Wir im Erdreich kapieren oft nicht, was und warum die Menschen etwas machen. Deshalb gibt es bei uns welche, die die Menschen studieren und uns Nachhilfe geben. Babette Bücherwurm hat’s mit der Literatur und piesackt uns mit solchen Sätzen wie „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa.
Weiter gehend haben wir unseren „Professor“ Aurelius Auerochs, der sich vorzüglich in der menschlichen Geschichte auskennt und uns anschauliche Beispiele gibt. So sollen wir uns vorstellen, wir wären in einem Land in Lateinamerika, in dem eine korrupte Oberschicht herrscht. Diese Oberschicht hat ein prächtiges Leben und kümmert sich kaum um die Masse der Bevölkerung, die mehr und mehr verelendet. Entweder wg. eigener Dummheit oder dadurch, dass Teile dieser Oberschicht sich gegen die oberste Spitze wenden und die Massen aufstacheln (was sehr viel wahrscheinlicher ist), kommt es zur Revolution.
Die neuen Machthaber sind mehr oder weniger auf der Seite des Volkes und versuchen, die Wirtschaft anzukurbeln und eine gerechtere Gesellschaft zu verwirklichen. Machen Fehler, sind manchmal etwas übereifrig und sind von Anfang an chancenlos: denn die bestimmenden Leute aus der Wirtschaft boykottieren die eigene Regierung, die Polizei macht keine Verbrechensbekämpfung mehr, wodurch die Kriminalität deutlich steigt. Außenpolitisch gibt es einen großen Staat in der Nähe, der kein Interesse hat, dass diese Regierung Erfolg hat und alles dafür tut, dass sie scheitert. Um die ohnehin instabile Lage weiter zu verschärfen, wird dafür gesorgt, dass wichtige Wirtschaftsgüter wie Lebensmittel oder Benzin knapp werden und sich lange Schlangen vor den jeweiligen Geschäften bilden. Und es wird eine neue Protestbewegung ausgebildet und bezahlt, die für ordentlich Rabbatz sorgen soll.
Nach relativ kurzer Zeit, sagen wir nach einem Jahr, meint das Militär einen Putsch machen zu müssen, führt mehr oder weniger die alten Zustände wieder ein und sorgt dafür, dass die Anhänger der gestürzten Regierung nie mehr an die Macht kommen können.
So oder so ähnlich spielt es sich bei den Menschen ab. Wir haben natürlich gleich gemerkt, dass Aurelius Auerochs uns mit „Land in Lateinamerika“ hinters Licht führen will und eigentlich Ägypten meint, wo das gerade passiert ist.
Sollte es tatsächlich Menschen geben, die noch nie etwas davon gehört haben: Für diese hat der Wurm zwei schöne Links parat:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/aegypten-putschisten-profitieren-von-golfstaaten-und-investoren-a-911458.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/polizei-in-aegypten-wird-fuer-ihren-kampf-gegen-muslimbrueder-bejubelt-a-917083.html
Ob mensch sie mag oder nicht: Die von den Muslimbrüdern gebildete Regierung war von Anfang an chancenlos. Die Muslimbrüder werden auf die eine oder andere Weise „platt“ gemacht und ein Großteil der Welt applaudiert dazu. Denn den bösen Islamisten gehöre es ja nicht anders.
Für die, die es näher wissen wollen: Hier mal ein paar ältere Beschreibungen der Muslimbrüder:
http://www.polwiss.uni-erlangen.de/professuren/naherosten/Hintergrund_zur_Muslimbruderschaft.pdf
http://www.uni-erfurt.de/fileadmin/user-docs/Westasiatische_Geschichte/Muslimbruderschaft.pdf
http://www.papyrus-magazin.de/archiv/2003_2004/november/11_12_muslimbruder.html
Oh, ihr Menschen – manchmal haben wir im Erdreich ernsthafte Zweifel, ob wir mit den Menschen zusammen auf dem gleichen Planeten wohnen. Die glauben allen Ernstes daran, dass es hier um die Auseinandersetzung Säkulare (die Guten) gegen „Islamisten“ (die Bösen) gehe.
