Seichtgebiete

Zur Zeit läuft in den Kinos „Der Medicus“, den sich der Wurm zusammen mit Hans Has angesehen hat.

Nachdem sich Babette Bücherwurm und alle anderen Erdreich-Bewohner geweigert hatten, dieses Buch von Noah Gordon zu lesen, wollte Rupert Regenwurm endlich wissen, was da drinnen steht, warum sich dieses Buch im deutschsprachigen Raum über 6 Millionen mal verkauft hat und warum es in einer ZDF-Show auf Platz 7 der „Lieblingsbücher der Deutschen“ geschafft hat.

 

Jetzt weiss es der Wurm und es ist schlimmer als befürchtet.

Die Geschichte spielt im 11. Jahrhundert. Ein Waisenjunge aus London wird von einem Bader in die Lehre genommen, will nach dessen Tod richtiger Arzt werden und das beim Besten, den es dafür gibt: Ibn Sina (Avicenna) im fernen Isfahan. Er geht hin, macht die Ausbildung und kommt wieder zurück.

Dies die Geschichte in Kurzform. Dass es sich um keine hochstehende Literatur handelt, zeigt sich schon darin, dass die handelnden Personen so denken und sich so benehmen, als stammten sie aus der Gegenwart.

Richtig ärgerlich ist, dass sie auch so reden. „Als seine Arme schon schmerzten und seine Stimmung am Nullpunkt war …“ passt genauso wenig ins 11. Jahrhundert wie die gesprochenen Worte „‚Ich hielt Euren Vater für einen netten Mann‘, erwiderte er nachdenklich, ‚aber er ist wohl ein Arschloch‘“ oder „Wie viele Tage nach ihrer letzten Regel habt ihr gebumst?“ und „Pa! Darf ich dich begleiten? Ich kann ja auf den Wallach achtgeben oder so.“

Dass es diese Unsitte mit dem „oder so“ in früheren Zeiten nicht gegeben hat, wird der Wurm nicht erst zu erwähnen brauchen. Auch nicht, dass ein „oder so“ in einem seriösen Buch nicht vorkommen sollte.

„Es gab keine Erholung oder sportliche Betätigung, aber die Mönche durften im Kreuzgang wandeln …“

Ist schon mal jemand auf die Idee gekommen, sich im Kloster sportlich zu betätigen? Dafür sind Klöster nicht bekannt. Zur damaligen Zeit hatten bestimmt nicht viele „sportliche Betätigung“ im Kopf.

Einer der Höhepunkte des Blödsinns, die der Autor auftischt, ist eine Art Marathonlauf in Isfahan am Ende des Ramadan. Also zu einer Zeit, bei der eine „sportliche Betätigung“ am ungesündesten ist. Der Lauf dauert mindestens 12 Stunden und im Kapitel „Die Bestallung“ ist die Länge vermerkt: 126 Meilen. Leider sagt uns der Autor nicht, ob persische, englische oder amerikanische Meilen. Es handelt sich aber um mindestens 189 Kilometer. Da gibt es also im 11. Jahrhundert in Persien zu Ende der Fastenzeit ein Wettrennen über mindestens 189 Kilometer mit begeisterten Zuschauern? In 12 Stunden am Ziel? Mit Unterbrechungen zu den Gebetszeiten? Spaßeshalber sei erwähnt, dass ein moderner Marathon-Lauf 42 Kilometer lang ist.

Es lohnt sich unbedingt, das Kapitel „Der Tschatir“ zu lesen. Zur Erinnerung: es geht nicht um den „New York Marathon“ in der Gegenwart – wir befinden uns immer noch im 11. Jahrhundert in Persien. Alleine dieses Kapitel lässt das geistige Niveau des Autors erahnen. Und das seiner begeisterten Leser.

http://books.google.de/books?id=eXQ_AQAAQBAJ&pg=PT347&lpg=PT347&dq=tschatir+medicus&source=bl&ots=lWwf4E6rP4&sig=wyeHNV_lTAUiaQYhj4pnz_T0SDc&hl=de&sa=X&ei=8_jKUoG1FNHW7QbS1oCoCQ&ved=0CDIQ6AEwAA#v=onepage&q=tschatir%20medicus&f=false

 

Auch sonst gibt es Merkwürdigkeiten wie „Der kervanbashi war ein stämmiger türkischer Jude, der auf den graumelierten Haaren, die noch Spuren der ursprünglichen roten Farbe aufwiesen, einen schwarzen Turban trug.“ Hat schon mal jemand einen rothaarigen „türkischen Juden“ gesehen?

Das Buch wimmelt nur so von Unsinnigkeiten und Unrichtigkeiten, wobei der Wurm nur die für ihn offensichtlichsten nennen will: im 11. Jahrhundert gab es in England keine Zünfte und keine Familiennamen, also auch keinen Robert Cole, wobei es den „Robert“ in England erst nach der späteren Eroberung durch die Normannen gab. Dass ein Jude den Namen „Benjamin Merlin“ gehabt haben sollte, wäre ohnehin absurd gewesen. Genauso, wie wenn seine Familie im 11. Jahrhundert in der Normandie Weinanbau betrieben hätte.

Straßburg war erst ab Ende des 17. Jahrhunderts ein Teil Frankreichs. Die Türkei gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert und ihren Vorläufer, das Osmanische Reich, erst seit ca. 1300. Konstantinopel (das heutige Istanbul) wurde 1453 erobert. Wenn Rob Cole im 11. Jahrhundert „den europäischen Teil der Türkei“ durchquert, tut das dem Wurm genau so weh wie „Das Innere war ein Raum, der halb so groß war wie die Kathedrale der heiligen Sofia in Konstantinopel“. Mit der „Kathedrale der heiligen Sofia in Konstantinopel“ ist die Hagia Sophia („heilige Weisheit“) gemeint.

Dass „Elefantengehege in Südwestindien“ überfallen werden sollen, ist ebenfalls absurd – mensch sehe sich nur mal auf der Landkarte an, wo Isfahan und wo Südwestindien liegen. Tatsächlich werden die Elefanten am Ganges erbeutet. Das ist ähnlich absurd, aber einige der Leser haben bestimmt schon mal vom Fluss Ganges in Indien gehört und freuen sich dann („aha, das kenne ich doch“).

Bei einem Marktplatz gibt es mehrere „Bücherstände“ (!). „An einem mit Fackeln beleuchteten Bücherstand“ (!) erwirbt der Medicus eine Art „Kamasutra“, in dem „die verschiedenen Stellungen des Liebesaktes abgebildet waren“. Da wird er sich aber gefreut haben. Auch dann, als seine spätere Frau diese Bände entdeckt und mit ihm die verschiedenen Stellungen ausprobieren will. Genau so stellt sich ein Wurm das Leben im 11. Jahrhundert vor! Die häufig beschriebene Erotik scheint überhaupt mit zum Erfolg dieses Buches beigetragen zu haben.

Ibn Sina war tatsächlich ein Meister seines Faches – aber nicht mal er hat mit Wasser gekocht: Er wusste zwar, dass Wasser schädlich für die Gesundheit sein kann, aber von Keimen im Wasser, die mit dem Kochen absterben, ahnte auch er nichts. Das ist einfach nachzuvollziehen: Ibn Sinas Werke galten in Europa vom 12. bis 17. Jahrhundert als Leitfaden der Schulmedizin – und da wurde nichts abgekocht. Das ging so weit, dass edlere Leute Angst vor Wasser hatten und sich, statt sich mit Wasser zu waschen, lieber einparfümierten.

Dramatisch geht’s zu, als das Todesurteil bei einem Freund des Medicus vollstreckt wird. Sein Vergehen: Ehebruch. Da er aber nicht verheiratet war, wäre er nicht zum Tode verurteilt worden, sondern „lediglich“ ausgepeitscht. Ist ja egal – der Leser hat schon was von islamischem Strafrecht und Todesstrafe bei Ehebruch gehört. Wie genau das abläuft, interessiert ihn nicht und mensch hat einen schönen dramatischen Effekt.

Wurm könnte sagen, das Werk hat ein Amerikaner geschrieben und ist durch ein amerikanisches Lektorat gegangen – da sind die Menschen halt oberflächlich. Da mag ein Körnchen Wahrheit dran sein. Aber der deutsche Übersetzer scheint auch so ein Intelligenz-Bolzen zu sein. Ansonsten hätte er klammheimlich zumindest die übelsten Fehler beseitigt.
Und: in den USA war das Buch kein Erfolg. Neben Spanien hat es den Geschmack und das Niveau vor allem der deutschen Leserschaft getroffen.

Der Autor hat auch bewusste Fehler gemacht: Die Hagia Sophia „wurde auf Konstantins Befehl errichtet, und als dieser ehrwürdige Kaiser zum erstenmal die Kathedrale betrat, fiel er auf die Knie und rief: ‚Ich habe besser gebaut als Salomon!‘“ Rein zeitlich kommt das einem Wurm merkwürdig vor. Tatsächlich wurde die Kirche 200 Jahre später unter Justinian I. errichtet, der bei Vollendung des Baues ähnliche Worte gesagt haben soll.

Anscheinend hat Noah Gordon bewusst Konstantin genannt, weil dieser einen höheren Bekanntheitsgrad hat und dem Leser somit wieder ein „Aha“-Erlebnis beschert. Genau so ist es, wenn er einer Person die Worte in den Mund legt, dass Isfahan von Nebukadnezar gegründet wurde. Dies ist nicht der Fall, aber den Namen „Nebukadnezar“ werden schon einige gehört haben und wieder ihr „Aha“-Erlebnis haben.

Bei einem seriösen Autoren bei einem seriösen Verlag mit einem seriösen Lektorat und einem seriösen Übersetzer hätte es eine schöne Geschichte geben können. Es ist aber sehr fraglich, ob das Publikum das gewollt hätte. Es ist ja auch so zufrieden.

Mensch könnte sagen: lass‘ sie doch, wenn sie glücklich damit sind. Dennoch ist dieses Buch aus mehreren Gründen ein Ärgernis: Durch die vielen Fehler werden die Sachen, die tatsächlich stimmen, völlig entwertet. Und da der Wurm vielseitig interessiert ist, hätte ihn schon das Eine oder Andere interessiert.

Seriöse Schriftsteller, die sich große Mühe bei ihren Nachforschungen geben, werden sich durch die bloße Existenz dieses Unfugs und den großen Erfolg verarscht vorkommen.

Jetzt ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich jemand zur Entspannung seichte Lektüre vornimmt. Das ist ja in Ordnung. Das Problem ist, dass die meisten das für richtige Literatur halten und allen Ernstes das so glauben, wie es geschrieben steht. Und meinen, jetzt wüssten sie Bescheid und sich als was Besseres fühlen als jene, die den „Medicus“ nicht gelesen haben.

Um einen ähnlichen Schmonzes dürfte es sich bei „Die Wanderhure“ und "Die Päpstin" handeln. Die spielen in der gleichen Liga und haben einen ähnlichen Erfolg. Nach einer schönen Legende soll es im 11. Jahrhundert eine „Päpstin Johanna“ gegeben haben. Die ersten Gerüchte dazu gab es über 100 Jahre später. Alle ernsthaften Historiker und auch die schärfsten Kirchenkritiker halten diese Geschichte für ausgemachten Blödsinn. Aber seitdem es das Buch zum Gerücht gibt, kommen solch Viertel-Gebildete zum Wurm und erzählen ihm, dass es mal eine Päpstin gegeben hätte und dass dies historisch erwiesen sei. Nein, das ist es nicht!

Dem Philosophen Sokrates werden folgende Worte zugeschrieben: „Wer weiss, dass er nichts weiss, weiss mehr als der, der nicht weiss, dass er nichts weiss“.

Der Film ist eine treffende Umsetzung des Buches: außer den Namen der Hauptpersonen hat der Film so gut wie nichts mit dem Buch zu tun, ist dafür aber genauso wenig stimmig und genau so haarsträubend.

So sieht der Medicus beim Besuch einer Prostituierten, dass diese heute noch sterben wird. Die ist putzmunter, weiss nicht, was er will, hat aber einen faulenden Fuß, von dem sie nichts weiss bzw. der sie nicht stört. Sie wird geheilt und stirbt nicht, obwohl sie ja laut Prophezeiung den folgenden Tag nicht mehr erleben sollte.

Die Feinde Isfahans schicken einen Pestkranken in die Stadt, damit er die Menschen anstecken soll. Das gelingt. Später entdeckt der Medicus, dass Flöhe von Ratten an der Krankheit schuld seien – dann hätte ja nicht erst der ansteckende Pestkranke in die Stadt geschickt werden müssen. Der Zusammenhang Pest – Ratten – Flöhe wurde erst Jahrhunderte später entdeckt und noch viel später wurde die erste Blinddarmoperation durchgeführt.

Wer schon in Isfahan war, wird wissen, dass die Stadt weder auf einem felsigen Hügel liegt, noch dass sie von einer Sandwüste umgeben ist. Der Weg von Marokko über die Pyramiden von Gizeh nach Isfahan ist völlig abwegig, zumal es die ganze Zeit durch Sanddünen zu gehen scheint.

Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie es in dem Film zugeht. Große Beschwerden der Leserschaft sind bislang ausgeblieben. Wozu auch – ist ja eh alles egal. Herz, Schmerz, Erotik und Exotik, das wollen die Menschen haben. Und das bekommen sie auch. Wer bislang noch nicht wusste, mit wem er es zu tun hat, braucht nur den „Medicus“ zu lesen. Dann wird er es wissen.

Traurig, traurig, traurig.

Wenigstens mit Einem hat Noah Gordon recht: Das christliche Europa war im 11. Jahrhundert in den Gebieten Medizin und Wissenschaft völlig unterbelichtet, während beides in den islamischen Ländern eine Blütezeit erlebte.

Da der Wurm weiss, dass er auch den seriösen Lesern nicht zu viel auf einmal zumuten darf, wird er jetzt Schluss machen und sich das nächste Mal darüber seine Gedanken machen.