juli 1914 unmittelbar die Kriegserklärung an Frankreich erfolgt war. Dieser fingierte Bericht war für ihn die Urlüge und das Paradebeispiel für die Manipulation der Massen in Kriegszeiten, die Kraus dazu führte, "den Journalismus und die intellektuelle Korruption, die von ihm ausgeht, mit ganzer Seelenkraft zu verabscheuen".

Wer derzeit die Medien unter Berücksichtigung der Strukturgesetze von Arthur Ponsonby beobachtet, kann sich diesem Abscheu nur anschließen.“

http://www.heise.de/tp/artikel/42/42386/1.html

 

Go East

Wie versprochen, aus dem Artikel von Ulrich Rippert und Peter Schwarz:

„Der hundertste Jahrestag des Ersten Weltkriegs hat in Deutschland eine Flut von Artikeln, Kommentaren, Buchveröffentlichungen, Sondersendungen und Veranstaltungen aller Art ausgelöst. Sie beschränken sich nicht darauf, die „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ nachzuerzählen; vielmehr gibt es gezielte Bemühungen, das bisherige Verständnis der Ursachen des Kriegs und der Verantwortung Deutschlands zu revidieren und in Übereinstimmung mit den neuen außenpolitischen Zielen der deutschen Regierung zu bringen.

Eine zentrale Rolle spielen dabei heftige Attacken auf den Hamburger Historiker Fritz Fischer (1908–1999), der seit den 1960er Jahren das Verständnis der deutschen Kriegspolitik maßgeblich geprägt hat. An der Spitze dieser Attacken steht Herfried Münkler, der an der Berliner Humboldt-Universität politische Theorie lehrt.

Münkler führt einen regelrechten Feldzug gegen Fischer. Er veröffentlicht seine Angriffe auf den renommierten Historiker in einem breiten Spektrum von Publikationen, das von den in der Tradition der Frankfurter Schule stehenden Blättern für deutsche und internationale Politik über den Spiegel und die Süddeutsche Zeitung bis hin zum elitären Rotary Magazin reicht. Er tritt regelmäßig in öffentlichen Diskussionen auf, spricht auf offiziellen Veranstaltungen des Bundespräsidenten und berät politische Parteien, die Bundesregierung sowie die Bundeswehr.

Münklers Attacken auf Fischer zeichnen sich durch ihren gehässigen Ton und ihren Mangel an inhaltlicher Substanz aus. Er hat dem international anerkannten Historiker öffentlich vorgeworfen, seine Erkenntnisse seien „hanebüchen“, „unhaltbar“ und seine „Methodik würde heute in keinem Proseminar mehr akzeptiert“. Dabei greift er zu Verdrehung und Lügen und unterstellt Fischer Auffassungen, die dieser nie vertreten und wiederholt zurückgewiesen hat …

Vor allem aber wurde jeder Zusammenhang zwischen den Kriegszielen des Kaiserreichs und denen der Nazidiktatur kategorisch geleugnet. Das Hitlerregime galt als „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte, der weder mit den vorangegangenen noch mit den nachfolgenden Ereignissen etwas zu tun hatte.

Diese Frage war von außerordentlicher politischer Brisanz. Die Kontinuität der deutschen Eliten in Wirtschaft, Staat und Politik war in der Nachkriegszeit unübersehbar. Die großen Wirtschaftsunternehmen waren an ihre alten Besitzer zurückgegangen, die Hitler finanziert hatten. In hohen Staats- und Regierungsämtern, in der Justiz und auf den Lehrstühlen der Universitäten saßen viele Unterstützer und Mitläufer der Nazi-Diktatur, deren Karriere teilweise bis ins Kaiserreich zurückreichte. Die Anerkennung einer Kontinuität der deutschen Politik, die von Wilhelm II bis zu Hitler reichte, hätte die gesamten herrschenden Eliten diskreditiert und die Behauptung, lediglich Hitler und seine engsten Getreuen seien für die Verbrechen der Nazis verantwortlich gewesen, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen lassen.

