Wer in diesem Lande aufgewachsen ist und meint, den Namen „August von Kotzebue“ noch nie gehört zu haben, sollte sich schämen.
Auf die eine oder andere Art und Weise wird ihm der August von Kotzebue mit Sicherheit über den Weg gelaufen sein – und diesen außergewöhnlichen Namen sollte mensch eigentlich nicht vergessen.
Hartmut Schade: „23.03.1819 August von Kotzebue ermordet
Unglaubliche 275 Theaterstücke soll er geschrieben haben - der Weimarer Schriftsteller August von Kotzebue. Ein Erfolgsautor sondergleichen. Und doch heute nur noch wegen seines Todes berühmt. Ermordet von einem nationalistischen Burschenschaftler.“
August von Kotzebue
„Geboren am 3.5.1761 in Weimar; gestorben am 23.3.1819 in Mannheim.
Kotzebue entstammte einer angesehenen weimarischen Kaufmanns- und Ratsfamilie. Nach dem Besuch des von seinem Onkel Musäus geleiteten Gymnasiums in Weimar studierte er ab 1777 Jura in Jena und Duisburg. 1781-90 bekleidete er hohe Ämter in Petersburg und Estland; gleichzeitig leitete er in Reval ein Liebhabertheater. 1790 reiste er nach Mainz, Mannheim und Paris. 1792 kehrte er nach Rußland zurück, ging 1798 als Theaterdichter nach Wien und 1800 wieder nach Rußland, wo er unter dem Verdacht, Jakobiner zu sein, verhaftet und nach Sibirien verbannt wurde. Nach vier Monaten wurde er begnadigt und zum Direktor des Deutschen Hofschauspiels in Petersburg ernannt.
1801, nach der Ermordung des Zaren, ließ sich Kotzebue in Weimar nieder. Ein Konflikt mit Goethe eskalierte so weit, daß er erneut nach Paris reiste. Ab 1803 gab er gemeinsam mit Garlieb Merkel von Berlin aus die gegen Goethe und die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel gerichtete Zeitschrift »Der Freimüthige« heraus, zerstritt sich aber schon bald mit Merkel und kündigte seine Mitarbeit auf. Nach Napoleons Sieg 1806 floh er nach Estland, von wo er die antinapoleonischen Zeitschriften »Die Biene« und »Die Grille« herausgab. Nach der Niederlage Napoleons 1813 wurde er zum Generalkonsul in Preußen ernannt, zog nach Königsberg und übernahm die Leitung des Theaters.
1817 kehrte er nach Weimar zurück und gründete das »Litterarische Wochenblatt«, in dem er gegen die politischen Ziele der studentischen Turnerbünde und Burschenschaften, gegen Demokratie und Pressefreiheit zu Felde zog. Seine Ermordung durch den Jenaer Burschenschafter Karl Ludwig Sand gab Anlaß für die Karlsbader Beschlüsse.“
https://gutenberg.spiegel.de/autor/august-von-kotzebue-341
Unter diesem Link können auch mehrere Schauspiele und Dramen von ihm gelesen werden.
