Das Auge des Kriegers

Während der Langeweile des Liegens sucht man sich mannigfaltig zu zerstreuen; so vertrieb ich mir einmal die Zeit, indem ich meine Verwundungen zusammenzählte. Von Kleinigkeiten wie von Prellschüssen und Rissen abgesehen, hatte ich im ganzen mindestens vierzehn Treffer aufgefangen, nämlich fünf Gewehrgeschosse, zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel, vier Handgranaten- und zwei Gewehrgeschoßsplitter, die mit Ein- und Ausschüssen gerade zwanzig Narben zurückließen. In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von diesen Geschossen auf mich persönlich gezielt waren. Ich heftete daher das Goldene Verwundetenabzeichen, das mir in diesen Tagen verliehen wurde, mit Recht an meine Brust.

Der Mann sollte noch lange leben: vor 20 Jahren starb Ernst Jünger im Alter von 102 Jahren als „Mann des 20. Jahrhunderts“, der beträchtlichen Einfluss auf das 21. Jahrhundert hat.

Wie kaum ein zweiter beharrt Ernst Jünger auf seiner Individualität, was ihn jedoch nicht hindert, die Gemeinschaft zu suchen und sich in ihr wohlzufühlen. Probleme mit Menschen hat er keine, ob sie nun von links, rechts, oben oder unten kommen – er redet mit allen, auch, wenn sie anderer Meinung sein sollten. Er kennt seine Schwächen, weiss, dass ihm „Vereinsmeierei“ nicht liegt und lässt es deshalb gleich bleiben.

Was er aber kann, ist beobachten und beschreiben. Ob es sich um Insekten, Menschen oder Situationen handelt. Nüchtern und emotionslos, aber manchmal auch mit esoterischem Geschwurbel.

Restlos zufrieden ist er nie. Sehr zum Leidwesen jener, die sich mit seinen Werken befassen und feststellen müssen, dass es mehrere Fassungen seiner Werke mit stilistischen und inhaltlichen Änderungen gibt.

Ernst Jünger lässt sich nicht leicht einordnen. Die Begriffe „rechts“, „nationalistisch“, „konservativ“ könnten einem als erstes einfallen. Jene Bezeichnung, die auf ihn am ehesten zutrifft, ist das Wort „aber“. Nichts passt so richtig zu ihm, auch nicht die drei zuerst erwähnten Begriffe. Es wäre nicht verkehrt, zu behaupten, dass jeweils das Gegenteil richtig sei.

Die Verlockung, ihn zu verdammen, kommt einem Wurm mehrfach – aber da gibt es ja noch die andere Seite.

Bei aller Kritik, die an Ernst Jünger vorzubringen ist, muss das Umfeld und die Zeit, in der er tätig war, berücksichtigt werden. Große Hilfen waren dem Wurm die großartigen Bücher „Ernst Jünger – Die Biographie“ von Helmuth Kiesel und „Ernst Jünger – Leben und Werk in Bildern und Texten“ von Heimo Schwilk.

 

In Stahlgewittern - Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers

 

Aus „Wikipedia“: „Da Jünger den Text nach Fertigstellung elfmal überarbeitete (es gab also zwölf Versionen des Textes) und davon sieben Fassungen (einschließlich der Originalfassung) erschienen (1920, 1922, 1924, 1934, 1935, 1961, 1978), stellt sich die Frage, ab wann man die Stahlgewitter als abgeschlossenes Werk auffassen kann …

Jünger schildert die Kampfhandlungen aus der Perspektive eines jungen Kriegsfreiwilligen, der sich nach seiner ersten, im Frühjahr 1915 in der Champagne erlittenen Verwundung zum Infanterieoffizier weiterbilden lässt und anschließend in der Gegend von Arras den Stellungskrieg kennenlernt. Im Zuge seiner Teilnahme an den Kriegsereignissen der folgenden Jahre (u. a. Schlacht an der Somme, Dritte Flandernschlacht, Schlacht von Cambrai, Deutsche Frühjahrsoffensive 1918) entwickelt er sich zum erfahrenen Stoßtruppführer, der zumeist an vorderster Front eingesetzt und mehrfach verwundet wird und hohe Tapferkeitsauszeichnungen erhält (die der Autor mehrfach erwähnt). Er begibt sich oftmals, häufig freiwillig und dem Anschein nach stärker von Neugier und Abenteuerlust als von Pflichtbewusstsein getrieben, in sehr gefährliche Situationen, die er mit der ihm eigenen Mischung aus „Phlegma“, Sinnesschärfe und kaltblütiger Entschlossenheit und sehr oft mit unerhörtem Glück überlebt.“

https://de.wikipedia.org/wiki/In_Stahlgewittern

https://archive.org/stream/instahlgewittern34099gut/pg34099.txt

Die „Stahlgewitter“ waren anfangs kein Bestseller, wurden aber militärisch gelesen und begründeten Ernst Jüngers Laufbahn als Schriftsteller.

Was auf den Wurm verstörend wirkt, sind die positiven Reaktionen von links, vor allem von Erich Maria Remarque. Gut, die Schrecken des Krieges werden beschrieben – letztendlich handelt es sich aber doch um eine Kriegs-Verherrlichung und um ein Monument der Dummheit.

Was die „Stahlgewitter“ und die weiteren kriegerischen Werke von Ernst Jünger wertvoll macht, ist, wie der Krieg aus dem Auge des Kriegers gesehen wird.

Die Schlüsselpassage des ganzen Buches lautet:

Dieses Trankopfer nach glücklich bestandener Schlacht zählt zu den schönsten Erinnerungen alter Krieger. Und wenn zehn vom Dutzend gefallen waren, die letzten zwei trafen sich mit Sicherheit am ersten Ruheabend beim Becher, brachten den toten Kameraden ein stilles Glas und besprachen scherzend die gemeinsamen Erlebnisse. In diesen Männern war ein Element lebendig, das die Wüstheit des Krieges unterstrich und doch vergeistigte, die sachliche Freude an der Gefahr, der ritterliche Drang zum Bestehen eines Kampfes. Im Laufe von vier Jahren schmolz das Feuer ein immer reineres, ein immer kühneres Kriegertum heraus.

Ernst Jünger schildert leicht verständlich, wie es im Krieg so zugeht, welch große Kameradschaft herrscht.

Er gehört nicht zu den Dumpfbacken, die sich durch Propaganda ein Feindbild aufschwatzen lassen. Im Gegenteil: mehrfach äußert er größten Respekt vor dem Feind, vor allem vor Engländern. Ob in ihrer Gesamtheit oder als Einzelpersonen, die er leider töten muss.

„Ein Jammer, solche Kerle totschießen zu müssen“, dachte ich, als ich ihn sah.

Es ist im Kriege immer mein Ideal gewesen, den Gegner unter Ausschaltung jedes Haßgefühls nur im Kampfe als solchen zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute entsprechend zu werten. Ich habe gerade in diesem Punkte unter den englischen Offizieren viele verwandte Naturen kennengelernt.

Während einer Kampfpause kommt es schon beinahe zur Verbrüderung zwischen Engländern und Deutschen:

Als ich am anderen Morgen völlig durchnäßt den Stollen verließ, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Das Gelände, dem bisher die Einsamkeit des Todes ihren Stempel aufgedrückt, hatte das Aussehen eines Jahrmarktes angenommen. Die Besatzung beider Gräben war von dem furchtbaren Schlamm auf die Brustwehren getrieben, und schon hatte sich vor den Drahtverhauen ein lebhafter Verkehr und Austausch von Schnaps, Zigaretten, Uniformknöpfen usw. entwickelt. Die Menge khakifarbener Gestalten, die den bisher so öden englischen Gräben entquoll, wirkte direkt verblüffend.

Gegen Ende des Krieges wird immer deutlicher, dass auf der deutschen Seite Verpflegung und Nachschub immer schwächer werden, während die Überlegenheit des Gegners an Menschen und Material immer größer wird.

Das schildert Ernst Jünger sehr klar und entlarvt damit die später entstandene „Dolchstoß-Legende“ als Lüge.

 

Was fehlt?

 

So wahrheitsgetreu die Kriegs-Erlebnisse auch sein mögen, so fällt doch auf, dass einige Dinge fehlen bzw. nur ganz kurz am Rande erwähnt sind.

Auf jeden Fall jene, die er in späteren Schriften erwähnt.

Wie die Fehler der deutschen Führung oder zuletzt die „Stimmung“ in der Truppe. Wer die „Stahlgewitter“ liest, könnte meinen, es hätte nur kriegerische Helden gegebe - da hat keiner Angst, keiner dreht durch. Auch werden keine Diskussionen geführt über Sinn und Zweck des Krieges, auch nicht über die gerade stattgefundene Russische Revolution (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/304-erschuetterung-der-welt.html ). Ebenso sollte die „Judenzählung“ von 1916 (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/122-triumph-und-tragik-des-fritz-bauer.html ,http://de.wikipedia.org/wiki/Judenz%C3%A4hlung) auf die eine oder andere Art und Weise Gesprächsthema gewesen sein.

Erotik kommt, wenn, dann nur andeutungsweise vor; militärisch organisierte Kriegsprostitution, mehrere amouröse Abenteuer werden in späteren Schriften erwähnt. Genauso Maßnahmen, wenn jemand „von Venus geschlagen“ wurde (also sich eine Geschlechtskrankheit wie die Syphilis zugezogen hatte).

Dass er ausgiebig Käfer gesammelt und Bücher gelesen hat wird nur ganz am Rande erwähnt.

 

Wofür das alles?

 

Beim Anblick der von blühenden Kirschbäumen bekränzten Neckarberge empfand ich ein eigentümliches, starkes Heimatgefühl. Wie schön war doch das Land, wohl wert, dafür zu bluten und zu sterben.

Also für blühende Kirschbäume an den Neckarbergen?

Ernst Jünger ist frankophil, hat Respekt vor den Briten, begeistert sich für Belgien (zumindest den flämischen Teil) – was ihn nicht hindert, die jeweiligen Menschen und Landschaften zu töten und zu zerstören. Ohne zu fragen, wofür.

Es ist ihm völlig egal, aus welchen Gründen und gegen wen Krieg geführt wird. Er ist bereit, jeden Menschen aus jeder Gruppe zu töten. So, wie es ihm befohlen wird.

 

Weitere Kriegsschriften

 

Aus Helmuth Kiesels Jünger-Biographie:

„In unterschiedlicher Brechung und Akzentuierung stellen alle diese Schriften Versuche der Traumabewältigung und der Sinngebung dar. Die wichtigsten Axiome der Deutung lauten: Der Krieg war der große Umwerter aller Werte. Er beendete das materialistisch und nihilistisch gewordene bürgerliche Zeitalter, ermöglichte neue oder „elementare“ seelische Erfahrungen und bereitete die Erscheinung eines „neuen Menschen“ vor. Daß die Deutschen den Krieg verloren haben, ist demgegenüber bedeutungslos; ja mehr noch: Die Niederlage wird diese Erfahrungen vertiefen und sich für die weitere geschichtliche Entwicklung als positiver Posten erweisen. Im Krieg offenbarte die imperialistische Moderne, die zur totalen Mobilisierung ihrer Kräfte und zum Brechen aller Widerstände entschlossen war, welche Ansprüche sie an den Menschen stellte; insofern war der Krieg für Jünger die Schule der Moderne, und die Erfahrungen des Kriegs dienten ihm immer wieder als Schlüssel für die Interpretation der Epoche. Diese Positivierung des ja durchaus auch traumatisierenden „Kriegserlebnisses“ äußerte sich in den politischen Schriften der Jahre nach 1925 in Formulierungen, die das, was in den Kriegsbüchern gesagt wird, bündeln und bisweilen überbieten. So heißt es in dem Aufsatz Der Frontsoldat und die Wilhelminische Zeit, der am 20. September 1925 in der Zeitschrift des Wehrverbands Stahlhelm erschien:

Durch den Krieg wurde der Frontsoldat diesem Abschluß (seiner Sozialisation im wilhelminischen Lebensstil) entzogen und in ganz andere Bahnen gerissen. Er betrat eine neue, unbekannte Welt, und dieses Erlebnis rief in vielen jene völlige Veränderung des Wesens hervor, die sich am besten mit der religiösen Erscheinung der „Gnade“ vergleichen läßt, durch welche der Mensch plötzlich und von Grund auf verwandelt wird.

Für die unentwegten und angestrengten Sinngebungsversuche, die er mit seinen Kriegsbüchern und in seiner politischen Publizistik unternahm, ist Jünger häufig und heftig kritisiert worden. Meist wurde dabei übersehen, wieviel Anteil an seinen Kriegsschriften Klage und Trauer haben. Und ebenso wurde dabei übersehen oder unterschätzt, wieviel seelische Notwendigkeit hinter diesen Sinngebungsversuchen steckte. Dies hat immerhin Tucholsky bemerkt, der in der Weltbühne immer wieder Weltkriegserinnerungen von Offizieren besprach und kritisierte; auch Jüngers Schriften waren ihm spätestens ab 1927 bekannt. In einem Artikel, der unter der Überschrift Über wirkungsvollen Pazifismus am 11. Oktober 1927 in der Weltbühne erschien, beschrieb Tucholsky aber auf eine überraschend verständnisvolle Weise das Motiv, das sich in vielen dieser Kriegsbücher - und jedenfalls in den Jüngerschen - artikulierte:

Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers darauf machen. Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen versuchen oder sie lebendig halten - aber daß sie sinnlos gewesen seien, das kann er nicht annehmen. Der Pazifismus hat seinen großen Augenblick versäumt, welcher das Ende des Jahres 1918 war. Wir haben den Millionen, die zurückgekehrt sind, kein seelisches Äquivalent für ihre Leiden gegeben - hätte man die Krüppel als Opfer einer Idee gefeiert, so wäre das im Menschen wohnende Element der lebensnotwendigen Eitelkeit Triebfeder zum Frieden, zur Kriegsverneinung geworden. Die andre Seite hat diese gebornen Agenten des Pazifismus eingefangen.

Es ist sehr die Frage, ob eine Umsetzung von Tucholskys taktischer Idee aufgegangen wäre und eine pazifizierende Wirkung entfaltet hätte. Daß ein großer Teil der Weltkriegssoldaten am Militarismus festhielt, ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß diese ehemaligen Soldaten ihre Leistungen und Opfer ignoriert fanden, sondern auch darauf, daß sie für die Probleme der Gegenwart kaum eine andere Lösung als eine militärische sahen. Indessen muß diese Frage hier nicht weiter erörtert werden. Festzuhalten bleibt, daß Tucholsky das Motiv, dem Jüngers Kriegsbücher sich in hohem Maß verdanken, aufgedeckt und anerkannt hat: „Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers darauf machen.““

 

Der Kampf als inneres Erlebnis

 

Epochenwende

 

„Für Jünger war die „Verinnerlichung“ des Kriegs ein Gebot der Stunde und zugleich eine Aufgabe von historischer Tragweite. Wie die expressionistischen Autoren, die Kurt Pinthus 1919/20 mit der berühmten Gedichtsammlung Menschheitsdämmerung ins Bewußtsein gerufen hatte, fühlte sich Jünger an einer Epochenwende von weit- und heilsgeschichtlicher Bedeutung. Der Kampf als inneres Erlebnis hebt mit der Pathetik und der weit ausholenden Gebärde an, die schon die Expressionisten von Nietzsche übernommen hatten …

Es versteht sich bei Jünger von selbst, daß der Krieg dieses neue Gestirn war - und zugleich das geschichtliche Aggregat, in dem die alte „Ordnung“ liquidiert oder in einen „Glutstrom“ verflüssigt wurde, der nun einer neuen Formung harrte. Was in Kampf als inneres Erlebnis postuliert und prophezeit wird, ist die Emergenz einer neuen Welt oder Kultur, in der vollends zur Geltung kommen wird, was sich im Krieg angebahnt hat und was Jünger in einer Folge von dreizehn prägnant formulierten Kapiteln, die zwischen Erfahrungsbericht und Programmschrift oszillieren, unter je einem bedeutungsvollen Stichwort als Essenz des Kriegs zu profilieren sucht.“

 

Fehler des Pazifismus

 

„Es ist der Fehler des Pazifismus, daß er diese Disposition des Menschen zum Krieg verkennt und zugleich übersieht, daß es „die heilige Pflicht der höchsten Kultur“ ist, „die stärksten Bataillone zu haben“; denn „Leben heißt töten“ oder getötet werden.“

 

Rechtfertigung des Krieges

 

„Insgesamt ist Der Kampf als inneres Erlebnis ein gedanklich und sprachlich aufs äußerste forcierter Versuch einer Rechtfertigung des Kriegs unter hauptsächlich drei Aspekten: (1.) Anthropologisch wird der Krieg im „Leben“ verankert, das - Nietzsche zufolge - durch den „Willen zur Macht“ bestimmt ist, und in der menschlichen Natur („Blut“), die ihre tierische Herkunft trotz aller Humanisierung nicht losgeworden ist und nicht loswerden kann. Manches, was Jünger zur atavistischen Erbschaft des Menschen und zur „dünnen Tünche unserer sogenannten Kultur“ sagt, erinnert nicht nur an Nietzsche und Spengler, sondern kommt bis in die Formulierung hinein dem nahe, was Freud 1915 in seinen beiden Essays Zeitgemäßes über Krieg und Tod darlegte. Von Freud unterscheidet sich Jünger freilich dadurch, daß er um jeden Preis gutheißen will, was jener nur beklagen kann. Im übrigen erlaubt die Verankerung des Kriegs in der menschlichen Natur, daß Jünger von einer Suche nach politischen, ökonomischen oder sozialen Gründen völlig absehen kann. (2.) Geschichtsphilosophisch deutet Jünger den Krieg mit einer hegelianischen Vorstellung als Werkzeug des „Weltgeist(es)“ und im Anschluß an Nietzsche als Transformation einer vernunftbestimmten in eine triebbestimmte Kultur. Diese wird allerdings nicht „primitiv“ sein; vielmehr werden Trieb und Intellekt sich paaren und die Technik in ihren Dienst nehmen, um Schlachten von unerhörter Größe und „Schönheit“ zu schlagen. Welchem Ziel diese Schlachten dienen, ist für Jünger indessen nicht wichtig: „Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor“.

Das ist die Übertragung des L‘art pour l'art auf die Geschichte - und mithin auch das Ende einer teleologischen Geschichtsphilosophie: Schlachten um der Schlachten willen. Ihr „Wert“ wird nicht mehr darin gesehen, daß sie helfen, ein politisch, ökonomisch, sozialethisch oder kulturell begründetes Ziel herbeizuführen, sondern darin, daß sie der auf Kampf und Krieg angelegten menschlichen Natur erlauben, sich in exzessiver und zugleich erhabener Weise zu entfalten. (3.) Kampf und Krieg werden damit auch als ästhetische Phänomene gewürdigt und gerechtfertigt. Was Nietzsche in seiner Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vom „Dasein der Welt“ insgesamt gesagt hatte, daß es nämlich nach dem Zerfall der Werte „nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt“ sei, überträgt Jünger auf den Krieg: Kampf bedeutet Rausch und Ekstase, ist „Leben im Katarakt“, in dem sich der Mensch von „Rasse“ (nicht im biologischen Sinn!) als „Tänzer“ im Sinne Nietzsches erfährt: als jemand, der die Figuren des Lebens leicht und souverän realisiert. Der Krieg als gewaltige Entfaltung des Willens zur Macht ist erhaben und feierlich. Seine barbarischen, grausigen, wüsten, dreckigen, schäbigen und irrsinnigen Aspekte werden nicht geleugnet, sondern eher betont. Die Ästhetik des Häßlichen und Schrecklichen, die seit der Romantik um sich griff und im expressionistischen Jahrzehnt eine besondere Virulenz entfaltete, hat gelehrt, derartige Momente nicht als Störung, sondern als integralen Bestandteil oder gar als Steigerung des Schönen und Erhabenen zu empfinden.“

 

Hei, wie das spritzt!

 

„Anderes ist hingegen nur erschreckend und abstoßend: so vor allem das perverse Bekenntnis zur Lust des massenweisen Tötens mit dem Maschinengewehr, auch wenn es rollenhaft formuliert ist und Jüngers Kriegstagebücher keinen Hinweis auf eine eigene Aktion dieser Art enthalten:

Aber wenn man selbst voll grimmer Lust hinterm Maschinengewehre hockt, dann ist das Gewimmel da vorn nicht mehr als ein Mückentanz. Zum Dauerfeuer! Hei, wie das spritzt! Da kann gar nicht Blei genug aus der Mündung fegen. Und nachher sitzen sie beisammen und erzählen: „Junge, das war schön! Das war wenigstens noch Krieg. Da lag einer neben dem andern wie hingerotzt!““

 

Frauenbild

 

„Der zweite Abschnitt des Kapitels „Eros“ lautete in der Erstfassung:

Naturgesetz, daß diese Wiederentdeckung der Gewalt, auf die Spitze getriebenes Mannestum, zusammenfallen mußte mit einem Wirbel der Erotik. Starrende Wucht und Glut des männlichen Gedankens durchstürzten das Weib zu Hingabe wie Güsse siedenden Bleies eine Tafel Wachs. Dazu das gesteigerte Hinunterschlingen des Lebens, des rein animalischen Genusses am Sein im rasenden Tanze vorm Schlunde der Ewigkeit.“

 

Heldenlieder

 

„Was Jünger vorschwebte, war ein Heldengemälde oder Heldengedicht, das auf leidenschaftlicher Erfahrung des Kriegs basierte und im Geist Homers gehalten sein sollte. Im Kapitel „Mut“ heißt es in der Originalfassung:

An Mut war diese Zeit so überreich wie keine. Mancher Hektor, mancher Achill blieb in den Nebeln der Feldschlacht. Auch sie werden ihren Homer finden. Nicht einen von den überklugen Literaten, die täglich ihr Fingerhütchen Gift verspritzen. Auch jene sind nicht berufen, die während des großen Rausches abseits in Genf oder Amsterdam am Feuerchen saßen und alles schon vorher wußten. Nicht das andere Erleben und nicht der kalte Verstand bezeichnen den Dichter, sondern das Herz, das zwischen allen Begeisterungen und Torheiten seiner Zeit im Strome treibend, unter den Strudeln und Wirbeln des Geschehens die göttliche Kraft errät und durch seine Kunst sich selbst und die Namenlosen ringsum erlöst. Verständnis ist alles. Künstler sein heißt alle Kräfte der Zeit bejahend umfassen, die Sonne der großen Liebe in sich tragen, die alles bescheint. Noch ist die Welt eiskalt.“

 

Sturm

 

Biologismus – Krieg fällt nicht ins Gewicht

 

„Georg Friedrich Nicolai gehörte zu den Kriegsgegnern. Als im Oktober 1914 dreiundneunzig renommierte „Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst“ einen „Aufruf an die Kulturwelt“ erließen, in welchem sie die deutsche Kriegsführung gegen ausländische Kritik verteidigten, schrieb Nicolai zusammen mit Albert Einstein einen „Aufruf an die Europäer“, der dafür plädierte, den Krieg beizulegen und „aus Europa eine organische Einheit zu schaffen“. Für das Sommersemester 1915 plante Nicolai eine Vorlesung über den „Krieg als biologischen Faktor in der Entwicklung der Menschheit“, die aber nicht stattfinden konnte, weil Nicolai als notorischer Kriegsgegner eingezogen und in die Festung Graudenz versetzt wurde. Dort schrieb er im Verlauf des Jahres 1915 die Biologie des Krieges, die dann zweimal in Zürich publiziert wurde: 1917 in entstellter, 1919 in überarbeiteter und vom Verfasser autorisierter Form. Die Abhandlung ist ein systematisch angelegter und über 530 Druckseiten sich erstreckender Versuch, die Kriegsphilosophie der Vorkriegszeit zu widerlegen und den Krieg unter biologischen, psychologischen, soziologischen, ökonomischen und ethischen Gesichtspunkten als verfehlt, schädlich, unfruchtbar und rückständig zu erweisen. Alle Argumente der Befürworter des Kriegs werden geprüft und entkräftet. Auch der von Jünger gepflegten Vorstellung, daß der Krieg eine neue „Rasse“ oder Elite entstehen lasse, wird widersprochen: Der moderne Krieg, so Nicolai, bringt keine Auslese hervor, sondern tötet wahllos und verschlingt am ehesten die Mutigsten und Besten. Die seelischen Folgen sind negativ; sie bedeuten einen Rückfall der Menschen auf frühere Entwicklungsstufen. Von ökonomischen Vorteilen können, wenn man alles einkalkuliert, kaum die Sieger sprechen, die Menschheit insgesamt schon gar nicht. Freilich sagt Nicolai auch, daß der Krieg „seine letzten Gründe in den geheimsten und tiefsten Regungen der menschlichen Seele hat“, also letztlich nicht auf politische oder ökonomische Motive zurückzuführen ist. Auch macht Nicolai, ganz objektiver Naturwissenschaftler, darauf aufmerksam, daß der Krieg, gemessen an der „Grausamkeit“ des „Lebens“ schlechthin, kein exorbitantes Ereignis darstellt:

Sehen wir den Krieg vom Standpunkt der gesamten Menschheit an, so werden wir fast versucht, über die Geringfügigkeit seiner Wirkungen zu lächeln. In jeder Sekunde stirbt etwa ein Mensch auf Erden, aber selbst der mörderische Weltkrieg von 1914 hat es kaum vermocht, diese Ziffer in die Höhe zu schrauben: infolge dieses Krieges sind im Durchschnitt in jeder Minute statt sechzig etwa vierundsechzig Menschen gestorben.

Wir überschätzen eben aus unbewußter Sentimentalität heraus die Opfer des Krieges! …

Dieser Eindruck von der Belanglosigkeit des Krieges wird noch erhöht, wenn wir seine Opfer mit denen des Wirtschaftskampfes genauer vergleichen. Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und in der Tat sehen wir, daß in bequemen und auskömmlich bezahlten Berufen, wie sie von Gelehrten, Pastoren, Monarchen, Staatsmännern usw. ausgeübt werden, eine große Zahl von Menschen dies Alter erreicht. - Der Arbeiter wird aber im Durchschnitt nur höchstens vierzig Jahre alt. Tuberkulose, Unterernährung und bestimmte Berufskrankheiten (die man bezeichnenderweise Malerkolik, Gießfieber, Schleifer-, Bergarbeiterkrankheit usw. nennt) erledigen ihn vorzeitig. Auch Ausdrücke wie Steinhauer-Lunge, Phosphor-Leber, Steinträger-Herz usw. beweisen, daß man nicht darüber im Unklaren ist, warum diese Menschen so früh zugrunde gehen.

Von den Einwohnern Europas sterben in jedem Jahr etwa zwölf Millionen, das macht im letzten Jahrhundert mehr als eine Milliarde. Da diese im Durchschnitt dreißig Jahre zu früh gestorben sind, so sind im letzten Jahrhundert rund sechsunddreißig Milliarden Menschenjahre allein in Europa auf diese Weise vernichtet worden.

Nehmen wir nun auch an, daß im letzten Jahrhundert in Europa etwa dreißig Millionen Menschen direkt oder indirekt infolge des Krieges gestorben sind, deren Lebenszeit gegenüber dem Durchschnitt etwa um zwanzig Jahre verkürzt worden ist, so sind demnach durch den Krieg doch nur etwas über eine halbe Milliarde Lebensjahre vernichtet worden.

Wir sehen also, daß die Kriegsopfer nur ein Sechzigstel der Opfer des industriellen Schlachtfeldes betragen. Wahrlich, angesichts dieser Zahlen kann man nicht sagen, daß der Krieg die grausamste und härteste Form des Kampfes auf unserer Mutter Erde ist …

Das ist so erschütternd wie grotesk! Erschütternd sind Nicolais Darlegungen, weil die Hinweise auf die Berufskrankheiten und die niedrige Lebenserwartung der Arbeiterschaft schlagartig deutlich machen, was Industrialisierung ehedem für die Masse der Menschen bedeutete. Grotesk wirken sie, weil die Berechnung etwas quantifiziert, was quantitativ nicht zu erfassen ist, und weil der Vergleich den Unterschied zwischen dem Krieg, der rein destruktiv ist, und der friedlichen Industrialisierung, die ja doch auch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse gesorgt hat, übersieht. Aber es geht nicht darum, den mutigen Kriegsgegner Nicolai zu kritisieren. Er wurde hier als Exponent eines naturwissenschaftlich sich gerierenden Denkens angeführt, das damals gepflegt wurde und das, wenn es den Krieg zum Gegenstand hatte, sogar bei prinzipieller Kriegsgegnerschaft zu einer starken Relativierung oder Verharmlosung der Destruktivität des Kriegs führen konnte; es immunisierte gegen das Erschrecken und die moralische Empörung, die von der großen Zahl der Kriegsopfer ausgelöst wurden. Eben solches Denken ist auch bei Jünger zu beobachten und prägt nicht zuletzt auch die Einstellung seines Fähnrichs Sturm gegenüber dem Krieg: Wie Nicolai feststellt, daß die Zahl der Kriegstoten angesichts der Zahl der Toten, die das Leben schlechthin fordert, „belanglos“ ist, so konstatiert Sturm, der nicht zufällig auch Zoologe ist, daß die „Zerstörung“ des Kriegs, an der er mitwirkt und der er unterworfen ist, „im großen kosmischen Schwung keine Ausnahme“ darstellt.“

 

Das Wäldchen 125

 

„Kriegführung und Niederlage: Die deutsche Kriegführung wird von Jünger mit heftiger Kritik bedacht. Die leitenden Offiziere sind zu alt und wissen zu wenig von den tatsächlichen Verhältnissen und Vorgängen an der Front. In aufwendigem Schriftverkehr werden unsinnige Anweisungen ausgegeben und verbreitet. Immer noch werden preußische Formalitäten gepflegt, obwohl längst deutlich ist, daß dieser Krieg andere Fähigkeiten als jene verlangt, die durch Exerzieren angedrillt werden konnten. So kommt der Verfasser zum Befund, daß für die sich abzeichnende Niederlage „in erster Linie Mängel der Führung“ verantwortlich sein werden. Einen weiteren Grund sieht er in der „Stimmung“ in der Truppe, die durch den Verlust der kriegsleitenden Idee und durch das Aufkommen klassenkämpferischer Parolen gekennzeichnet ist. Dabei geht es dem Verfasser aber nicht um Schuldzuweisungen (etwa im Sinne der „Dolchstoßlegende“), sondern nur darum, die Bedeutung der einzelnen Faktoren zu ermitteln. Insgesamt hat die Niederlage für ihn eine „geschichtliche Notwendigkeit“ und ist nur als Impuls zu begreifen, die Kräfte der Nation neu zu entdecken und zu bündeln. Er ist überzeugt davon, daß die Rivalität der Völker die Quelle der Leistungen ist, die letztlich allen zugute kommen, und daß Deutschland zum Besten der Welt eine führende Rolle spielen muß. Entscheidend ist, daß ein Volk vom „Willen zur Macht“ oder zur „Herrschaft“ erfüllt ist und seine Aufgabe in der Geschichte wahrnehmen will.“

„Herausbildung eines „neuen Geschlechts“: Stellungskrieg, Materialschlacht und Technisierung des Kriegs haben einen Typus von Soldaten entstehen lassen, der ein neues und zur Führung befugtes Geschlecht „im alten Europa“ darstellt: „ein Geschlecht, furchtlos und fabelhaft, ohne Blutscheu und rücksichtslos, gewohnt, Furchtbares zu erdulden und Furchtbares zu tun und das Höchste an seine Ziele zu setzen. Ein Geschlecht, das Maschinen baut und Maschinen trotzt, dem Maschinen nicht totes Eisen sind, sondern Organe der Macht, die es mit kaltem Verstand und heißem Blute beherrscht“. Die Exponenten dieses neuen Geschlechts sind die Kampfflieger, die „an die Steigerung des Lebens durch die Maschine“ am besten gewöhnt sind, aber auch die Führer der Tanks und Unterseeboote gehören in diese Kategorie, und nicht zuletzt die Stoßtruppführer, die mit der neuesten Waffentechnik bestens vertraut sein müssen. Sie alle sind es gewohnt, „die Maschine zu bedienen“, und sind ihr zugleich „innerlich überlegen“. Man sieht: Bei aller Anerkennung der modernen Technik ist es dem Verfasser wichtig, die Bedeutung des „Geistes“ oder „moralischen Faktors“ zu betonen.