Fritz Fischer durchbrach diesen offiziellen Konsens. Als er im Oktober 1961 sein Buch „Griff nach der Weltmacht“ vorlegte, löste er einen Sturm der Entrüstung aus und wurde von konservativen Historikern und Politikern heftig angefeindet …

Zu Beginn des Jahres verkündeten der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin, die Zeit der militärischen Zurückhaltung sei vorbei, Deutschland werde künftig wieder selbstbewusst und eigenständig in den Krisenregionen der Welt eingreifen. Münkler hat diesen außenpolitischen Kurswechsel mit vorbereitet und wirbt seither in zahlreichen Vorträgen und Artikeln dafür …

Münklers Angriffe auf Fritz Fischer und sein Eintreten für eine aggressivere imperialistische Außenpolitik hängen inhaltlich eng zusammen. Um neue Verbrechen des deutschen Imperialismus vorzubereiten, müssen seine historischen Verbrechen, zu deren Verständnis Fischer maßgeblich beigetragen hat, verharmlost und beschönigt werden.

Fritz Fischer hatte in den 1960er Jahren den ersten großen Historikerstreit im westlichen Nachkriegsdeutschland ausgelöst. Es ging dabei um die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg sowie um die Kontinuität der deutschen Kriegsziele im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Der zweite Historikerstreit entbrannte 1986, als Ernst Nolte versuchte, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verharmlosen und als verständliche Reaktion auf den Bolschewismus darzustellen.

In beiden Kontroversen setzten sich damals Historiker durch, die eine deutsche Mit- oder Hauptverantwortung für die beiden Weltkriege bejahten: im ersten Fritz Fischer, der eine jüngere Generation von Historikern beeinflusste, die wesentlich zum Verständnis des Ersten Weltkriegs und seiner Ursachen beitrugen; im zweiten die Gegner Ernst Noltes, die eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ablehnten.

Das soll nun geändert werden. Das Geschichtsverständnis soll in Überstimmung mit den neuen Zielen der deutschen Außenpolitik gebracht werden …

Kern des Septemberprogramms war ein wirtschaftlich geeintes Mitteleuropa unter deutscher Hegemonie. Dieses Ziel war von führenden Bankiers und Industriellen wie Walther Rathenau schon lange vertreten worden: „Nur ein durch ein ‚Mitteleuropa‘ verstärktes Deutschland sei in der Lage, sich zwischen den Weltmächten Großbritannien, USA und Russland als ebenbürtige Weltmacht zu behaupten.“ Außerdem sollte Deutschland auf Kosten Frankreichs und Belgiens „ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialreich“ erhalten.

Die deutsche Vorherrschaft in Mitteleuropa sollte durch Gebietsabtretungen Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs, Handelsverträge, die diese Länder in deutsche Abhängigkeit brachten, die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes unter Einschluss Frankreichs, Belgiens, Hollands, Dänemarks, Österreich-Ungarns, Polens und eventuell Italiens, Schwedens und Norwegens sowie die Zurückdrängung Russlands erreicht werden.

Das Septemberprogramm stellte „keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar“, schreibt Fischer, „sondern repräsentiert Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs“ und sollte „im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges“ sein …

Herfried Münkler und eine Reihe weiterer Autoren haben sich zum Ziel gesetzt, die „Dominanz der Fischer-Schule in Deutschland“ zu beenden und „die von Fischer und seinen Schülern vorgenommene Themenversiegelung“ aufzulösen, wie Münkler am 20. Juni in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung schrieb, der die Unterüberschrift „Für eine Abkehr von den Thesen Fritz Fischers“ trägt. Ohne den geringsten Beweis zu liefern, behauptet er: „Die jüngere Forschung neigt inzwischen stärker der Position Ritters zu.“