Der Literat
Aus „Wikipedia“: „Kotzebue galt als ein Vater der dramatischen Trivialliteratur, womit ihm zugleich ein Anteil an der Schaffung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts als Verdienst verblieb. Heute bemüht man sich, die einseitige Negativkanonisierung (Simone Winko 1999) zu überwinden und Kotzebues persönlichem Anteil an den politischen Anliegen der Spätaufklärung gerecht zu werden. Hier sind vor allem die jährlichen "Kotzebue-Gespräche" zu erwähnen, die abwechselnd in Tallinn (Reval) und in Berlin stattfinden und die seit 2012 von der Akademie der Wissenschaften in Berlin/Brandenburg, von der estländischen Botschaft in Berlin und von der Musik- und Theaterakademie in Tallinn veranstaltet werden …
Die Zahl seiner Lustspiele und Dramen beläuft sich auf mehr als 220; 87 davon inszenierte Goethe mit insgesamt 600 Vorstellungen. Kotzebues Popularität war beispiellos, nicht bloß in Deutschland, sondern auch auf den Bühnen des europäischen Kulturraums. Neben August Wilhelm Iffland war Kotzebue der produktivste und erfolgreichste Bühnenautor seiner Zeit. Sein Erfolg basierte auf seinem Gespür für populäres Theater in Stoff und Gestaltung. Beispiele dafür sind seine Komödien Der Wildfang, Die beiden Klingsberg und Die deutschen Kleinstädter, die eindrückliche Genreschilderungen deutschen Lebens enthalten. Berühmte Komponisten der Zeit vertonten seine Texte: Ludwig van Beethoven komponierte die Musik zu Kotzebues Die Ruinen von Athen (op. 113) sowie zu König Stephan (op. 117) anlässlich der Eröffnung des neuen Opernhauses in Pest im Jahre 1812; Antonio Salieri schrieb die Schauspielmusik zur Wiener Aufführung der Hussiten vor Naumburg (1802/03); und auch der junge Franz Schubert vertonte einige Libretti des Dichters, darunter das Singspiel Der Spiegelritter D 11 (1813) und die „natürliche Zauberoper“ Des Teufels Lustschloss D 84 (1813/14). Albert Lortzing schrieb 1843 sein Libretto zur Oper Der Wildschütz nach Kotzebues Lustspiel Der Rehbock oder Die schuldlos Schuldbewußten.“
https://de.wikipedia.org/wiki/August_von_Kotzebue
Erwin In het Panhuis: „August von Kotzebue begeisterte das breite Lese- und Theaterpublikum und wurde manchmal in einem Atemzug mit Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und August Wilhelm Iffland genannt. Seine unterhaltsamen Stücke waren sehr beliebt und machten ihn zum erfolgreichsten Dramatiker der Zeit. Besonders hoch war sein Ansehen im Ausland; in Frankreich gehörten seine Werke sogar zur Schullektüre. Kotzebue polarisierte jedoch und eckte an. Teile des Bildungsbürgertums hassten ihn und warfen ihm Unmoral vor, denn schließlich behandelte er auch Themen wie Ehebruch, ungewollte Schwangerschaft und inzestuöse Geschwisterliebe. Die Inszenierung war dabei weniger tiefgründig moralisch, sondern vor allem publikumswirksam. Für Ernst Moritz Arndt war Kotzebue nur eine "deutsche Schmeißfliege".
Heutzutage überwiegen die negativen Bewertungen Kotzebues. Für viele Germanisten ist er ein Trivialautor und für viele Historiker ein Reaktionär. Auch der schon erwähnte schwule Literaturwissenschaftler Paul Derks macht in seinem Buch "Die Schande der heiligen Päderastie" (1990) deutlich, dass er nichts von Kotzebue hält, denn dieser sei "historisch dilettierend", er habe "gar nichts begriffen" (S. 311) und einen "verlogenen Artikel" (S. 390) bzw. "Obszönitäten" (S. 444) geschrieben. Auch aufgrund der oben dargestellten Quellen im queeren Kontext lässt sich die negative Einschätzung Kotzebues und seiner Werke teilen. "Doctor Bahrdt …" ist schließlich nicht einfach nur eine schlechte Satire oder ein Beispiel für den unangebrachten Gebrauch von Klischees, sondern ein Beispiel für die Instrumentalisierung von Vorurteilen, um andere abzuwerten. Es ist ein persönlicher Angriff unterhalb der Gürtellinie – feige ausgeführt unter dem Schutz eines Pseudonyms. Wie auch schon zeitgenössische Rezensenten finde auch ich es legitim, von der Unmoral des Werkes auf die Unmoral des Autors zu schließen. In anderen Texten versucht er mit Formulierungen wie "Man weiß längst…" seine Vorurteile zu objektivieren. Kotzebue war – um es vorsichtig auszudrücken – eine zutiefst destruktive Persönlichkeit.