Psychologische Führung: In der Pflege des „moralischen Faktors“, in der Beobachtung und Lenkung der „Stimmung“ im Heer, sieht Jünger eine wichtige Aufgabe. Wer einen Krieg führen und gewinnen will, muß dazu fähig sein, „eine Art Demagogie von oben zu betreiben“. Die „Gesetzmäßigkeiten“ und Möglichkeiten, die es auf diesem Feld gibt, sind von der „modernen Psychologie“ zu erforschen und dem Führungskorps zu vermitteln. Aber auch hier sollte die Wissenschaft oder Technik nicht überschätzt werden, weil ihre Stärke im Zerfasern oder Zergliedern liegt, während es doch darauf ankommt, den Menschen „als unzertrennliche Einheit zu erfassen“. Lange bevor Jünger den Einsatz der „modernen Psychologie“ verlangt, stellt er fest: „Die psychologische Einwirkung auf den Mann ... gehört zu den Fähigkeiten, die man nicht erlernen kann, und wenn man ein ganzes Leben auf ihr Studium verwenden würde. Ihre Wurzeln liegen im Gefühl und nicht im Willen, im Blute, und nicht im Gehirn, aus ihr spricht die Rasse und nicht das Individuum, so wertvoll es an sich auch sei“.

Kunst und Film: Psychologische Führung ist im Krieg ebenso nötig wie in den vorausgehenden Momenten der Krise und Entscheidung für oder wider den Krieg. Was sie zu vermitteln hat, muß längerfristig durch die Kunst, zumal durch die Literatur, und durch den Film vorbereitet werden. In der Somme-Schlacht wurde - Jünger zufolge - nicht weniger verzweifelt gekämpft als in Etzels Saal. Es ist Aufgabe der Kunst, dies zum Gegenstand zu machen und darüber „wieder deutsch (zu) werden“, wie auch die „Kämpfer erst durch diesen Krieg wieder erfahren haben, was Deutschland ist“. Der Film muß unterstützend hinzutreten: Sein „Wesen verlangt Tat, Beweglichkeit, Handlung und Macht“, und deswegen ist gerade der Film „für die Verherrlichung der modernen Schlacht vorzüglich geeignet“. Wenn die Literatur dieser Aufgabe gerecht werden will, muß sie freilich ihre Verstandeskälte sowie ihre Orientierung am Naturalismus und an der großstädtischen Moderne preisgeben und wieder ein Gespür für die Bedeutung von „Blut und Erde“ oder „Boden“ entwickeln. Das Vorbild für diese neu zu gewinnende Haltung ist Hermann Löns, denn „aus allem, was er über Rasse und Landschaft geschrieben hat, widerklingt nicht das intellektuelle Geschwafel des Kaffeehauses, sondern der Atem einer großen und freien Natur. Hier finden wir keine Zersplitterung, sondern Zusammenfassung, begrenztes, doch klares Gefühl, Bodenständigkeit, Liebe zur Heimat und zum Volk, die ebenso tief wie einfach und unaufdringlich ist“.

Gegen Aufklärung und Pazifismus, Demokratie und „Literatenpack“: Wenn der Krieg - wovon Jünger überzeugt ist - ein Prinzip des Lebens ist und zur Natur des Menschen gehört, dann kann und soll man zwar den Frieden lieben, aber nicht pazifistisch denken, weil man sonst allzu rasch unter die Fuchtel derjenigen geriete, die nicht so denken. Aufklärung, Pazifismus und Demokratisierung sind - Jünger zufolge - Gefahren für jede Kultur und jede große Idee, weil sie ein falsches Bild vom Menschen zeichnen, den Schmerz und das Opfer scheuen, Bequemlichkeit statt Disziplin schätzen und unbegründete Gleichheit an die Stelle von begründeter Rangordnung treten lassen wollen. Deswegen sagt Jünger: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest“; und deswegen ergeht er sich in wüsten Drohungen gegen die Vertreter dieses Denkens, insbesondere gegen das „geschäftsmäßige Literatenpack, für das sofort die Prügelstrafe wieder eingeführt werden müßte“.

Das sind betrübliche Entgleisungen, die weder verharmlost noch entschuldigt werden sollen. Jünger hat sie 1933 allesamt gestrichen, und das muß man nicht rückgängig machen wollen. Zu fragen bleibt aber, wodurch jemand, der die Vorzüge einer einigermaßen freiheitlichen Kultur (denn das war die bürgerliche Kultur der Wilhelminischen Zeit) genossen hatte und mit der Sturm-Erzählung auf dem besten Weg war, ein „Literat“ zu werden, zu solchen Äußerungen motiviert wurde. Da mag mehreres zusammengewirkt haben: ein früh anerzogener und durch die Lektüre Nietzsches befestigter Antidemokratismus und Antihumanismus; dazu der empörende und aggressiv machende Verdacht, daß man, wenn die Pazifisten und Humanisten recht hätten, vier Jahre lang für falsche Überzeugungen Furchtbares erduldet und getan hätte; und schließlich die Angst, um den Lohn der soldatischen Leistung gebracht und von der führenden Mitwirkung an der Neugestaltung der Nation ausgeschlossen zu werden (oder eigentlich zu bleiben). In diesem Sinne schreibt der Verfasser des Wäldchens 125:

Aber wenn wir den Krieg überleben und in das Land zurückkehren sollten ...: Wir werden uns nicht so schäbig abspeisen lassen, wie es mit der Jugend von 1813 geschah. Für uns wird es keine Romantik geben, durch die wir uns von den brennenden Fragen ablenken lassen und hinter der sich die Ohnmacht zur Tat verbirgt. Wir haben uns an andere Methoden gewöhnt … Wir alten Materialkämpfer sind stur geworden, wir beißen uns in Ideen fest wie in irgendein Grabenstück und sind durch keine Verstandesgründe zu vertreiben, es ist ein sehr gefährlicher Schlag, der sich da entwickelt hat.

Es ist der Rabaukenton der politisch aufgewühlten und in Kampfstimmung versetzten zwanziger Jahre, der hier angeschlagen wird, einen geradezu drohenden Klang annimmt und die Fähigkeit zur Tat beschwört. Bei Jünger war dies freilich nicht viel mehr als Rhetorik. Da, wo wirklich Taten geplant und ausgeführt wurden, war er nicht zu finden.

Das Wäldchen 125 ist Dokument eines ressentimentgeladenen verzweifelten und deswegen sich versteigenden Versuchs, dem verlorenen Krieg einen Sinn zu geben. Dies geschieht auf zweierlei Weise: Zum einen wird dem Krieg eine nationale Bedeutung zugeschrieben. Im Krieg haben die „Kämpfer“, so der Verfasser des Wäldchens 125, die Nation wiederentdeckt (was durch die ganz und gar unpatriotische Haltung, die aus Jüngers Kriegstagebüchern spricht, als ideologische Rhetorik entlarvt wird), und zugleich hat der Krieg jene nationalen Anlagen wieder hervortreten lassen, die durch Aufklärung, Humanismus, Pazifismus und Demokratismus verschüttet worden waren. Zum andern wird der Krieg als Geburtshelfer jener Fähigkeiten dargestellt, die der Nation das Leben in der Zukunft und in einer führenden Position sichern sollen: der Beherrschung der „Maschine“ und der Beherrschung einer modernen Technik der Massenbeeinflussung. Jünger erscheint hier, wie wiederum John King deutlich gemacht hat, als Propagandist der technischen Moderne und der instrumentellen Rationalität, kommt dabei aber mit seinen kulturkonservativen und irrationalistischen Vorlieben in Konflikt, die ihn darauf bestehen lassen, daß der „Geist“ wichtiger sei als die „Maschine“, der „Glaube“ wichtiger als die Beherrschung der Technik, das „Blut“ wichtiger als die Propaganda.“

 

Feuer und Blut

 

Krieg für die Erde

 

„Der Nationalismus des Wäldchens ist in Feuer und Blut deutlich zurückgenommen. Der Krieg wird nicht mehr für die Nation geführt, sondern für die Erde: „Denn alles dies geschieht ja nicht für uns, nicht für unsere Nation, nicht für die Gruppe von Nationen, der wir verbunden sind. Es geschieht für die Erde selbst, die den Kampfhaften liebt“.“

 

Ernst Jünger in seiner Zeit

 

Sofern nicht anders angegeben, stammen die angegebenen Zitate aus dem Buch von Helmuth Kiesel.

 

1895 bis 1914

 

„Die Fertilitäts- oder Geburtenrate ist um 1895 in Deutschland so hoch wie nie zuvor und nie wieder danach. Das hat seinen Grund: Mehrheitlich blicken die Deutschen in diesen Jahren mit Stolz auf ihr Land, mit Zufriedenheit auf ihre Situation und mit Optimismus in die Zukunft.“

 

Prosperität

 

Die wirtschaftliche Entwicklung weckt Hoffnungen und erlaubt einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft. Die Auswanderung geht stark zurück, Einwanderung nimmt zu. Deutschland wird hinter den USA und neben England zur zweit- oder drittstärksten Wirtschaftsmacht der Welt.

 

Modernität

 

Die Industrialisierung prägt Städte und Regionen; viele Städte wachsen zu Großstädten heran. Der Eisenbahnverkehr wird ausgebaut und optimiert; Autos, Motorräder, Straßenbahnen und Luftschiffe kommen auf. Röntgen-Strahlen werden entdeckt, Kino und Film-Industrie treten ihren Siegeszug an.

Exotische Waren werden immer verfügbarer, der Konsum in beginnender Massen-Produktion greift um sich.

Die Wissenschaft vermittelt das Gefühl, in einer weitestgehend erforschten und wissenschaftlich-technisch beherrschbaren Welt zu leben.

 

Neurasthenie

 

„Offenbar hat dieses von den Symptomen her ziemlich diffuse Krankheitsbild einem ganzen Spektrum von Zivilisationsleiden, die im Kaiserreich grassierten, einen Namen gegeben: Krankheiten, die damals im Gefolge der neuen Technik auftraten, Überforderungsgefühlen und Versagensängsten durch die Beschleunigung der Moderne, aber auch allerlei Ängsten, die von der damaligen Sexualmoral ausgelöst waren. Außerdem scheint es in der wilhelminischen Gesellschaft ein quer durch alle Klassen reichendes Bedürfnis gegeben zu haben, sich am modernen Leben erkrankt zu fühlen. Den schmalen Grat der Gesundheit, auf dem sich in jener Ursprungszeit des modernen Tempos das Leben bewegte, zeigen etwas holprig Otto Erich Hartlebens Verse: "Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie."“

http://www.deutschlandfunk.de/das-zeitalter-der-nervositaet.700.de.html?dram:article_id=81278

 

Aus dem Lied „Nervöses Zeitalter“ aus dem Jahr 1895:

 

„Überall ein Rennen, Jagen nur nach Mammon, schnödem Geld;

Jeder möchte die erste Geige gerne spielen in der Welt.

Hastges Treiben, hastge Miene, wildes Wogen und Getös!

Und der Mensch wird zur Maschine, und der zweite wird nervös.“

 

Vitalität

 

Leben heisst ständiges Werden, ständiges Wachstum, ständige Steigerung. Schwächegefühl und Kraftmeierei, Lebensangst und Lebensgier gehören eng zusammen.

Die Verherrlichung des Lebens verbindet sich mit dem Bekenntnis zur Tat, zur Aggressivität, zum Kampf, zum Krieg, auch zu einer „neuen Barbarei“ als Übergang zu einem „neuen Menschen“.

 

Nationalismus

 

Deutschland gilt als große Nation, die aufgrund ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen Anspruch auf eine Führungs-Position in der Welt hat. Mit der Folge von nationaler Überheblichkeit, Hass auf andere Nationen und Feindseligkeit gegenüber „unangepassten“ Gruppen im Inneren.

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“.

 

Imperialismus

 

Schaffung von Einflußsphären oder Eroberung von Kolonien: wer die Schaffung eines Imperiums oder von Einflußsphären versäumte, war dazu verurteilt, politisch und ökonomisch zurückzufallen: in der Heimat von Armut bedroht und in der Fremde als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Also: Deutschland muss Weltmachtpolitik betreiben und braucht dafür ein starkes Heer und eine starke Flotte.

 

Fortschrittsdenken

 

Auguste Comte, Karl Marx und Herbert Spencer warten mit Theorien auf, welche die Geschichte als gesetzmäßige und stufenweise Aufwärtsentwicklung erscheinen ließen.

„Evolution“ und „Entwicklung“ hin zu immer höheren Organisationsformen und immer besseren Zuständen des Lebens. Charles Darwins biologische Abstammungs- und Entwicklungslehre ist ein Bestandteil dieses Denkens.

 

Sekurität

 

Leben in einem Zeitalter der Sicherheit: der letzte Krieg ist lange her, ein neuer nicht in Sicht; wirtschaftlich geht es allen besser.

 

Jung und Jünger

 

„Ein anderer und nicht minder wichtiger liegt in dem Umstand, daß die Schulen jener Zeit jugendfeindliche Anstalten waren, in denen erbarmungslos Druck ausgeübt wurde und Zwang permanent spürbar war. Nach 1871, so kann man im letzten Teil von Thomas Manns Buddenbrooks (1901) lesen, war ein neuer Geist in die Schulen einzogen: „Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt ... Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen.“ Disziplinierung rückte ins Zentrum der pädagogischen Ambitionen und führte bei vielen Lehrern zur Entwicklung eines betont autoritären Habitus, zur Pflege stark repressiver Unterrichtsmethoden und tendenziell sadistischer Sanktionsweisen. In seinen späten Schulerzählungen - also in der Zwille (1973) und in Sp.R. Drei Schulwege (1991) - hat Jünger wie Thomas Mann und andere Autoren, die in jener Zeit den Schuldrill über sich ergehen lassen mußten, solche Schultyrannen und ihre Methoden geschildert, nicht ohne Hinweise darauf, daß es auch andere gab. Zeitweilig kam sich der notorisch schlechte Schüler wie ein Hase vor, der in eine Treibjagd geraten war. Zu Recht hat man gesagt, daß der Haß auf die bürgerliche Gesellschaft, der in Jüngers Generation entstand, wesentlich auch auf den repressiven Charakter der damaligen Schulen zurückzuführen ist …

Aber doch wird deutlich, daß es sich um eine Gesellschaft handelte, die nicht nur schwache, sondern auch schlechte Seiten hatte. Die Fassade der Sittenstrenge verdeckte manche Leidenschaft, die damals nicht zulässig war. Der allenthalben gehegte Autoritarismus ermöglichte und verschleierte in Bereichen, in denen es - wie insbesondere in der Schule und beim Militär - starke hierarchische Verhältnisse gab, die Entfaltung von Sadismus. Und eine deutliche Neigung zur bestialischen Gewalt gab es nicht nur bei der Landbevölkerung, sondern, wie die allgemeine Vorliebe für die Prügelstrafe und das Beispiel des brutalen Konrektors Zaddeck zeigen, auch im Bildungsbürgertum. Es war eine Gesellschaft, die robuste Naturen verlangte und züchtete; weniger robuste erschienen leicht als minderwertig und liefen Gefahr, auf die eine oder andere Weise zertreten zu werden.“

Scharfe Kritik am damaligen Schulwesen wurde unter anderem von Rainer Maria Rilke, Franz Pfemfert, Frank Wedekind, Emil Strauß, Hermann Hesse, Robert Musil, Georg Heym und Alfred Döblin geübt.

Ernst Jünger war ein extrem schlechter Schüler, dem jeglicher Zwang verhasst war. Als Ausgangspunkt seiner Liebe zu Frankreich dürfte ein Schüleraustausch 1909 nach Frankreich gelten.

Von jeher war ihm eine große Liebe zur Literatur zu eigen – in jungen Jahren vor allem zu „Reiseliteratur“. Hier ging es um Sagen und Exotik, um den Geist der großen Krieger, Entdecker und Abenteurer. Und es zeigte Ernst Jünger: ein freies und abenteuerliches Leben war möglich.

Das führte letztendlich soweit, dass er 1913 zur französischen Fremdenlegion ausbüchste mit dem Ziel, von dort aus nach Schwarzafrika zu gelangen, um dort Abenteuer zu bestehen.

Sein Vater holte ihn schließlich zurück und gab ihm das Versprechen, nach bestandenem Abitur eine Expedition zum Kilimandscharo zu finanzieren.

Immerhin gab es vorher schon kleine „Abenteuer“ bei den „Wandervögeln“ mit Wanderungen, Zeltlagern, Betriebs-Besichtigungen – gerne auch mal in einer Brauerei.

„Als Wandervogel wird eine 1896 in Steglitz (heute Berlin) entstandene Bewegung hauptsächlich von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet, die in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und angeregt durch Ideale der Romantik sich von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln. Damit stellte der Wandervogel den Beginn der Jugendbewegung dar, die auch für Reformpädagogik, Freikörperkultur und Lebensreformbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse setzte.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Wandervogel

 

Kriegs-Begeisterung

 

Vor dem Krieg

 

„Spätestens seit der Romantik gab es die Vorstellung, daß Kriege nicht als Katastrophen zu betrachten seien, sondern als Momente der Erneuerung: „Im Kriege“, sagt der Dichter Klingsohr in Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen (1802), „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen.“ Das war vielleicht metaphorisch gesprochen, meinte vielleicht nicht den militärischen Krieg, sondern geistige, kulturelle, auch religiöse Auseinandersetzungen. Aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde diese romantische Idee des Kriegs als einer Phase der Erneuerung ausgebaut und ausdrücklich auf den militärischen Krieg übertragen. Darwinistische Vorstellungen wurden in begründender Absicht herangezogen: Das Leben - auch das der Völker - sei ein „Kampf“, für den man sich durch Training „fit“ zu halten habe und in dem die Oberhand behalten müsse, wer nicht unter die Räder kommen wolle. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren viele führende Politiker und tonangebende Intellektuelle der Meinung, daß die Zukunft ihrer Nation in einer notfalls auch kriegerischen Expansion liege und ein Krieg von Zeit zu Zeit aus sozialhygienischen Gründen notwendig sei, beispielsweise um der epidemisch um sich greifenden Zeit- und Verfallskrankheit der Nervenschwäche oder Neurasthenie entgegenzutreten.

Der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti schrieb im Gründungsmanifest des Futurismus, das am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro erschien und rasch um die ganze Welt ging: „Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ 1912 schwärmte der preußische General und Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi in seinem weltweit Aufsehen erregenden Buch Deutschland und der nächste Krieg von der „Schöpferkraft des Kampfes“ und bezeichnete den Krieg als eine „sittliche“ wie „biologische Notwendigkeit“, die wichtige Tugenden hervortreibe und minderwertige Rassen zum Verschwinden bringe; man dürfe deswegen den Krieg nicht vermeiden wollen, vielmehr müsse man sich auf ihn vorbereiten und müsse ihn, wenn die Belange der Nation dies erforderten, herbeiführen. Und so dachte man keineswegs nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt …

In Deutschland war diese Bereitschaft zum Krieg aus mehrerlei Gründen besonders stark. Man empfand sich als wirtschaftliche und militärische Großmacht: Deutschland produzierte 1914 mehr Roheisen als England und Frankreich zusammen, hatte eine größere Armee als Frankreich und eine Flotte, die mit der englischen zu rivalisieren begann. Zugleich glaubte man sich zurückgesetzt: Die überseeische Welt war nahezu verteilt, und das (erst) jetzt so mächtige Deutschland hatte nur ein paar kleine Flecken abbekommen. Und zudem sah man sich als „Volk ohne Raum“: In Deutschland kamen um 1900 auf einen Quadratkilometer einhundertundvier Menschen, in Frankreich nur zweiundsiebzig. Und schließlich fühlte man sich in Deutschland nicht weniger als in England und in Frankreich dazu berufen, der Welt Maßstäbe zu geben: durch die deutsche Philosophie, die deutsche Wissenschaft, die deutsche Qualitätsarbeit („Made in Germany“), die deutsche Leistungskraft, die deutsche Sozialpolitik, die deutsche Biederkeit.

Aus dieser ressentimentgeladenen Kombination von Gefühlen des Zurückgesetztseins wie der Überlegenheit resultierte der wilhelminische Anspruch auf „Weltpolitik“, der nach der Jahrhundertwende zu einer Eskalation der Kriegsvorbereitungen und zu mehreren brisanten Situationen führte, so zu den Marokko-Krisen von 1905 und 1911 …

Georg Heym wünschte sich in einer Tagebuchnotiz, „daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein“, damit das „langweilig“ gewordene Leben im „faulen“ Frieden ein Ende fände. Johannes R. Becher sehnte sich 1912/13 in dem Gedicht Beengung nach einem „großen Weltkrieg“, der das Eingesperrtsein in der modernen Zivilisation beenden sollte. Gustav Sack ließ die Protagonisten seines 1913 publizierten Romans Ein verbummelter Student gegen Ende nach einem Krieg rufen und hoffen, daß in dem „jauchzenden Vernichten“ etwas „Höheres“ sich zeige. Ernst Stadler schwärmte 1913 in dem Gedicht Der Aufbruch vom Gang in die Schlacht, gleich, ob sie zum Triumph oder zum Tod führen mochte:

 

Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen,

Feuer über Helm und Bügel,

Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem Zügel.

Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen,

Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen.

Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken

Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken.

 

Die Motive für diese Kriegslust, in der sich Zerstörungswille und Untergangsbereitschaft verbanden, klingen in den zitierten Texten an: Überdruß an der Welt der Sekurität und des Reglements; Stefan Zweig hat dies in seiner Autobiographie unter Verweis auf Freuds Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1930) als „Unlust an der Kultur“ bezeichnet. Verbunden damit war die Sehnsucht nach Abenteuer, Entgrenzung, Ekstase, Erneuerung; Georg Kaiser hat dieses Zusammenwirken von Normalitätsüberdruß und vitalistischer Lebensgier in seinem 1912 begonnenen und 1916 publizierten Drama Von morgens bis mitternachts eindrucksvoll dargestellt: Dem Protagonisten, einem Sparkassenangestellten, erscheint das berufliche wie das familiäre Leben plötzlich als „Grab“, kurz entschlossen greift er in die Kasse und setzt sich mit 60.000 Goldmark nach Berlin ab, um in den großen Vergnügungsstätten der Metropole das „wahre“, nämlich das „entfesselte“ und „brodelnde“ Leben zu erfahren. Zu dieser Verachtung des aufregungslosen und unheroischen bürgerlichen Lebens trat die fatale Unterschätzung des Kriegs als eines romantischen und für den Sieger gewinnbringenden Unternehmens.“

Aus einem früheren Beitrag des Wurms:

„„Es galt den edlen Männern aller Zeiten

Als ihres Strebens schönster, höchster Lohn,

Fürs Vaterland zu kämpfen und zu streiten

Als ganzer Mann und als getreuer Sohn.

 

Und rief die Not sie alle auf zur Wehre

Da fehlte „keiner“ in den wackern Reih’n,

Sie waren stolz, sich auf dem Feld der Ehre

Mit Leib und Blut dem Vaterland zu weihn.

 

Doch heute sind verhallt die Kampfeslieder,

Herein bricht eine neue feige Zeit,

Erbärmlich murmeln sie „Die Waffen nieder“,

Genug, genug, wir wollen keinen Streit.

 

Ist das das Volk, das, wenn Geschütze krachten,

Im Pulverdampf oft frohen Mutes stand,

Und das, stets ungebeugt, in vielen Schlachten

Der Feinde Scharen siegreich überwand?

 

Ermannet Euch! Gefährten, Freunde, Brüder,

Die ihr doch stets das Vaterland geliebt,

Nun merket wohl: Es gibt kein Waffen nieder,

Weil’s keinen Frieden ohne Waffen gibt!

 

Drum haltet fest den Säbel in der Rechten,

Laßt nimmer ihn entsinken eurer Hand

Und ruft die Not, dann seid bereit zu fechten,

Bereit zu sterben für das Vaterland.“

 

Sollte jemand wissen wollen, um wen es sich bei diesem 17jährigen edlen Säbel-Rassler handelt, der dieses Gedicht geschrieben hat: es handelt sich um Rainer Maria Rilke, der es als Antwort auf den Roman „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner dichtete.“

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/101-die-waffen-nieder.html

Helmuth Kiesel gibt aber auch wieder, dass es sehr deutliche Warnungen vor dem Kriege gab. Vor allem von Bertha von Suttner, Iwan Bloch und Norman Angell.

„Anders gesagt: In Tronck, der Sturm (und Jünger) ähnelt, zeichnet Sturm/Jünger das Porträt eines wohlsituierten Sprößlings des liberalen Zeitalters, der sich aus Freiheitsüberdruß nach einer kollektiven Aufgabe und Form sehnt. Man muß, um dies heute verstehen zu können, lesen, was Siegfried Kracauer 1915 in der Frankfurter Zeitung in seinem Aufsatz Vom Erleben des Kriegs über den Typus des ungebundenen und elitären „ästhetischen Menschen“ geschrieben hat:

Die Erlösung, die den so gearteten Menschen der Krieg bringt, besteht eben in der Fesselung der ungebundenen Freiheit durch die Idee. Die Einsamkeit wird weggeschwemmt ... die inneren Kräfte stauen sich nicht mehr, endlich haben sie ein würdiges Ziel für ihre Auswirkung. Das harte, als wertvoll anerkannte Muß wird ebenso wie die dadurch der Phantasie und dem Willen gesetzte Schranke vom Gemüt wohltätig empfunden. Der Seele bemächtigt sich das Glück des Dienens ... Wir besitzen viele Bekenntnisse über diese Glückszustände. Deutlich spiegelt aus ihnen die tiefe Befriedigung der Menschen wider, nun endlich eingereiht zu sein in das große Ganze, als Gemeine dienen und so ein winziges Glied einer gewaltigen Kette bilden zu dürfen.“

„Und der Autor selbst? Kein Wort von nationalistischer Begeisterung, von patriotischem Pflichtbewußtsein oder von politisch motivierter Kriegswut, nur von einer Wandlung des Gemeinschaftsgefühls, das durch die Mobilisierungsnachricht eingeleitet und auf dem gewiß etwas alkoholisierten Rückweg vom Dorfkrug durch Soldatenlieder vertieft wird. Erwägungen, die dem Entschluß, sich als Kriegsfreiwilliger zu melden, vorausgegangen wären, werden nicht mitgeteilt; die Teilnahme am Krieg scheint für Jünger so selbstverständlich gewesen zu sein wie für einige hunderttausend andere junge Männer, die glaubten, gar nicht anders zu können. Carl Zuckmayer hat dieses Gefühl des Nicht-anders-Könnens, das offensichtlich wie ein Bann auf den meisten jungen Männern lag, in seiner 1966 erschienenen Autobiographie Als wär's ein Stück von mir in Erinnerung gerufen. Er schreibt:

Da und dort traf ich (nach der Plakatierung des Mobilmachungsbefehls) Schulkameraden oder Freunde aus der Nachbarschaft, und auch das gehörte zu dem Unfaßlichen: wir sprachen kaum miteinander, wir berieten uns nicht, wir schauten uns nur an, nickten uns zu, lächelten: es war gar nichts zu besprechen. Es war selbstverständlich, es gab keine Frage, keinen Zweifel mehr: wir würden mitgehen, alle. Und es war - das kann ich bezeugen - keine innere Nötigung dabei, es war nicht so, daß man sich etwa vor den anderen geniert hätte, zurückzubleiben. Man kann vielleicht sagen, daß es eine Art von Hypnose war, eine Massenentscheidung, aber es gab keinen Druck dabei, keinen Gewissenszwang. Auch in mir, der ich am vorletzten Abend (in der holländischen Sommerfrische) noch zu einer Holländerin gesagt hatte: „Nie werde ich in einen Krieg gehen!“, war nicht mehr der leiseste Rest einer solchen Empfindung.

