Romantische Kristall-Nacht

Ein Sauna-Wellnesspark in Thüringen mit dem Namen „Kristall“ verwendet gerne seinen Namen zu Werbezwecken in Wortspielen und lud am 9. November zur „langen romantischen Kristall-Nacht“. Ausgerechnet am 9. November vor 75 Jahren fand das übelste Pogrom an Juden seit dem Mittelalter in Deutschland statt, das bald als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde.

http://de.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938

 

Nun könnte die Bezeichnung „lange romantische Kristall-Nacht“ auf rechtsextremes Gedankengut hinweisen, vor allem, da als Datum dafür ausgerechnet der 9. November gewählt wurde – sehr viel wahrscheinlicher ist zumindest in diesem Fall Gedankenlosigkeit anzunehmen.

http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.peinlicher-aussetzer-saunapark-wirbt-fuer-kristall-nacht.b81c89da-60e1-48b6-9c01-81e20435b1d0.html

 

Nicht nur, dass dieses Volk geschichtsvergessen ist (wurm will lieber nicht wissen, wie viele mit dem Begriff „Reichskristallnacht“ überhaupt etwas anfangen können) – mittlerweile ist es auch nicht mehr ernst zu nehmen. Hauptsache, mensch vergnügt sich und hat Spass (oder tut so, weil es von ihm erwartet wird). Die Beliebigkeit regiert und Kommunikation dient kaum noch zur Übermittlung von Informationen, sondern zum Austausch von Emotionen. Der eine Mensch zeigt dem anderen, wie lustig und wie toll er ist.

Und so, wie ein Mensch mit seiner Sprache umgeht, so wird er auch mit seinen Mitmenschen umgehen. Von Leuten, die es übertreiben, einmal abgesehen: wer auf eine korrekte Schreibweise achtet, wird durch diese Orientierungshilfe seinen Gegenüber mehr respektieren als jemand, der es nicht für nötig hält, Kommas zu setzen oder der ausschließlich klein schreibt.

zum beispiel sieht der letzte absatz dann so oder so ähnlich aus und so wie ein mensch mit seiner sprache umgeht so wird er auch mit seinen mitmenschen umgehen von leuten die es übertreiben einmal abgesehen wer auf eine korrekte schreibweise achtet wird durch diese orientierungshilfe seinen gegenüber mehr respektieren als jemand der es nicht für nötig hält kommas zu setzen oder der ausschließlich klein schreibt

Von einem Wurm wird glücklicherweise nicht verlangt, alle Schreibregeln zu kennen. Diese kennen auch nur wenige Menschen. Aber sich um gar keine Regeln zu kümmern und einfach so drauf los zu schreiben, wie mensch es gerade für richtig hält – nein, schön ist das nicht.

Sprache verdeutlicht, was der Sprachgemeinschaft wichtig ist. In der deutschen Sprache etwa gibt es die schönen Wörter „Schwester“ und „Bruder“. Je nach Familie gibt es mal eine ältere Schwester oder einen jüngeren Bruder – aber es gibt kein eigenes Wort dafür. In Gesellschaften, in denen das Alter der Geschwister eine offizielle „Hackordnung“ zum Ausdruck bringt, sieht das anders aus: da ist die Schwester nicht jünger oder älter, sondern es gibt eigene Wörter für diese Zustände. Das ist zum Beispiel im Arabischen so. Dort gibt es auch nicht nur ein Wort für den „Onkel“, sondern zwei: der Bruder von der Mutter und der Bruder vom Vater (wenn der Vater stirbt, hat der Vater-Bruder für die hinterbliebenen Kinder zu sorgen) .

Hierzu ein Auszug von Karl Kaser: „Balkan und Naher Osten – Einführung in eine gemeinsame Geschichte“ (Seite 327):

http://books.google.de/books?id=7FoDnSfr8UcC&pg=PA327&lpg=PA327&dq=unterschied+onkel+m%C3%BCtterlicherseits+v%C3%A4terlicherseits&source=bl&ots=Q7I1_HEDzh&sig=JsTKyY6qGK4O4ErWlBDjVUzVr9M&hl=de&sa=X&ei=eBSFUr_FMImOtQbJ_YHQDg&ved=0CGMQ6AEwCQ#v=onepage&q=unterschied%20onkel%20m%C3%BCtterlicherseits%20v%C3%A4terlicherseits&f=false

 

Im Alltag der Araber gibt es verständlicherweise mehrere Wörter für „Sand“, genauso wie es im Alltag der Eskimos mehrere Wörter für „Schnee“ gibt. In deren Lebens-Realität sind die Unterschiede wichtig.

Wichtig in der deutschen Sprache sind etwa die Berufsbezeichnungen, die größtenteils die männliche Endung haben. Wenn eine Frau den gleichen Beruf ergreift, wird einfach ein „-in“ dran gehängt. So wird aus dem „Lehrer“ eine „Lehrerin“. Das hört sich an wie „2. Wahl“. In anderen Sprachen, etwa der englischen, gibt es häufig geschlechtsneutrale Wörter für Berufe oder Gruppen von Menschen (z.B. für „Schüler“).

Unterschiedliche Werte bzw. Entwicklungen in der jeweiligen Gesellschaft führen zu Änderungen in der Sprache. Die Endung „-In“ („LehrerIn“ statt „Lehrer“) bzw. „Lehrer/in“ oder „Lehrer (m/w)“ bei Stellenausschreibungen tragen dem Rechnung. Dazu gehört auch die Abschaffung der früher üblichen Begriffe „Mohrenkopf“ und „Negerkuss“.

Teilweise gibt es Bewegungen „von unten“, die zu solchen Änderungen beitragen, teilweise „von oben“. Von einem Tag auf den anderen wurde so der Begriff „Schwangerschaftsberatung“ abgeschafft. Das heisst jetzt „Schwangerenberatung“. Es ist schon ein Unterschied, ob zu einer eventuellen Schwangerschaft beraten oder ob eine Schwangere beraten wird. Abgeschafft ist mittlerweile auch das Wort „trächtig“. Früher war ein Mensch schwanger und ein Tier im gleichen Zustand trächtig. Jetzt sind auch die Tiere schwanger.

Über das frühere „Kriegsministerium“, das jetzt „Verteidigungsministerium“ heisst, will der Wurm hier lieber nicht reden. Wer sich über die Bedeutung und Gestaltung von Wörtern interessiert, dem sei „1984“ von George Orwell empfohlen. Der wird dann erfahren, wie mit Wörtern und Begriffen manipuliert werden kann. „Krieg ist Frieden“!

In früheren Zeiten war mit dem „Herrn Doktor“ mit großer Wahrscheinlichkeit der Arzt gemeint, während mit „Frau Doktor“ die Frau des „Herrn Doktor“ gemeint war. Glücklicherweise ist das „Fräulein“ (für die Jüngeren: unverheiratete Frau) abgeschafft. Auch in der englischen Sprache. Da wurden „Mrs.“ (verheiratete Frau) und „Miss“ (Fräulein) zu „Ms.“ vereinigt.

Geänderte Sprache verdeutlicht geänderte Gesellschaft. Freilich gibt es da manchmal schon übertriebene Wünsche. Darf mensch „Eskimo“ noch sagen oder doch „Inuit“? Nachdem mensch „Neger“ nicht mehr sagen darf: ist „Schwarzer“ erlaubt oder heisst das „Farbiger“? Soll mensch jemanden, der früher ein „Zigeuner“ war, als „Sinti“ oder „Roma“ ansprechen? „Du bist ein Sinti und Roma?“ Oder heisst es in der Einzahl „Sintus“ und „Romus“? Muss mensch jetzt heraus finden, zu welchem der Stämme der jetzt gehört? Verwirrend wird das Ganze, wenn derselbe meint, mensch könne ihn ruhig mit „Zigeuner“ anreden. Es komme nur darauf an, wie das Wort gemeint sei.

„Auf dem Weg zur Trottelsprache“ meint Jan Fleischhauer:

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/warum-kinderbuecher-politisch-korrekt-umgeschrieben-werden-a-878115.html

 

Nicht immer einfach für die Menschen, die richtige Balance zu finden. Überhaupt nicht auf seine Sprache zu achten, ist aber auch nicht die Lösung.

Ein chinesisches Sprichwort lautet:

„Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.“

Die Handlungen müssen aber nicht unbedingt mit den Gedanken anfangen: gedankenlos hingeworfene Worte können selbst sehr leicht zu eigenen Gedanken werden. Ganz gut dafür geeignet sind Witze. Da können schon mal ganze Menschengruppen zu Opfern werden, auch wenn es „so“ nicht gemeint sein sollte.

Wie werden Menschen auf andere Menschen reagieren, die sie das erste Mal sehen und bei denen es sich um Ostfriesen oder blonde Frauen handelt? Je nach Land, Region oder Zeit sucht sich eine Mehrheit eine Minderheit aus, über die sie Witze machen kann. „Ist ja nur ein Witz! Das wird doch keiner ernst nehmen!“

Zurück zur „Reichskristallnacht“. Dieser Begriff klingt für viele verharmlosend. Jene meinen, „Reichspogromnacht“ wäre viel passender. Interessant dazu ist, dass es weder Beschwerden noch Wünsche zur Änderung des Wortes aus dem Ausland gibt. Dann wird das so verharmlosend ja auch nicht sein.

http://www.katholische-sonntagszeitung.de/index.php/sz/Nachrichten/historiker_bevoelkerung_stark_an_kristallnacht_beteiligt

 

An zentraler Stelle in Wien, gleich neben der Staatsoper, steht das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ des Künstlers Alfred Hrdlicka. Ein Detail daraus zeigt ein Motiv nach dem österreichischen „Anschluss“, das auch zur „Reichskristallnacht“ passt: ein alter Jude, der gezwungen wird, mit einer Bürste den Boden zu säubern.

Passend zur heutigen Geschichts- und Gedankenlosigkeit: „Die Statue des knienden Juden wurde oft nicht als solche erkannt, manche Besucher setzten sich auf den Rücken zur Rast. Als Reaktion setzte Hrdlicka einen Stacheldraht aus Eisen auf den Rücken der Statue, um einer weiteren Zweckentfremdung vorzubeugen.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Mahnmal_gegen_Krieg_und_Faschismus

 

Und hier ein oft abgewandelter Spruch von Martin Niemöller. Nicht extra für diesen Tag, aber doch passend und leider zeitlos:

„Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.“

 

Zum Schluss hat der Wurm noch ein Lied von BAP:

http://www.youtube.com/watch?v=g074cpXi8v8