In den letzten Jahren versuchen einige Autoren, der meist negativen Darstellung etwas Positives entgegen zu setzen, um z.B. Kotzebues Anteil an den politischen Anliegen der Spätaufklärung gerecht zu werden. Viele möchten den Schriftsteller gewürdigt sehen, von dem sich zahlreiche Menschen gut unterhalten fühlten. Auch ich finde, dass man Kotzebue fairer beurteilen sollte, als er andere beurteilt hat. In einzelnen Punkten kann man ihn in Schutz nehmen: So ist die Abwertung seiner Werke als sogenannte Trivialliteratur häufig nicht mehr als die überheblich wirkende Abgrenzung zur sogenannten Hochkultur, wie sie Goethe repräsentiert.
Mir erscheint es respektabel, dass er entgegen dem Zeitgeist bereit war, auch Themen wie Inzest, ungewollte Schwangerschaft und Ehebruch in seinen Dramen vorkommen zu lassen und sie damit zu enttabuisieren. Dass er mit den Inhalten seiner Dramen nur bedingt den Tugendvorstellungen der anspruchsvolleren Theaterbühnen entsprach, ist im Rahmen einer solchen Enttabuisierung erst einmal nichts Ungewöhnliches. In einigen Fällen ist das, was früher als "unanständig" aufgebauscht wurde, eigentlich nur ein bisschen erotisch-pikant. Dass Kotzebues Werke Skandale ausgelöst haben, sagt zunächst einmal nichts über die Qualität der Werke aus, denn schließlich hat auch Goethe Kritik auf sich gezogen: Er hat Liebschaften außerhalb von Ehen dargestellt, in "Werther" einen Selbstmörder liebenswürdig geschildert und in "Faust II" auch die schwulen Gelüste des Teufels gezeigt. Auf diese Weise hat auch Goethe polarisiert, ohne dass man dabei die literarische Qualität in Abrede stellt.
Der Literaturwissenschaftler Werner Liersch schrieb 1989: "Der Name Kotzebue hat einen schlechten Klang in der deutschen Literaturgeschichte. […] Das Verdammungsurteil lautet: ein gewandter, aber oberflächlicher Vielschreiber. […] Trotz alledem führt aber kein Weg an der Tatsache vorbei, daß Kotzebue zu seiner Zeit als Bühnenautor ungeheuer erfolgreich war." Kotzebue sollte nicht deshalb heroisiert werden, weil er kommerziell erfolgreich war, aber als ein populärer und die literarische Szene prägender Schriftsteller verdient er Interesse. Es war nicht nur die Zeit von Goethe und Schiller, es war auch die Zeit von Kotzebue.“
https://www.queer.de/detail.php?article_id=33253
Michael Sommer hat einen wunderbaren YouTube-Kanal, in dem er (zumeist) große Werke der Literatur in heutiger Sprache in ca. 10 Minuten zusammenfasst. Selbst diejenigen, die sich nicht für Literatur interessieren, sollten sich allein wg. Verbesserung des Allgemeinwissens Michael Sommers Stücke ansehen: https://www.youtube.com/user/mwstubes/featured
Hier „Die deutschen Kleinstädter“: „August von Kotzebue war einer der meistgespielten Theaterautoren und ein Paradiesvogel seiner Zeit (1761-1819), der zwischen dem russischen Zarenreich und Deutschland hin- und herflatterte. Eines seiner besten Stücke und gleichzeitig eine Komödie, die heute noch oft gespielt wird, ist DIE DEUTSCHEN KLEINSTÄDTER. Lernen Sie all die herrlichen Vorurteile und Bedürfnisse des deutschen Kleinstadtbewohners in einer kompakten und unterhaltsamen Kurzversion von Michael Sommer und seinem Playmobilensemble kennen.“
Nationalismus in Deutschland
Christoph Schmitz-Scholemann: „Nur wenige Minuten später wurde der Täter festgenommen. Die Ermittlungen deckten die Hintergründe des Attentats auf: Sand gehörte zu dem Jenaer Ableger einer Gruppe aus dem Universitätsmilieu, deren schöne Freiheits- und Gerechtigkeitsideale in den Kriegen gegen Napoleon eine bedenkliche Radikalisierung erfahren hatten.