Bei Jünger mag zu diesem kollektiven Gefühl, daß die Teilnahme am Krieg für seinesgleichen selbstverständlich sei, hinzugekommen sein, daß er sich auf diese Weise endlich der verhaßten Schule entziehen konnte …

In Jüngers Tagebüchern spielt die vielberufene Begeisterung für Kaiser und Vaterland keine große Rolle. Zwar finden sich Bruchstücke patriotischer Phraseologie, aber sie wirken aufgesetzt. Jünger ist nicht für das Wilhelminische Reich in den Krieg gezogen; im Gegenteil, am 1. Dezember 1915 notierte er: „Vorm Kriege dachte ich wie mancher: nieder, zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser.“ Auch während des Kriegs änderte sich diese Einstellung nicht. Sosehr sich Jünger über die Hohenzollern-Orden freute: Er kämpfte nicht für das kaiserliche Regiment und seine militärische Filiation, die er aus der Position des Frontoffiziers wahrnahm und nicht selten mit schneidender Kritik bedachte. Davon zeugen nicht nur einschlägige Bemerkungen in den Tagebüchern und in der ersten Fassung der Stahlgewitter; auch Jüngers letzter Gefechtsläufer Wilhelm Marquardt erinnert sich in seinem 1980 niedergeschriebenen Bericht, daß Jünger bei den Soldaten dafür bekannt war, daß er Befehle von vorgesetzten Dienststellen, die er für falsch hielt, ignorierte oder ausdrücklich ablehnte. Komplementär dazu ist bereits in den Tagebüchern die Entwicklung eines massiven Selbstbewußtseins zu beobachten.“

 

Kriegs-Beginn

 

„Im übrigen galt, daß der Krieg, wie die politische Führung sagte, unvermeidbar sei und daß er kurz und siegreich sein werde. So wurden die Kriegserklärungen an Rußland (am 1. August) und an Frankreich (am 3. August) mit großem Jubel aufgenommen; in Berlin kam es zu Ansammlungen, die zwischen zwei- und dreihunderttausend Menschen umfaßten. Man weiß heute, daß dieser aus der Erregung der vorangegangenen Krisenwochen hervorbrechende Jubel propagandistisch stimuliert war und große Bevölkerungsgruppen nicht in ihn einstimmten, sondern dem Krieg mit Angst entgegensahen. Gleichwohl ist von einer genuinen Volksbegeisterung zu sprechen, von der auch Menschen ergriffen wurden, die ansonsten auf Besonnenheit und Distanz achteten. Aus der Vielzahl einschlägiger Dokumente verdient insbesondere ein Brief zitiert zu werden, den Thomas Mann am 7. August 1914 aus seinem Landhaus in Bad Tölz an seinen Bruder Heinrich sandte; es spiegelt sich in ihm die ganze Verunsicherung jener Zeit: das emotionale Oszillieren zwischen Entsetzen und Hingerissensein, zwischen Zukunftsängsten und Fatalismus oder Heroismus und nicht zuletzt zwischen alter intellektueller Deutschlandverachtung und neuer Vaterlandsliebe:

Ich bin noch immer wie im Traum, - und doch muß man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten und nicht gesehen zu haben, daß die Katastrophe kommen mußte. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, innerlich und äußerlich, wenn sie vorüber ist? Ich persönlich habe mich auf eine vollständige Veränderung der materiellen Grundlagen meines Lebens vorzubereiten. Ich werde, wenn der Krieg lange dauert, mit ziemlicher Bestimmtheit das sein, was man „ruiniert“ nennt. In Gottes Namen! Was will das besagen gegen die Umwälzungen, namentlich die seelischen, die solche Ereignisse im Großen zur Folge haben müssen! Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen? Mein Hauptgefühl ist eine ungeheure Neugier - und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland, das, wenn es „Civilisation“ bisher nicht unbedingt für das höchste Gut hielt, sich jedenfalls anschickt, den verworfensten Polizeistaat der Welt zu zerschlagen.

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegenüber einer Welt von Feinden und in einer Stunde der Bewährung muß für viele Zeitgenossen überwältigend gewesen sein. Noch ein Vierteljahrhundert später, als schon der Zweite Weltkrieg tobte, schrieb Stefan Zweig in seiner Autobiographie:

Trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage (des Ersten Weltkriegs) in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit.

Das Verhalten der deutschen und österreichischen Schriftsteller zu Beginn wie im Verlauf des Ersten Weltkriegs war naturgemäß unterschiedlich und kann nicht pauschal charakterisiert werden. Die einen mußten in den Krieg, die andern gingen freiwillig; entschiedene Kriegsgegner gab es anfangs nur sehr wenige. Einige Beispiele, in typologischer Absicht ausgewählt, mögen dies illustrieren: Dem Mobilisierungsbefehl unverzüglich zu folgen hatte der vierzigjährige expressionistisch-futuristische „Wortkünstler“ und Reserveoffizier August Stramm; er unterzog sich seiner militärischen Pflicht ohne große patriotische Emphase, aber mit uneingeschränkter innerlicher Zustimmung, lehnte eine vom Sturm-Herausgeber Herwarth Walden erwirkte Freistellungsmöglichkeit ab, stieg zum Bataillonskommandeur auf und fiel am 1. September 1915 an der Ostfront. Ebenso mußte der achtundzwanzigjährige Gottfried Benn, der eine militärärztliche Ausbildung erhalten hatte, sofort einrücken. Wie Tausende von mobilisierten Männern ließ er sich am 1. August trauen, nahm Anfang Oktober an der Erstürmung Antwerpens teil und wurde dafür mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, leistete danach bis Herbst 1917 Dienst an einem Krankenhaus in Brüssel und lebte im übrigen so komfortabel, daß er 1921 schreiben konnte: „Ich denke oft an diese Wochen zurück; sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch.“

Als Einjährigen-Freiwilliger, der seit 1913 bei der bayerischen Infanterie diente, mußte der fünfundzwanzigjährige expressionistische Lyriker Alfred Lichtenstein mit ins Feld; er fiel am 25. September 1914 in der Nähe von Reims. Freiwillig meldeten sich der einundfünfzigjährige Richard Dehmel, der in seiner Jugend nicht wehrtauglich gewesen war, und der achtundvierzigjährige Hermann Löns; Dehmel überlebte den Krieg, Löns fiel im September 1914 beim ersten deutschen Angriff auf Reims. Freiwillig meldete sich auch der siebenundzwanzigjährige Georg Trakl, der sich dann unter dem Eindruck der Schlacht bei Grodek (6. – 11. September) das Leben nehmen wollte und am 3. November an einer Überdosis Kokain starb. Und freiwillig meldeten sich gleich bei Kriegsbeginn auch der achtzehnjährige Carl Zuckmayer und der einundzwanzigjährige Ernst Toller. Zuckmayer legte ein Notabitur ab, machte den ganzen Krieg an der Westfront mit und brachte es bis zum Leutnant. Toller bewährte sich an der Westfront und wurde zum Unteroffizier befördert. 1916 brach er jedoch zusammen, wurde zum Pazifisten, verarbeitete seine Erfahrungen in seinem Drama Die Wandlung und wurde einer der Führer des Münchener Munitionsarbeiterstreiks und der Münchener Revolution. Andere, die sich ebenfalls freiwillig meldeten, hatten das Glück, wegen ihrer schwachen Konstitution nicht angenommen zu werden: so Hugo Ball, der am 6. August in München abgewiesen wurde, nach einem privaten Besuch an der Westfront pazifistisch zu denken begann und im Mai 1915 in die Schweiz emigrierte, um seine dadaistische Zeitkritik zu entfalten; so Hermann Hesse, der sich, seit 1912 in der Schweiz lebend, am 29. August auf dem Berner Konsulat als Freiwilliger anbot, aber „wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit“ zurückgestellt wurde und sich bald zum entschiedenen Pazifisten entwickelte. Selbst Franz Kafka, der nach einer ersten Musterung im Juni 1915 auf Antrag der Versicherungsanstalt, bei der er arbeitete, zurückgestellt worden war, meinte im Frühjahr 1916, sich endlich im Krieg bewähren zu sollen, und schaffte sich übungshalber ein paar schwere Stiefel an. Die zweite Musterung im Juni 1916 fiel ebenfalls positiv aus; aber erneut wurde Kafka - wider seinen Wunsch - aufgrund einer Intervention seines hellsichtigen Vorgesetzten zurückgestellt.

Vor allem das Beispiel Kafkas zeigt, wie schwer es für die Zeitgenossen war, sich der Suggestion zu entziehen, daß der Krieg nicht Elend und Barbarei bedeutete (was man im Frühjahr 1916 schon wissen konnte), sondern eine Chance zur männlichen Bewährung und zudem eine Erlösung aus dem unheroischen Dasein eines faden und ermattenden zivilen Lebens. Daß es Ausnahmen gab, entschiedene und konsequente Kriegsgegner von der ersten Stunde an, ist freilich auch festzustellen. Exemplarisch genannt seien der im Elsaß geborene René Schickele, der immer gegen die nationale Konfrontation geredet hatte und ab 1916 in Zürich die pazifistischen Weißen Blätter herausgab; der aktivistisch-expressionistische Berliner Schriftsteller Ludwig Rubiner, der gleich nach Beginn des Kriegs nach Zürich übersiedelte und 1916 die Herausgeberschaft der kriegskritischen Zeitschrift Zeitecho übernahm; der radikale Kriegsgegner Leonhard Frank, der 1915 nach Zürich floh und 1917 unter dem vielzitierten Titel Der Mensch ist gut eine Sammlung pazifistischer Erzählungen vorlegte; der in Wien lebende Fackel-Herausgeber Karl Kraus, der die Publikation seiner Zeitschrift aus Empörung über den Krieg einstellte, dann aber mit aufsehenerregenden Vorträgen (ab November 1914) und mit seiner wieder aufgenommenen Fackel (ab Oktober 1915) zum wohl schärfsten Kritiker des Kriegs und speziell der publizistischen Kriegspropaganda wurde; der in Deutschland hoch angesehene französische Biograph und Romancier Romain Rolland, der, vom Krieg in der Schweiz überrascht, zur Versöhnung aufrief, aber damit wenig Widerhall fand und von Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen seitenlang abgekanzelt wurde; schließlich Annette Kolb, die Tochter eines Münchener Gartenarchitekten und einer Pariser Pianistin, die den Krieg von Anfang an als Quelle unermeßlichen Leids und bleibender Feindseligkeit zwischen den Völkern ablehnte.“

 

Poetische Mobilmachung

 

„Wer im August 1914 nicht so genau wußte, aus welchen Gründen und für welche Ziele er in den Krieg zog, konnte es sich allenthalben sagen lassen und bald auch vielfach lesen. Der Erste Weltkrieg wurde sogleich auch zu einem „Krieg der Geister“, wie der Titel einer bereits 1915 publizierten „Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege“ lautete: ein Krieg, der von einer heute schwer faßbaren „geistigen Mobilmachung“ (Kurt Flasch) begleitet wurde, die speziell auch eine „poetische Mobilmachung“ (Julius Bab) war. Schuldirektoren und Professoren hielten schwungvolle Reden, mit denen sie die ausmarschierenden Abiturienten und Studenten verabschiedeten und die Bevölkerung auf den Krieg einschworen; der Philosoph und Nobelpreisträger Rudolf Eucken ergriff allein im ersten Kriegsjahr sechsunddreißigmal das Wort, um über „die sittlichen Kräfte des Krieges“ und die „weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes“ zu reden (so die Titel zweier Reden aus den Mobilisierungswochen). Pfarrer und Lehrer, arrivierte Autoren und unbekannte Dilettanten griffen zur Feder, um ihre Zustimmung zum Krieg in Verse zu fassen und publik zu machen, unter ihnen beispielsweise ein gewisser „Berthold Eugen“ (Brecht), der drei Jahre zu jung war, um schon mit ausrücken zu können, dafür aber den Ausmarsch der Augsburger Garnison mit durchaus heroischen Zeitungsartikeln begleitete und in Gedichten vom „heiligen Gewinn“ des tödlichen Geschehens sprach. Was auf diese Weise an Reden, Artikeln und Gedichten zusammenkam, füllte Bibliotheken; bis Ende 1914 sollen allein schon 235 Bändchen mit Kriegsgedichten erschienen sein, und die Zahl der gedruckten Reden und Abhandlungen ging bald in die Tausende. Das erste Kriegsgedicht eines renommierten Lyrikers, Richard Dehmels Lied an alle, erschien am 4. August in der Frankfurter Zeitung:

 

Sei gesegnet ernste Stunde,

Die uns endlich stählern eint;

Frieden war in aller Munde,

Argwohn lähmte Freund wie Feind -

  Jetzt kommt der Krieg,

  Der ehrliche Krieg!

 

Dumpfe Gier mit stumpfer Kralle

Feilschte um Genuß und Pracht;

Jetzt auf einmal ahnen alle,

Was uns einzig selig macht -

  Jetzt kommt die Not,

  Die heilige Not!

 

Feurig wird nun Klarheit schweben

über Staub und Pulverdampf;

Nicht ums Leben, nicht ums Leben

Führt der Mensch den Lebenskampf -

  Stets kommt der Tod,

  Der göttliche Tod!

 

Gläubig greifen wir zur Wehre,

Für den Geist in unserm Blut;

Volk, tritt ein für deine Ehre,

Mensch, dein Glück heißt Opfermut -

  Dann kommt der Sieg,

  Der herrliche Sieg!

 

Manches von dem, was „in dieser großen Zeit“, wie Karl Kraus am 19. November 1914 in seiner ersten kriegskritischen Rede sarkastisch sagte, zu Papier gebracht wurde, ist als Ausdruck einer wochenlang aufgestauten Erregung verständlich. Anderes zeugt von einem völligen Verlust rhetorischer wie intellektueller Selbstkontrolle und wirkt nachgerade erschütternd. Während Deutschland für seine vermeintlich hehren Ziele und Tugenden überschwenglich gerühmt wurde, unterstellte man den Nachbarländern, die nun zu Feinden geworden waren, jede Niedertracht. So schilderte Arnold Zweig in seiner Erzählung Die Bestie, die bald nach dem völkerrechtswidrigen und von Kriegsverbrechen begleiteten Einmarsch nach Belgien entstand und gegen Ende des Jahres 1914 publiziert wurde, auf eine geradezu brutale Weise, wie ein belgischer Bauer drei deutsche Soldaten, die bei ihm Quartier genommen haben, ermordet und ausweidet:

Einem nach dem andern durchschnitt er rasch und obenhin kalt, innerlich glühend, den Hals über dem Adamsapfel, vermied den heißen roten Guß, der aufsprang, und warf sich, als der dritte, zu hinterst liegend, von dem Röcheln und Zappeln der Sterbenden ein Viertel erweckt, vergeblich versuchte sich aus der Betäubung zu retten, auf ihn mit einem Sprunge der Raserei, der ihm das Messer durchs Herz trieb, so daß die Spitze, hinten heraustretend, sich an den Ziegeln des Fußbodens verbog. Schnell schleppte er nun das große Schaff herein, in dem er das Schweineblut aufzufangen pflegte, und lehnte die Körper über seine Kante, so daß sie sich, die Köpfe schief an den Muskeln der Halswirbel hängend, reinlich ausbluten konnten … Er schloß die Kammer ab, stieg aufwärts, scheuerte den Fußboden des Zimmers bis er ganz sauber lag, streute weißen Sand und wartete daß es trockne, indes er achtsam die Kleider der Soldaten durchsuchte und außer vielen nützlichen Gegenständen drei viereckige Ledertäschchen fand, die man wohl um den Hals gehängt trug, und darin ziemlich viel deutsches Geld, Gold, Silber und Papier, von dem er wußte, daß es mehr wert sei als die heimischen Francs … Noch immer wach wie am Vormittag kehrte er in den Keller zurück, in die Kammer, die nach Tod roch, besah seine Opfer aufmerksam, hatte einen Einfall, band sich die Schlächterschürze um und nahm ihnen aus der geöffneten Bauchhöhle die Eingeweide heraus, die Lunge, das Herz ..., warf das Herausgelöste in die Wanne und trug das Ganze schließlich in den Schweinestall, schüttete es in den Trog und sah befriedigt zu, wie die Tiere gierig fraßen.

Arnold Zweig war, als er dies schrieb, sechsundzwanzig Jahre alt und begierig, mit in den Krieg zu ziehen, wurde aber wegen seiner Kurzsichtigkeit und Schmächtigkeit zurückgestellt. Später kam er bei Verdun wie an der Ostfront zum Einsatz und wurde zum Antimilitaristen; die beiden Romane Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) und Erziehung vor Verdun (1935), in denen Zweig seine Erfahrungen verarbeitete, sind eindrucksvolle Antikriegsromane. Bis zu seiner „Umerziehung“ vor Verdun war Zweig jedoch ein strammer Vertreter der deutschen Kriegsideologie. Neben der Erzählung Die Bestie, die eigentlich als literarische Greuelpropaganda zu bezeichnen ist, erschien im Dezember 1915 in den Süddeutschen Monatsheften ein Aufsatz von Zweig (allerdings ohne Nennung des Verfassers), der sich unter der Überschrift Kriegsziele vorbehaltlos zu den deutschen Ansprüchen und Militäraktionen bekennt. Zweigs Schriften aus den ersten beiden Kriegsjahren sind indessen nur ein Beispiel für die heute unfaßbare Fanatisierung und Brutalisierung des Denkens in jener Zeit.

Zum Kern der deutschen Kriegsideologie wurden die „Ideen von 1914“, die nach Kriegsbeginn von einigen wirkungsmächtigen Professoren und Publizisten - dem Ökonomen Johann Plenge, dem Wirtschaftshistoriker Werner Sombart, dem protestantischen Theologen Ernst Troeltsch und dem schwedischen Politologen Rudolf Kjellén - entwickelt und ausdrücklich gegen die „Ideen von 1789“ gestellt wurden, also gegen die für die Moderne fundamentalen Vorstellungen von individueller Freiheit, von prinzipieller menschlicher und rechtlich-politischer Gleichheit sowie von klassen- und völkerübergreifender Solidarität. Zusammenfassend können die „Ideen von 1914“ folgendermaßen umrissen werden: (1.) Der Krieg ist der in der göttlichen Weltordnung vorgesehene Moment, in dem - 1914 so gut wie etwa 1813, dem Beginn der anti-napoleonischen „Freiheitskriege“, oder 1756, dem Beginn des Siebenjährigen Kriegs - die erschlafften Lebenskräfte sich wieder anspannen und durch die Bewährung im Kampf erneuern. (2.) Der Krieg wird dadurch zu dem Moment, in dem das deutsche Volk seine spezifische historische Mission erfüllen kann. Diese besteht in der Rettung des Lebens und der „echten“ Kultur vor dem Ersticken in der modernen westlichen Zivilisation. Damit war auch gesagt, daß sich in diesem Krieg „Kultur“ und „Zivilisation“ gegenüberstanden, und das heißt in weltanschaulicher Hinsicht: Glaube gegen Wissen, Idealismus gegen Rationalismus, Herz gegen Kopf; in sozialethischer Hinsicht: Kulturwille gegen Krämergeist, Tatenlust gegen Advokatenlist, soldatischer Wagemut gegen bürgerliches Sekuritätsbedürfnis, Opfergesinnung gegen Luxusstreben, Todesbereitschaft gegen Lebensverhaftung; und in politischer Hinsicht: Gemeinschaft gegen Gesellschaft, Rangordnung gegen Gleichheit, Gehorsam gegen Freiheit, Monarchie gegen Demokratie. Die nationalistischen Illusionen, die in diesen Vorstellungen walten, muß man heute nicht mehr entlarven, ebensowenig die antiliberalen, antimodernen und antiwestlichen Affekte, die sich in den „Ideen von 1914“ artikulierten. Sie wirken heute nicht nur befremdlich, sondern lächerlich; damals aber fanden sie Anklang bei Dichtern und Denkern von Rang und Namen - und sie behielten ihre Wirkungskraft noch weit über den Ersten Weltkrieg hinaus.

Das Beispiel Thomas Mann

Der prominenteste und beredteste literarische Vertreter der „Ideen von 1914“ war Thomas Mann. Von der Teilnahme am Krieg blieb der 1875 geborene Autor verschont, obwohl sein Jahrgang durchaus noch eingezogen wurde. Bei einer ersten Musterung zu Beginn des Kriegs wurde Mann zurückgestellt; eine Nachmusterung am 11. November 1916 brachte die endgültige Freistellung wegen Magenschwäche und Nervosität. Aber Mann wollte durchaus seinen Beitrag zu dem „großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg“ leisten, und so entdeckte er sich als Künstler-Soldat und widmete sich für die Dauer des Kriegs fast ausschließlich dem „Gedankendienst“, also der Verteidigung und Rechtfertigung des „deutschen“ Kriegs durch eine Reihe von Essays, die ungefähr im Vierteljahresturnus publiziert wurden. Bereits im November 1914 erschienen die Gedanken im Kriege, die sagen, worum es in diesem Krieg geht: Deutsche „Kultur“, also „Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack“ und „stilvolle Wildheit“, steht gegen westliche „Zivilisation“, also „Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptizismus, Auflösung“ und „Geist“. Und das Deutschland Luthers und Kants und Friedrichs des Großen muß gegen die „Zwangszivilisierung“, die ihm droht, verteidigt werden. Im Februar 1915 folgte Friedrich und die große Koalition, eine Erinnerung an den rücksichtslosen Wagemut und die „ans Barbarische“ grenzende Angriffslust des Preußenkönigs:

Er verachtet die verschanzte Stellung, die sonst in so hohen Ehren stand. Die Schlacht um jeden Preis! Den Feind zur Bataille zwingen! „Bataillen gehören dazu, um zu dezidieren.“ Angriff, Angriff? Attaquez donc toujours! Der Bajonettangriff ist seine Passion, er hat seine Ausführung zuerst geregelt. Nicht überflüssig schießen, vor allem nicht zu früh! Auf zwanzig, auf zehn Schritt vom Feinde ihm „eine starke Salve in die Nase geben und darauf sofort demselben mit den Bajonetts in die Rippen sitzen.“

Dann, im Mai 1915, der Brief an die Zeitung „Svenska Dagbladet“, Stockholm, der im Juni auch in Deutschland publiziert wurde: eine Verteidigung gegen den Vorwurf, daß Deutschland böswillig den Krieg herbeigeführt habe:

Ein wenig Mut zur Geistesklarheit, meine Herrschaften! Zum Kriegführen gehören zwei oder mehrere, und wenn nur Deutschland bereit gewesen wäre, es auf die ultima ratio ankommen zu lassen, wenn nicht auch die anderen den Krieg, wie die korrekte Redensart lautet, „in ihren Willen aufgenommen“ gehabt und ihn einem diplomatischen Erfolge Deutschlands begeistert vorgezogen hätten, - nun! so wäre er nicht gekommen! Hatten nicht alle ihre Hoffnungen und Wünsche? Waren nicht alle am Krieg interessiert? Rußland wollte Konstantinopel und das offene Meer gewinnen, Frankreich die verlorenen Provinzen zurückerobern, England die deutsche Konkurrenz zu Boden schlagen, und alle miteinander gaben sich der innigen Hoffnung hin, Deutschland unschädlich zu machen.

Die Unterscheidung zwischen Offensiv- und Defensivkrieg sei in diesem Fall einfältig oder heuchlerisch. Und im übrigen gelte, „daß es nur für die Tapferkeit und den Menschenstolz eines Volkes spricht, wenn es frei zu wollen sich entschließt, was das Verhängnis ihm zu wollen auferlegt“, auch wenn man dabei schuldig werden sollte: „Welche Duckmäuserei, durchaus nicht schuldig werden, nicht schuldig sein zu wollen!“ Zum Jahrestag der Mobilmachung, zum 1. August 1915, folgten die Gedanken zum Kriege: eine erneute Beschwörung des deutschen Siegs und damit der deutschen Mission:

Nach einem Jahre stellt sich heraus, daß Deutschland geistig gesiegt hat, bevor noch die Entscheidung der Waffen fiel; daß seine Feinde sich ideell entwaffnet fühlen, bevor sie es physisch sind. Ihr Losungsruf hat gewechseit, er lautet nicht mehr: „Gegen den Militarismus!“ Er lautet: „Das deutsche Beispiel!“ „Wir müssen Deutschland nachahmen!“ „Organisation!“

Ab Herbst 1915 entstanden die Betrachtungen eines Unpolitischen, von denen einige Teile separat publiziert wurden, bevor das Ganze im Herbst 1918 in Buchform erschien: eine trotzige Beschwörung und ausufernde Amplifikation der „Ideen von 1914“ kurz vor dem Zusammenbruch. Noch einmal wird der Gegensatz zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ aufgemacht und breit entfaltet. Noch einmal wird ein Zerrbild der westlichen Zivilisation gegeben:

Gesetzt, die Entente hätte rasch und glänzend gesiegt, die Welt wäre vom deutschen „Alpdruck“, dem deutschen „Protest“ befreit worden, das Imperium der Zivilisation hätte sich vollendet, (wäre) oppositionslos übermütig geworden: das Ergebnis wäre ein Europa gewesen, - nun, ein wenig drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein Europa, schon etwas allzu „menschlich“, etwas preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa à la Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte.

Zudem würde ein Sieg der „Weltentente der Zivilisation“ die Politisierung und Demokratisierung Deutschlands bedeuten, was dem Verfasser der Betrachtungen nicht weniger zuwider ist als das Pariser Kokottentum:

Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt ... Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand.

Diese Haltung resultiert nun aber nicht etwa aus einer subjektiven Abneigung gegen Politik und Demokratie (was bei Thomas Mann dasselbe meint), sondern aus dem Umstand, daß Politik, daß Demokratie aufgrund des Aristokratismus des deutschen Volkes objektiv „etwas Undeutsches, Widerdeutsches“ ist. Wenn für die Deutschen eine andere Gesellschaftsform als die Monarchie in Frage kommt, so ist es für Mann der „Volksstaat“ oder eine Art von „Staatssozialismus“, der freilich „etwas anderes ist als der menschenrechtlerisch-marxistische“. Um diese seine aristokratisch-unpolitische Eigenart und Kultur zu verteidigen, war Deutschland legitimiert, jedes Mittel anzuwenden: Sowohl die völkerrechtswidrige Okkupation des neutralen Belgien als auch die empörende Versenkung des britischen Passagierdampfers „Lusitania“, bei der 1.198 Menschen einen schrecklichen Tod fanden, werden vom Verfasser der Betrachtungen gerechtfertigt: „Not vor Recht“, sagte er schon in seinem Brief an die Zeitung „Svenska Dagbladet“, und in den Betrachtungen verweist er auf Nietzsche, der in Menschliches, Allzumenschliches bemerkte, daß - Zitat aus dem Aphorismus I/477 „Der Krieg unentbehrlich“ – „eine solche hoch kultivierte und daher notwendig matte Menschheit, wie die jetzige Europas, nicht nur der Kriege, sondern der größten und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei - bedarf, um nicht an den Mitteln der Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen“. Im übrigen glaubte Thomas Mann, der nie einen Kampfplatz oder ein Lazarett besucht hatte, zu wissen, daß der Krieg nicht nur Elend und Barbarei bedeute, sondern auch seine erhabene Menschlichkeit und seine förderlichen Seiten habe. Es ist allerhand, Hellsichtiges und Verstiegenes, was dem Verfasser der Betrachtungen am Schreibtisch seiner Münchener Villa oder seines Tölzer Landhauses durch den Kopf ging, aber die Lektüre lohnt sich, wenn man wissen will, wie man damals über den Krieg philosophieren konnte, und wenn man eine Folie für eine zeitgemäße Einschätzung von Ernst Jüngers Kriegsschriften gewinnen will. - Thomas Mann also:

Menschlichkeit ist selbstverständlich. Wenn ich im Felde wäre, wenn ich die Greuel der Verwüstung mit meinen Augen sähe, sehen müßte das irrsinnige Zerreißen der Menschenkörper, hören die gewürgten Stimmen der Milchbärte, die die Erlaubnis erbettelten, Freiwillige zu werden, und im Trommelfeuer, kindlich versagend, „Mutter! Mutter!“ schreien, - glaubt man, ich bliebe hart, bliebe „patriotisch“, bliebe „stimmungsvoll“ und wäre der Roheit fähig, „meinem Blatt“ einen journalistisch-brauchbaren Bericht zu liefern? Und doch, wenn der Krieg als Wirklichkeit unmittelbar auf meine Nerven wirkte, - würde ich gegen die Zerrüttung, die grenzenloses Erbarmen und eigene Todesangst meinem Herzen zufügen würden, nicht ein wenig mißtrauisch bleiben? Würde ich mich nicht erinnern, daß die zehntausendfache Multiplizierung des Todes eine Illusion ist, daß der Tod die individuellen Grenzen in Wirklichkeit nicht verläßt, daß der einzelne immer nur seinen Tod stirbt, nicht auch den der anderen? Der Tod wird nicht schrecklicher dadurch, daß er sich für unsere Augen verzehntausendfacht. „Menschlichkeit“ hindert nicht, daß wir alle zum bitteren Tode verurteilt sind; und es gibt Bett-Tode, so gräßlich wie nur irgendein Feldtod. Auch ist jedes Herz nur eines begrenzten Maßes von Schrecken fähig, - worüber hinaus anderes beginnt: Stumpfheit, Ekstase, oder noch etwas anderes, der Einbildungskraft des Unerfahrenen nicht Zugängliches, nämlich Freiheit, eine religiöse Freiheit und Heiterkeit, eine Gelöstheit vom Leben, ein Jenseits von Furcht und Hoffnung, das unzweifelhaft das Gegenteil seelischer Erniedrigung, das die Überwindung des Todes selbst bedeutet. Ich öffne wieder den Brief eines jungen Reserve-Leutnants von der flandrischen Front, eines Studenten sonst und Poeten, und lese nach, was mich bei erster Einsicht so sehr erschütterte. „Angesichts dieser unermeßlichen Übermacht des Todes“, schreibt er, „bei diesem vollkommenen Hilflossein im Trommelfeuer tage- und nächtelang, meist bei Regen, in offenen Trichtern, in der grauenhaften Öde, dem Höllenlärm der Abwehrzone, wird der einzelne leicht fröhlich, nicht verzagt; so ganz frei aller Sorgen ist man, so los von der Erde, hoffnungslos, doch unbeschwert! … Ich bin fröhlich wie unsere Leute, die sich mit 39° Fieber und schweren Lungenentzündungen auch noch nicht krank melden. Merkwürdig, gegenüber diesen unermeßlichen Zumutungen an Leiden und Strapazen möchte man lachen, so frei von allen Sorgen; aller Verantwortung ist man, so ganz in der Hand Gottes.“

Lehrt nicht dieser Brief, daß die Seele des Menschen nicht umzubringen, nicht zu entwürdigen ist, daß ihre wahre Kraft und Hoheit sich erst im Leiden ganz bewährt? Unzweifelhaft handelt es sich bei jenen Trichterbewohnern, die bei 39° Fieber die humanitäre Möglichkeit, sich krank zu melden, ablehnen und ihren ungeheuerlichen Zustand dem Lazarettleben vorziehen, um einen Rausch, eine über alle Erfahrung des zivilisierten Lebens hinausgehende Steigerung des Lebensgefühls. Aber wer wäre so philiströs, den Rausch untermenschlich zu nennen? Und wer beneidete nicht den Verfasser des angeführten Briefes um sein Erlebnis der Freiheit?