Es geht dabei um eine „geschichtspolitische Weichenstellung“, wie Volker Ulrich, einer der wenigen Historiker, die Fischer verteidigen, schon im Januar in der Zeit feststellte. „Was den Konservativen im ‚Historikerstreit‘ der achtziger Jahre noch missglückte – nämlich die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zurückzugewinnen, – das soll jetzt gelingen. Es fällt auf, wie matt der Widerspruch bislang war“ …

Man kann die Heftigkeit, mit der Münkler Fischer attackiert, nur im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Lage verstehen. Nach zwei gescheiterten Versuchen unternimmt Deutschland heute einen dritten Anlauf zum „Griff nach der Weltmacht“. Dabei unterliegt es objektiven Faktoren, die sich kaum von jenen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg unterscheiden. Münkler selbst nennt sie im eingangs zitierten Artikel für die Website Review 2014: Deutschlands Rolle als Exportnation, die geopolitische „Mittellage“ Deutschlands in Europa und die sicherheitspolitische Bedeutung der europäischen Peripherie.

Die Europäische Union hat sich seit der Finanzkrise 2008 immer offener als Instrument der deutschen Vorherrschaft über Europa entpuppt. Als stärkste Wirtschaftsmacht diktiert Deutschland die Finanzpolitik der EU und die Angriffe auf die europäische Arbeiterklasse, einschließlich der deutschen. Bethmann Hollwegs „Septemberprogramm“, laut dem nur ein durch ein „Mitteleuropa“ verstärktes Deutschland in der Lage sei, sich zwischen den anderen Großmächten als ebenbürtige Weltmacht zu behaupten, erlebt so seine Auferstehung.

Angesichts wachsender internationaler Rivalitäten und Konflikte wendet sich der deutsche Imperialismus wieder seiner traditionellen Expansionsrichtung zu, dem Osten. Liest man die Werke Fischers im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen in der Ukraine, bekommen sie eine hochaktuelle Bedeutung.

Bereits im „Griff nach der Weltmacht“ war Fischer ausführlich auf die deutsche Ukrainepolitik eingegangen, und 1968 hatte ein Doktorand Fischers, Peter Borowsky (1938-2000), zu diesem Thema promoviert. 1969 fasste Fischer seine Erkenntnisse im Artikel „Hitler war kein Betriebsunfall“ folgendermaßen zusammen: „Zwei Tage nach seinem Beginn als Weltkrieg, am 6. August 1914, nannte der deutsche Reichskanzler als Kriegsziel die Zurückwerfung der russischen Grenze auf Moskau und die Bildung einer Reihe von Pufferstaaten (Finnland, Polen, die Ukraine, Georgien) zwischen Deutschland, beziehungsweise Österreich-Ungarn, und Russland; und im vieldiskutierten Septemberprogramm des Kanzlers vier Wochen später heißt es, dass Russland soweit als möglich von der deutschen Ostgrenze zurückgeworfen und seine Herrschaft über die nicht-russischen Völker gebrochen werden muss.“

Die deutsche Ostpolitik nach der Oktoberrevolution 1917 habe die Ziele von 1914 fortgesetzt und verwirklicht, schreibt Fischer. „Der Friede von Brest-Litowsk (März 1918) war ein Friede des Deutschen Reichs mit Sowjetrussland und einem selbständigen Staat Ukraine, nachdem Polen und Finnland schon vorher zu selbständigen Staaten gemacht worden waren. In den Zusatzverträgen vom August 1918 wurden auch noch Estland und Georgien von Russland abgetrennt. Neben raumpolitisch-strategischen waren es vor allem wirtschaftliche Interessen (die Ukraine als Kornkammer und Lieferant von Erzen), die das Motiv dieser Politik bildeten.“ Russland sei auf seine Grenzen im 16. Jahrhundert zurückgeworfen worden.