In den so genannten Burschenschaften und in den Sportvereinen des „Turnvaters“ Jahn mischten sich Körperertüchtigung, Radau-Nationalismus und eine christlich grundierte Sehnsucht nach dem Martyrium mit der Ablehnung alles Fremden.
Der Dichter Ernst Moritz Arndt forderte: „Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen!““
Gustav Seibt: „Die Burschenschafter träumten von einem geeinten, republikanischen, ethnisch homogenen Vaterland, von der Herrschaft des Volks. Ihre Feinde waren die deutschen Fürsten, die Franzosen und für sehr viele auch die Juden. Demokratie und völkisches Denken gingen bei den Extremisten eine zukunftsträchtige Verbindung ein, so bei jenen "Unbedingten", die nachtschwarze Kleidung trugen, auf der die Waffen wie Sterne glänzen sollten.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/kotzebue-mord-sand-burschenschafter-mord-1.4379210
Nun ist Nationalismus nicht ausschließlich schlecht. Für eine deutsche Nation zu sein, ist Anfang des 19. Jahrhunderts sogar ganz gut, vor allem wenn mensch bedenkt, dass Deutschland in viele Einzelstaaten zerfallen ist und viele Idealisten in die Einheitskriege gegen Napoleon gezogen sind – um später feststellen zu müssen, dass die Versprechen der deutschen Einigung und liberaler Verfassungen gebrochen wurden. Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/373-erzherzog-aller-demokraten.html
Alles andere als gut ist jedoch, dass das Deutsche als überwältigend gut gehalten und überwiegend nur darauf geschaut wird. Was sich übrigens selbst im liberalen Bürgertum bis 1945 hält. Der Wurm hatte den Bildungsbürger Joachim Fest aus seinem Buch „Ich nicht – Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend“ folgendermaßen zitiert: „Im Verlauf der Monate, die ich mich mit Somerset Maugham beschäftigte, bin ich auf keine umständliche oder gar langweilige Zeile gestoßen. Die Lektüre machte mir im Anschluß an das erste Gespräch mit Captain Donaldson auch klar, daß meine literarischen Kenntnisse bislang zu einseitig von klassischen deutschen Texten bestimmt waren, daß ich weder Musil noch Heinrich oder Thomas Mann kannte, auch Balzac nicht, Flaubert, Dickens oder die großen Russen: durchweg häufig auftauchende Namen, mit denen ich nicht viel anzufangen wußte.“
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/255-glanz-und-elend-des-buergertums.html
Was da im deutschen Nationalismus stört, sind jedoch Menschen und Institutionen, die vielleicht nationalistisch sein können, aber doch eine gewisse Weltoffenheit haben. Feindbilder sind entsprechend Juden, der Katholizismus und solche Einzelpersonen wie August von Kotzebue.
Feindbild Kotzebue
Christoph Schmitz-Scholemann: „Nach dem Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht von 1813 wurde August von Kotzebue zur bevorzugten Zielscheibe nationalistischer Feindseligkeiten. Der weltgewandte und witzige Autor, über dessen Komödien sich ganz Europa amüsierte, hatte zwar gegen die napoleonische Fremdherrschaft angeschrieben. Aber von Hass und Rache hielt er nichts.
Er war 1761 in Weimar geboren, hatte bei Goethe Theaterspielen gelernt, studierte Jura, lebte in Paris und Wien und war lange Jahre Beamter des russischen Zaren. Schon dieser internationale Lebenswandel war in den Augen der Turner und Burschenschafter zutiefst unpatriotisch. Für sie war Kotzebue, der seit 1817 wieder in Weimar lebte, ein russischer Spion. Auf dem Wartburgfest im selben Jahr warfen sie seine Bücher ins Feuer.