Die exzentrische Humanität des Krieges beleidigt den humanitären Sinn und stößt ihn ab, wie der Anblick eines Berauschten und Verzückten den Nüchtern-Vernünftigen beleidigt und abstößt ... Möge aber ferner der Krieg die physische und seelische Lebensform des einzelnen sogar tief unter die gewohnte Zivilisationsstufe hinabdrücken, - von seiner verrohenden Wirkung zu sprechen wäre offenbar dennoch falsch. Es kann, nach der Aussage vertrauenswürdiger Beobachter, von individueller Verrohung durch den Krieg, ins Große gerechnet, durchaus nicht die Rede sein. Nach ihnen liegt die Gefahr vielmehr in einer Verfeinerung des einzelnen Mannes durch ein so langes Kriegsleben, einer Verfeinerung, geeignet, ihn seinem Alltag auf immer zu entfremden. Man braucht die äußere Erweiterung des Horizonts nicht in Anschlag zu bringen, die der Bauer oder Arbeiter erfuhr, indem die Zeit ihn in Gegenden und unter Menschen trug, die als Wirklichkeit zu begreifen er sich nie hätte träumen lassen: In seinem tiefsten Innern als ein anderer wird er nach Hause zurückkehren und es schwer haben, sich in der kleinlichen Enge des Alltags wieder zurechtzufinden. Es ist nicht Dichtereinbildung erforderlich, um ahnungsweise zu ermessen, welche seelisch-geistige, religiöse Erhöhung, Vertiefung, Veredelung die jahrelang-tägliche Nähe des Todes im Menschen hervorbringen - welche nervösen Veränderungen sie zeitigen muß oder doch kann. Das kümmerliche Weib des aus der Welt heimkehrenden Kriegers wird einen anderen Mann wiederempfangen als den, der auszog; nur auf den ersten Blick wird sie ihn wiedererkennen, wird vielleicht bald Scheu vor ihm empfinden, ihn sonderbar finden - und er wäre ein Sonderling, wenn die Genossen seines Schicksals nicht so zahlreich wären. Wird er noch Geschmack an ihr finden? Wird sie seinen Nerven noch genügen? Er ist durch den Krieg an Freiheit und materielle Sorglosigkeit gewöhnt, - welche den Boden ausmachen, auf dem höhere Menschlichkeit, nervöse Kultur gedeihen. Er hat ein außerordentliches Leben geführt, - das oft grauenhaft war, oft auch von abstumpfender Schwere, aber auch hochgespannt, exzentrisch, tausendfach erschütternd und bildend, luxuriöse Gefühle, hohe Kameradschaft, innige Frömmigkeit und was wissen wir noch ausbildend. Wie wird ihm das Zuhause gefallen, das eng, niedrig, kleinlich-sorgenvoll geblieben ist und wo er nun ohne Gefahr und Luxus, mit der Bürgerlichkeit als Ideal, wieder leben soll? Was ich da andeute und manches andere, was zusammen damit angedeutet sein soll, ist gewiß bedenklich genug; aber mit Verrohung hat es durchaus nichts zu tun, sondern würde vielmehr eine Erhöhung, Steigerung, Veredelung des Menschlichen durch den Krieg bedeuten. -

So geht es noch eine Seite lang weiter, doch mag das Zitierte genügen, um zu sehen, mit welchen Sophismen man dem Krieg auch nach drei Jahren des grausamen Verwundens und Tötens noch positive Seiten abgewinnen konnte. Die 1914 entfaltete Kriegsideologie, die, wie eingangs bemerkt, weit zurückreichende Wurzeln hat, immunisierte gegen die Wahrnehmung und angemessene Einschätzung der furchtbaren Destruktivität des Kriegs, und die ästhetizistische „Sympathie mit dem Tode“, zu der sich Thomas Mann in der Vorrede der Betrachtungen wie gegen Ende des Tugend-Kapitels bekannte, tat ein übriges. In der zweiten Auflage, die 1922 erschien, hat Thomas Mann den Abschnitt über die „exzentrische Humanität des Krieges“ komplett gestrichen, ebenso den anschließenden Abschnitt über einen Leutnant, der das „Glück“ hatte, durch einen langen Lazarettaufenthalt in einen Freund der Schönen Literatur verwandelt zu werden.

Über die Motive, die Mann zu diesen Streichungen veranlaßt haben, kann man nur mutmaßen. Vielleicht geschah es aus Scham darüber, daß er dies fern aller eigenen Erfahrung geschrieben hatte, vielleicht aber auch, weil er in den zwischenzeitlich verstrichenen Jahren hatte beobachten können, wie recht er mit seinen Überlegungen - leider - hatte, und wie unrecht zugleich. Recht hatte er mit der Vermutung, daß es vielen der heimkehrenden Soldaten und zumal der Offiziere schwerfallen würde, sich wieder ins bürgerliche Leben zu fügen; unrecht hatte er mit seiner Meinung, daß mit dieser Entfremdung von der Bürgerlichkeit kulturelle „Verfeinerung“ und menschliche „Veredelung“ verbunden sein würden. Die antirepublikanischen Umtriebe und Gewalttaten der abgedankten Offiziere, die sich in Freikorps und Geheimorganisationen zusammenschlossen, dürften Thomas Mann stutzig gemacht haben, zumal er sich um 1920 mit der Republik anzufreunden begann und 1922 mit seiner Berliner Rede Von deutscher Republik ein emphatisches Bekenntnis zum neuen Staat ablegte. In Ernst Jünger, der den „Großen Krieg“ gerade so sehen mochte, wie der Verfasser der Betrachtungen ihn gesehen hatte, sollte er einen paradoxerweise geistesverwandten Antipoden finden. Jünger wird die Betrachtungen in den Anfangsjahren der Weimarer Republik lesen und sie als Anregung und Vorgabe für seinen „neuen Nationalismus“ betrachten.

Thomas Mann stand mit seiner verstiegenen Verteidigung des Kriegs nicht allein. Viele andere Beispiele wären zu nennen. Angeführt sei aber nur noch Hugo von Hofmannsthal, weil sich bei ihm - wie bei Thomas Mann - Denkfiguren finden, die auch in Jüngers Reflexion des Kriegs eine Rolle spielen werden. Auch der 1874 geborene Hofmannsthal, der 1894/95 sein Freiwilligenjahr bei dem k. u. k. Dragonerregiment 6 geleistet und danach noch zweimal an Manövern teilgenommen hatte, durfte den Krieg von der Heimat aus beobachten. Zwar erhielt er am 26. Juli die Einberufung zu einem Landsturm-Feldregiment nach Pisino und mußte tatsächlich ausrücken. Aber erwartungsgemäß war er bereits am 4. August wieder in Wien, wurde aus gesundheitlichen Gründen vom Truppendienst freigestellt und der Pressegruppe des Kriegsfürsorgeamts zugeteilt. Während der Kriegsjahre schrieb er etwa zwanzig kleinere Aufsätze oder Artikel, in denen er versuchte, den Sinn des Kriegs aufzuweisen und die Opfer, die für ihn erbracht wurden, zu rechtfertigen.

Im Hinblick auf Jünger sind vor allem drei Vorstellungen von Interesse: zunächst die Behauptung, daß das „große leidensvolle Erlebnis“ des Kriegs für die Gemüter eine reinigende und veredelnde Wirkung habe (in Aufbauen, nicht einreißen, 1915); dann die Vorstellung, daß der Krieg „Arbeit“ darstelle (in Unsere Militärverwaltung in Polen, 1915) und die Soldaten „Arbeiter des Krieges“ seien (in Geist der Karpaten, 1915); schließlich auch die romantisch-symbolistische Idee, daß die moderne Schlacht, die aufgrund des ungeheuren Einsatzes von Menschen und Geräten völlig unübersichtlich geworden sei, eine „geheime Chiffrenschrift“ darstelle, die nur von wenigen „höchsten Führern“ gelesen werden könne und einer „geistigen Schöpfung“ bedürfe, damit sie für die „Mitkämpfer“ die beobachtenden Zeitgenossen überhaupt erst verständlich werde (in Die Taten und der Ruhm, 1915). Es ist nicht anzunehmen, daß Ernst Jünger Hofmannsthals Kriegsschriften gelesen hat; aber er wird sich - Symbolist auch er - just an dieser Übersetzungs- und Sinngebungsaufgabe versuchen. So läßt er 1923 den Protagonisten seiner Erzählung Sturm beim Anblick der „Kampfanlagen“ an der Westfront bemerken, daß dies nur „die Form, der augenblickliche Stil“ sei, der das „Eigentliche“ des gewaltigen Geschehens nicht berühre und folglich auch nicht unmittelbar erkennen lasse.“

 

Kriegskritische Wendung

 

„Nicht bei allen Zeitgenossen hielt die Zuversicht in die militärische Überlegenheit Deutschlands und in den kulturellen Wert des Kriegs so lange vor wie bei Thomas Mann und anderen Vertretern der „Ideen von 1914“. Die großen Verluste der Herbstoffensiven rüttelten das humanitäre Bewußtsein wieder auf, und der Übergang zum Stellungskrieg, der die Phrasen von einem raschen Sieg Lügen strafte, ließ die Befürchtung aufkommen, daß der Krieg lange dauern, ungeheuer viel Leid mit sich bringen und statt der erhofften menschlichen Erneuerung oder gar „Veredelung“ eine große Verrohung bewirken werde. Zu denen, die eine solche skeptische Betrachtungsweise entwickelten, gehörte Sigmund Freud. Auch er empfand den Kriegsbeginn zunächst als Befreiung, bekannte, daß seine „ganze Libido“ nun Österreich-Ungarn gehöre, und empfahl „Neurotikern“, die angesichts einer drohenden Einberufung seinen Beistand suchten, sich dem Dienst an der Gemeinschaft zu unterziehen; es würde ihnen guttun. Im Verlauf des Winters begann Freud aber, an dem brutalen Töten und massenweisen Sterben Anstoß zu nehmen. Er stellte sich die Frage, welche mentalen Voraussetzungen dieses Morden ermöglichten und was es kulturell, sozial-psychologisch und anthropologisch zu bedeuten hatte. Mit einem Vortrag über das Thema „Wir und der Tod“, den Freud am 16. Februar 1915 hielt, näherte er sich einer Antwort an. In vertiefter und erweiterter Form gab er sie mit den beiden Essays Die Enttäuschung des Krieges und Unser Verhältnis zum Tode, die im Frühjahr 1915 entstanden und bald darauf in der Zeitschrift Imago unter der gemeinsamen Überschrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod publiziert wurden.

Die „Enttäuschung, die dieser Krieg hervorgerufen hat“, ist für Freud eine doppelte. Sie besteht zum einen darin, daß es den europäischen Kulturvölkern nicht gelungen war, ihre „Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austragen zu bringen“, und daß sie statt dessen wie „primitive“ Völker den Krieg gewählt hatten. Und sie besteht zum andern darin, daß dieser Krieg nicht etwa einem „ritterlichen Waffengang“ gleicht, sondern brutaler und gemeiner ist als jeder Krieg zuvor:

Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche ein Wiederanknüpfen derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.

Die Frage stellte sich, wie es zu diesem enttäuschenden Absturz von der vermeintlich gesicherten Höhe der Kultur und der Humanität kommen konnte und was dieser Fall anthropologisch zu bedeuten hatte. Freud gibt in seinen beiden Essays mehrere einander ergänzende Anworten. Im ersten Essay, Die Enttäuschung des Krieges, entwickelt Freud die These, daß die „Kultureignung“ der Menschen nicht so groß sei, wie angenommen wurde. Zwar seien viele Menschen zum „Kulturgehorsam“ gewonnen worden, seien dabei aber nicht ihrer Natur oder ihren Triebregungen gefolgt, sondern hätten diese unterdrückt und seien solchermaßen zu „Kulturheuchlern“ geworden. Das aber bedeutet, daß die „Enttäuschung“ dieses Kriegs auf einer „Illusion“ oder Fehleinschätzung beruht, die zu korrigieren ist: „In Wirklichkeit sind sie (die „Kulturheuchler“ und Kriegsenthusiasten) nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir's von ihnen glaubten.“ Im zweiten Essay, Unser Verhältnis zum Tode, vertieft Freud diese Antwort, indem er mit geradezu schockierenden Worten auf die tötungslüsterne Erbschaft des Menschen verweist. Über den „Urmenschen“ schreibt er:

Der Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich. Den Instinkt, der andere Tiere davon abhalten soll, Wesen der gleichen Art zu töten und zu verzehren, brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben.

Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihe von Völkermorden.

Und:

Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.

Das, was der Krieg aus dieser Veranlagung macht, wird nun von Freud in einer Weise beschrieben, die Punkt für Punkt an den Weltkriegsteilnehmer Ernst Jünger denken läßt:

Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen.

Nicht nur diese Sätze über den regressiven Effekt des Kriegs finden Entsprechungen in Jüngers Kriegsschriften; auch das, was Freud in seinem zweiten Essay über die Voraussetzungen und Folgen des neuen, kriegsbedingten Verhältnisses zum Tod schreibt, erinnert an Jünger und zeigt, in welchem Maß dieser in seinem Verhalten wie in seinen literarischen Reflexionen des Kriegs Produkt und zugleich Antipode des bürgerlichen Lebensgefühls war. - Freud geht von der Beobachtung aus, daß die moderne Kultur - anders als frühere, heroischere Epochen - dazu tendiert, den Tod als ein zufälliges Unglück zu betrachten und ihn nicht mehr als eine Notwendigkeit des Lebens zu akzeptieren:

Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Experimente mit explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der Hansa gelautet: Navigare necesse est, vivere non necesse! Seefahren muß man, leben muß man nicht.

Was durch diese Scheu vor dem Todesrisiko an Lebensintensität verlorengeht, versucht der Kulturmensch nun freilich zu kompensieren:

Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten. Dort allein erfüllt sich uns auch die Bedingung, unter welcher wir uns mit dem Tode versöhnen könnten, wenn wir nämlich hinter allen Wechselfällen des Lebens noch ein unantastbares Leben übrigbehielten … Auf dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Helden zu sterben.

Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, daß in Freuds Ausführungen ein Psychogramm des jungen Ernst Jünger enthalten ist: des Lesers von Abenteuer- und Heldenbüchern, des Fremdenlegionärs, des Weltkriegsteilnehmers und Kriegsschriftstellers. Jünger wird seine Helden- und Abenteuerbücher in eben dem von Freud beschriebenen Sinn verschlungen haben. Sie mögen ihn mit dazu disponiert haben, das Todesrisiko zu mißachten oder, mehr noch, mit dem Risiko des Todes zu „sympathisieren“ (um die entsprechende Formulierung Thomas Manns aufzugreifen). Es scheint, daß er an seinen eigenen Tod so wenig glauben mochte wie an den von Old Shatterhand, der doch auch alle Kämpfe überlebt haben mußte, um von ihnen berichten zu können - was Jünger von früh an auch vorhatte: Nicht umsonst zog er mit einem Notizbuch in den Krieg und bestückte es täglich mit Erinnerungsdaten. Und schließlich dürfte auch jenes Gefühl des „Gefeit-Seins“, das sich während des Kriegs in ihm herausbildete und das ihm ermöglichte, sich trotz mehrerer Verwundungen immer wieder unerschrocken in gefährlichste Situationen zu begeben, durch Reminiszenzen an Helden- und Abenteuerbücher genährt worden sein. Im hohen Alter hat sich Jünger - in einer Journal-Notiz vom 19. April 1986 - einmal gefragt, ob er „nicht im Grunde als Leser gelebt“ und in der Welt immer nur gesucht habe, was die Bücher versprachen: „Die Welt der Bücher wäre dann die eigentliche, zu der das Erlebnis nur die erhoffte Bestätigung darstellte - und diese Hoffnung würde stets enttäuscht“.

Mit Freud ist nun aber noch zu fragen, was der Krieg im Hinblick auf die kulturelle Verdrängung des Todes bedeutet. Die Antwort lautet: Der Krieg hat den Tod und das Todesrisiko ins gesellschaftliche Bewußtsein zurückgeholt. Täglich kommen Tausende ums Leben, und Zehntausende sind stündlich vom Tod bedroht. Was dies für die Betroffenen, die Soldaten und ihre Angehörigen mit sich bringt, weiß Freud aus eigener Erfahrung: Zwei seiner Söhne, Martin und Ernst, stehen im Feld und sind immer wieder in Gefechte verwickelt; ein weiterer Sohn, Oliver, ist als Ingenieur im Einsatz. Ihr Schicksal ist Freuds Hauptsorge. Aber überraschenderweise klagt er nun nicht über die Barbarei des massenweisen Tötens und die Ängste um die Söhne, die er gewiß auch ausgestanden hat, sondern stellt fest: „Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.“ Das hätte auch in den Betrachtungen eines Unpolitischen stehen können - oder in den Stahlgewittern oder in Kampf als inneres Erlebnis, wenngleich es zwischen diesen Schriften beträchtliche Unterschiede gibt. Im übrigen hätte Jünger wohl dem größten Teil von Freuds Beobachtungen und Diagnosen zugestimmt und sie nur teilweise anders bewertet. Jedenfalls zeigen spätere Bemerkungen etwa über das „Urgestein der Bestialität“, das im Menschen vorhanden ist und alle kulturellen Meliorationen überdauert, eine große Nähe zu Freuds Kriegsanthropologie. Umgekehrt hätte Freud in seiner Rationalität und in seinem Humanismus Jüngers Anerkennung der archaischen Erbschaften, die im Krieg sichtbar geworden waren, nicht akzeptiert …

Ernst Jünger, der als „Kriegsmutwilliger“ auszog, hatte dieses grauenhafte Geschehen vier Jahre lang auszuhalten. Wie er dies überstehen konnte, ohne dabei seelisch zu zerbrechen, ist heute schier unbegreiflich, und fast ist man genötigt, sich etwa in dem langen und eindrucksvollen Kapitel, das Carl Zuckmayer in seiner Autobiographie Als wär's ein Stück von mir dem Ersten Weltkrieg widmet, zu versichern, daß dies offensichtlich menschenmöglich war - wie so vieles „Unmenschliche“, das das 20. Jahrhundert seinen Kindern noch zumuten sollte.“

 

Ernst Jünger nach dem Krieg

 

„Im Ersten Weltkrieg wurden nach neuesten Schätzungen nahezu neun Millionen Soldaten getötet, davon über zwei Millionen deutsche; von Jüngers Jahrgang 1895 fanden etwa 35 Prozent der jungen Männer den Tod. Weitere Millionen von Männern wurden schwer verwundet und kehrten als Krüppel oder entstellt nach Hause zurück. Jüngers Kompanie wurde zweimal, Anfang September 1916 bei Guillemont und im März 1918 bei Cambrai, fast völlig vernichtet. Er selbst wurde, wie er am Ende der Stahlgewitter mit einem gewissen Stolz darlegt, durch vierzehn Geschosse verwundet und trug - mit Ein- und Ausschüssen - zwanzig Narben davon. Drei dieser Geschosse, zwei Granatsplitter und eine Schrapnellkugel, stammten aus flächendeckenden Beschießungen; die restlichen elf Geschosse, Gewehrkugeln und Handgranatensplitter, waren auf Jünger persönlich gerichtet. Dies ist im Hinblick auf die vielberufene Anonymität und Technizität des Ersten Weltkriegs ein bemerkenswerter Umstand und erklärt ein Stück weit Jüngers Beharren darauf, daß auch in diesem Krieg der einzelne wahrgenommen wurde und eine Rolle spielte. Daß Jünger bei all dem nicht nur sein Leben behielt, sondern auch unverstümmelt und unentstellt nach Hause kam, grenzt an ein Wunder. Und hochgradig erstaunlich ist, daß er dies alles ohne manifeste psychische Verstörung überstand.“

„Den Untergang des Kaiserreichs und das Verschwinden seiner Repräsentanten wird Jünger nicht allzusehr bedauert haben. Seine Kriegstagebücher und späteren Schriften zeigen eine deutliche Distanz zur wilhelminischen Ordnung; sie war für Jünger eine lebensfeindliche und überholte Zwangsanstalt. Für die Revolution konnte er dennoch keine Sympathie entwickeln. Sie bedeutete für ihn die Destruktion des militärischen Lebensrahmens und stellte mit ihrem pazifistischen Impetus seine bellizistische Lebensauffassung in Frage. Wenn er schon nicht für Kaiser und Vaterland gefochten hatte - : dafür, daß nun Pazifisten und Defätisten das Wort führten und Offizieren die Schulterstücke heruntergerissen wurden, hatte er auch nicht gekämpft. Er muß sich einigermaßen düpiert gefühlt haben, durch den Verlauf der Geschichte gleichsam betrogen und hereingelegt. Spätere Bemerkungen zu dieser Zeit deuten darauf hin, daß Jünger in eine Lebens- oder Sinnkrise geriet.“

„Insgesamt zeigt sich, daß Jüngers Leben in den ersten Nachkriegsjahren von unterschiedlichen, teils gegenstrebigen Neigungen motiviert und perspektiviert wurde. Eine militärische Karriere schien möglich, ebenso aber auch eine literarische Existenz. Asketische Neigungen wurden durch exzessive sinnliche Erfahrungen konterkariert. Disziplinierter Dienst in militärischen Formationen wechselte mit Ausschweifungen in jenes Milieu, in dem sich Künstler, Ärzte und Polizeioffiziere, Dealer und Prostituierte, notorische Ehrenmänner und notorische Gauner ein Stelldichein gaben. Wie Jünger 1970 in den Annäherungen schrieb, fühlte er sich damals vielfach bedrängt und in besonderem Maß anfällig; der verlorene Krieg und die russische Revolution hatten zu einer fundamentalen Verunsicherung geführt.“

„Daß Jünger sich entschloß, aus der Reichswehr auszuscheiden, ist wohl auf mehrere Gründe zurückzuführen. Einer davon - und vielleicht der ausschlaggebende - mag gewesen sein, daß er Gretha von Jeinsen bei den gegebenen Vermögensverhältnissen als aktiver Offizier nicht hätte heiraten können. Ein anderer dürfte in dem Mangel an Aufstiegschancen gelegen haben, den Jünger nach seinem Ausscheiden offen kritisierte: „Die erste Rangliste der Reichswehr weist überraschend wenig Frontoffiziere auf“, konstatierte er in einem 1928 publizierten Aufsatz über die Reichswehr, und in einer 1929 geschriebenen Rezension zu Max René Hesses Roman Parthenau stellte er fest, der im Krieg hoch dekorierte Held des Romans stehe für jenen Typus von „Führer“, „der in der napoleonischen Armee mit 27 Jahren Divisionskommandeur und mit 35 Jahren Marschall von Frankreich gewesen wäre, und der in Deutschland zehn Jahre nach dem Weltkriege vielleicht hin und wieder vertretungsweise eine Kompanie führen darf“. Ebendieses Schicksal wird Jünger schon während seiner aktiven Zeit gesehen und gefürchtet haben; er konnte sich ja ausrechnen, daß er - unter Friedensbedingungen - frühestens 1931 zum Hauptmann befördert würde. Ebenso muß ihm bewußt und bedrückend geworden sein, daß er nicht mehr in einer kriegstauglichen Wehrmacht diente, sondern in einem Verband mit „Konzession zur Soldatenspielerei“, wie er 1927 einmal schrieb. Aus den Briefen der aktiven Zeit wird jedenfalls ersichtlich, daß die Verhältnisse bei der Reichswehr Jüngers Lebensvorstellungen und Leistungsansprüchen immer weniger genügten.“

 

Literarische Einflüsse

 

Nietzsches Einfluß auf Jünger war vielfältig und nachhaltig: Mit Nietzsche interpretierte Jünger den Krieg als einen elementaren Modus des Lebens und den Kampf auf Leben und Tod als ein Geschehen, in dem sich das Leben auf dionysische oder orgiastische Weise entfaltet. Im Sinne von Nietzsches zweiter „unzeitgemäßer Betrachtung“ Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben versuchte Jünger in seinen Kriegsbüchern, den Krieg - trotz der Niederlage - in Form einer „monumentalischen Historie“ zu beschreiben, also in rühmender, heroisierender, sinnstiftender und antiresignativer Absicht. Von Nietzsche übernahm Jünger die Vorstellung vom „Leben“ als einem Prozeß des unablässigen Werdens und Vergehens, des unbarmherzigen Tötens und Getötet-Werdens, Verzehrens und Verzehrt-Werdens, und die daraus sich ergebende Philosophie der schöpferischen Zerstörung, die auch für den kulturellen Bereich und das geschichtliche Handeln geltend gemacht wurde. Ebenso übernahm er von Nietzsche - oder genauer: aus Nietzsches Schriften in der damals publizierten Form - die auf Schopenhauer aufbauende Vorstellung, daß das „Leben“ von einem einzigen „Willen“ durchwaltet sei und daß dieser „Wille“, so nun Nietzsche, der „Wille zur Macht“ sei, der sich in den geschichtlichen Bewegungen und Interaktionen agonal entfalte und immerfort auf eine Überwindung des Status quo dränge. Im Anschluß an Nietzsche kam Jünger in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre mehr und mehr zur Ansicht, daß der aktuelle geschichtliche Prozeß auf eine „Entwertung aller Werte“ hinauslaufe (Nihilismus-Diagnose) und diese Entwertung so weit vorangeschritten sei, daß mit dem Beginn einer Konstitution neuer Werte und mit der Erscheinung eines „neuen Menschen“ oder „Übermenschen“ zu rechnen sei …

Für die Bestimmung des geschichtlichen Orts der Gegenwart ist Nietzsches Nihilismus-Diagnose grundlegend: die These, daß Rationalismus und Historismus alle letztverbindlich sein wollenden Wertsetzungen destruiert haben. Der letzte oder vorletzte Schritt auf dem Weg in den vollendeten Nihilismus war - Jünger zufolge - der Erste Weltkrieg: „Wir haben“, schreibt er mit sarkastischem Stolz, „stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit gearbeitet und, auf das unscheinbarste Feigenblatt einer eigentlichen Fragestellung verzichtend, das 19. Jahrhundert - uns selbst in Grund und Boden geschossen“. Der zweifelhafte Stolz auf diese traurige Leistung wird durch die Annahme ermöglicht und legitimiert, daß die radikale Destruktion der traditionellen Wertewelt die notwendige Voraussetzung für die Neubildung oder Neuschöpfung von Werten sei. Sie kann beginnen, wenn jener mehrfach beschworene „magische Nullpunkt“ erreicht ist, „an dem zugleich nichts und alles ist“: die alten Werte restlos beseitigt und alle Möglichkeiten eröffnet sind.“

Oswald Spengler: Von den zeitgenössischen Autoren, die Jünger nach dem Ersten Weltkrieg las und die eine prägende Bedeutung für ihn erlangten, ist an erster Stelle wohl Oswald Spengler zu nennen, der 1918/19 durch zwei Bücher zum Autor der Stunde geworden war und bald als Vordenker der sogenannten Konservativen Revolution galt. Im September 1918 war der erste Band von Spenglers geschichtsphilosophischem Werk Der Untergang des Abendlandes erschienen (der zweite folgte 1922). Schon vor dem Krieg begonnen, war dieses Buch keineswegs eine Reflexion des Kriegs oder gar der deutschen Niederlage. Vielmehr entwickelte es in kühn analogisierendem Zugriff und apodiktischem sprachlichen Gestus eine „Morphologie der Weltgeschichte“, deren Kernthese besagt, daß die Weltgeschichte aus einem Neben- und Nacheinander von - bisher acht - autonomen Hochkulturen besteht, die wie lebende Organismen die Phasen der Entstehung und des Wachstums, der Blüte und der Reife sowie des Verfalls und Verschwindens durchlaufen. Die abendländische Kultur hatte Spengler zufolge ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert und ging nun der zivilisatorischen Verflachung oder „Fellachisierung“ entgegen. Der „Untergang des Abendlandes“ vollzog sich demnach als ein ebenso zwangsläufiger wie natürlicher Prozeß, für den ein Ereignis wie der „Große Krieg“ allenfalls periphere Bedeutung haben konnte.

Und doch wirkte Spenglers Buch 1918/19 wie eine Sinndeutung des Kriegs und zumal der deutschen Niederlage: Sie verlor nun den Charakter des nur Mißglückten oder gar nur Zufälligen und erschien als Manifestation eines Verfallsprozesses, der letztlich hingenommen werden mußte, sei es nun in fatalistischer Passivität oder in heroischem Widerstreben. Für letzteres plädierte Spengler mehr oder minder deutlich mit seinem zweiten Buch, dem 1919 erschienenen Pamphlet Preußentum und Sozialismus. Er verwarf darin sowohl den englischen Liberalismus als auch den marxistischen Kommunismus und glorifizierte demgegenüber das Preußentum, wie es mit Friedrich Wilhelm I. in Erscheinung getreten war. Der englische Händler-Liberalismus war für Spengler materialistisch und individualegoistisch, der marxistische Sozialismus materialistisch und klassenegoistisch. Hingegen bedeutete Preußentum für Spengler Staatssozialismus oder Vereinigung aller in selbstloser Arbeit für den Staat, dessen Sinn in der imperialistischen Machtentfaltung zugunsten der Staatsangehörigen wie der - vermeintlich - überlegenen Staatsidee bestand. Spengler hat Nietzsches Machtphilosophie auf die Politik übertragen und in der Nachkriegsdepression nationalistisch ausgespielt.