Fischer weist darauf hin, dass eine gerade Linie von der deutschen Besetzung der Ukraine zum Milieu Adolf Hitlers in München führt. Unter den ukrainischen Emigranten, die sich dort sammelten, befand sich auch der ehemalige deutsche Statthalter in Kiew, „Hetman“ Skoropadsky. Skoropadsky wurde Mitbegründer des Nazi-Parteiblatts Völkischer Beobachter und seine politischen Vorstellungen flossen in Hitlers „Mein Kampf“ ein. In Hitlers Ostfeldzug spielte die Eroberung der Ukraine dann eine zentrale Rolle. „Die geopolitisch-strategische und ökonomische Zielsetzung (‚Nach Ostland wollen wir reiten!‘) ist Kontinuität des wilhelminisch-alldeutschen Expansionismus“, bemerkt Fischer dazu.“

https://www.wsws.org/de/articles/2014/07/31/muen-j31.html

 

Fischer-Kontroverse und Historiker-Streit

Fritz Fischer wurde schon mehrfach angesprochen. Zum Schluss noch Folgendes, um noch mal deutlich zu machen, wie sehr die Geschichtsschreibung Politik und Gesellschaft beeinflusst – bzw. umgekehrt.

Bernt Engelmann schreibt in „Wir Untertanen“: „Noch jahrzehntelang wurde die Schuld der Führung des kaiserlichen Deutschlands am Ausbruch des Kriegs im August 1914 von Politikern wie Historikern mit Entschiedenheit bestritten. Noch heute gibt es Geschichtsbücher, die die Dinge so darstellen, als seien Kaiser, Reichsregierung und Generalstab in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“, also wider Willen und ohne eigenes Zutun, arglos, allenfalls etwas übermütig, aber doch im Grunde nur, sozusagen durch „höhere Gewalt“. Es ist vor allem das Verdienst Fritz Fischers, der in seinem 1964 erschienen Werk, Griff nach der Weltmacht, den starken Anteil der deutschen Führung am Ausbruch des Krieges von 1914/18 dokumentarisch nachgewiesen hat, wenn heute nur noch verbohrte Nationalisten Deutschlands Unschuld zu beteuern wagen. Und auch die These, niemand hätte 1914 schon ahnen können, wie verhängnisvoll für Deutschland und Österreich die Dinge sich alsbald entwickelten, erweist sich als unhaltbar, nachdem die Geheimen Staatsarchive in Berlin und Wien ihre wohlgehüteten Akten der Forschung geöffnet haben.“

Anders ausgedrückt: bis Anfang der 1960er Jahre gaben in Geschichtsschreibung und Politik national-konservative Spinner den Ton an.

http://de.wikipedia.org/wiki/Fischer-Kontroverse

 

Dirk Kurbjuweit schreibt Folgendes: „Die Bundesrepublik war damals ein Land, das recht gemütlich mit seiner Vorgeschichte lebte. Es gab noch die "nationale Meistererzählung", die Erzählung von der guten Vergangenheit. Sicher, die zwölf Nazi-Jahre waren schrecklich gewesen, aber sie wurden damals weitgehend verdrängt. Die Geschichte davor galt als erträglich bis heroisch, auch die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Die deutschen Historiker der frühen Nachkriegszeit klammerten sich an ein Wort des ehemaligen britischen Premierministers David Lloyd George: "hineingeschlittert". Die Großmächte seien in den Krieg hineingeschlittert. Damit waren alle gleichermaßen schuldig oder unschuldig.

Fischers Thesen machten diese Gemütlichkeit zunichte. Er sah eine Kontinuität der Kriegsziele von 1914 und 1939: große Eroberungen, um die Weltmacht zu erringen. Das Kaiserreich wurde zu einem Vorläufer des Nazi-Regimes, der Erste Weltkrieg zu einer Ouvertüre für den Zweiten …

Fischers Ansicht setzte sich durch. Ob nun "Alleinschuld" oder "erheblicher Teil der historischen Verantwortung" - die nationale Meistererzählung war ruiniert, und das war denen recht, die vom Ende der sechziger Jahre an den Diskurs beherrschten, den 68ern.