Kotzebue wehrte sich, indem er öffentlich über die deutschtümelnde Kraftmeierei der Studenten lästerte: „Wir leben in lauter Holla! und Heda! Es soll immer drunter und drüber gehen und das ist deutsch! Auf den Gräbern der Nibelungen muss geturnt werden – und das ist deutsch!“
Die Jenaer Burschenschafter blieben die Antwort nicht lange schuldig. Vor Kotzebues Haus in Weimar legten sie einen anonymen Brief nieder: „Fahre fort, Kotzebue, vielleicht wirst Du selbst und nicht allein Deine Schrift verbrannt.“
Als einige Tage später Steine in Kotzebues Wohnzimmerfenster flogen, zog er nach Mannheim um. Es rettete ihn nicht. Anfang 1819 machte sich Karl Ludwig Sand von Jena nach Mannheim auf den Weg. Im Gepäck trug er die Mordwaffe und im Herzen jenes düstere Gebräu, dem Kotzebue ein anderes Ideal von Deutschtum entgegengehalten hatte.
„So bewahre uns doch der Himmel vor solcher Deutschheit! Wir leben in der frohen Hoffnung, dass aus der trüben Wolke der eigentliche deutsche Nationalcharakter wieder hervortreten werde: Rechtlichkeit, die ohne Milde nicht gedacht werden kann!““
Gustav Seibt: „Wofür stand Kotzebue in den Augen seiner Feinde? Er war ein äußerst erfolgreicher, massenhaft publizierender Autor in allen Genres, vom Drama bis zum politischen Kommentar. Mehr als zweihundert Theaterstücke gibt es von ihm, mehrere Dutzend hat Goethe, der ihn freilich nicht mochte, am Weimarer Hoftheater aufgeführt.
Darüber hinaus war August von Kotzebue aber auch eine politische Figur, zuletzt als russischer Staatsrat, der die Regierung mit Berichten zur intellektuellen Szene, vor allem den Universitäten in Deutschland versorgte. Denn die deutschen höheren Bildungsanstalten galten als Stätten staatsgefährdender Unruhe, allen voran Jena, wo sich die Burschenschaften vereinigt und 1817 das Wartburgfest organisiert hatten.
Dabei hatte es eine symbolische Bücherverbrennung gegeben, die neben den Büchern jüdischer Autoren auch Schriften staatstragender Autoren wie Kotzebue betraf.
Dieser zog 1818 wieder in seine Geburtsstadt Weimar, wo er früherer Literaturfehden wegen schlecht gelitten war - Goethe ignorierte ihn nach Kräften und sandte der Bücherverbrennung ein paar Spottverse nach -, aber für sein Beobachtungsfeld genau am richtigen Ort saß.
Weimar war nicht nur der berühmte Musenhof, sondern besaß vor allem seit 1816 eine verfassungsrechtlich garantierte Pressefreiheit, sehr zum Ärger von Preußen und Österreich. Von hier aus sandte Kotzebue giftige Bulletins vor allem über die Jenaer Professoren und Studenten nach Sankt Petersburg.
Durch die Indiskretion eines Schreibers gelangte eines dieser Geheimdossiers im Frühjahr 1818 an die Jenaer Öffentlichkeit, wo es sofort einen Sturm der Empörung auslöste. Nun begann Sand davon zu fantasieren, "einem solchen Landesverräter das Schwert ins Gekröse zu stoßen".
Der patriotische Hass auf unbefriedigende Zeitumstände richtete sich gegen den reaktionär-kosmopolitischen Literaten Kotzebue: Pressefehden mit tödlichem Ausgang also.
Aber doch mehr. In den politischen Koordinaten der Zeit stand Kotzebue als spätaufklärerischer, der neuen Vaterlandsmode abgeneigter Fürstendiener für das Alte; zudem galten seine Dramen, darunter viele Liebeskomödien, als moralisch anrüchig. Jedenfalls genügten sie nicht den Keuschheitsvorstellungen der vaterländischen männlichen Jugend, deren Ideal das Freischärlertum der antinapoleonischen Kriege war.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/kotzebue-mord-sand-burschenschafter-mord-1.4379210
Die Bloßstellung deutschen alltäglichen Gebarens wie etwa in „Die deutschen Kleinstädter“ kam da auch nicht gut an.