Spenglers Wirkung war ungeheuerlich. Beide Bücher erschienen in Massenauflagen. Intellektuelle von Rang - genannt sei Thomas Mann - zählten zu Spenglers faszinierten Lesern. Ebenso Ernst Jünger. Ein Brief vom 27. August 1922 an den Bruder Friedrich Georg dokumentiert eine eingehende Beschäftigung mit dem Untergang, die politischen und geschichtsphilosophischen Schriften bis hin zur Zeitmauer (1959) und zum geschichtsphilosophisch ambitionierten Roman Eumeswil (1977) weisen vielerlei Anleihen von Spengler auf, und in seinen autobiographischen Schriften und Äußerungen hat Jünger vielfach auf die anregende, in mancher Hinsicht sogar prägende Kraft Spenglers hingewiesen. Sie betrifft Jüngers später entfaltetes Konzept des „neuen Nationalismus“ und die damit verbundene Favorisierung eines autoritären Staats. Sie betrifft die Bedeutung des Phänomens „Arbeit“ für die durchgreifend „mobilisierte“ Moderne. Sie betrifft die Philosophie des „Verlorenen Postens“, also des heroischen Ausharrens auch in einer geschichtlichen Situation, die durch den fortgeschrittenen oder gar vollendeten Nihilismus bestimmt ist und noch keinerlei positive Perspektive erkennen läßt. Sie betrifft schließlich auch Jüngers Geschichtsbild, das von Spenglers Sicht beeinflußt ist, aber doch nicht in ihr aufgeht. Schon in dem Brief vom 27. August 1922 distanzierte sich Jünger von Spengler, indem er bemerkte, daß er sich in seiner „Überzeugung von der Einheit der Menschheits-Geschichte nicht erschüttern“ lasse, weil sonst die Geschichte der Menschen ins Gebiet der „Zoologie“ fiele. Anders als Spengler, der - nach Jüngers Exegese - im Neben- und Nacheinander der autonomen Hochkulturen keinen Fortschritt des Ganzen zu erkennen vermochte, wollte er daran festhalten, daß es nicht nur ein getrenntes Auf und Ab der Kulturen gebe, sondern ein Beerben und eine Progression des Ganzen. Allerdings schwankte er in diesem Punkt auf Dauer zwischen Zustimmung und Ablehnung.“

Thomas Mann: Auf deutsche Autoren „schöner“ Literatur nimmt Jünger in seinen Schriften relativ selten Bezug. Um so auffälliger ist es, daß er in seiner politischen Publizistik nach 1925 immer wieder Thomas Mann erwähnt. Von ihm scheint Jünger insbesondere zwei Werke gelesen zu haben: die im Herbst 1918 erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen und den 1924 publizierten Roman Der Zauberberg. Durch beide sah sich Jünger zunächst in seinem antidemokratischen Affekt bestätigt: Mit den Betrachtungen habe Thomas Mann die „korrupte Luft des Novemberstaates … mit wunderbarer Klarheit vorausgesagt“ und - wie später mit dem Zauberberg - das dürftige und ridiküle Wesen des „Zivilisationsliteraten“ enthüllt; den Zauberberg schätzte Jünger überdies, weil er - wie Kubins Roman Die andere Seite – „den langsamen Angriff der Verwesung“ auf die Gesellschaft der Vorkriegszeit erfaßte. Daß Thomas Mann 1922 mit seiner Berliner Rede Von deutscher Republik ins Lager der Demokraten gewechselt und für die Republik eingetreten war, hat Jünger zunächst einmal ignoriert. Erst später, um 1928, hörte er damit auf, Thomas Mann als Kronzeugen der prinzipiellen Verfehltheit der Republik anzuführen. Seine Wertschätzung für den Zauberberg hielt aber an; noch im Mai 1929 nannte Jünger ihn den „bedeutendsten Roman der Nachkriegszeit“. Zwar glaubte er feststellen zu müssen, daß sich „das in den Krieg einmündende Ende“ dieses Romans geradezu „störend“ an den „zivilisatorischen Inhalt“ anschließe; aber das schien ihm weniger ein Fehler als vielmehr die ästhetische Entsprechung für den Umstand zu sein, daß der Krieg als „elementarer Akt“ alle zivilisatorischen Einhegungsversuche zunichte mache.

Und möglicherweise schätzte Jünger am Zauberberg noch etwas anderes: die Figur des jüdisch geborenen Jesuiten Leo Naphta, der zum Gegenspieler des „Zivilisationsliteraten“ Settembrini wird. Während dieser gegenüber dem „Zögling“ Hans Castorp unentwegt für Humanität und zivile Tugenden, bürgerliche Freiheiten und Demokratie plädiert, verlangt der fundamentalistische Naphta die Wiederherstellung eines „Gottesstaates“, der durch „absoluten Befehl“ und „eiserne Bindung“ geprägt sein sollte, durch „Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich“, durch die „Vergewaltigung der Persönlichkeit“ und „Askese“, durch „Terror“ und Überwindung der humanistischen „Blutscheu“. Naphta ist ein „Revolutionär der Erhaltung“, wie es im Zauberberg heißt, oder, wie man auch sagen kann, ein Exponent jener „konservativen Revolution“, die ideologisch und organisatorisch kaum faßbar war, aber im politischen Denken der zwanziger Jahre eine wichtige Rolle spielte und in Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt u. a. renommierte Vertreter hatte. Auch der Thomas Mann der frühen Nachkriegsjahre war ein Repräsentant dieser Geistesströmung und wirkte als solcher auf Ernst und Friedrich Georg Jünger, die bald auf diese Linie des Denkens einschwenkten. Mit dem düster funkelnden Naphta, dessen totalitäre Welt- und Gesellschaftsvorstellungen von Settembrini als „monströser Irrsinn“ bezeichnet werden, hat Thomas Mann sich von dieser kulturell-politischen Einstellung distanziert, zugleich aber eine Figur geschaffen, die – trotz karikaturhafter Zuspitzungen - faszinierend wirkt und die Virulenz des konservativ-revolutionären und hier auch totalitären Denkens erahnbar werden läßt. Jünger konnte auf Naphta nicht zustimmend verweisen; dafür war die Position, die Thomas Mann diesem zugeschrieben hatte, zu extrem, zu katholisch, zu gegenwartsfern. Wohl aber wird er die Gestalt Naphtas mit großem Interesse betrachtet und als Bestätigung dafür gewertet haben, daß die humanistisch-demokratische Einstellung des „Zivilisationsliteraten“ Settembrini nicht ohne Alternative war.“

Helmuth Kiesel erwähnt weiterhin E.T.A. Hoffmann, Johann Wolfgang Goethe, Maurice Barrès, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Joris-Karl Huysmans, Walter Serner und vor allem Johann Georg Hamann. Auf dessen Einfluss auf Ernst Jünger wird der Wurm im zweiten Teil eingehen.

 

Politische Neuorientierung

 

Ernst Jünger begreift sich um 1922 als Autor, schreibt Aufsätze für das Militär-Wochenblatt: „Skizze moderner Gefechtsführung“, „Die Technik in der Zukunftsschlacht“, „Auf welchen Grundgedanken beruht die Infanterietaktik“, „Über Angriffsgeschwindigkeit“, „Die Ausbildungsvorschrift für die Infanterie“.

 

Nähe zum Nationalsozialismus

 

„Mit den Kriegsbüchern und den kriegstheoretischen Artikeln, die bis zum Frühjahr 1923 erschienen waren, hatte sich Jünger als Historiograph und Exeget des „Großen Krieges“ etabliert. Als solcher fühlte er sich berufen, nun auch zu Fragen der politischen Neuorientierung Deutschlands Stellung zu nehmen. Während seiner aktiven Zeit als Offizier war ihm dies untersagt. Aber gleich nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr am 31. August 1923 schrieb Jünger einen ersten dezidiert politischen Artikel, der am 23./24. September 1923 unter der Überschrift Revolution und Idee in der „Unterhaltungsbeilage“ des Völkischen Beobachters erschien, also im „Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands“, wie der Untertitel des Völkischen Beobachters lautete. Als Auftakt zu Jüngers politischer Publizistik verdient dieser Artikel einige Aufmerksamkeit:

Gleich mit dem ersten Satz übernimmt Jünger die Rolle eines Repräsentanten und Sprechers eines bestimmten Teils der jüngeren Generation oder „Jugend“, wie man damals sagte, und erklärt diesen zugleich zur revolutionären Kraft: „Für uns, die geistige und begeisterungsfähige Jugend Deutschlands, soweit sie zu freiheitlichem Denken geboren oder erzogen war, hatte vor dem Kriege das Wort Revolution einen starken und eigentümlichen Klang“. Tatsächlich hatte das Wort „Revolution“ vor dem Krieg eine große Faszination erlangt und war, wie der Ruf nach dem Krieg, zum Ausdruck jenes Unbehagens an der bürgerlichen Kultur geworden, von dem Jünger und seine Generationsgenossen ergriffen worden waren. Der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam, mit dem Jünger sich später anfreundete, hatte 1913 sogar eine Zeitschrift mit dem Titel Revolution herausgegeben und am Ende des Einleitungsartikels umrissen, was unter Revolution zu verstehen sei: „Einige Formen der Revolution: Tyrannenmord, Absetzung einer Herrschergewalt, Etablierung einer Religion, Zerbrechen alter Tafeln (in Konvention und Kunst), Schaffen eines Kunstwerks, der Geschlechtsakt./Einige Synonyma für Revolution: Gott, Leben, Brunst, Rausch, Chaos.“ Diesen diffusen Begriff von Revolution hatte Jünger 1923 hinter sich gelassen. In den weiteren Abschnitten seines Artikels stellte er fest, daß jede Revolution ihre tragende und treibende Idee brauche, wie denn auch die Reformation, die Französische und die Russische Revolution ihre Leitideen gehabt hätten. Nicht aber die deutsche Revolution vom Winter 1918/19! Sie war - Jünger zufolge - nicht viel mehr als eine Meuterei, die den mehr oder minder verlorenen Krieg beendete, das untergangsreife Kaiserreich beseitigte, kurzfristig einige liberale und marxistische „Phrasen“ und „Schlagworte“ aufwärmte, aber keine zeitgemäße Idee hatte und deswegen nicht in der Lage war, Deutschland eine neue gesellschaftliche Form zu geben: „überall da aber, wo es galt, selbständig Neues zu schaffen, versagten die Führer, sie sahen sich vorm Nichts und klammerten sich im Gefühl der Ideenlosigkeit gerade an die Zustände, die sie zu bekämpfen vorgaben. So wuchs der Kapitalismus durch ihre Hilfe mächtiger denn je, die politische Unterdrückung wurde grenzenlos, die Freiheit der Presse und des Wortes ein Kinderspott“. Dies korrespondiert mit der Kritik der radikalen Linken an der Revolution wie an der Republik und wird weder der historischen Bedeutung der Revolution noch der Leistung jener Politiker gerecht, die Deutschland damals vor einem Sturz in ein politisches Chaos mit unabsehbaren Folgen für die Bevölkerung bewahrt haben. Aber es geht hier nicht um eine Widerlegung Jüngers, sondern um die Wahrnehmung des Ausgangspunkts seiner politischen Kritik und Publizistik, daß nämlich eine „echte Revolution“ nicht stattgefunden habe und Deutschland infolgedessen politisch, ökonomisch, sozial und ethisch verkommen sei. Man muß, wenn man Jüngers Kritik liest, bedenken, daß sie in den Wochen der Hochinflation geschrieben wurde, in denen der Kurs der Papiermark im Verhältnis zu einem US-Dollar von 4,6 Millionen auf 25 Milliarden sank und eine gigantische Umverteilung der Vermögensverhältnisse im Gang war, durch die vor allem die breite Mittelschicht, der auch Jüngers Familie angehörte, zu Schaden kam. Es heißt in Jüngers Artikel:

So hat das Reich seither fünf Jahre lang ohne eine andere Idee als die der Lohnstreitigkeit gelebt, kein neues Gebäude hat sich aus den Ruinen erhoben, kein festes und großes Ziel wurde aufgepflanzt. Die Folgen haben sich gezeigt:, Schwankender Kurs, innere Zerfleischung, Ohnmacht den äußeren Gewalten gegenüber. Hinter den Tarnfassaden von Regierungen und Kabinetten herrscht die Freibeuterei in ihrer nacktesten Form. Es gibt nur noch Plünderer und Ausgeplünderte. Die Berufe, die die ideellen Güter des Volkes zu wahren und zu mehren hatten, sterben aus. Die Vertreter des Materialismus in seiner ganzen Gemeinheit, Schieber, Börsianer und Wucherer, sind die wirklich Regierenden. Alles Reden und Handeln dreht sich um Ware, Geld und Profit. Alle Äußerungen des Staates, seine Verordnungen, seine Erklärungen, seine Maßnahmen, sein Geld, seine Aufrufe, dünsten den Geruch des Verwesens aus. Wie könnte es auch anders sein, da die Revolution keine Geburt, kein Aufstrahlen neuer Ideen, sondern eine Verwesung war, die von einem sterbenden Körper Besitz ergriffen hat.

Nach dieser Bestandsaufnahme lenkt Jünger den Blick auf die Kraft oder Bewegung, die in der Lage zu sein scheint, die versäumte Revolution nachzuholen und das Blatt zu wenden. Sein Ton wird vollends predigerhaft, ja prophetisch, sein Denken geradezu manichäisch:

Die echte Revolution hat noch gar nicht stattgefunden, sie marschiert unaufhaltsam heran. Sie ist keine Reaktion, sondern eine wirkliche Revolution mit all ihren Kennzeichen und Äußerungen, ihre Idee ist die völkische, zu bisher nicht gekannter Schärfe geschliffen, ihr Banner das Hakenkreuz, ihre Ausdrucksform die Konzentration des Willens in einem einzigen Punkt - die Diktatur! Sie wird ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert.

Sie wird alle Kennzeichen der echten und gerechten Empörung an sich tragen, und wird alle Finsterlinge ausschließen, schon allein deshalb, weil es bei ihr nichts zu verdienen gibt. Denn nicht das Geld wird in ihr die bewegende Kraft darstellen, sondern das Blut, das in geheimnisvollen Strömen die Nation verbindet und das lieber fließt als sich knechten läßt. Das Blut soll unsere neuen Werte gebären, es soll die Freiheit des Ganzen unter Opferung des einzelnen erstehen lassen, es soll seine Wellen werfen bis an die Grenzen, die uns zukommen, es soll alle Stoffe ausscheiden, die uns schädlich sind.

Man versteht nun, warum dieser Artikel im Völkischen Beobachter erschien. Aus Jüngers Kritik an der Revolution des Winters 1918/19 und an der Weimarer Republik war eine flammende Lobrede auf die „national-sozialistische Bewegung“ erwachsen. Zu fragen bleibt, was Jünger mit ihr verband. Vermutlich war dies nicht viel mehr als das von Hitler und Ludendorff ausgelöste Gefühl, daß die „Hitler-Bewegung“ eine unvergleichliche Radikalität habe und als einzige Kraft in der Lage sein werde, einen Umsturz herbeizuführen. Jünger war im Frühjahr und Sommer 1921 mehrfach in München gewesen, hatte seine Schwester und Ludendorff besucht und bei dieser Gelegenheit auch Hitler in einer der Großveranstaltungen im Zirkus Krone reden hören. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er diese Erfahrung in seinem Journal Jahre der Okkupation (später Die Hütte im Weinberg) unter dem Datum des 29. März 1946 ausführlich reflektiert. Zweifellos ist diese Darstellung durch die zwischenzeitliche Erfahrung beeinflußt; dennoch dürfte sie einigermaßen wiedergeben, wie Jünger Hitler und seine Anhängerschaft damals wahrgenommen hat:

Als ich ihn hörte, hatte ich den Eindruck eines blassen, begeisterten Menschen, der nicht so sehr neue Gedanken brachte als neue Kräfte entfesselte. Es schien weniger, daß er des Wortes mächtig, als daß das Wort seiner mächtig war. So stellt man sich ein Medium vor, das fast verzehrt wird durch die Kräfte, die ihm zuströmen ...

München war ein günstiger Boden für seine Anfänge, günstiger als Berlin. Die Bevölkerung ist impulsiver; sie hatte die Räterepublik gehabt. Ich sah Arbeiter, entlassene Soldaten in Röcken aus feldgrauem Tuch, Burschen mit Gesichtern, wie Leibl sie gemalt hat. Die Leute aus den Bergen kamen in die Stadt. Sie hingen alle gebannt an seinem Wort.

Reden an solchen Orten werden nicht verstanden; sie sind Beschwörungen. Er sagte nichts Neues, nichts, das durch die Sozialdemokraten oder durch die Nationalisten nicht bereits gesagt worden war ... Aber das war bedeutungslos. Er machte sogar unsinnige Vorschläge wie etwa den, die Regierung solle französische Franken als Falschgeld nachdrucken. Doch alles hatte eine starke Intensität, ein mächtiges Fluidum.

Wenn ich den Eindruck hatte, mich in einem Schmelztiegel, an einem Ort der nationalen Einigung zu befinden, so war das nicht unrichtig. Aber es wirkte dahinter noch etwas anderes, Zwingenderes: die Entdeckung der klassenlosen Gesellschaft mit ihren Konsequenzen, ihrem ungeheuren Anfall an Energie. Sie verwischt die Palette, zerstört die Hierarchien, befreit die einzelnen von ihrer Bindung und saugt sie in ein dynamisches Gefälle ein. Die Masse erkennt ihre Einheit, ihre Gleichheit und sogar ihre Freiheit in einem einzelnen ...

Damals ergriff mich etwas anderes, wie eine Reinigung. Die unermeßliche Anstrengung von vier Kriegsjahren hatte nicht nur zur Niederlage, sie hatte zur Erniedrigung geführt. Das entwaffnete Land war von hochgerüsteten, gefährlichen Nachbarn umgeben, zerstückelt, durch Korridore zerschnitten, geplündert, ausgesaugt. Das war ein böser, ein grauer Traum. Hier stand nun ein Unbekannter und sagte, was zu sagen war, und alle fühlten, daß er recht hatte …

Es war keine Rede, es war ein Elementarereignis, in das ich geraten war. Die Inflation muß damals weit vorgeschritten gewesen sein. Der Hunger ist eine große Sache, hungrige Massen sind gute Zuhörer. Ich entsinne mich, daß nach dem Schluß der Versammlung Männer mit Säcken herumgingen, in die wir Geldscheine hineinstopften …

Anti-Bürgerlichkeit, Anti-Liberalismus und Anti-Parlamentarismus waren weit verbreitet und hatten angesehene Fürsprecher, ebenso der Wunsch nach einer autoritären und entscheidungsfreudigen Politik. Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Deutschland waren so beschaffen, daß man die Tauglichkeit des Parlamentarismus durchaus in Zweifel ziehen konnte, zumal wenn man nicht überzeugter Demokrat war, sondern auch andere Herrschaftsformen für legitim hielt. Unter diesen Umständen war die Faszination, die von Hitler und seiner „Bewegung“ ausging, beträchtlich; sie sprach gerade diejenigen an, die eine grundlegende politische, soziale und moralische Erneuerung Deutschlands für nötig hielten. Wohin, wenn nicht zu den Kommunisten, sollten sie sonst gehen? War doch die „Hitlerjugend“, wie Bloch 1924 auch schrieb, zu dieser Zeit „die einzige revolutionäre Bewegung in Deutschland“! Wer für Hitler und seine „Bewegung“ eintrat, konnte sich als revolutionärer Geist fühlen, als Teil einer breiten, nationalistischen und sozialistischen Opposition gegen die „untaugliche“ Republik. Jünger hat später denn auch für einen Zusammenschluß von Nationalisten und Kommunisten plädiert.“

 

Nähe zu sonstigen Militaria

 

„Politisch suchte Jünger nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr Anschluß an die Wehrverbände, die zum Teil aus den Freikorps hervorgegangen waren: jenen nach dem Krieg von entlassenen Offizieren gebildeten „Freiwilligenverbänden“, die in Polen und Oberschlesien gegen die vom Versailler Vertrag verfügten Gebietsabtretungen kämpften, in Berlin und München wie im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland im Auftrag der Reichsregierung die Revolution und die folgenden Aufstände niederschlugen, bis 1923 ungefähr 300 sogenannte „Fememorde“ verübten und insgesamt durch ihre Gewalttaten wie durch ihr konspiratives Wirken die Rechtssicherheit und Stabilität der jungen Republik beträchtlich gefährdeten. Von der Regierung wurden die Freikorps zwar nach und nach verboten und aufgelöst, doch blieben einige als „Arbeitsgemeinschaften“ oder sonstige „Organisationen“ bestehen, und bisweilen kam es auch zu Kooperationen zwischen Regierungsstellen und Freikorps, wenngleich deren Grundhaltung dezidiert antirepublikanisch war. Den sogenannten Kapp-Putsch trug eines der stärksten Freikorps, die Marinebrigade Ehrhardt, und am Hitler-Putsch beteiligte sich das Freikorps Roßbach, dessen Führer, Gerhard Roßbach, nach dem Putschversuch ins Ausland fliehen mußte, 1924 aber amnestiert wurde und die „Schilljugend“ gründete, die Hitler bis zur Gründung der „Hitlerjugend“ im Herbst 1926 als NS-Jugendorganisation betrachtete. An diesen Roßbach wandte sich Jünger, nachdem er mit dem Studium in Leipzig begonnen hatte, und wurde sogleich zum „Landesführer“ des Freikorps Roßbach in Sachsen eingesetzt; auch übernahm er in der „Schilljugend“ das „Amt für Deutsches Schrifttum“. Es zeigte sich aber, daß die sächsische Abteilung nur aus einigen dubiosen Individuen bestand, die sich gelegentlich im „Hinterzimmer eines Zigarrenhändlers“ trafen und weniger an Politik als an ihre persönlichen Belange dachten. Nach vier Wochen legte Jünger seine Landesführerschaft wieder nieder und zog sich zurück. Trotz der Kürze dieses Engagements hatte er aber eine wichtige Erfahrung gemacht; die zeitraubende und ineffektive Mitwirkung in solchen Organisationen war seine Sache nicht. Jünger war nicht organisationswillig, nicht einmal als Führer.“

„Im entscheidungsreichen Sommer 1925 kehrte Jünger wieder zur politischen Publizistik zurück. Die Motive dafür sind wohl nicht bei ihm allein zu suchen. Es gab auch einen Personenkreis, dem einiges an Jüngers Feder lag: die Führung des Stahlhelm-Bundes.

Der Stahlhelm/Bund der Frontsoldaten 1918 war im November/Dezember 1918 von dem Weltkriegsoffizier und späteren NS-Minister Franz Seldte als Wehrverband oder Kampfbund „zum Schutz von Eigentum, Moral und Vaterland“ gegen den Bolschewismus gegründet worden. Er beteiligte sich an der Unterdrückung der revolutionären Unruhen in Deutschland, bekämpfte den Versailler Vertrag wie die junge Republik und akklamierte so offen der republikfeindlichen Gewalt, daß er nach der Ermordung Walther Rathenaus in Preußen für einige Monate verboten wurde. Seine Hauptziele waren die Überwindung der Republik, die Revision des Friedensschlusses und die Pflege des „Geistes der Frontkameradschaft“ als Voraussetzung für das Wiedererstarken der deutschen Nation. Die Zahl seiner Mitglieder ist nicht genau bekannt, zumal es Nebenorganisationen wie den Stahlhelm-Studentenring Langemarck gab; die Angaben für 1925 schwanken zwischen 225.000 und 500.000, für 1930 zwischen 500.000 und einer Million …

In dieser Absicht publizierte Jünger vom 31. August bis zum 20. Dezember 1925 neunzehn Artikel, die in erkennbar systematischer Absicht geschrieben sind und 1926 unter dem Titel Die Grundlagen des Nationalismus auch als Buch erscheinen sollten (wozu es aber nicht kam). Sie wollten die Kriegserfahrung der Frontsoldaten für einen „neuen Nationalismus“ fruchtbar machen und stellten diesen neuen und zugleich soldatischen Nationalismus gegen widerstrebende Tendenzen wie den Pazifismus und den Internationalismus, aber auch den romantisierenden Traditionalismus. Seine ideologische Basis war jener „integrale Nationalismus“ Barrès‘scher Prägung, der die Nation als Totalität und seinsbestimmende Macht betrachtete, zudem als die einzige Größe, die in der Lage war, den Prozeß der modernen Individualisierung oder Atomisierung aufzuhalten und das Volk als Ganzes für den Kampf ums Dasein oder um einen „Platz an der Sonne“ zu rüsten. Seinen Hauptfeind sah dieser Nationalismus im Liberalismus, der den nationalen Machtstaat zugunsten der individualistischen Gesellschaft schwächen wollte. Und dies sind die weiteren Axiome von Jüngers Frontsoldaten-Nationalismus:

(1.) Die „Novemberrevolution“ war nötig, denn das Kaiserreich hatte abgewirtschaftet und mußte vollends beseitigt werden. Dies geleistet zu haben, ist das Verdienst der Revolution. Ihr Defizit liegt darin, daß sie keine zukunftsträchtige Idee entwickelte und es versäumte, die besten Kämpfer und Führer, nämlich die Frontsoldaten und speziell die Frontoffiziere für sich zu gewinnen. So blieb die Revolution ein bloßes Abbruchunternehmen, das um einen konstruktiven Teil erst noch ergänzt werden muß. In diesem Sinn sagt Jünger, es müsse „an einer wirklichen Revolution gearbeitet werden“, und unentwegt ruft er nach einer nationalistischen Revolution, die aus der Republik einen autoritären und imperialistischen Staat macht.

(2.) Der Krieg wurde nicht verloren, weil die deutschen Soldaten schlechter gewesen wären als die gegnerischen oder weil die Heimat der Armee in den Rücken gefallen wäre; die sogenannte „Dolchstoßlegende“ wird von Jünger als verfehlt abgetan. Der Krieg wurde - Jünger zufolge - verloren, weil es an einer zum Sieg befähigenden Idee fehlte und weil es folglich dem Kaiserreich auch nicht gelang, seine Ressourcen mit derselben Intensität wie die Kriegsgegner zu mobilisieren.

(3.) Der Krieg ist nicht nur als „Untergang einer alten Zeit“, sondern auch als „Aufgang einer neuen Zeit“ zu sehen, die Niederlage als Chance zu einem Neubeginn und einem Wiederaufstieg der Nation, der - wie in Frankreich nach 1871 - durch die schmerzlichen und hellsichtig machenden Erfahrungen der Niederlage inspiriert sein wird. Später wird Jünger noch pointierend sagen: „Der Untergang ist ebenso bedeutend und ebenso fruchtbar wie der Sieg“.

(4.) Diese Positivierung der Niederlage läßt aber nicht vergessen, daß der Friede von Versailles nichts anderes war als ein moralisch drapierter Machtspruch, der die Nationen, die sich ihm zu fügen hatten, nachhaltig in Not brachte: ihnen den Ertrag ihrer Arbeit raubte; jeden einzelnen dadurch „auf eine unwürdige Lebenshaltung herunterdrückte“; ihnen das Selbstbestimmungsrecht, das proklamiert worden war, in Wahrheit vorenthielt.

(5.) Der Träger der notwendigen und zweifellos kommenden revolutionären Erneuerung der Nation wird der Frontsoldat sein. Er hat im August 1914 die Bedeutung der Nation entdeckt; er ist „vom Schicksal in der Gewohnheit des Kampfes erzogen“ worden; er ist bereit und willens, für Ideen kämpferisch einzutreten. Deswegen glaubt Jünger, sagen zu können: „Es gibt augenblicklich in Deutschland keinen Stand und keinen Menschenschlag, der so wie der Frontsoldat für die Erfüllung der nationalen Aufgabe in Frage käme“. Das bedeutet eine Aufgabe für den Frontsoldaten, begründet aber auch seinen besonderen Mitwirkungs- oder gar Führungsanspruch, und nicht zu Unrecht hat man gesagt, Jüngers „neuer Nationalismus“ sei eine Art „männlicher Fundamentalismus“ (Bernd Weisbrod). Immer wieder beschwört Jünger, daß die ungeheuren Probleme der gegenwärtigen geschichtlichen Lage „nur von Männern gelöst werden können“, wie denn auch „das durchaus Männliche zu allen Zeiten das eigentlich Bedeutende und Wirkliche ist“.

(6.) Es ist - Jünger zufolge - der Vorzug des national verankerten Menschen, daß er eine richtungsweisende Tradition im Blut hat, „eine instinktivere Sicherheit, eine Orientierung von Grund auf, die dem Blute mitgegeben ist“. Diese muß aber gelebt, und das heißt: weiterentwickelt werden. Dem Kaiserreich nachzutrauern und auf nostalgische Weise preußische Formen zu pflegen, ist falsch. Der moderne Staat, der nun die Form einer Republik hat, muß aus dem Blut heraus ergriffen oder, wenn die Republik dem Anspruch des Bluts nicht gewachsen ist, zerschlagen werden.

(7.) Pazifismus und Internationalismus sind Fehlhaltungen. Der Pazifismus, der nicht mit „Friedensliebe“ zu verwechseln ist, verkennt, daß das Leben Kampf bedeutet und daß Politik immer auf den Krieg bezogen ist. Er ist damit einem fatalen Irrtum verfallen. Der Internationalismus verleugnet und verrät die Besonderheit einer jeden Nation, die indessen nicht abzustreifen, sondern - zum Nutzen der Gesamtheit der Nationen - zu pflegen und vertreten ist. Jüngers Nationalismus will der Vielfalt und der entwicklungsgeschichtlich wichtigen Konkurrenz wegen die eigene Besonderheit wahren, ohne die der anderen herabzusetzen, zu verachten oder gar zu hassen.

(8.) Gegenüber dem bestehenden Staat, der Republik, können die Nationalisten prinzipiell zwei Verhaltensweisen einnehmen: eine legalistische, die versucht, das nationalistische Programm mit verfassungsmäßigen Mitteln zur Geltung zu bringen, und also den Weg über Wahlen ins Parlament suchen wird; oder aber eine revolutionäre, die versucht, eine Bewegung zu bilden, die eines Tages in der Lage ist, den Parlamentarismus zu erdrücken und die „nationale Diktatur“ auszurufen. Jünger läßt keinen Zweifel daran, daß er dem den Vorzug gibt.

(9.) Die Technik oder Maschinenwelt ist ein Produkt des Intellekts und bedeutet Fortschritt und Belastung zugleich. Die Technisierung hat dem Leben viel „Glanz“ genommen und hat zu Normierungen aller Art geführt; sie hat aber auch einen „Zaubergarten technischer Gewächse“ entstehen lassen. In jedem Fall ist der Prozeß der Technisierung irreversibel, und daraus folgt, daß der „moderne Nationalismus“ versuchen muß, die Technik „den Fangarmen des Intellekts zu entwinden“ und sie „unter den Willen des Blutes“ zu stellen. Ebenso muß er versuchen, die Industriearbeiterschaft, in der Jünger ein ungeheures Potential sieht, für sich zu gewinnen: „Der Industriearbeiter ist der erste und stärkste Faktor beim Aufmarsch des modernen Nationalismus“.