Offensichtlich ist dem aber nicht so: Denn neben anderen arabischen Staaten hat vor allem Saudi-Arabien die Regierung der Muslimbrüder nach Kräften bekämpft, den Militärputsch sofort gutgeheißen und der neuen Regierung mehrere Milliarden Euro zugesagt. Menschen vergessen schnell, deshalb zur Erinnerung: mit Saudi-Arabien handelt es sich um einen Handabhacker-Staat der übelsten Sorte, der unter anderem seinen Frauen in der Öffentlichkeit eine Art Karnevalskostüm aufzwingt und ihnen verbietet, Auto zu fahren. Und massiv mit sehr vielen Millionen die Förderung des Islam weltweit betreibt.
Und so ein Staat stellt sich auf die Seite der Säkularen gegen die Islamisten? Licht ins Dunkel kommt dann, wenn mensch sieht, dass in der neuen Regierung und im neuen Staat die Salafisten eine bedeutende Rolle spielen. Die Salafisten sind so richtig nach dem Geschmack der Saudis: haben nichts gegen Monarchien, haben’s nicht so mit dem Sozialen und sind in Glaubensfragen deutlich derber als die Muslimbrüder. Werden direkt von Saudi-Arabien bezahlt und haben jetzt wohl ein Bündnis mit der wirtschaftlichen Elite geschlossen, damit die nicht unnötig mit Steuern belästigt wird.
Ursprünglich sollte nach dem Putsch der Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei Regierungschef des Landes werden. Er wurde aus zwei Gründen von den Salafisten abgelehnt: „Wir können nicht von nationaler Versöhnung sprechen und dann Mursis ärgsten Gegner zum Ministerpräsidenten machen“ und „Es geht nicht an, die Macht eines Ministerpräsidenten in die Hände eines Mannes zu legen, der nicht unsere Vision von der islamischen Scharia teilt“. In der neuen Verfassungs-Erklärung wurden massive Zugeständnisse an die Salafisten gemacht.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/in-aegypten-verhindert-salafisten-elbaradei-als-regierungschef-a-909903.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/aegypten-buendnis-des-alten-regimes-und-der-salafisten-a-910189.html
Unabhängig davon, wie sehr sich die übrig gebliebenen Muslimbrüder radikalisieren werden, heisst das aus säkularer Sicht für Ägyptens Zukunft „vom Regen in die Traufe kommen“.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick darauf, wie die Menschen in Europa reagieren. Wir Erdreich-Bewohner staunen immer über zwei menschliche Eigenschaften: Das eine ist eine Art „Schwarz-Weiss-Malerei“, in der keine Grautöne vorkommen: es muss immer „die Guten“ und „die Bösen“ geben. Das andere ist, sich die Tatsachen so lange mit Gewalt zurechtzubiegen, dass sie irgend wie in das so sehr geliebte Schwarz-Weiss-Schema passen.
Es ist ja nun wirklich kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien gerade massiv seine Finger im ägyptischen Spiel hat und dass die Salafisten einen sehr großen Einfluss in der ägyptischen Innenpolitik haben, der immer größer wird. Dies wird völlig ignoriert, weil es nicht ins gewohnte Denkschema passt.
Nachdem es in Istanbul vor ein paar Wochen eine gewaltsame Räumung gab, war die westliche Welt hellauf empört. Zur gewaltsamen Räumung in Kairo mit mehreren hundert Toten gab es mehr Beifall als Protest. Hört man die Leute auf der Straße oder liest deren Kommentare in den entsprechenden Foren, kommt ein Wurm zu einem einzigen Schluss: Die haben Blut gesoffen. Wir Erdreich-Bewohner können uns nicht erinnern, solche Begeisterung vernommen zu haben, nachdem eine Vielzahl von Menschen getötet wurde.
Die Massen überall auf der Welt, auch im angeblich so „zivilisierten“ Europa, lassen sich anscheinend gegen alles aufhetzen, mensch braucht ihnen nur ein ordentliches Feindbild zu geben. Schade. Die haben aus ihrer Geschichte nichts gelernt.