Der Mord
Gustav Seibt: „Im Frühjahr 1819 besuchte in Jena ein schwarz gelockter, gut aussehender Student der Theologie eine Vorlesung der Anatomie. Dort interessierte er sich besonders für die genaue Lage des menschlichen Herzens. Später ließ er sich dann einen spitzen Dolch scharf schleifen und ein kleines Schwert anfertigen.
Mit diesen Waffen übte er bestimmte Handbewegungen: Erst sollte der Dolch das Gesicht treffen, damit das Opfer die Hände nach oben reiße und den Oberkörper entblöße. Mit einem zweiten Stoß sollte das Schwert die Brust aufschlitzen.
Am 9. März begab sich der junge Mann auf die Reise nach Mannheim, nicht ohne in seinem Schreibtisch lange Schriftstücke zu hinterlassen, in denen er mitteilte, was er vorhatte.
Doch niemand verdächtigte den tadellosen Beamtensohn, der am liebsten in der modischen altdeutschen Tracht der national gesinnten Burschenschafter herumlief: schwarzer enger Rock, weite Hosen, schräg gelegtes Barett über langen Haaren.
Zwei Wochen später erreichte der Student sein Ziel, wo er unter falschem Namen in einem Gasthof abstieg und sich unauffällig nach dem Wohnhaus des erst kürzlich von Weimar nach Mannheim gezogenen Schriftstellers und russischen Staatsrats August von Kotzebue erkundigte.
Dieser, weltberühmt, der meistgespielte Dramatiker seiner Zeit - seine Stücke gingen auch in London, Paris und sogar Nordamerika über die Bretter -, hatte am Vormittag des 23. März 1819 keine Zeit, der Besucher wurde auf den Nachmittag vertröstet.
Carl Ludwig Sand, so der Name des Studenten, hatte mehrere Stunden Zeit, sich seinen Plan noch einmal zu überlegen. Er aß zu Mittag und plauderte bedächtig mit anderen Tischgästen. Gegen fünf erschien er wieder bei Kotzebues, wo gerade eine Damengesellschaft begann, und wurde vom Hausherrn im Wohnzimmer empfangen.
Die Bluttat gelang. Sands Dolch traf den Oberkiefer seines Opfers, wo er zunächst stecken blieb, sein Schwert drang zwischen Kotzebues Rippen und zersäbelte eine Arterie. Während der 58 Jahre alte Schriftsteller zusammenbrach, kam sein vierjähriger Sohn ins Zimmer.
Er glaubte zunächst an ein Ritterspiel seines Vaters mit dem Fremden. Dann schrie der Junge, und Sand befiel das Gefühl, dem Kind ein Unrecht getan zu haben. Er versuchte sich mit seinem Schwert zu töten, vergeblich, wenn auch blutig. Der Vierundzwanzigjährige überlebte und wurde in ein Spital verfrachtet, während Kotzebue noch am Tatort verstarb.
Man nennt diesen Mord das erste politische Attentat der deutschen Geschichte. Dass es politisch gemeint war, zeigte ein von Sand mitgebrachtes Manifest, das den Titel "Todesstoß dem August von Kotzebue" trug.
Dieser Text, den Sand nach Luthers Vorbild mit seinem Dolch an eine Kirchentür hatte heften wollen, seine letzten Briefe an die Eltern, Tagebuchaufzeichnungen und Verhörprotokolle der badischen Polizei zeigen das Bild einer radikalen moralischen Selbstermächtigung.
Damals war das neu, bei den Obrigkeiten erregte es Entsetzen, und darum wurden Sands Selbstzeugnisse in Zeitungsberichten und langen Dokumentationen überall verbreitet. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat sich die Welt an diese Textsorte gewöhnen müssen: kaum ein Attentat ohne Bekennerschreiben, ohne Manifest.