(10.) Jenseits dieser Artikelserie, die mit der letzten Ausgabe der Standarte am 20./27. Dezember 1925 ihren „Schluß“ fand (so der Titel des letzten Artikels), benannte Jünger mit dem Eröffnungsartikel für das Jahr 1926 „die vier tragenden Grundpfeiler des modernen Nationalismus“. Es sind dies „der nationale, der soziale, der kriegerische und der diktatorische Gedanke“. Diese Vorstellung hat Jünger am 3. Juni 1926 in einem weiteren Artikel variiert und dann immer wieder beschworen. Unter dem eben genannten Datum heißt es:

Das Bild des Zukunftstaates hat sich in diesen Jahren geklärt. Vierfach werden seine Wurzeln sein. Er wird national sein. Er wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ gegliedert sein. Das bedeutet einen Staat, der von dem von Weimar, aber auch von dem alten Kaiserreich durchaus verschieden ist. Es bedeutet den modernen nationalistischen Staat. Dies ist der Staat der Zukunft, denn der Nationalismus ist nicht, wie unsere Schönschreiber, bei denen der Wunsch Vater des Gedankens ist, meinen, durch den letzten Krieg und seine Folgeerscheinungen vernichtet, sondern eine Erscheinung, die erst mit ihm und durch ihn entstanden ist und von der man vorher gar keine Ahnung hatte. Er ist ein gänzlich unbürgerliches Gefühl, scharf unterschieden vom Patriotismus der Vorkriegszeit, beweglich, feurig, und der vitalen Energie unserer großen Städte verwandt, in denen er - und dies ist wiederum eine typische Unterscheidung - im Gegensatz zum konservativen Lebensgefühl in raschem Anwachsen ist. Er ist nicht reaktionär, sondern revolutionär von Grund auf.

Mit dieser ersten Artikelserie machte sich Jünger zum Chefideologen und herausragenden Sprecher der „neuen Nationalisten“, und er hatte, da seine Artikel in der Stahlhelm-Beilage mit einer hohen Auflage erschienen, möglicherweise eine große Leserschaft; die immer wieder genannte Auflagenhöhe von 170.000 ist jedoch nur ein Anhaltspunkt, der über die tatsächliche Rezeption der Beilage noch nicht viel sagt.“

„Resümierend ist festzustellen, daß Jünger publizistisch bis 1930 durchaus aktiv blieb und in einem breiter werdenden Spektrum von Zeitschriften schreiben konnte, seit der Separierung der Standarte vom Stahlhelm aber keine nationalistisch orientierte Zeitschrift mehr zur Verfügung hatte, die eine bemerkenswerte Auflagenhöhe, eine längere Kontinuität und ein verbandsmäßig organisiertes Publikum von nennenswerter Größe gehabt hätte. Darin spiegeln sich Jüngers Unwille und Unfähigkeit zur Verbandsarbeit, und zugleich zeigt sich daran die typologische Eigenart von Jüngers politischer Publizistik: Mit ihrer Fixierung auf die ebenso kompromißlose wie narzißtische Darstellung der eigenen Position und mit ihrem Desinteresse an organisatorischen Fragen und praktischer Politik war sie mit Verbandsarbeit nicht zu vereinbaren. Sie ist die Verlautbarung nicht eines auf Effektivität achtenden Politikers, sondern eines avantgardistischen Intellektuellen, der zwar einen Führungsanspruch erhebt, sich aber durch praktische Widrigkeiten und Mangel an Gefolgschaft nicht im geringsten beirren läßt.

Die Trennung vom Stahlhelm hatte für Jüngers Publizistik zweierlei Folgen: Einerseits verlor die Entfaltung der Programmatik des „neuen Nationalismus“ den Schwung und die systematische Bündigkeit, die sie während der Phase der ersten Standarte hatte. Andererseits konnte Jünger, da er nun von der Rücksichtnahme auf einen großen Mitgliederverband befreit war, seine teilweise sehr radikalen Positionen noch schroffer ausformulieren. So kam es - in einer laufenden Auseinandersetzung mit rivalisierenden Konzepten - zu einer Reihe von Präzisierungen und Akzentuierungen. Zu nennen sind vor allem die folgenden:

(1.) Jünger besteht im Sinne eines kulturhistorischen Relativismus darauf, daß „Wahrheit, Recht und Moral durch Zeit, Raum und Blut“ bedingt sind. Nationale Besonderheiten haben deswegen für die betreffende Nation ein unabweisbares Recht und sind auf dem „Schlachtfeld der Rechte“ kämpferisch zu vertreten. Da dies selbstverständlich für alle Völker gilt, ist Nationalismus ein universales Prinzip. Dies führt zu Rivalitäten und „Feindschaften“ unter den Völkern, doch sind diese „als sinnvolle Äußerungen eines organischen Lebens“ zu betrachten und als „fruchtbar“ zu bewerten. Nationalist sein heißt, die „besondere Notwendigkeit“ des jeweiligen Volks zu erkennen, als obersten Wert zu setzen und mit allen in Frage kommenden Mitteln zu vertreten.

(2.) Quintessenz und Inbegriff der nationalen Besonderheit ist das „Blut“ als Träger der „geheimnisvollen Energien eines spezifischen Lebens“. „Blut“ ist für Jünger aber - wie für seinen französischen Anreger Barrès – „nicht ein vorwiegend biologischer, sondern ein vorwiegend metaphysischer Begriff“. Ebenso ist auch „Rasse“ für Jünger „weniger ein stofflicher als ein Bewegungsbegriff“. Anders gesagt: „Blut“ und „Rasse“ stehen bei Jünger nicht für biologische Gegebenheiten, sondern für kulturelle und ethische Qualitäten oder Ränge. Dem entspricht, daß Jünger alle Versuche, „Blut“ und „Rasse“ mit naturwissenschaftlichen Methoden ergründen zu wollen, und ebenso alle Versuche, mit züchterischen Methoden eine Optimierung von „Blut“ oder „Rasse“ erreichen zu wollen, für verfehlt und lächerlich hält. Im übrigen wirken „Blut“ und „Rasse“ - Jünger zufolge - nicht abgrenzend, sondern verbindend, insofern sie die Menschen befähigen, Lebenskraft und Größe über zeitliche, nationale, soziale und ideologische Grenzen hinweg zu erkennen, bei den Römern wie bei den Karthagern, bei den Wortführern der französischen Revolution wie bei Napoleon.

(3.) Dem entspricht, daß die „Judenfrage“ und die völkische Fixierung auf Antisemitismus für Jünger „keine Fragestellung (en) wesentlicher Art“ sind. Von sich aus hatte Jünger für dieses brisante Thema auf über fünfhundert Seiten nur einige abwiegelnde Sätze übrig. Dann allerdings wurde er eigens befragt und kam zu Ausführungen, die prekär sind und einer eigenen Erörterung bedürfen.

(4.) Der Hauptgegner des „neuen Nationalismus“ ist für Jünger die bürgerliche „Ordnung“ einschließlich des parlamentarischen Systems. Diese „Ordnung“ gilt es zu zerstören. Im September 1929 bekennt Jünger, daß er den Verfall der bürgerlichen „Ordnung“ unter dem Andrang des „Elementaren“ mit Freude beobachte: „Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß“. Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie bedeuten für Jünger „Herrschaft der Zahl“, die den Deutschen fremd sei, und Orientierung an ausländischen Prinzipien. Thomas Manns Betrachtungen und die Zurückweisung der „Ideen von 1789“ durch die deutsche Kriegsphilosophie wirken in diesen Vorstellungen nach.

(5.) Was die Wirtschaft angeht, so postuliert Jünger „eine straffe Unterordnung unter den Staat“, hoffend, daß dadurch „die wirtschaftliche Sicherheit des einzelnen wie der Gesamtheit“ erhöht wird.

(6.) Im Hinblick auf die Mittel, mit deren Hilfe die „wirkliche“ Revolution nachgeholt, die kraftlose bürgerlich-parlamentarische Republik vollends zerschlagen und die „nationale Diktatur“ errichtet werden sollte, war Jünger entschieden der Meinung, daß der um 1925/26 vieldiskutierte Aspekt der „Legalität“ keinerlei Bedeutung haben durfte. Von den sogenannten „legalen Mitteln“, also von der Beteiligung an Wahlen und an der parlamentarischen Arbeit, so befand Jünger im Juli 1926, sei „wenig zu befürchten“; es seien „die Mittel von Durchschnittsköpfen und eines Durchschnittswillens und daher zum Scheitern bestimmt“. Statt dessen plädierte er, in einer „außergewöhnlichen Zeit“ sich sehend, für „außergewöhnliche Methoden“ und fügte hinzu, daß „gewonnene Revolutionen selbstverständlich legal“ seien. Der Parole „Hinein in den Staat!“, die der Stahlhelm-Bundesvorstand am 3. Oktober 1926 als neue Richtlinie für das politische Verhalten der Ortsgruppen und Landesverbände ausgab, widersprach Jünger hartnäckig. Die Beteiligung an den Wahlen und an der Parlamentsarbeit war für Jünger ein Irrweg, der nur dazu führen konnte, daß der „neue Nationalismus“ den Charakter einer lebendigen „Bewegung“ verlor und in Organisationen erstarrte.

(7.) Die Legalitätsfrage war von entscheidender Bedeutung für Jüngers Verhältnis zu anderen radikal sich gebenden Gruppierungen, zum Stahlhelm wie zu den Kommunisten und den Nationalsozialisten. Vom Stahlhelm distanzierte er sich im Herbst 1926, von der NSDAP im Herbst 1929, als Hitler, um seinen „Legalitätskurs“ zu bekräftigen, der terroristischen holsteinischen „Landvolkbewegung“ seine Unterstützung entzog und als die NSDAP zur Beteiligung an einem Volksbegehren aufrief. Vor allem damit verletzte die NSDAP die von Jünger geforderte „Reinheit der Mittel“ und erwies sich – in seinen Augen - als Teil des bürgerlichen Systems. Mit Blick darauf hat man zu Recht gesagt, daß die NSDAP für Jünger nicht radikal genug war; man muß freilich hinzufügen: nicht radikal genug in der Weigerung, sich am parlamentarischen System zu beteiligen. Und im übrigen war ihm nicht nur Hitlers „Legalitätskurs“ zuwider, sondern auch dessen Verlogenheit. Die Kommunisten hat Jünger wegen ihrer antibürgerlichen Radikalität und wegen ihres „kriegerischen Willens zur Macht“ immer mit einiger Sympathie betrachtet. Daß sie sich gegenüber der „Landvolkbewegung“ legalistisch zeigten, enttäuschte ihn. Zudem störte ihn der deklamatorische Internationalismus; um 1929 galt für Jünger, daß mit keiner „Macht“ Frieden zu machen war, „die sich der Nation versagt“. Im übrigen wollte er in einer Zeit, „in der man es liebt(e), durch die faschistische oder die bolschewistische Brille zu sehen“, eine eigenständige Position finden.

(8.) Der „neue Nationalismus“ war eine „Bewegung“ in Erwartung eines charismatischen Führers von gewaltiger Energie und modernem Gepräge. Hitler ließ - Jünger zufolge - wie Mussolini eine „Vorahnung“ einer solchen Führerschaft aufsteigen; „er sagte, was er wollte“, auf eine Weise, die verstanden wurde und ihm in kurzer Zeit eine große Anhängerschaft vor allem auch unter den Arbeitern einbrachte. Mit seinem „Legalitätskurs“ verlor er allerdings Jüngers Sympathie und wurde zum „Herr(n) Hitler“, der für die Ergreifung der holsteinischen Bombenleger eine Belohnung aussetzte, oder, wie Jünger am 18. September 1929 an Ludwig Alwens schrieb, zum „Spießbürger“.

(9.) Mit den Jahren entwickelte Jünger eine klare Vorstellung vom Verlauf geschichtlicher Transformationsprozesse. In einem seiner letzten Artikel, der im Mai 1933 unter dem Titel Untergang oder neue Ordnung? erschien, nannte er drei „Vorbedingungen“ für die „Verwirklichung einer neuen Ordnung“: „Es muß erstens ein neues Prinzip oder eine neue Gesetzmäßigkeit vorhanden sein, die die innere Einheit der werdenden Ordnung garantiert und ihr die Maßstäbe schafft. Es muß zweitens ein neuer Mensch zu erkennen sein, der dieses Prinzip zur Durchführung bringt und es zum herrschenden erhebt. Drittens müssen sich neue und überlegene Formen andeuten, in denen die Tätigkeit dieses Menschenschlages zum Ausdruck kommt“. Auf allen drei Ebenen, insbesondere aber auf der ersten und der dritten, hat die Literatur mitzuwirken; sie hat, wie am Beispiel der Französischen und der Russischen Revolution zu erkennen ist, die leitenden Projektionen zu entwickeln und faszinierend zu machen. Notwendigerweise äußert sich deswegen auch der „neue Nationalismus“ zunächst einmal stark literarisch, ohne daß der Vorwurf, die „Frontsoldaten“ seien nur noch „Frontliteraten“, rechtens wäre: Es gibt Zeiten, die verlangen, daß man sich „der Feder“ bedient. Im übrigen plädiert Jünger - wie schon im Wäldchen 125 - dafür, den Film als „Machtmittel“ zu begreifen und für die „planmäßige nationale Arbeit am Volke“ einzusetzen.

(10.) Von der national sich gebärdenden deutschen Literatur der Gegenwart, also von der sogenannten „Heimatliteratur“ und dem historischen Roman, ist - Jünger zufolge - in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten; sie ist gerade nicht Ausdruck jener blutvollen Vitalität und Gefährlichkeit, die der „neue Nationalismus“ für sich beansprucht und die in den Großstädten eher als auf dem Land zu finden ist, sondern einer deprimierenden „Unbeholfenheit und provinziellen Schwerfälligkeit“. Erst 1929, mit Arnolt Bronnens Roman O.S., der den Kampf deutscher „Selbstschutzverbände“ gegen widerrechtliche polnische Annexionsbestrebungen in Oberschlesien im Jahr 1921 schildert, lag - Jünger zufolge - ein Buch vor, das den Geist des „neuen Nationalismus“ atmete und zugleich „den Anspruch auf Zugehörigkeit zur „modernen Literatur““ erheben durfte. In der Tat wurde O.S. nicht nur von Jünger als Beispiel der avancierten neusachlich-dokumentarischen Schreibweise betrachtet, wie man sie seit der Mitte der zwanziger Jahre verlangte und schätzte.“

 

Nähe zu Carl Schmitt

 

„Der Jurist Carl Schmitt, 1888 im sauerländischen Plettenberg geboren, hatte, als Jünger ihn 1929 durch Hugo Fischer kennenlernte, an der Berliner Handelshochschule den Lehrstuhl des „Weimarer Verfassungsvaters“ Hugo Preuß inne und war im Begriff, zum führenden Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit aufzusteigen. Im Verlauf der zwanziger Jahre hatte er mehrere brillant formulierte Bücher vorgelegt, die von größter politischer Aktualität und Brisanz waren: über die Idee der Diktatur (1921); über die „politische Theologie“ oder die „Lehre von der Souveränität“ (1922); über die „geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923); über „römischen Katholizismus und politische Form“ (1923); über „Volksentscheid und Volksbegehren - ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie“ (1927); dann die monumentale Verfassungslehre (1928) und die vielzitierte Abhandlung Der Begriff des Politischen (1928). Hervorstechend an Schmitt - und faszinierend für Jünger - waren insbesondere drei Momente: Das eine war der Zug zur „politischen Theologie“, der aus Schmitts emphatischem, ja radikalem oder fundamentalistischem „römischem“ Katholizismus (bis 1926) resultierte. Gemeint ist damit die 1922 versuchte Herleitung politischer Begriffe wie „Souveränität“ und „Staat“ aus theologischen Zusammenhängen, eine zunächst historische Betrachtung, die freilich auch einen aktuellen normativen und appellativen Aspekt hatte, eine bleibende Verankerung politischer Begriffe in theologischen - und das hieß für Schmitt: dezidiert christlichen - Dimensionen einschloß: Politik sollte letztlich realisierte Theologie sein; politisches Geschehen sollte in heilsgeschichtlichem Horizont gesehen und beurteilt werden.

Ein zweites Interessen- oder Faszinationsmoment war Schmitts Parlamentarismuskritik: Wie viele Zeitgenossen sah Schmitt im Parlamentarismus nicht mehr den Willen des Volks und die Einheit des Staats repräsentiert, sondern die Interessen von Parteien und Verbänden, die sich der Abgeordneten bemächtigt und den parlamentarischen Betrieb zu einer „leeren und nichtigen Formalität“ degradiert hatten. Die Konsequenz lautete für Schmitt, daß der Parlamentarismus weder den Interessen des Staats entsprach noch automatisch mit Demokratie gleichzusetzen war; vielmehr sei auch an andere, plebiszitäre oder „cäsarische“ Formen der Demokratie zu denken, die sogar zur Herrschaftsform der Diktatur führen könnten. Als drittes Moment kam Schmitts grandiose Definitionskunst hinzu: Der Eingangssatz der Politischen Theologie – „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ - wurde legendär, ebenso der grundlegende Satz der Abhandlung Der Begriff des Politischen – „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ - : ein Satz, der nicht nur Beifall fand, sondern auch auf heftige Ablehnung stieß, weil er Feindschaft oder Gegnerschaft ins Zentrum des politischen Denkens zu stellen schien, und nicht etwa Friedfertigkeit oder Solidarität oder Gerechtigkeit. Theodor Haecker, ein 1921 zum Katholizismus konvertierter Kulturkritiker und Hitler-Gegner, schrieb 1933 in seiner weitverbreiteten Abhandlung Was ist der Mensch, Schmitts Definition des Politischen sei eine „ebenso primitive, schiefe, geistig rudimentäre“ Bestimmung wie etwa die sozialdarwinistische Formel vom Leben als „Kampf ums Dasein“ und verleite zum Schluß, „daß das Ziel des Politischen nicht mehr der Friede ist, sondern der Krieg“.“

 

Totale Mobilmachung

 

„Wie Friedrich Georg in Krieg und Krieger versucht auch Ernst Jünger in seinem Aufsatz Die totale Mobilmachung, die „Eigenart“ des letzten Kriegs zu bestimmen. Sie liegt - Jünger zufolge - darin, daß sich in ihm „der Genius des Krieges mit dem Geiste des Fortschrittes durchdrang“. Dieser zeigte sich in der Tendenz zur „totalen Mobilmachung“ oder, anders gesagt: in der „absoluten Erfassung der potentiellen Energie, die die kriegführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt“ und „das Bild des Krieges als einer bewaffneten Handlung ... in das weitergespannte Bild eines gigantischen Arbeitsprozesses“ überführt. Die deutsche Kriegswirtschaft, die Bewaffnung der Handelsschiffe, der „Kampf Ludendorffs um die Identität von militärischer und politischer Führung“ waren erste Maßnahmen dieser Art, die jedoch ungenügend blieben und durch die amerikanische Fähigkeit, alle Kräfte des Landes zu mobilisieren, weit übertroffen wurden. Dies war - Jünger zufolge - kein Zufall, sondern hatte zwei Ursachen: Zum einen war die Mobilisierungskraft der amerikanischen Demokratie deutlich größer als die der deutschen Monarchien; und zum andern steht die westliche „civilisation“ jenem Geist des Fortschritts, der sich in der Tendenz zur „totalen Mobilmachung“ zeigt, näher als die deutsche „Kultur“.

Die geschichtliche Bedeutung dieser forcierten Mobilmachung in den letzten Kriegsjahren liegt nun aber - Jünger zufolge - nicht nur darin, daß sie Deutschland um den Sieg brachte und das Bild des Weltkriegs prägte, sondern auch und mehr noch darin, daß sie ein neues Zeitalter eröffnete: das „Arbeitszeitalter“, wie es in der späteren Fassung heißt, oder eben das Zeitalter der „totalen Mobilmachung“, die Jünger nun allenthalben im Gange sieht: in der Sowjetunion und im faschistischen Italien, aber auch in Frankreich und Amerika. Was im Krieg begann, war nur „eine Andeutung jener höheren Mobilmachung“, die unabweislich zum Gang der Geschichte gehört und die mit dem Wechsel von Kriegs- und Friedenszeiten nur „ihr Gebiet, nicht aber ihren Sinn“ wechselt. Krieg und Frieden sind bei dieser Sichtweise letztlich nur unterschiedliche Formen und Phasen jenes „Arbeitsprozesses“, in dem die Welt ihr neues Aussehen sucht, und die total mobilgemachte Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß „das weit verzweigte und vielfach differenzierte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strome der kriegerischen Energie zugeleitet“ werden kann.

Vielfach hat man gesagt, Jünger sei mit seinem Aufsatz von 1930 der Erfinder und Propagator sowohl der „totalen Mobilmachung“ als auch des „totalen Kriegs“ geworden. Richtig ist, daß er einen Vorgang beschrieben hat, der im Gange war, und daß er für diesen Vorgang - vielleicht nicht ganz originär - eine sowohl treffende als auch einprägsame und mithin popularisierungsfähige Formel gefunden hat. Die geschichtlichen Inauguratoren und wirkungsmächtigen Förderer dieses Vorgangs waren indessen andere und brauchten Jünger nicht als Vordenker und Leitwortgeber. Auch scheint Jüngers Aufsatz in den militärtheoretischen Debatten der dreißiger Jahre, in denen das Konzept des „totalen Kriegs“ entwickelt wurde, keine Rolle gespielt zu haben; jedenfalls findet sich in der eingehenden Studie, die Marcus Pöhlmann diesen Debatten gewidmet hat, kein Hinweis auf Jüngers Schrift, und überhaupt wird dieser nur am Rand erwähnt. Mit anderen Worten: Jünger war weder der Inaugurator noch ein unreflektierter Propagator der „totalen Mobilmachung“, sondern ihr Diagnostiker. Er erkannte in ihr einen unabwendbaren Zug der Zeit, und ihre Dynamik faszinierte ihn. Ebenso bemerkte er, daß der Vorgang der „totalen Mobilmachung“ mit einer rigorosen Indienstnahme des Menschen und mit entsprechenden Freiheitsverlusten sowie sonstigen Opfern verbunden war, doch war er - wie immer – „weit davon entfernt“, „das Unvermeidliche beklagen zu wollen“.“

 

Verbal-Radikalismus

 

„Man war in diesen Kreisen um 1930 von einer Radikalität, deren Hemmungslosigkeit in den damals publizierten Artikeln, die schon schlimm genug sind, nur annäherungsweise erkennbar wird. An den Diskussionsabenden dürften noch ganz andere Töne laut geworden sein. Das ist nicht dokumentiert, aber einige Briefe Ernst Jüngers an Ludwig Alwens lassen ahnen, mit welch erschreckender Radikalität und Unverantwortlichkeit in diesen Kreisen gedacht und gesprochen wurde. So schrieb Jünger am 30. August 1930 an Alwens:

… wir brauchen keine Wähler, sondern Krieger, keine Stimmzettel, sondern Pulver und Gewehre … wir brauchen einen Menschenschlag, der zugleich eine anarchistische Haltung zur Gegenwart und eine heroische zur Zukunft besitzt. Alles was nicht auf einen neuen Krieg hinzielt, interessiert uns nicht. Wir wollen kein soziales oder ökonomisches Opium, sondern Mord und Totschlag. Wir müssen die Demokratie benutzen, um ganz Deutschland in eine große Kaserne zu verwandeln, die es ja tatsächlich schon ist, nämlich eine Mietskaserne, in der man entweder so oder so verrecken kann. Da wir aber lieber durch Dynamit umkommen wollen als durch Unterernährung, sind wir auf die totale Mobilmachung angewiesen, die entweder durch den Übergang zur Herrschaft oder durch den Untergang beendet wird … Ich hoffe, daß man schon in drei Jahren auf den Straßen um Gewehre schreien wird. Bis dahin müssen wir unsere Forderungen aufgestellt haben, die nicht an den Maßstäben der französischen Revolution, sondern an denen von Dschingis-Khan gemessen sein müssen.

Und am 16. September 1930, also zwei Tage nach jener Reichstagswahl, aus welcher NSDAP und KPD mit starken Stimmengewinnen hervorgegangen waren, schrieb Jünger wiederum an Alwens:

Das Dogma, auf das ich jeden zu vereidigen gedenke, wird die Notwendigkeit eines zweiten Weltkrieges sein. Da dieser Krieg weltrevolutionären Rang besitzen wird, müssen in der deutschen Innenpolitik Fragestellungen von weltrevolutionärem Charakter aufgeworfen und zur Lösung gebracht werden. Thesen und Antithesen müssen vor dem Forum des in Permanenz erklärten Bürgerkrieges abgewogen werden. Die Gerippe des XIX. Jahrhunderts müssen durch die Knochenmühle des Chaos gejagt werden, deren Gang durch einen innersten Willen zur Ordnung beschleunigt wird …

Dieses und manches mehr denke ich in ungefähr einem Dutzend ganz kurzer Untersuchungen auszuführen, von denen ich sicher bin, daß sie auf das Maß an Widerstand stoßen werden, das zur Absonderung aller bloßen Mitläufer notwendig ist.

Martialischer Geschichtsentwurf und Profilierungsnot treiben hier zum Ultra-Radikalismus. Jünger meinte es ernst mit der Weltrevolution über einen zweiten Weltkrieg. Der Brief ist, wie aus den hier nicht zitierten Teilen ersichtlich wird, ein Vorgriff auf den eben entstehenden Arbeiter, in dem ja auch eine „Kette von Kriegen und Bürgerkriegen“ prophezeit wird. Indessen macht der letzte Satz auch deutlich, daß Jüngers radikale Redeweise zum Teil auch aus der Not resultiert, sich in einer radikal denkenden Umgebung verbal zu profilieren. Als sich 1933 die Chance auftat, den Radikalismus der politischen Artikel und der Berliner Diskussionsabende in die Praxis zu überführen, hielt sich Jünger - wie schon während der vorausgehenden Zeit der politischen Attentate - völlig zurück. Insofern erwies sich sein Ultra-Radikalismus doch als Verbal-Radikalismus, der im Kontext der Haß-„Kultur“ zu sehen ist, die am Ende des Kapitels über Jüngers politische Publizistik als Epochenphänomen kenntlich gemacht wurde. Damit ist auch gesagt, daß die Aggression gegen die bürgerliche Gesellschaft und die Vernichtungswut, die sich in Jüngers Briefen an Alwens und in weiteren Äußerungen dieser Art artikuliert, nicht ein Spezifikum Jüngers ist, sondern eine epochale Fehlhaltung, die sich auch an ganz anderen Stellen dokumentiert.“

 

Lob für Attentäter

 

„Unter der Ortsangabe „Zinnowitz“ heißt es am Ende einer Passage, die vom Willen zur Macht und von einem entsprechenden Verantwortungsgefühl handelt:

Gerade dies, das Ausweichen vor der Verantwortung dort, wo sie ernsthaft zu werden beginnt, und das Billige der Erfolge, die heute zu ernten sind, hat mich die politische Tätigkeit sehr bald als unanständig empfinden lassen. Welche Mauselöcher der Verantwortungslosigkeit stellen die Parteien dar in einer Zeit, in der die Werte bei Tag und Nacht auf der Goldwaage zittern sollten, und wie dankbar muß man den jungen Leuten sein, die sich vor einer jedem entschlossenen Herzen unerträglichen Niederträchtigkeit hinter die Mauern der Gefängnisse zurückgezogen haben. Man kann sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muß es einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung erhält, daß irgendwo im Dickicht andere an der gleichen Arbeit sind.

Mit den „jungen Leuten“, die sich „hinter die Mauern der Gefängnisse zurückgezogen haben“ sollen, sind jene jungen Nationalisten gemeint, die an Attentaten, Fememorden oder Sprengstoffanschlägen beteiligt waren und dafür Haftstrafen abzubüßen hatten. Einige von ihnen gehörten zu Jüngers Bekanntenkreis, und im Vormarsch-Verlag, dessen Programm Jünger mit bestimmte, erschien 1928, als Jünger am Abenteuerlichen Herzen arbeitete, unter dem Titel Wir klagen an! Nationalisten in den Kerkern der Bourgeoisie eine Sammlung von Gefängnisberichten, die Jünger in der Tageszeitung Der Tag unter dem Titel Aus der untersten Zelle emphatisch besprach. Daß sich diese „jungen Leute“ in die Gefängnisse „zurückgezogen“ haben sollen, ist ein verstiegen wirkender Euphemismus, der freilich seinen präzisen Sinn hat: Er macht die Aktivisten, die den von Jünger vielfach postulierten Umsturz mit Gewaltaktionen herbeizuführen suchten, zu Gewährsleuten seiner eigenen Tatenlosigkeit und seiner 1928 sich verfestigenden Ansicht, daß die Verwerflichkeit der bestehenden Verhältnisse ein aussichtsreiches und ehrenhaftes politisches Handeln nicht zulasse; die Mordanschläge, die jene jungen Nationalisten in die Gefängnisse gebracht haben, erscheinen nun als heroische Versuche, der Korruption der politischen Verhältnisse durch mehr oder minder aussichtslose, aber radikale und - im nationalistischen Sinn - ehrenhafte Aktionen zu entfliehen. Lieber in der Drangsal einer „untersten Zelle“ als in der Pestluft der Weimarer Parteipolitik! Noch lieber freilich in der Freiheit einer Berliner Schriftstellerexistenz! Jüngers politischer Radikalismus war gebrochen durch seinen soldatischen Realitätssinn, der ihn davon abhielt, sich auf Aktionen einzulassen, die zum Scheitern oder - trotz eines punktuellen „Gelingens“ - zur Erfolglosigkeit verurteilt waren; weder am Kapp-Putsch noch am Hitler-Putsch noch an einem der Mordanschläge, die von Nationalisten verübt wurden, war Jünger beteiligt, und im Abenteuerlichen Herzen bekannte er sich unumwunden zum Stillhalten: „In der sauberen Begrenzung und im gerüsteten Abwarten liegt die Kraft kleiner, kriegerischer Gemeinschaften …““

Auch wenn Ernst Jünger selbst nicht aktiv geworden ist, zählt er zumindest bis 1932 zu den übleren Schreibtisch-Tätern, die politische Morde und Terror aus politischen Gründen gutheißen.

1951 schreibt Ernst Jünger in „Der Waldgang“: „Ein Angriff gegen die Unverletzbarkeit, ja Heiligkeit der Wohnung zum Beispiel wäre im alten Island unmöglich gewesen in jenen Formen, wie er im Berlin von 1933 inmitten einer Millionenbevölkerung als reine Verwaltungsmaßnahme möglich war. Als rühmliche Ausnahme verdient ein junger Sozialdemokrat Erwähnung, der im Hausflur seiner Mietwohnung ein halbes Dutzend sogenannter Hilfspolizisten erschoß. Der war noch der substantiellen, der altgermanischen Freiheit teilhaftig, die seine Gegner theoretisch feierten. Das hatte er natürlich auch nicht aus seinem Parteiprogramm gelernt. Jedenfalls gehörte er nicht zu jenen, von denen Leon Bloy sagt, daß sie zum Rechtsanwalt laufen, während ihre Mutter vergewaltigt wird. Wenn wir nun ferner annehmen wollen, daß in jeder Berliner Straße auch nur mit einem solchen Falle zu rechnen gewesen wäre, dann hätten die Dinge anders ausgesehen. Lange Zeiten der Ruhe begünstigen gewisse optische Täuschungen. Zu ihnen gehört die Annahme, daß sich die Unverletzbarkeit der Wohnung auf die Verfassung gründe, durch sie gesichert sei. In Wirklichkeit gründet sie sich auf den Familienvater, der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür erscheint.“

Auch „sogenannte Hilfspolizisten“ sind Menschen, die ihrer Arbeit auf Geheiss des Staates nachgehen. So ähnlich wie Soldaten.

Ernst Jünger ist jegliches menschliche Leben egal. Und es ist ihm egal, was die Angehörigen oder Freunde der Getöteten dazu sagen. Oder Tiere oder pflegebedürftige Menschen, die auf sie angewiesen wären. Oder sonstige Menschen, die ihre Hilfe oder ehrenamtliches Engagement brauchen würden.

 

Antisemitismus

 

„… und so entstand der Artikel Über Nationalismus und Judenfrage, der im September 1930 zusammen mit dreizehn anderen einschlägigen Artikeln in der oben genannten Themennummer der Süddeutschen Monatshefte erschien und kurz danach in der Zeitschrift Die Kommenden noch einmal publiziert wurde.

Dieser sechsseitige Artikel, den man heute mit fassungsloser Verwunderung, ja mit Entsetzen liest, ist eine komprimierte Manifestation des zeitüblichen antisemitischen Denkens der sogenannten besseren und gebildeten Kreise, dem sich Jünger beim Schreiben überlassen hatte und dem er, in schneidige Formulierungen nicht weniger verliebt als seine stilistischen Vorbilder Nietzsche und Spengler, radikalen Ausdruck verliehen hatte …

Auch der Artikel zur „Judenfrage“ ist von der Überzeugung getragen, daß die „wirkliche und ausgesprochene Eigenart eines jeden Volkes“ zu begrüßen sei. Davon weicht - Jünger zufolge - der „Zivilisationsjude“ allerdings ab: Er gleicht sich dem Deutschen bis zur Verwechselbarkeit an, verleugnet dadurch sein Judentum und verwässert zugleich das Deutschtum; sein letztes Ziel besteht in der Leugnung der Tatsache, „daß es ein Vaterland gibt“, und in der „Führung des Nachweises“, „daß es den Juden eigentlich gar nicht gibt“. Dieser Assimilationsprozeß, der zugleich ein Nivellierungsprozeß ist, muß - Jünger zufolge - rückgängig gemacht werden. Dies kann aber nicht durch eliminatorische Maßnahmen geschehen, sondern nur dadurch, daß die Deutschen den „Willen zur Gestalt“ aufbringen und ihre „Gestalt“ in aller Deutlichkeit herausarbeiten: zeigen, „wo in Wahrheit die deutschen Grenzen liegen, was deutsche Literatur, deutsche Geschichte, deutsche Wissenschaft, deutsche Psychologie eigentlich ist, was der Krieg, die Arbeit, der Traum, die Kunst für uns bedeuten“. Durch diese Profilierung des Deutschen würde „der Jude“, so meint Jünger, gezwungen, seine assimilatorischen und nivellierenden Bestrebungen aufzugeben und sich wieder als Jude zu begreifen und zu bekennen. Diese Konsequenz formulierte Jünger am Ende seines Artikels mit einer Schärfe, die möglicherweise an Marx und Wagner orientiert ist. Karl Marx hatte 1843 in seinem Aufsatz Zur Judenfrage geschrieben: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.« Und Richard Wagner hatte gegen Ende seines 1850 und 1869 publizierten Aufsatzes Das Judentum in der Musik geschrieben: „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für die (1869: den) Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein.“ Der durch Lektüre und Gespräche bestens informierte Jünger konnte beide Stellen kennen. Der letzte Satz seines Aufsatzes lautet: „Im gleichen Maße jedoch, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.“

Man sieht: Anders als Marx und Wagner verlangte Jünger nicht das Aufgehen des „Judentums“ in der „Menschheit“ schlechthin; das wäre die von ihm verabscheute „liberalistische“ Nivellierung und Unifizierung gewesen. Jünger wollte ganz entschieden, daß das „Judentum“ fortbesteht, aber als „ausgesprochenes“ „Judentum“; deswegen machte er der jüdischen Orthodoxie seine Reverenz, und deswegen begrüßte er den Zionismus. Zugleich wollte er im Sinne jenes jüngeren Nationalismus, der in der Homogenität der Nation einen politisch fundamentalen Faktor sah, die „Reinheit“ der deutschen Nation gewahrt sehen. Diese beiden Postulate verband er am Ende seines Aufsatzes Über Nationalismus und Judentum und formulierte sie mit einem Ausschließlichkeitsanspruch, der ihm nicht zustand, und mit einer Schroffheit, die schwer verständlich und völlig unverzeihlich ist. Es stand Jünger so wenig wie irgendeinem anderen zu, darüber zu befinden, ob Menschen jüdischer Herkunft in Deutschland oder wo auch immer erkennbar als dezidierte Juden oder als nicht weiter ausgewiesene Mitglieder ihrer Gesellschaft leben sollten. Und er hätte sehen müssen, daß der letzte Satz vieldeutig und mißverständlich war. Was sollte es auch heißen, daß „der Jude“ durch den deutschen „Willen zur Gestalt“ vor die Alternative gestellt werde, „in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein“? Daß das „Judentum“ sich nur als „ausgesprochenes“ „Judentum“ vor dem Aufgehen im „Deutschtum“ bewahren könne? Oder daß Juden, die nicht gewillt waren, in Deutschland als dezidierte Juden zu leben, Deutschland verlassen sollten? Ausgewiesen werden sollten? Getötet werden sollten? Jüngers Kritik an den „volksheilskundlichen“ Vorstellungen des nationalistischen Antisemitismus und seine Überzeugung, daß die „Zivilisationsjuden“ allein durch eine Profilierung der „Gestalt“ des Deutschen um ihren Einfluß gebracht werden könnten, schließen eliminatorische Vorstellungen bei ihm aus. Aber die Sprache, in die Jünger in seinem Artikel Über Nationalismus und Judentum verfiel, war leider die des eliminatorischen Antisemitismus, an dessen bedrohliche Virulenz er, wie der erste Abschnitt seines Aufsatzes zeigt, nicht glaubte.“

Es ist nicht schön, was Ernst Jünger schreibt. Nichtsdestotrotz: mensch mag Ernst Jünger einiges vorwerfen – aber Antisemit war er nicht. 1934 trat Jünger sofort aus dem Traditionsverband seines Weltkriegsregiments aus, als dieser seine jüdischen Mitglieder zu verstoßen begann. Ansonsten war er immer für seine jüdischen Freunde da und empfand Abscheu gegenüber dem, was Juden in der Zeit des Nationalsozialismus angetan wurde.

 

„Totengräber der Republik“?

 

„Das Register der nationalpublizistischen Verfehlungen, das von zeitgenössischen und späteren Kritikern aufgemacht wurde, ist lang und nennt gewichtige Vorwürfe: die begriffliche Unschärfe seiner Blut- und Rassenmystik; den gedanklichen Irrationalismus seines nationalistischen Fundamentalismus; dessen imperialistische und damit friedensfeindliche Konsequenz; seine Blut- und Barbarenromantik; seine militante und aggressive Sprache; seine nihilistische Destruktionswut; seine bornierte und bösartige Antibürgerlichkeit; seinen ungerechtfertigten und kurzsichtigen Antirepublikanismus; den (prä)faschistischen Charakter seiner Staats- und Gesellschaftsvorstellungen; die zeitweilige Kumpanei mit den Nationalsozialisten; den partiellen Antisemitismus; die zum Nationalsozialismus drängende Wirkung seiner politischen Publizistik. Diese Vorwürfe sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Die meisten werden durch Jüngers Artikel unmittelbar gerechtfertigt. Auch daß er in jenen Jahren zum Faschismus tendierte (der allerdings vom Nationalsozialismus zu unterscheiden ist), hat Jünger expressis verbis gesagt. Dafür schließlich, daß seine Schriften Zeitgenossen dazu motiviert haben, sich dem Nationalsozialismus zuzuwenden, hat die Forschung Belege aus autobiographischen Schriften beigebracht, und man muß sie gelten lassen, auch wenn zu fragen bleibt, ob deren Verfasser nicht auch - wie Millionen anderer Zeitgenossen - ohne Jüngers Schriften zum Nationalsozialismus „gefunden“ hätten.

Jüngers „neuer Nationalismus“ ist aus heutiger Sicht nicht zu verteidigen. Nichts ist an ihm zu entdecken, was man im Hinblick auf die weitere geschichtliche Entwicklung oder gar die heutigen Probleme als positiv einstufen könnte. Der Nationalismus dieser Zeit war eine grandiose Verfehlung, die ungeheures und lange nachwirkendes Leid über die Welt gebracht hat. Dennoch hat Jüngers Nationalismus - wie jedes historische Phänomen - Anspruch auf „sachliche Würdigung“ oder, anders gesagt: auf eine Betrachtung auch (wohlgemerkt: auch) aus der Zeit heraus oder unter Berücksichtigung der geschichtlichen Umstände.

Einen wichtigen Umstand hat Jünger selbst benannt, indem er eine Bemerkung seines Übersetzers Julien Hervier im Vorwort zur französischen Ausgabe des Arbeiters aufgriff und bekräftigte. In dem Schreiben an Hervier, das unter dem Datum des 23. Oktober 1988 in Siebzig verweht IV einging, heißt es:

Wie recht haben Sie mit der Erwähnung, daß meine persönliche Lage nach 1918 der eines jungen Franzosen nach 1871 entsprach. Nur war der Versailler Friede brutaler als der zwischen Bismarck und Thiers verhandelte. Auch haben wir statt eines Gambetta und eines Clemenceau einen Wilhelm II. und einen Adolf Hitler gehabt.

Dagegen kann man heute auf der Basis der jüngeren historischen Forschung einwenden, daß der Versailler Vertrag nicht ganz so „brutal“ oder erdrückend gewesen sei, wie Jünger dies behauptete. Doch die meisten Zeitgenossen, auch besonnenere und versöhnlichere, sahen dies anders. Thomas Mann sagte 1930 in jener Deutschen Ansprache, die - unter Jüngers Beteiligung - von Arnolt Bronnen und einigen SA-Leuten gestört wurde:

Der Versailler Vertrag war ein Instrument, dessen Absichten dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten, und dieses Instrument als die Magna Charta Europas zu betrachten, auf der alle historische Zukunft sich aufbauen müsse, war ein Gedanke, der dem Leben und der Natur zuwiderlief und der schon heute in aller Welt kaum noch zum Schein Anhänger besitzt.

Zu berücksichtigen ist ferner das Fortwirken der deutschen „Kriegsphilosophie“. Einige Bemerkungen in den politischen Artikeln zeigen, daß Jünger ein aufmerksamer Leser jener Betrachtungen eines Unpolitischen war, in denen diese „Kriegsphilosophie“ ihre glänzendste Artikulation fand, und daß Thomas Manns schwelgerische Deutschtümelei eine wichtige Quelle oder zumindest Bekräftigung für Jüngers Insistieren auf der nationalen Besonderheit des Deutschen war, ebenso für seinen Antirepublikanismus und für seine Wendung gegen den westlichen Liberalismus und die westliche Zivilisation. Daß Thomas Mann sich seit 1922/23 mehrfach zur Republik bekannt hatte, war Jünger nicht entgangen. Aber er wertete dies als Irrweg, auf welchem er Thomas Mann nicht folgen wollte, und sein Bruder Friedrich Georg hat im März 1928 mit einer scharfen, im Berliner Tag publizierten Polemik deutlich gemacht, daß man Thomas Mann nunmehr als Vertreter des überholten „Demokratismus“ und einer illusionären Versöhnungspolitik betrachte. Im übrigen muß man hier auch sehen, daß nicht Jünger mit seinem Festhalten am Antirepublikanismus oder Antiparlamentarismus die Ausnahme war, sondern Thomas Mann mit seiner Zuwendung zur Republik und zur Demokratie. Der republikfeindliche Antiparlamentarismus gehörte zur Grundeinstellung vieler, wenn nicht der meisten Intellektuellen der Weimarer Zeit, und zwar nicht nur der Rechten, wie man seit Kurt Sontheimers Studie Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962) weiß, sondern, wie seit Riccardo Bavajs Studie Von links gegen Weimar (2005) zu sehen ist, auch vieler und prominenter Vertreter der Linken (wie Tucholsky und Ossietzky, von den Autoren des Bunds der proletarisch-revolutionären Schriftsteller um Johannes R. Becher ganz zu schweigen).

Auch mit anderen Komponenten seines nationalistischen Konzepts, die heute - zu Recht - als völlig unsinnig gelten, stand Jünger nicht allein. Von einer rassischen oder blutsmäßigen Besonderheit des deutschen Volks wie auch anderer Völker sprachen damals viele und wiederum nicht nur rechte Dummköpfe. Verweise auf die Bedeutung des Bluts lassen sich auch bei Heinrich und Thomas Mann finden, bei letzterem etwa in jener Passage seiner Deutschen Ansprache, in der er auf die Frage eingeht, ob die parlamentarische Verfassung dem deutschen „Wesen“ angemessen sei oder seine „politische Sittlichkeit“ entstelle und schädige:

Diese Sorgen einer volkspersönlichen, politischen Sittlichkeit sind um so quälender, als im Grunde niemand konkrete Vorschläge zum Richtigeren und Angemesseneren zu machen weiß, und vorderhand kein Schluß übrig bleibt als der, daß, solange es dem Deutschtum nicht gelingt, aus seiner eigensten Natur in politicis etwas Neues und Originales zu erfinden, man genötigt sei, aus dem Historisch-Überlieferten das Persönlichste und damit Beste zu machen, zumal kein Kenner des Deutschtums zweifelt, daß die bisher unternommenen Versuche, den demokratischen Parlamentarismus zu überwinden, der ost- und südeuropäische, die Diktatur einer Klasse also und die des demokratisch erzeugten cäsarischen Abenteurers, der Natur des deutschen Volkes noch viel blutsfremder sind als das, wogegen zu einem Teile seine Geste vom 14. September (= die Reichstagswahlen, bei denen die Nationalsozialisten ihren ersten großen Erfolg erzielten) sich richtete.

Hier hätte Jünger sagen können, daß ebendies, was Thomas Mann vermißte: die Entwicklung einer spezifisch deutschen und mithin weniger „blutsfremden“ politischen Form, sein Ziel gewesen sei und daß er deswegen schon 1926 einen „deutschen Faschismus“ propagiert habe, der von dem Mussolinis durchaus verschieden sein sollte. Ihm aus dieser Neigung zum Faschismus einen Vorwurf zu machen, ist selbstverständlich legitim; daß Faschismus Unfreiheit und Zwang mit sich brachte, konnte man auch 1926 wissen. Allerdings war wohl niemand in der Lage, das Maß an Unfreiheit und Entrechtung vorauszusehen, das nach 1933 erreicht wurde. Dafür fehlte - trotz der Freiheits- und Rechtseinschränkungen, die während des Kriegs geherrscht hatten - die historische Erfahrung: Carl Zuckmayer berichtet im Kriegskapitel seiner Autobiographie, daß er in einer Feldbuchhandlung die komplette pazifistische und anarchistische Literatur bekommen habe und daß er Franz Pfemferts kriegskritische Aktion, die er abonniert hatte, „wöchentlich brav per Feldpost zugestellt erhielt“. Und ebensowenig wie das Ausmaß der Freiheits- und Rechtsberaubung konnte man zwischen 1926 und 1930 die Gewalttaten und Verbrechen des Nationalsozialismus voraussehen. Kurz, für einen „deutschen Faschismus“ zu plädieren, unter dem man sich keineswegs die spätere NS-Diktatur vorzustellen hat, war um 1926 oder um 1930 nicht so töricht, wie es heute wirkt, und auch nicht gleich verbrecherisch - ebensowenig wie Bertolt Brechts Lob der KPdSU in der Maßnahme von1930 oder Walter Benjamins Lob für den Sowjetstaat in seinem Pariser Vortrag von 1934. Daß man in einer „außergewöhnlichen Zeit“ lebe, die „außergewöhnliche Methoden“ verlange, war nicht nur Jüngers Ansicht; seine ganze Generation war geprägt durch einen Zug zum „Unbedingten“.

Schließlich ist Jüngers politische Publizistik im Kontext eines forcierten Aktivismus, eines dezidierten Front-Denkens und einer ausgeprägten Haß-„Kultur“ zu sehen. Seit Heinrich Mann 1910 mit seinem Essay Geist und Tat postuliert hatte, daß der Geist „Ratio militans“ sein müsse und die Literaten als „Agitatoren“ zu wirken hätten, hatte die Idee des Aktivismus um sich gegriffen, die von den Autoren verlangte, daß sie sich in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einmischten und dabei kämpferisch oder militant auftraten. Nicht das distanziert-bedächtige Wort wurde geschätzt, sondern die mitreißende oder herausfordernde Parole. Kunst sollte „Waffe“ sein, wie ein berühmter Slogan des kommunistischen Dramatikers Friedrich Wolf aus dem Jahr 1928 sagte, und die Literatur sollte als „Kriegsmittel“ dienen, wie der nationalistische Journalist Ludwig Alwens 1929 in dem von Jünger herausgegebenen Vormarsch schrieb. Walter Benjamin hat diese Metaphorik 1928 auf das Gebiet der Literaturkritik übertragen, indem er in seiner Einbahnstraße unter der Überschrift Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen feststellte: „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“, und „Das Kunstwerk ist in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister“. Dementsprechend wurde das literarische Feld als Kampf- oder Kriegsgebiet betrachtet, auf dem „Front“ zu machen war. Seit Beginn der zwanziger Jahre wurden links wie rechts Artikel geschrieben, die zur kulturellen, weltanschaulichen und politischen „Frontbildung“ aufriefen, und wurden „Bünde“ gegründet, die denselben Zweck hatten. Daß Jünger in seinem Schlußwort zur Tagebuch-Kontroverse schrieb, man stehe „heute ebenso an der Front wie im Kriege“, nur daß man „nicht mit Tanks, sondern mit Omnibussen“ fahre und daß „die Druckerschwärze die Rolle des Pulvers übernommen“ habe, ist kein Spezifikum eines Ex-Offiziers, sondern Jargon des literarischen Aktivismus und der kulturellen Frontbildungszeit. Zu ihr gehörte auch die „Kultivierung“ der Aggression und, wie Julien Benda 1927 in seiner Abhandlung La trahison des clercs/Der Verrat der Intellektuellen bemerkte, die „intellektuelle Organisation des politischen Hasses“. Auch hier war Heinrich Mann eine Leitfigur. Nicht nur, daß er 1915 in seinem wirkungsreichen Zola-Essay von dem vielfach gerühmten Gesellschaftskritiker sagte, es sei dessen „lebenslange Bestimmung“ gewesen, „Haß zu erregen“; er gerierte sich selbst, wie Mühsam 1915 und Tucholsky 1922 festhielten, als ein großer Hasser, lange schon bevor er 1933 seine Essays zur jüngsten deutschen Geschichte unter dem Titel Der Haß erscheinen ließ. Ähnliches läßt sich von George Grosz sagen: In seiner Autobiographie beklagt Grosz die Weimarer Republik als eine „Orgie der Verhetzung“, doch hatte er selber Anteil daran; Thomas Mann nannte ihn einen „graphischen Schriftsteller des Hasses“, und Tucholsky schrieb über ihn: „Er lacht nicht nur - er haßt.“ Daß der Haß von Heinrich Mann und George Grosz Phänomenen galt, die Haß oder zumindest scharfe Gegnerschaft auch nach heutigen Maßstäben verdienten, sei unbestritten und als unübergehbare Differenz zu Jünger anerkannt. Im Hinblick auf die Beurteilung der politischen Publizistik Jüngers und speziell ihres aggressiven Tons ist es aber von ebenfalls unübergehbarer Bedeutung, daß sie aus einem die Fronten und Lager übergreifenden Klima erwuchs, in dem der Haß nachgerade kultiviert wurde und die Sprache nicht aggressiv genug sein konnte.

Vor allem wegen seiner nationalistischen und antirepublikanischen Publizistik hat man Jünger zu den „Totengräbern“ der Weimarer Republik und zu den „Pionieren“ des „Dritten Reichs“ gezählt. Dem ist schwer zu widersprechen; seine vielfache Polemik gegen die „korrupte Luft des Novemberstaates“, sein Spott über die „Totgeburt der ersten deutschen Republik“ und seine Anerkennung des Nationalsozialismus als einer Kraft, der man nur „von Herzen den Sieg wünschen“ könne, werden ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Andererseits sollte man deren Bedeutung für den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus auch nicht überschätzen. Für beide Vorgänge gab es Faktoren von ganz anderem Gewicht und Akteure von ganz anderer Wirkungskraft.“

 

Kritik von Klaus Mann

 

„Der Tagebuch-Artikel zeigt, daß Jünger 1929 auch für die liberale und linke Intelligenz interessant geworden war. Ein besonders bemerkenswertes und beeindruckendes Dokument dieses Interesses stammt von dem 1906 geborenen Klaus Mann, dem ältesten Sohn von Thomas und Katia Mann, der sich bereits einen Namen als Essayist gemacht hatte. Im Frühjahr 1930 hielt Klaus Mann in Wien vor der „Paneuropäischen Jugendsektion“ einen Vortrag, in dem er auch auf Jünger einging; der Text erschien 1931 unter der Überschrift Die Jugend und Paneuropa, das Jünger-Kapitel später auch separiert unter der Überschrift Ernst Jünger. Der Tenor von Manns Ausführungen über Jünger wird aus den folgenden Sätzen ersichtlich:

Er verlockt zunächst mit seinem pathetisch blutrünstigen Todhaß gegen die Zivilisation und mit seiner finsteren Schwärmerei für den „heroischen Kern des Lebens“, für das tragische Weltbild, die Läuterung des Menschengeschlechtes durch das Blutbad. Die Jugend hängt an seinen Lippen, wenn er seine düsteren Reden führt. Er ist der Rittersmann im schwarzen Stahle, mit dem „abenteuerlichen Herzen“, gereckt in „prächtiger Unbarmherzigkeit“ ... Er ist der feindliche Typ unter den Jungen, den zu befehden sich's lohnt. Sein Denken ist von starker Intensität und von einer gewissen mißleiteten Reinheit ... Mit dem öffentlichen Unfug der Rechtsradikalen hat er nichts gemein; über Hugenberg fallen verächtliche Anmerkungen. „Man kann sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen“, behauptet er, einsamkeitssüchtig und stolz.

Die angeführten Komponenten von Jüngers Denken werden dann noch etwas genauer dargestellt und in einem etwas süffisanten Ton als ebenso verschroben wie verblendet abgetan. Dies gilt insbesondere auch für Jüngers tragisch-pessimistisches Weltbild und seinen Nationalismus:

Der Barde der „Materialschlacht“ stellt jeden als rationalistisch-bürgerlichen Flachkopf, als optimistisch-zivilisatorischen Vernunftfatzken hin, der bei seinen schauerlichen Träumereien nicht mit kann oder will. Muß man ein platter Optimist sein, wenn man zu hoffen wagt, die Menschen könnten in absehbarer Zeit etwas friedlicher leben untereinander? Hinter sich lassen die Lüge des Nationalismus und die Güter dieser Erde gerechter verteilen? Den Begriff der Schuld milder, einsichtiger handhaben, oder ihn ganz fallen lassen?

Bemerkenswert dann auch der Schluß von Manns Essay, der Jüngers sprachliches Vermögen anerkennt, aber auch noch einmal seine „Mißleitetheit“ und Gefährlichkeit beschwört - und zuletzt einen interessanten Hinweis auf Jüngers Nachbarschaft zum Bolschewismus gibt:

Daß er schreiben kann, erst das macht ihn gefährlich. Seinen Gaben nach gehört er zu uns; den Arnolt Bronnen (der inzwischen aus dem Kreis um Brecht zu Goebbels gewechselt war) gönnen wir gerne denen drüben. Aber ein Geist von der finsteren Glut Jüngers kann Unheil stiften. Eine geheimnisvolle Perversion des Gefühls hat ihn auf die Seite getrieben, wo notorische Böswilligkeit und Menschenfeindlichkeit sich als Tugend blähen. Ihnen leiht er das Wort, dessen Sendung es ist, der Wahrheit zu dienen. Er ist ein Verräter, den man übergehen könnte, wenn seine argen Redereien nicht eine Jugend behexten, die der Phraseologie des Liberalismus sterbensmüde war. So horchen all die jungen Teutschen, die irgendwo haben läuten hören, daß die Demokratie überwunden sei, neugierig auf, wenn ihr Führer den Begriff der individuellen Freiheit kurzweg für „antiquiert erklärt“; dabei ahnen die treuen Herzen nicht, wie unheimlich diese Redensart ihres Heros sich mit der grausig großartigen Formel Lenins berührt, der die Freiheit zu den bürgerlichen Vorurteilen rechnete.“

 

Der Arbeiter – Herrschaft und Gestalt

 

„Daß in der modernen Welt alles Tun - auch das sogenannte Freizeitvergnügen und sogar das asketische Sich-zurück-Ziehen - in Produktions- und Konsumtionszusammenhängen stehe und mithin „Arbeit“ sei, die in mehr oder minder sichtbarer Weise auf alle Tätigkeiten und Verhaltensweisen abfärbe und alle zu „Arbeitern“ mache, ist die grundierende These des Arbeiters. Sie ist nicht sonderlich neu und wäre auch nicht sonderlich brisant gewesen, wenn sie nicht mit geradezu umstürzlerischen gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbunden worden wäre. Ebendies aber geschieht hier auf eine fast atemberaubende Weise. Das eigentliche und skandalisierende Thema des Arbeiters ist die Ablösung der bürgerlichen Kultur durch jenen Typus, den Jünger mißverständlich als „Arbeiter“ bezeichnet. Sie hat sich - Jünger zufolge - im Ersten Weltkrieg angedeutet und gewinnt nun, um 1932, an Dynamik und damit auch an Sichtbarkeit. Die bürgerliche Ordnung, die in Deutschland äußerlich noch besteht, ist eine in jeder Hinsicht depravierte oder defizitäre Ordnung: Der „Staat“, der feste „Bindungen“ verlangt, ist durch die „Gesellschaft“ abgelöst, die der Entfaltung der „bürgerlichen Freiheit“ dient, und das heißt: den wirtschaftlichen Interessen und dem Glück des einzelnen. Das wichtigste Anliegen des Bürgers heißt deswegen „Sicherheit“. Diese Sicherheit schützt der Bürger, indem er sie als Produkt der Vernunft wie der Moral ausgibt und indem er sie mit den Verhandlungskünsten des Advokaten verteidigt. Zur „Totalen Mobilmachung“ hingegen und zum heroischen Sterben ist der Bürger ebensowenig fähig wie zur Führung. Seine Herrschaft, die ohnehin nur eine Scheinherrschaft war, ist deswegen zu Ende: Die bürgerliche Gesellschaft ist „zum Tode verurteilt“. Es vollzieht sich „die Ablösung der bürgerlichen Scheinherrschaft durch die Herrschaft des Arbeiters“. Jüngers Schrift hat deswegen zwei grundlegende und nahezu gleichgewichtige Komponenten: Zum einen ist sie eine „Schilderung des ungeheuren Todesprozesses“ des Bürgertums; zum andern ist sie eine Prophetie der Herrschaft des „Arbeiters“.

Vom Untergang des Bürgertums spricht Jünger mit einem Sarkasmus, der bestürzend wirkt. Das Abstreifen des bürgerlichen „Kunst-, Kultur- und Bildungsbetriebs“ war für ihn - wie einst für den Futuristen F. T. Marinetti - nur eine notwendige und zugleich erfreuliche „Gepäckerleichterung“. Von den zivilisationskritischen Klagen über die herben Verluste, die der Fortschritt in Richtung einer kollektivistischen und vollends technisierten Zivilisation der bürgerlichen Lebensart zufügt, ist im Arbeiter nichts zu hören. Die Gewißheit, daß der Prozeß der Geschichte in der Herrschaft des „Arbeiters“ ein geradezu erhabenes Ende finden wird, trägt über alle Verlustanzeigen hinweg und erlaubt jenen kalten und bedenkenlos heroischen Ton, der den Arbeiter kennzeichnet und ihn zur Zeit seines Erscheinens aus der Masse der zivilisations- und fortschrittskritischen Schriften heraushob und für viele Zeitgenossen, vor allem für jüngere, mit faszinierend machte …

Wenn Jünger vom „Arbeiter“ spricht, meint er nicht den Arbeiter oder - in der Terminologie jener Zeit - Proletarier, der durch seine Beschäftigung in einem Industriebetrieb und durch seine unselbständige und unterprivilegierte ökonomische Situation grob definiert ist. Mit „Arbeiter“ meint Jünger die menschliche Realisierung eines neuen „Organisationsprinzips der Geschichte“ (Günter Figal) …

Der „Arbeiter“ ist elementar und anti-individualistisch; er begreift Herrschaft als Dienst und geht in der Arbeit auf; er verzaubert die Welt mittels der Technik.

Daß der „Arbeiter“ „elementar“ sei oder „ein (positives) Verhältnis zu elementaren Mächten“ habe, meint, daß er sich in seinem Wirken nicht an die Kriterien der vom Bürger kultivierten Vernunft und Moral hält und auch nicht nach diesen Kriterien zu beurteilen ist. Er setzt sich abenteuerlustig und bedenkenlos den Gefahren der Welt aus und folgt den dämonischen Trieben seines Herzens. Er ist barbarisch und destruktiv, wo er auf veraltete und verkrustete Verhältnisse stößt. Er ist vom „Willen zur Macht“ beseelt und eine Herrschaftsfigur, doch bedeutet Herrschaft für ihn Dienst, dem er sich opferfreudig widmet. Freiheit und Gehorsam sind für Jüngers „Arbeiter“ identisch, weil seine Freiheit nicht eine „Freiheit wovon“ ist, sondern eine „Freiheit wozu“, konkret: die Freiheit zur Teilnahme an der technisch gestützten Neugestaltung der Welt, die allerdings verlangt, daß die Menschen nicht mehr ihrem Individualismus frönen, sondern sich in heeres- oder ordensähnliche Organisationen eingliedern lassen und eine entsprechende autoritäre und asketische Mentalität entwickeln. Hier sieht Jünger eine Aufgabe für die beiden politischen Grundströmungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Sozialismus und den Nationalismus: Den Sozialismus betrachtet der Verfasser des Arbeiters als „Voraussetzung einer schärfsten autoritären Gliederung“, den Nationalismus als „Voraussetzung für Aufgaben von imperialem Rang“, was auch heißt: von planetarischer Tragweite. Der „Arbeiter“, der in diesem Prozeß geformt wird und ihn zugleich trägt und vorantreibt, wird eine neue „Rasse“ darstellen, die aber, wie Jünger ausdrücklich betont, nicht mit „biologischen Rassebegriffen“ zu fassen ist, sondern mit mentalitätsmäßigen: nicht durch die biologische Erbschaft bestimmt ist, sondern durch die geschichtlichen Aufgaben, die zu bewältigen sind.

Erstmals in Erscheinung trat die neue „Rasse“ oder „Gestalt“ des „Arbeiters“ im „deutschen Frontsoldaten“ des Ersten Weltkriegs, wo er sich im „Stahlbad“ der „Materialschlachten“ zu formen und zu bewähren hatte. Dieses heroische Standhalten und Kämpfen wird zum Vorbild für die Existenz in der technisch hochgerüsteten und dynamisierten Moderne. Überhaupt ist der Erste Weltkrieg für die geschichtliche Entwicklung, die sich unter der Ägide des „Arbeiters“ vollzieht, von fundamentaler Bedeutung: Er ist die Scheide „zwischen zwei Zeitaltern“; mit ihm setzt sich das Zeitalter des „elementar“ gearteten „Arbeiters“ von dem des vernunft- und moralbestimmten Bürgers ab; mit ihm beginnt die große Dekomposition der bürgerlichen Welt, die der „Herrschaft des Arbeiters“ vorausgehen muß. Sie ist noch nicht abgeschlossen, ja in ihrem Umfang noch nicht einmal abzusehen. Sicher ist nur, daß sich die „neue Weltordnung“, also die Ordnung des „Arbeiters“, „nicht als ein Geschenk des Himmels oder als Erzeugnis einer utopischen Vernunft ergibt, sondern über den Arbeitsgang einer Kette von Kriegen und Bürgerkriegen führt“. Weiterhin ist also mit schmerzlichen Destruktionen zu rechnen, doch sind Zerstörungen immer auch Vorbereitungen, Untergänge immer auch Übergänge. Der „magische“ „Nullpunkt“, an dem die nihilistische Zersetzung der überkommenen Werte abgeschlossen ist und eine Konstitution neuer Werte prinzipiell beginnen kann, ist - wie Jünger aus der Entwicklung der Technik schließt – „bereits überschritten“; der „Übergang zu gültigen schöpferischen Leistungen“ ist jedoch noch nicht vollzogen.

Aufgabe des „Arbeiters“ ist die „totale Mobilmachung“ der Erde oder, anders gesagt, ihre restlose Verwandlung in einen technisch aufgerüsteten Raum, in dem die natürlichen Ressourcen wie die menschlichen Kräfte optimal genutzt werden. Diese Verwandlung geschieht in drei Phasen: Die erste Phase ist wohl rein destruktiv und dient der Beseitigung der Mobilisierungshemmnisse. Die zweite und aktuelle Phase ist „dynamisch-nivellierend“ und bringt als „Übergangslandschaft“ eine globale „Werkstättenlandschaft“ hervor, die ein großes Laboratorium ist, aber noch keinen festen Stil und keine endgültige Form hat. Die dritte Phase, auf welche die Entwicklung zusteuert, ist die Phase der vollendeten „Planlandschaft“ und des „Arbeitsstaates“ mit einem „Arbeitsplan“. Ihr Kennzeichen ist die Dominanz der „organischen Konstruktion“, in welcher „der Mensch in hoher Einheit mit seinen Mitteln erscheint“ und „die Spannung zwischen Natur und Zivilisation, zwischen organischer und mechanischer Welt“ aufgelöst ist. Unter „organischer Konstruktion“ ist eine soziale Körperschaft (wie ein Orden), in der die Individuen im Ganzen aufgegangen sind, ebenso zu verstehen wie eine wohldurchdachte Kombination von Mensch und Gerät oder technischer Anlage, wie sie mustergültig an einem Kriegsschiff zu beobachten ist. Auch die „Arbeits- oder Staatsdemokratie“ des „Arbeiters“, welche die bürgerlich-liberale „Gesellschaftsdemokratie“ ablösen wird und den Namen einer „totalen Diktatur“ wohl eher verdiente als den einer „Demokratie“, wird eine solche „organische Konstruktion“ sein. In ihr wird alles den Belangen des Ganzen unterstellt. Die Organe der bürgerlichen Freiheit, also Parteien und Parlamente, liberale Presse und freie Wirtschaft, werden abgebaut oder in Instrumente der Herrschaft verwandelt, und „Menschen, Güter, Nachrichten und Zahlungsmittel“ werden einer „strenge(n) Beaufsichtigung“ unterworfen. Für einen Abkömmling des liberalen bürgerlichen Zeitalters wird dies unfaßbar sein, doch wird sich die Herausbildung der „Arbeitsdemokratie“ mit einer solchen Notwendigkeit vollziehen, daß ihr die „Zustimmung selbst der Leidenden“ gewiß ist.

Dies wäre nicht vorstellbar, auch für Jünger nicht, wenn die „Arbeits- oder Staatsdemokratie“ nicht Zwecke hätte, welche die „Zustimmung“ sogar der „Leidenden“ verdienten. Aber eben solche Zwecke verbindet Jünger mit jener „Arbeits- oder Staatsdemokratie“, in der die „großen und kühnen Pläne“ der Technik vollends realisiert werden können, nämlich eine größere Produktion, eine bessere Verteilung aller Güter, den „Schutz“ „kleiner und schwacher Völkerschaften“ und die Kultivierung der Arbeit als „eines Elementes der Fülle und Freiheit“ …

Von Spenglers Mensch und Technik unterscheidet sich Jüngers Arbeiter durch seine echte Begeisterung für Technik und durch seinen Optimismus. Während Spengler den Untergang der technischen Kultur unausweichlich kommen sah und sich nur noch um eine angemessene Haltung sorgte, blickte Jünger weniger mit Ängsten als mit Hoffnungen in die Zukunft. Wohl befürchtete er katastrophale Erschütterungen, Zusammenbrüche und Untergänge. Aber diese mußten ja sein, mußten das Terrain für die globale Realisierung der Ordnung des „Arbeiters“ ebnen. Anders als Spengler, der nur ein Untergangsprophet war und in heroischem Pessimismus verharrte, war Jünger ein vollgültiger Apokalyptiker, der jenseits der Katastrophen die Enthüllung (Apokalypse) oder Erscheinung einer neuen und besseren, wohlgeordneten und herrlichen Welt erwartete. Daraus resultiert auch der eigentümliche Ton des Arbeiters, der mit Klaus Vondung, Marcus Paul Bullock und Jürgen Brokoff als dezidiert apokalyptische Sprechweise zu bezeichnen ist. In ihr wirken mehrere Momente zusammen: der visionäre Anspruch, eine neue geschichtsmächtige „Gestalt“ erschaut und „sichtbar“ gemacht zu haben; die Behauptung, daß dieses „Sehen von Gestalten“ ein „revolutionärer Akt“ sei; die Schonungslosigkeit, mit welcher der Untergang der bürgerlichen Welt verkündet und schlimme Kriege nicht nur als unausweichlich vorausgesagt, sondern auch als notwendig ausgegeben werden; die „Semantik der Gewißheit“ (Brokoff), die an ihren apophantischen Feststellungen („Es ist zu sehen, daß ...“) keinerlei Zweifel aufkommen lassen will; schließlich das suggestiv-bedrängende Timbre, das den ganzen Text durchdringt, und das anziehende Pathos, das vor allem dort aufkommt, wo von der hohen Gefährlichkeit und schrecklichen Unbarmherzigkeit der geschichtlichen Vorgänge die Rede ist, von der „neuen Vermählung des Lebens mit der Gefahr“ und von der „Stählung der Waffen und Herzen“, von notwendiger Barbarei und aufzehrender Arbeit, von großen Leiden und massiven Blutopfern. Es ist ein Pathos, das von den gewaltigen und entsprechend leidvollen Transformationen, die es zu verkünden hat, fasziniert ist und fasziniert hat …

Nun soll hier gar nicht bestritten werden, daß der Arbeiter ein totalitäres Konzept darstellt, aus dem sich auch die Nationalsozialisten bedienen konnten. Jünger selbst bemerkte in seinen rückblickenden Ausführungen über Hitler, daß dieser „vermutlich über Dritte einige Formulierungen“ aus dem Arbeiter und der Totalen Mobilmachung „in den Schatz seiner Schlagworte“ übernommen habe. Zugleich wies er aber auch daraufhin, daß im Völkischen Beobachter (vom 22. Oktober 1932) eine sehr unfreundliche Besprechung erschienen sei, und tatsächlich war diese Besprechung (von Thilo von Trotha) eine schroffe Ablehnung von Jüngers Arbeiter. Vor allem zwei Momente störten den Verfasser: daß Jünger keinen biologischen Rassenbegriff habe und daß er nicht „ein rassisch-völkisches Zeitalter“ heraufkommen sehe und verkünde, sondern ein internationales „Zeitalter des Arbeiters“, in dem „Blut und Boden“ keine Rolle mehr spielten und für das „die Entwicklung in China und Rußland“ so bedeutungsvoll sei wie die in Deutschland. In der Tat hatte Jünger die nationalistische Perspektive zugunsten einer „planetarischen“ relativiert: Zwar sprach er wiederholt von einem neuen Aufstieg Deutschlands im Zeichen des „Arbeiters“; aber mit dem letzten Abschnitt seines Buches begrüßte er die Arbeit an der „Planlandschaft“, „wo immer sie geleistet wird“, und dafür hatte er zuvor nicht nur auf die sowjetische „Erschließung moderner sibirischer Distrikte“ verwiesen, sondern auch auf die „zionistische Besetzung Palästinas“.

Abgesehen von diesen ideologischen Differenzen ist es aber auch, wie Stefan Breuer deutlich gemacht hat, aus anderen Gründen höchst fragwürdig, um nicht zu sagen: nicht erlaubt, den Arbeiter als Vorwegnahme der „Realität des 3. Reiches“ zu bezeichnen. Denn mit Breuer ist festzustellen, daß aus dem Arbeiter - wie „aus allen Verlautbarungen des neuen Nationalismus“ - ein „starker Wille zum Staat“ spricht: zu „einem hierarchischen, autoritären, diktatorischen Staat, in dem das Individuum vollkommen von der Organisation absorbiert werden sollte, aber eben doch einem Staat, der all das sein würde, was das NS-Regime nicht war: Einheit, Organisation, Disziplin, ein Gefüge mit festen Zuständigkeiten und damit auch einer gewissen Verantwortlichkeit“. Kurz: Der Arbeiter plädierte für einen autoritären, vielleicht totalitären Staat. Mit keinem Wort aber warb er für die völlig unrechtmäßige, willkürliche und terroristische Herrschaft einer nationalsozialistischen oder bolschewistischen Verbrecherclique. Und ebensowenig empfahl er die Ausrottung bestimmter „Rassen“ oder „Klassen“; vielmehr verlangte er, daß „Völkerschaften“, die mit dem Ausbau der technischen Kultur und der globalen „Planlandschaft“ nicht Schritt halten konnten, unter „Schutz“ gestellt würden. Es geht im Arbeiter nicht um die Herrschaft einer „Rasse“ (im nationalsozialistischen Sinn) oder „Klasse“ (im bolschewistischen Sinn), sondern um die Erschließung der Welt in ihrer „Fülle“ und um die Herbeiführung eines Zustands, in dem Arbeit nicht als Entfremdung empfunden wird und deswegen „Dienst“ oder „Gehorsam“ und „Freiheit“ identisch sind. Wie Brecht, der noch 1948/49 in seinem Kleinen Organon für das Theater von jener „großen Produktion“ schwärmte, die in einer marxistisch umgebauten Gesellschaft einsetzen und jedem Menschen ein autonomes und kreatives Leben ermöglichen sollte, glaubte Jünger 1932 an die Möglichkeit, die mit Händen zu greifenden Nöte und Ungerechtigkeiten der Zeit mit technokratischen Mitteln, durch Organisation und Maschineneinsatz, beheben zu können.

Mit all dem soll nur gesagt sein, daß es unzulässig ist, den Arbeiter als bolschewistische oder nationalsozialistische Programmschrift auszugeben. Nicht bestritten werden soll, daß er ein totalitäres Konzept darstellt. Die erdrückenden Nöte der Jahre um 1930 schienen totalitäre Lösungen zu verlangen. Darauf reagierte Jünger mit seiner „Theorie-Dichtung“ Der Arbeiter. Neben Brechts „Lehrstück“ Die Maßnahme, das ein Jahr vor dem Arbeiter abgeschlossen wurde und eine Huldigung an den Bolschewismus darstellt, ist Jüngers Arbeiter eine zweite grandiose literarische Reflexion der totalitären Versuchung der Zeit um 1930. Eine dritte, wenn auch weniger programmatische, folgte 1934 mit Benns essayistischer Antikenphantasie Dorische Welt.

Jüngers Arbeiter und Brechts Maßnahme sind sehr unterschiedliche Werke. Sie stimmen aber darin überein, daß sie zur Beseitigung der epochalen Not und im Interesse des Aufbaus einer vermeintlich besseren Welt ein totales Wissen reklamieren und totale Mittel empfehlen. Im Arbeiter ist es der Autor selbst, der totales Wissen beansprucht; in der Maßnahme ist es die KPdSU, die alles weiß und den rechten Weg kennt (VI: „Lob der Partei“). In beiden Texten wird zugunsten der großen und umwälzenden Aufgaben die „Auslöschung“ (Brecht) des Individuums verlangt und die „Zustimmung selbst der Leidenden“ (Jünger) zu ihrem Schicksal postuliert, in der Maßnahme sogar das „Einverständnis“ mit der eigenen Liquidation. Insofern mag man in beiden Texten barbarische Ungeheuerlichkeiten sehen. Aber man muß sich hinsichtlich der Wertung solcher Manifestationen auch vor Augen halten, daß die Not der Zeit nach radikalen Rezepten rief und kaum jemand dagegen gefeit war, ihnen zu verfallen.“

Heinz Ludwig Arnold in „Ernst-Jünger-Lesebuch – Ein abenteuerliches Herz“ aus dem Jahr 2011:

„Ich habe den „Arbeiter“, als ich ihn damals las, nie so recht begriffen, und als ich ihn dann später besser verstand, habe ich ihn nicht gemocht - er war für mich eine Sammlung der ideologischen Versatzstücke aller nationalistischen und bolschewistischen Propaganda der 1920er und 1930er Jahre (was noch in den 1990er Jahren Heiner Müller überaus faszinierte, wie er mir mal erklärte), und auch Henri Plard, der Jüngers Werk durch seine Übersetzungen in Frankreich berühmt gemacht hat, meinte, man könne dieses monströse Werk einfach nicht ins Französische übersetzen. Aber Jünger kam in Gesprächen immer wieder auf den „Arbeiter“ zurück, um, wie auch in dem zitierten Brief, darauf zu verweisen, dass er darin die Welt vorausschauend so beschrieben habe, wie sie sich in ihren wesentlichen Teilen seither entwickle. Auf meine Frage nach der damaligen Intention des „Arbeiters“ antwortete er: „Vor allen Dingen wollte ich mir mal - ebenso wie ich das im Kriege auch wollte - eine Klarheit bilden über die Vorgänge, in die man verwickelt ist. Denn das ist doch wichtig, daß man weiß, was unter höheren Aspekten vor sich geht, daß man sich also nicht allein den Leidenschaften überläßt, gegen die ich nichts einwenden will, sondern daß man auch eine Position gewinnt, wo man das ganze Spiel, in dem man einerseits mitspielt, doch auch als Zuschauer, Beobachter, höherer Betrachter sich vergegenwärtigt. Als ob man von dem Monde aus mit einem Teleskop betrachtet, was da unten vor sich geht. Oder ich will sagen: mit denselben Absichten, die Burckhardt hatte, als er die griechische Kulturgeschichte schrieb - nur eben angewandt auf unsere eigene Zeit.“ Als ich einwarf: Also ein Resümee des Spiels der Kräfte dieser Zeit? „Nicht nur des Spiels der Kräfte, sondern etwas, was dahinter steht. Denn ich meine, daß ich da die Sache mit anderen Augen sehe als Marx, der ein Spiel ökonomischer Kräfte erblickt, während ich glaube, daß schon etwas mehr als Ökonomie dahintersteckt.“ Und auf meine Frage, ob der „Arbeiter“ auch den Anstrich eines utopischen Entwurfs gehabt habe: „Das möchte ich nicht sagen. Eher den Anstrich eines Rahmens, der eines Tages wohl ausgefüllt werden würde meiner Ansicht nach. Kein utopisches Bestreben, sondern ein realistisches Bestreben im eigentlichen Sinne, und ohne Partei zu nehmen.“ Kommunisten und Nationalsozialisten reagierten denn auch gleichermaßen: „Die lehnten das sogleich ab. Ich las da im „Völkischen Beobachter“, daß ich mich in eine Sphäre begeben würde, in der Kopfschüsse fällig würden - das muß sehr bald, Ende 1932 gekommen sein. Und Organe wie das „Berliner Tageblatt“ bezeichneten das einfach als absurd, als absurdes Geschwätz … Heute allerdings sehe ich, daß vieles von dem, was ich damals geschrieben habe, was damals unmöglich schien, sich inzwischen schon verwirklicht hat.“

Jünger hatte mich Ende 1961 um mein Exemplar des „Arbeiters“ (2. Auflage) gebeten, das er zerschneiden wollte, um es als Palimpsest für eine Bearbeitung des alten Texts zu nutzen. Die Arbeit am „Arbeiter“ hatte ihn damals im Griff, ohne dass er damit zu Rande kam. Am 16. März 1962 schrieb er immer noch vom Beginnen: „Ich benutze diese beiden Tage noch, um mit der neuen Einleitung zu „Der Arbeiter“ zu beginnen. Ich darf mich da durch Subalternbeamtengeschwätz nicht aus der Ruhe bringen lassen. Eine zweite Fassung muß das Buch stoßkräftiger machen, das heißt, es vom polemischen Ballast abgelebter historischer Situationen befreien. Das hat dann das Gute, daß die Urfassung bis auf den I-Punkt bestehen bleiben kann. Wo es auf der Erde in politicis ernst wird, gehen die Dinge so vonstatten, wie ich es im „Arbeiter“ beschrieb. Der politische und weltpolitische Sektor liefert aber nicht die letzten Erklärungen. Darum „An der Zeitmauer“. „Der Weltstaat“ ist wiederum eine Spezialisierung, eine Verengung ins Politische. Hoffentlich sehen Sie das nicht als eine Fülle sich widersprechender Einzelheiten, sondern als Landkarte.“

Zwei Jahre später schickte er mir die Umbruchfahnen des sechsten Bandes der ersten Gesamtausgabe mit einer Widmung, als Gegengabe für meine ihm fürs Zerschneiden überlassene Ausgabe: mit dem „Arbeiter“ in seiner ursprünglichen Fassung, gefolgt von etwa 70 Seiten „Adnoten zum „Arbeiter““ unter dem Titel „Maxima – Minima“ und dem Großessay „An der Zeitmauer“. Am alten „Arbeiter“ konnte er nicht rütteln - es wäre das Eingeständnis einer Konversion gewesen, und die hätte sein Beharren auf der „Einheit meines Werks“ erschüttert. „An der Zeitmauer“ konnte er als Ausweitung der „Arbeiter“-Substanz ins Metaphysische erklären - sie verletzte diese Einheit nicht, ergänzte sie um eine Dimension. Insofern war dieser sechste Band der Gesamtausgabe eine Konfession: Sein Werk sollte unbedingt als Einheit gelesen werden.“

 

Fazit

 

„Strahlungen“: … entsann ich mich der Melancholien, die mich oft auf dem Schulweg überfielen, der großen Verlassenheit. Mich plagte damals der Gedanke, was aus mir werden würde, wenn meine Mutter stürbe, und dann auch das Gefühl, daß ich so anders war, als man es von mir erwartete.

Nein, Ernst Jünger war kein geborenes Alpha-Tier, das meinte, immer im Recht zu sein, niemandem zuhören und allen seinen Willen aufzwingen zu müssen. Er war ein großer Beobachter und ein großer Zuhörer.

Das macht ihn erst mal sympathisch. Zum gleichen Ergebnis wie er muss mensch dennoch nicht kommen.

Sollte aber die Zeit-Umstände kennen, unter denen Ernst Jünger gelebt hat. Und sollte verdammt froh sein, nicht dasselbe mitgemacht haben zu müssen.

Es wäre interessant zu wissen, wenn ein typischer Vertreter der Jugend von vor 100 Jahren in einer Zeitreise in das Hier und Jetzt gelangen würde. Was würde er sagen zur „Generation Anything Goes“? Zur allgemeinen Belanglosigkeit und dauerndem Unterhalten-werden-wollen bei gleichzeitigem politischem und gesellschaftlichem Desinteresse? Zur politischen Korrektheit und Gutmenschentum?

Die damalige Kriegs-Begeisterung ist aus heutiger Sicht erschreckend. Auch und gerade von solchen Menschen, die heute (wg. anderer Leistungen) gefeiert werden. Nichtsdestotrotz gab es auch damals hellsichtige Leute, die wussten, welcher Schrecken auf die Menschheit zukommen würde und sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben. Unter anderem Bertha von Suttner (http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/101-die-waffen-nieder.html ), Jean Jaurès (http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/108-humanitaet.html ) oder Rosa Luxemburg (http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/109-platz-an-der-sonne.html ).

Gut, viele haben früher oder später noch die Kurve gekriegt und eingesehen, dass das alles ein ganz großer Mist bzw. ein großes Verbrechen ist. Viele aber auch nicht.

Und zu denen gehört Ernst Jünger. Wer bislang in einer Echokammer gelebt und geglaubt hat, dass alle Menschen Frieden wollen und gegen Krieg sind, wird sich nach dem Befassen mit Ernst Jünger und seinesgleichen damit konfrontiert sehen, dass es sehr wohl Menschen gibt, denen ihr eigenes Leben und das ihrer Mitmenschen weitest gehend egal ist. Es ist ihnen auch vollkommen egal, wofür oder wogegen ein Krieg geführt wird – Hauptsache, der eigene Nervenkitzel wird befriedigt. Siehe auch http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/277-nervenkitzel.html .

Gerne wiederholt der Wurm die Schlüsselpassage aus den „Stahlgewittern“:

Dieses Trankopfer nach glücklich bestandener Schlacht zählt zu den schönsten Erinnerungen alter Krieger. Und wenn zehn vom Dutzend gefallen waren, die letzten zwei trafen sich mit Sicherheit am ersten Ruheabend beim Becher, brachten den toten Kameraden ein stilles Glas und besprachen scherzend die gemeinsamen Erlebnisse. In diesen Männern war ein Element lebendig, das die Wüstheit des Krieges unterstrich und doch vergeistigte, die sachliche Freude an der Gefahr, der ritterliche Drang zum Bestehen eines Kampfes. Im Laufe von vier Jahren schmolz das Feuer ein immer reineres, ein immer kühneres Kriegertum heraus.

Ob er es gut findet oder nicht: mensch muss sich darüber im Klaren sein, dass sich solche Krieger massenweise in den Kriegs-Ministerien und der Politik befinden – im Militär sowieso. Je stärker dieses Militär ist, desto mehr muss es „bei Laune gehalten“ – also in den Krieg geschickt – werden. Umso aggressiver wird die Rhetorik sein, auch bei der Schaffung von Feindbildern.

Es mag verständlich sein, dass, wenn man so viel mitgemacht, so viel Tod und Zerstörung erlebt hat, sich nach dem Sinn des Ganzen fragt.

„Das Wäldchen 125“: Wir können nur ahnen, daß das, was hier geschieht, in eine große Ordnung eingegliedert ist und daß die Fäden, an denen wir scheinbar sinnlos und auseinanderstrebend zappeln, sich irgendwo zu einem Sinne verknüpfen, dessen Einheit uns entgeht.

Nein, es muss nicht alles einen „Sinn“ ergeben. Der Weltgeist reitet weder zu Pferde noch sonstwie durch die Lüfte. Mensch möge es bleiben lassen, nach außerirdischem, innerirdischem oder esoterischem „Sinn“ zu suchen. Was nicht messbar ist, ergibt keinen „Sinn“, sondern ist einfach da.

Auch ein sonst so besonnener, zu rationalem Denken fähiger Mensch wie Ernst Jünger hat sich hier wie viele andere verrannt.

Aus heutiger Sicht ist es sehr einfach, ihn für seine politischen Schlussfolgerungen zu kritisieren. Mensch sollte aber nicht vergessen, dass die Weimarer Republik die einfachen Menschen bitter enttäuscht hat.

Aus einer späteren Fassung der „Stahlgewitter“:

Hier zeichnete ich auch die dreitausend Mark, die ich damals besaß, als Kriegsanleihe, um sie niemals wiederzusehen.

Die Kriegsanleihen, die damals viele zeichneten, waren weg und wurden nach dem Krieg nicht wieder erstattet.

Aus „Wikipedia“: „Die Inflation als wichtiger Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses der frühen Jahre der Weimarer Republik hat die erste deutsche Republik in den Augen vieler diskreditiert. Teile der gesellschaftlichen Mitte, das kleine und mittlere Bürgertum, fühlten sich von der Weimarer Republik betrogen. Wachsende Teile der Arbeiterschaft vermochten in diesem Staat (anders als 1920, als sie auf den Kapp-Putsch mit einem Generalstreik reagierten) nichts Verteidigenswertes mehr zu erblicken, insbesondere, da mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 ihre soziale Lage wieder wie 1923 katastrophal wurde. Es gab auch Inflationsgewinner. So wurden die Grundeigentümer in der Inflation faktisch vollständig entschuldet, während die Immobilien den Wert beibehielten.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Inflation_1914_bis_1923

Aus einem früheren Beitrag des Wurms:

„Wer sich nur eine Folge anschauen möchte, sollte sich die 5. betrachten. Aus dieser stammt folgende Passage (mit verschiedenen Sprechern und Kommentatoren):

„Um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, sollten die Regierungen in Jobs investieren. Sind die Regierung, die Menschen und Unternehmen auf Sparkurs, nimmt die Arbeitslosigkeit sogar zu. Wenn jeder versucht, mehr zu sparen, und auch die Regierungen ihre Ausgaben einschränken, dann verschärft das den Rückgang der gesamten Ausgaben in der Wirtschaft und macht die Rezession schlimmer als nötig.

Hayeks Ansicht nach war zu viel Kapital angehäuft worden, weil die Zinsen von der Zentralbank der Vereinigten Staaten künstlich niedrig gehalten wurden. Diese Kapitalentwicklung war nicht nachhaltig Und der angemessene Kurs, dem Wirtschaft und Gesellschaft folgen sollten, bestünde im Wesentlichen in einer Nichteinmischungs-Strategie. Sie sollen zulassen, dass sich der wirtschaftliche Abschwung von selbst regelt und schlechte Investitionen liquidiert werden.

Während Hayek in London lehrt, werden seine Ideen im Deutschen Reich in die Praxis umgesetzt.

Es ist sehr bedauerlich, gerade in Deutschland, dass die Erfahrungen aus den frühen 1930er Jahren überhaupt keine Rolle in unserer Diskussion spielen. Wir haben ja mit dem Reichskanzler Brüning in der Tat einen Politiker gehabt, der versucht hat, in der extremen Rezession und Depression das Haushaltsdefizit möglichst klein zu halten.

Brüning: ‚Deutschland steckt alle Energie in die gigantische Aufgabe, sein Haus in Ordnung zu bringen, und zwar durch harte Arbeit und eine stabile Wirtschaft und fühlt sich in diesem heroischen Kampf um Wiederaufbau und Stabilität bestätigt.‘

Und Brüning hat das geschafft, es ist sehr eindrucksvoll. Brüning hat so stark gespart, dass in dieser Phase der extremen Depression das Deutsche Reich kaum ein Defizit gemacht hat. Aber der Preis war natürlich katastrophal: es war ein massiver Einbruch der Wirtschaftstätigkeit, es war ein Preisverfall, eine breite Deflation und ein extremer Anstieg der Arbeitslosigkeit, der dann in Deutschland zu all den schrecklichen Folgen geführt hat, unter denen die ganze Welt dann doch sehr zu leiden hatte.

‚Die Rache wird furchtbar‘, prognostizierte Keynes in seinem Buch. Die ökonomischen Entscheidungen würden einen sehr hohen sozialen Tribut fordern. Seine Warnung sollte sich im Wahlkampf zum neuen Reichstag 1932 bestätigen.

Hitler: ‚13 Jahre lang haben sie wirtschaftlich, politisch bewiesen, was zu leisten sie fähig sind: eine Nation wirtschaftlich zerstört, der Bauernstand ruiniert, der Mittelstand verelendet, die Finanzen im Reich, in den Ländern, in den Kommunen zerrüttet, alles bankrott, und 7 Millionen Arbeitslose. Sie können sich winden, wie sie sich winden wollen: dafür sind sie verantwortlich.‘

Heute räumen selbst Hayeks Anhänger ein, manche seiner Ideen haben der Prüfung durch die historische Realität nicht stand halten können.““

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/120-reichtum-fuer-alle.html

Nein, diese Demokratie war nicht nur gut. Letztendlich gab es nur die Wahl zwischen Pest, Typhus und Cholera: Weimarer Republik, linke Diktatur, rechte Diktatur.

Ernst Jünger hat aktiv nichts Schlechtes begangen. Aber er lässt sich mit Fug und Recht als übler Schreibtisch-Täter bezeichnen.

Er hat die Diktatur und den nächsten Krieg bekommen, die er herbeigeredet und –geschrieben hat. Und er hat die Abschaffung der ihm so verhassten bürgerlichen Werte erlebt. Wie jene des bürgerlichen Rechts.

Eine Diktatur ist nur so lange schön, wie mensch selbst der Diktator ist. Wenn dies nicht der Fall ist, ist das immer schlecht.

Dessen sollte sich auch ein Ernst Jünger gewahr werden.

Das waren die Jahre 1895 bis 1932.

Die Jahre 1933 bis 1998 kommen noch.

In einem zweiten Teil.

Es wird nicht langweilig mit Ernst Jünger.

 

Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Rupert Regenwurm