Der Historiker Immanuel Geiss, ein Schüler Fischers, resümierte 1972: "Der überwiegende Anteil des Deutschen Reichs am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der offensive Charakter der deutschen Kriegsziele ist nicht mehr umstritten und auch nicht mehr bestreitbar." Basta. Als wäre Geschichte in Stein zu meißeln.

Geiss wusste, wie er diesen Endzustand der Geschichte des Ersten Weltkriegs politisch nutzbar machen konnte. Für ihn ging aus der Fischer-Kontroverse ein neuer Mensch hervor, "der einsichtig gewordene Deutsche". Für den hatte Geiss, aus der Sicht von 1972, eine Handlungsanweisung. Aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ergebe sich "die Notwendigkeit, sich mit einem Status minderer Macht in Europa zu bescheiden", ergebe sich die "endgültige Liquidierung aller patriotischen Reichsträume", also der Wiedervereinigung. "Jeder Versuch, diese politischen Konsequenzen zu umgehen, sich an ihnen vorbeizudrücken, würde unweigerlich zu einer dritten Phase deutscher Machtpolitik und damit in einen dritten, wiederum von Deutschland ausgehenden Weltkrieg hineinführen" …

Am 6. Juni 1986 las Wehler, inzwischen Professor in Bielefeld, in der "FAZ" unter der Überschrift "Vergangenheit, die nicht vergehen will" einen Essay des Kollegen Nolte. Wieder hielt er den Atem an. Aber diesmal las Wehler Sätze, auf die er nicht gewartet hatte, ganz und gar nicht.

Noltes Schrift kulminierte in fünf rhetorischen Fragen: "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ,asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen' Tat betrachteten ("asiatisch" steht bei ihm für besonders grausam -Red.)? War nicht der 'Archipel GULag' ursprünglicher als ,Auschwitz'? War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, dass er den 'Rattenkäfig' nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?" Nolte ließ keinen Zweifel, dass jede dieser Fragen mit Ja zu beantworten sei …

Der Historikerstreit war ausgebrochen. Auf der einen Seite kämpfte die linksliberale Fraktion um Wehler und Habermas gegen einen neuen Revisionismus; auch Rudolf Augstein, Gründer und Herausgeber des SPIEGEL, war ein scharfer Kritiker Noltes. Auf der anderen Seite standen konservative Historiker und Publizisten, darunter Michael Stürmer und Joachim Fest.

Wie die Fischer-Kontroverse fiel auch dieser Streit in die Zeit des Kalten Krieges, als man sich noch ideologisch einsortierte, links gegen rechts. Der Kampf war hitzig, scharf. Eines Tages brannte Noltes Auto auf dem Parkplatz der Freien Universität Berlin.

Der Historikerstreit drehte sich vor allem um zwei Begriffe: Singularität und kausaler Nexus, ein lateinisches Wort für Verbindung. Die linksliberale Fraktion bestand darauf, dass der Holocaust einzigartig sei, an Grausamkeit nicht zu vergleichen mit den Schrecken des Stalinismus. Sie bestand ferner darauf, dass der Holocaust keine Reaktion auf den Gulag war, sondern eine Ausgeburt des deutschen Judenhasses. Singularität, kein kausaler Nexus.

Nichts sollte die deutsche Schuld schmälern. Wieder spielte die Gegenwart eine maßgebliche Rolle. Helmut Kohl regierte, er war ein Kanzler mit Geschichtsbewusstsein, mit Nationalbewusstsein, und er wollte eine konservative Wende, weg von der kulturpolitischen Dominanz der Linksliberalen, die es seit "68" gab. Den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan führte er 1985 auf einen Bitburger Friedhof, auf dem auch Soldaten der Waffen-SS lagen. Er wollte das Haus der Geschichte in Bonn und das Deutsche Historische Museum in Berlin in seinem Sinne gestalten. Die linksliberalen Intellektuellen fürchteten eine Revision der Geschichte und eine Wiederkehr der nationalen Meistererzählung.

Die Alternative war für Habermas ein "Verfassungspatriotismus". Die Bundesrepublik sollte sich überdies als Teil des Westens verstehen, nicht als ein eigenes Gebilde, das erkennen muss, dass etwas fehlt, nämlich der östliche Teil Deutschlands. Einheit durfte nicht sein, als Lehre aus der Geschichte. Und je fürchterlicher und singulärer die Geschichte, desto verbotener eine Wiedervereinigung.

Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb im November 1986, drei Jahre vor dem Fall der Mauer: "Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues Deutsches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer." Wieder ein Basta.

Die linksliberale Fraktion setzte sich alles in allem durch. "Wir haben gewonnen", sagt Hans-Ulrich Wehler.“

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-124956878.html

 

Zur „linksliberalen Fraktion“: der „einsichtig gewordene Deutsche“ wurde nach den Holzköpfen der rechten Seite allerhöchste Zeit. Zufällig oder nicht, kam er genau nach Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ von 1964.

Die Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen der rechten Seite im „Historikerstreit“ stimmt zwar (Mord ist Mord), allerdings ist die Absicht eindeutig: „dann ist das ja alles gar nicht so schlimm“, wenn das andere auch machen. Das ist so, wie wenn ein Mensch die Nachbarsfamilie tötet und deren Haus anzündet und es kommt so ein Fips daher und behauptet, in einer anderen Stadt wäre vor ein paar Jahren ein ähnliches Ereignis passiert und mensch solle sich deshalb nicht so aufregen. Für den Wurm ein durchsichtiger Gedanke.

Daneben findet der Wurm allerdings auch, wenn von linker Seite auf die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen hingewiesen wird – selbst im Negativen meinen die noch, die Größten sein zu müssen.

Die These, dass Deutschland nicht wieder vereinigt werden dürfe wg. früherer Anzettelung zweier Weltkriege, ist schlicht und einfach Unfug und schon beinahe als esoterisch zu bezeichnen.

Noch mal Dirk Kurbjuweit: „2014 gilt als ein Geschichtsjahr. Drei große Daten jähren sich rund: 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, 25 Jahre Fall der Mauer. Zu den beiden ersten Daten trugen deutsche Intellektuelle wilde Kämpfe aus. In der Fischer-Kontroverse Anfang der sechziger Jahre ging es um die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre ging es um die Schuld am Holocaust. Ein Hintergrund beider Debatten war die Haltung zur damals gespaltenen Nation und damit zur deutschen Einheit.

Geschichte ist nicht nur Geschichte, sondern Teil der Gegenwart, und das gilt insbesondere für die Bundesrepublik. Die gewaltige Geschichte des 20. Jahrhunderts stülpte sich über das Land und bestimmte das Bewusstsein der politisch denkenden Menschen.

Beide Debatten endeten mit einem Sieg der Seite, die sich für eine größtmögliche Schuld aussprach und daher eine deutsche Einheit ausschließen wollte. Weil es dann wieder fatal werden würde, bis hin zu einem dritten Weltkrieg. Die deutsche Gegenwart war deshalb für Jahrzehnte stark von diesem Schuldvorwurf geprägt.

Inzwischen gibt es zu den Streitpunkten beider Debatten neue Erkenntnisse, die eher die unterlegene Seite unterstützen. Folgt daraus ein neues Selbstverständnis für die Deutschen?

Es lohnt sich deshalb, Fischer-Kontroverse und Historikerstreit im Geschichtsjahr 2014 neu zu betrachten.“

In welche Richtung das „neue Selbstverständnis für die Deutschen“ geht, sollte jetzt klar sein. Dem Wurm gefällt das nicht.