Sand sah sich als Vollstrecker einer Volksrache, die das Vaterland von einem Verräter und Beschmutzer befreien wollte. Seine Entschlossenheit hatte er in studentischen Zirkeln begründet, die sich "Unbedingte" nannten und die behaupteten, wenn ein Staat nicht strafen könne oder wolle und die "Existenz eines derart ratlosen Zustands anzunehmen sei, dass das Strafrecht des Einzelnen erwache, und diesem dann das Straf-Amt zustehe".
Das ist die auch heute noch vor allem bei Rechten geläufige Gedankenfigur von Ausnahmezustand und Selbsthelfertum. Bei dem protestantischen Theologen Sand verband sie sich mit der lutherischen Konzeption vom Priestertum aller Gläubigen: Jeder ist berufen zur reinigenden Tathandlung, und wenn niemand sonst es macht, dann gilt, was Sand verkündete: "Wer wird mir's glauben, dass den Tod ich leiden will, wenn ich's nicht wirklich zeige." Denn Deutschland könne sein wie Christus, wenn es erst frei, rein und selbstbestimmt sei.
Die Schockwellen dieser Tat, die sich innerhalb weniger Tage über ganz Europa ausbreiteten, waren gewaltig, aber sehr unterschiedlich. In den Kanzleien und bei den oberen Ständen herrschte Entsetzen, das sich sofort mit Kalkülen verband, die Tat politisch zu nutzen.
Die niederen und bürgerlichen Klassen dagegen reagierten oft voller Bewunderung für das Selbstopfer des Täters. Der katholische Publizist Joseph Görres sprach von "Missbilligung der Handlung bei Billigung der Motive".“
https://www.sueddeutsche.de/politik/kotzebue-mord-sand-burschenschafter-mord-1.4379210
Christoph Schmitz-Scholemann: „Während das Opfer tödlich getroffen zusammenbrach, hieb sich der Täter selbst in die Seite und drückte, blutbespritzt aus dem Hause flüchtend, einem Diener ein Pamphlet in die Hand.
„Frei die Gewissen! Frei die Rede! Auf du mein deutsches Volk! Hasse, morde alle, die sich in frevler mutwilliger Gesinnung so sehr überheben, dass sie des Göttlichen in dir vergessen.“"
Die Folgen
Christoph Schmitz-Scholemann: „Nach der Tat erklärte Sand, sein Gewissen stehe als Stimme Gottes über dem weltlichen Gesetz. Das Gericht ließ diese Gotteskrieger-Logik nicht gelten. Im Mai 1820 wurde Sand als Mörder verurteilt und enthauptet.
Der Mord hatte die politische Welt tief erschüttert. Die im Deutschen Bund vereinigten Länder hatten schon im Herbst 1819 reagiert: Mit den „Karlsbader Beschlüssen“ nahmen sie die zarten Ansätze von Presse-, Meinungs- und Forschungsfreiheit, die es nach den napoleonischen Kriegen gegeben hatte, zurück. Es begann eine fast dreißigjährige Epoche staatlicher Zensur und Gesinnungsschnüffelei.
Karl Ludwig Sand, so sehr er auch in manchen Kreisen bis heute verehrt wird, hat der Sache der Freiheit und des Rechts einen schlimmen Dienst getan.“
Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/187-heilige-allianz.html
Lohn der Wahrheit?
Die Universitätsbibliothek Mannheim erinnert in der Ausstellung „Lohn der Wahrheit?" an den Kotzebue-Mord.
Ein kurzes Video zur Ausstellung ist vom SWR zu sehen: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/mannheim/Ausstellung-in-der-Mannheimer-Universitaetsbibliothek-Mord-an-August-von-Kotzebue-jaehrt-sich-zum-200,kotzebue-mord-jahrestag-100.html
Und mehrere Schriften aus der damaligen Zeit mit kurzen Kommentaren dazu auf der Seite der Universitätsbibliothek (sehr lohnenswert): https://digi.bib.uni-mannheim.de/ausstellung/kotzebue/
Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm