Mensch stelle sich vor, er hätte die Gelegenheit, mit einer der folgenden historischen Persönlichkeiten einen Abend zu verbringen:
- König Ludwig XIV. von Frankreich („Sonnenkönig“)
- Kaiser Napoleon Bonaparte
- Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade, nach dem der „Sadismus“ (sexuelle Erregung durch Quälen anderer Menschen) benannt worden ist
Auf wen würde die Wahl fallen?
Bei der Wahl sollte mensch berücksichtigen, für wie viele Tote die jeweiligen Personen verantwortlich sind: die beiden Erstgenannten haben durch ihre mutwillig angezettelten Kriege jeweils Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen, der Marquis de Sade keinen einzigen.
Mensch sollte sich nicht von Schein und Propaganda täuschen lassen. Bei Ludwig XIV. etwa wird gerne an Versailles und höfische Etikette gedacht.
Aber nicht an seine Kriege, etwa den Pfälzischen Erbfolgekrieg, bei dem viele deutsche Städte und Dörfer wg. „Politik der verbrannten Erde“ zerstört wurden (unter anderem Heidelberg, Mannheim, Durlach, Speyer, Worms).
http://de.wikipedia.org/wiki/Pf%C3%A4lzischer_Erbfolgekrieg
Das „Klima“ unter Ludwig XIV. ist in Buchform beschrieben. „Die 120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade beginnen folgendermaßen:
„Die ungeheuren Kriege, die Ludwig XIV. im Verlaufe seiner Regierung zu führen hatte und welche die Gelder des Staates und die Hilfsmittel des Volkes erschöpften, boten dennoch einer enormen Anzahl von Blutsaugern die Gelegenheit, sich zu bereichern. Diese Blutegel waren immer in der Nähe des Unglücks, das sie noch vermehrten, anstatt es zu verringern, und zogen daraus den größtmöglichen Nutzen für sich selbst. Das Ende dieser im übrigen so glorreichen Regierung ist vielleicht eine jener Epochen des französischen Reiches, in der die meisten jener gewissen geheimen Reichtümer gewonnen wurden, jener Reichtümer, die eine Schwelgerei und Ausschweifung gebaren, so geheim und verschwiegen wie sie selbst. Es war am Ende dieser Regierung, einige Zeit ehe der Regent durch das berühmte Tribunal die Männer des Gerichtshofes wie tolle Hunde losgelassen hatte, um jener Bande von Verrätern die Gurgel abzudrehen – als vier von ihnen die seltsamste Wollust erdachten, die jemals bekannt geworden ist. Man täte unrecht zu meinen, daß nur Diebe sich mit Gelderpressungen abgaben, dieses Gewerbe hatte an seiner Spitze sehr vornehme Herren. Der Herzog von Blangis und sein Bruder, der Bischof von …, die sich beide auf diese Weise unermeßliche Vermögen erworben hatten, sind unantastbare Beweise dafür, daß der Adel ebensowenig wie die anderen die Mittel verschmähte, um sich auf solche Art zu bereichern.“
Hiermit ist der Wurm beim Marquis angelangt, der diese Woche vor 275 Jahren geboren wurde. Eigentlich ist es üblich, die Werke eines Schriftstellers aus seinem Leben zu erklären. In diesem Falle macht es Sinn, zuerst auf die Werke und dann auf das Leben einzugehen.
de Sades Werke - Einleitung
Um es kurz zu machen: de Sades Schriften sind das Widerlichste, was je an Literatur geschaffen wurde.
Immer wird das Böse belohnt und das Gute bestraft. Verbrechen ist ein Zeichen von Stärke und damit im Sinne der Natur und damit gut. Es gibt bei de Sade nichts „Menschliches“. Und wenn doch, wird es sofort bestraft.
Menschen ordnen gerne ein und de Sade gehört zur „erotischen Literatur“. Das ist zutiefst absurd – mit „Erotik“ oder gar „Liebe“ haben seine Schriften nicht das Geringste zu tun.
Eher mit Pornographie. De Sade ist sehr eindeutig. Freunde deutlicher Beschreibungen der sexuellen Mechanik und deren Hilfsmittel werden voll und ganz auf ihre Kosten kommen.
Menschen, die eine Verherrlichung von Gewalt erwarten, werden begeistert sein.
Es ist sehr verständlich, wenn Menschen nach den ersten Seiten eines Buches von ihm angeekelt und empört das Buch in die Ecke werfen.
Dennoch: es ist notwendig, sich mit de Sades Werken auseinanderzusetzen.
Die 120 Tage von Sodom
Zuerst werden die handelnden Personen mit ihren Neigungen vorgestellt. Es handelt sich um die Säulen der Gesellschaft: ein Herzog, ein Bischof, ein Gerichtspräsident, ein Finanzier. Diese haben den Plan, auf einem einsamen Schloss eine 120 Tage lange Orgie abzuhalten. Für diesen Zweck werden über 100 12-15jährige Mädchen und Knaben aus gutem Hause entführt und jeweils 8 für Sodom reserviert. Die übrigen kommen in die Prostitution oder in die Sklaverei. Dabei sind noch die Töchter der Herren und 8, je nach Übersetzung, "Beschäler" oder "Ficker". Dazu Bedienstete und 4 Erzählerinnen.
Der Ablauf des Tages, die Tage und die Art der Entjungferung der Kinder (auch von hinten) sind festgelegt. Abends treffen sich alle zu den Erzählungen. Hier präsentiert die Erzählerin 5 Perverse des Tages. Von deren Geschichten angeregt, werden einige Sachen nachgemacht. Besonders beliebt (und das zieht sich durch das ganze Buch) ist, sich in den Hals des anderen zu übergeben und umgekehrt. Oder den anstehenden Stuhlgang zu melden. Die Herren legen sich dann unter den Hintern und begeistern sich daran, die Scheisse zu empfangen und zu verschlingen. Auch das ist durchgehend.
Zuerst kommen die 150 "einfachen Passionen" (also 30 Abende jeweils 5 Erzählungen). Da sind manchmal auch eher lustige Sachen dabei. Bei aller denkbaren Phantasie – die Bewohner des Erdreichs wundern sich sehr darüber, auf welche Ideen die Menschen kommen.
Es folgen die Erzählungen der 150 "komplexen Passionen", der 150 "verbrecherischen Passionen" und der 150 "meuchlerischen Passionen". Natürlich passt sich das Geschehen abseits der Erzählungen den Passionen an und letztendlich werden aus Lust 30 Menschen getötet. Die 4 Herren verschonen lediglich eine Tochter, die 4 Erzählerinnen, 4 Beschäler und 3 Köchinnen. Das ist die ganze Handlung.
Ein zutiefst abscheuliches Werk – allerdings mit einigen humoristischen Seiten (wenn mensch den entsprechenden Humor hat):
Die 4 Dienerinnen
„Es war nur noch die Wahl der vier Dienerinnen vorzunehmen, und diese war entschieden die seltsamste; der Präsident war nicht der einzige, dessen Geschmack depraviert war, auch seine drei Freunde, vornehmlich Durcet, waren ziemlich angekränkelt von dieser verruchten Vorliebe für den Kot und das Perverse, die mehr Reize und Pikanterie an einem alten, widerwärtigen und schmutzigen Objekt findet, als an dem, was die Natur aufs göttlichste geformt hat. Es wäre zweifellos schwierig, diese Laune zu erklären, aber sie existiert bei vielen Leuten …
… denn bei der Wahl der Dienerinnen waren alle eines Sinnes gewesen, einer Wahl, die, wie man sehen wird, die Zügellosigkeit und Verderbtheit, welche wir geschildert haben, wohl zum Ausdruck brachte. Man ließ also in Paris mit größter Sorgfalt die vier Kreaturen suchen, die man zur Verwirklichung dieser Sache brauchte, und so abstoßend auch ihr Porträt sein mag, der Leser erlaube mir, es trotzdem zu zeichnen. Es ist zu wichtig im Hinblick auf die Sitten, deren Enthüllung eine der wichtigsten Aufgaben dieses Werkes ist …
Thérèse war 62 Jahre alt, groß, mager, sie hatte das Aussehen eines Skeletts, nicht ein einziges Haar auf dem Kopfe, nicht einen Zahn im Munde und hauchte durch diese Öffnung ihres Körpers einen Geruch aus, der umwerfen konnte. Sie hatte einen Arsch voller Wunden und die Arschbacken waren so extrem schlaff, daß man ihre Haut um einen Stab wickeln konnte, das Loch dieses säubern Arsches glich in bezug auf Weite und Geruch dem Krater eines Vulkans, es war ein wahrer Abort. In ihrem Leben hatte Thérèse, wie sie sagte, sich nicht den Hintern ausgewischt, an dem, wie man völlig überzeugt sein kann, noch der Dreck aus ihrer Kindheit klebte. Ihre Scheide war ein Kanal voller Unreinlichkeit und Scheußlichkeit, ein wahres Grab, dessen Gestank ohnmächtig machte. Sie hatte einen ausgerenkten Arm und hinkte auf einem Bein.
Die vierte hieß Fanchon, sie war sechsmal in effigie gehenkt worden, und es gab kein Verbrechen auf Erden, das sie nicht begangen hätte. Sie war 69 Jahre alt, plattnasig, kurz, dick, schielend, hatte fast keine Stirne und in ihrem stinkenden Maul nur mehr zwei alte, wackelige Zähne; ein Ausschlag bedeckte ihren Hintern und Hämorrhoiden, so dick wie eine Faust, hingen an ihrem Arschloch, ein schrecklicher Schanker fraß an ihrer Scheide und einer ihrer Schenkel war ganz zerfressen. Sie war dreiviertel des Jahres besoffen, und da ihr Magen in der Trunkenheit sehr schwach war, erbrach sie überall. Ihr Arschloch war trotz des Pakets von Hämorrhoiden, das es schmückte, von solcher natürlicher Weite, daß sie furzte und trompetete, ohne es selbst zu bemerken.
Abgesehen von den Diensten des Hauswesens bei dem wollüstigen Séjour, den man vorhatte, sollten diese vier Weiber auch noch bei allen Versammlungen anwesend sein, um alle verschiedenen Besorgungen und Dienste der Geilheit zu leisten, die man von ihnen verlangen könnte.“
Passion 4
Es gibt extrem derbe und verbrecherische „Passionen“ in dem Buch. Wer auf einer Party einen Einblick in eine harmlose Passion zum Besten geben will, möge Passion 4 wählen. Die Vorfreude auf die Gesichter der Zuhörenden wird groß sein. Mensch sollte sich jedoch nicht wundern, wenn er hinterher nicht mehr eingeladen wird:
„Ich merkte es drei Monate nach diesem letzten Abenteuer an den Nachstellungen, die mir einer dieser guten Geistlichen machte, ein Mann von ungefähr 60 Jahren, der jede mögliche List anwendete, um mich zu bestimmen, in sein Zimmer zu kommen. Eine gelang so gut, daß ich mich eines schönen Sonntags vormittags dort befand, ohne zu wissen, wie und wozu. Der alte Wollüstling, den man Pater Henri nannte, schloß mich sogleich, nachdem er mich eintreten sehen hatte, mit ihm ein und umarmte mich von ganzem Herzen. ‚Ah, kleine Schelmin‘, rief er voll Freude, „ich habe dich also, und du wirst mir diesmal nicht entwischen‘. Es war sehr kalt, meine Nase war voll Rotz, wie es bei Kindern Brauch ist, ich wollte mich schneuzen. ‚Aber nein‘, sagte Henri, ‚ich werde diese Operation vornehmen, meine Kleine‘. Er legte mich auf sein Bett und setzte sich mit etwas geneigtem Kopf neben mich. Er beugte meinen Kopf nach rückwärts zu seinen Knieen, - man hätte sagen können, er verzehrte mit den Augen diese Sekretion meines Gehirns (sic). ‚O du hübsches, kleines Rotzmädel‘, sagte er, geil werdend, ‚wie werde ich dich schlecken!‘ Dann beugte er sich über meinen Kopf, nahm meine ganze Nase in den Mund und verschlang nicht nur allen Rotz, mit dem ich bedeckt war, sondern steckte sogar vor Lüsternheit seine Zungenspitze abwechselnd in jedes meiner Nasenlöcher und rief mit viel Geschick zwei- oder dreimaliges Niesen hervor, das den Ausfluß, den er wünschte und mit soviel Gier verzehrte, verdoppelte. – Über diesen Mann aber, meine Herren, verlanget kein Detail von mir. Nichts kam hervor, sei es weil er nichts machte, oder weil er die Affäre in seiner Hose abmachte, ich bemerkte nichts, wie dem auch war, und in seinen vielen Küssen und Schleckereien zeigte nichts eine heftigere Ekstase an, so daß ich glaubte, daß er nicht entlud. Ich wurde nicht weiter aufgeschürzt, auch seine Hände verirrten sich nicht, und ich versichere Ihnen, daß die Phantasie dieses alten Wüstlings mit dem anständigsten und unverdorbensten Mädchen der Welt hätte ausgeführt werden können, und dieses hätte nicht die geringste Unkeuschheit dahinter vermuten können.“
Passion 114
„Ein vierter forderte ganz die gleichen Präliminarien. Wenn aber die Stockhiebe auf seinen Rücken zu regnen begannen, wichste er sich vor den Kerlen ab, während die Stockhiebe und die Beschimpfungen fortdauerten. Sobald man sah, daß er sich erhitzte, und daß sein Samen bereit war hervorzuspritzen, faßte man ihn um die Mitte des Körpers und warf ihn zu einem geöffneten Fenster hinaus. Er fiel bloß sechs Fuß tief auf einen unter dem Fenster eigens hergerichteten Misthaufen. Dies war der Augenblick seiner Entladung. Durch diese Behandlung war sein Moralgefühl aufgestachelt worden, sein physisches System war bloß durch die Wucht des Falles erregt worden. Er entlud stets erst auf dem Düngerhaufen, und er kehrte nie ins Haus zurück; durch eine kleine Türe, zu der er den Schlüssel hatte, gelangte er vom Hof, in dem er sich befand, auf die Straße, wo er verschwand.“
Passion 117
„Bald nachher schickte mich jene selbe Kollegin zu einem anderen Wüstling, dessen Phantasie Ihnen – wie ich glaube – mindestens ebenso seltsam erscheinen wird: die Szene spielte sich in seinem Landhause ab. Man führte mich in ein ziemlich dunkles Zimmer, wo ich einen Mann im Bette und einen Sarg in der Mitte des Zimmers sah. ‚Sie sehen‘, sagte unser Wüstling zu mir, ‚einen Mann im Totenbette, der nicht für immer die Augen schließen möchte, ohne noch einmal dem Objekte seines Kultes Ehren zu erweisen. Ich bete die Ärsche an, und ich will sterben, während ich einen küsse. Wenn ich die Augen geschlossen haben werde, dann werden Sie selbst mich in diesen Sarg legen und denselben mit Nägeln verschließen. Es ist mein Wille, so zu sterben, gleichsam im Schoße der Wollust und nach einem letzten Kuß auf das von mir verehrte Objekt des Vergnügens. Vorwärts (hier wurde seine Stimme schwach, und er setzte einige Male aus), beeilen Sie sich, denn der letzte Moment ist nahe‘. - Ich näherte mich, drehte mich um und zeigte ihm meine Arschbacken. – ‚Ah, der schöne Arsch‘, rief er, ‚wie froh bin ich, in mein Grab das Bild eines so schönen Arsches mitzunehmen!‘ und er tätschelte ihn ab, spreizte ihn auf, küßte ihn. ‚Ah‘, sagte er hierauf, indem er ihn losließ und sich auf die andere Seite legte, ‚ich kann dieses Vergnügen nicht mehr länger genießen, ich sterbe, denken Sie an das, worum ich Sie gebeten habe‘. Nachdem er dies gesagt hatte, stieß er einen großen Seufzer aus, dann wurde er starr. Und er spielte seine Rolle so gut, daß ich – der Teufel hole mich – beinahe geglaubt hätte, er sei wirklich gestorben. Aber ich verlor nicht den Kopf. Sehr neugierig, wie diese scherzhafte Zeremonie ausgehen würde, legte ich ihn in den Sarg. Er rührte sich nicht. Sei es nun, daß er ein Geheimnis hatte, um so zu erscheinen, sei es, daß meine Einbildungskraft mit im Spiel war, er war starr und kalt wie eine Eisenstange, nur sein Schwanz gab ein Lebenszeichen, denn er war hart und an den Bauch gepreßt, und Samentröpfchen schienen ihm zu entquellen. Sobald ich ihn in ein Tuch eingewickelt hatte, hob ich ihn auf, und das war keine leichte Arbeit, denn wie er starr geworden war, so war er auch schwer wie Blei geworden. Aber ich kam trotzdem ans Ziel und streckte ihn in seinem Sarge aus. Als er darin lag, sprach ich ein Totengebet und begann endlich, den Sarg zuzunageln. Dies war der Augenblick seiner Krise. Kaum hatte er die Hammerschläge gehört, als er wie ein Wütender schrie: ‚Ah, Gott verdamm‘ ich, ich spritze, rette dich, Hure, lauf davon, denn wenn ich dich erwische, bist du des Todes!‘ – Es erfaßte mich Furcht, ich stürzte auf die Treppe hinaus, wo ich einem Kammerdiener begegnete, der die Manie seines Herrn kannte, mir zwei Louis in die Hand drückte und eilends in das Zimmer meines Patienten lief, um diesen aus der Lage zu befreien, in die ich ihn versetzt hatte.“
Die beigefügten Bilder stammen aus den Reiseberichten
Juliette
Bei „Juliette“ fällt es einem Bewohner des Erdreichs schwer, Seite für Seite zu lesen: Von Anfang bis Ende handelt es sich um eine Feier der Unmoral – die Hauptpersonen freuen sich im Roman unter anderem daran, andere verhungern zu lassen, das Haus anzuzünden, Mutter, Vater, Frau, Mann und viele weitere aus Lust umzubringen.
"Menschliches" kommt hier nicht vor. 3x wird bei Gewalttaten gezögert und jedes Mal geht das schlecht aus. Also lieber gleich alle möglichen Verbrechen begehen. Dies der Weg der Juliette.
Um mal zu zeigen, wie es da so zugeht:
„Im Gegensatz zu Justine wird Juliette schon in der Klosterschule verdorben und feiert ihre erste Orgie in den Katakomben des Klosters auf den Särgen der verstorbenen Nonnen. Sie macht als Prostituierte Karriere und freundet sich mit dem verbrecherischen Libertin Noirceuil an, den sie sogar dafür bewundert, dass er ihre Eltern erst ruiniert und dann vergiftet hat. Über Noirceuil lernt sie den Staatsminister Saint-Fond kennen, der auf Staatskosten mit einem lasterhaften Kreis von Gleichgesinnten ständig verbrecherische Sex- und Gewaltorgien feiert, die jeden Monat 30 Frauen zu Tode bringen. Nachdem sie ihren ersten Mord an einer anderen Frau begangen hat, die sich weigerte, mit ihr sexuell zu verkehren, versichert sich der Minister der Dienste Juliettes beim Vergiften seiner Widersacher. Lady Clairwil, eine weitere Person aus dem Umfeld der verbrecherischen Lüstlinge, wird Juliettes beste Freundin, und über diese erhält sie Zugang zur „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“, die sich satzungsgemäß verpflichten, jede erdenkliche Art von Verbrechen als vergnügliche Sportart zu betreiben.
Nachdem Juliette gezögert hat, sich an einem Plan Saint-Fonds zu beteiligen, zur Sanierung der Staatskasse zwei Drittel der Einwohner des übervölkerten Frankreich dem Hungertod auszuliefern, muss sie aus Paris fliehen und verliert ihren Besitz. Sie heiratet den wohlhabenden Grafen Lorsagne, den sie alsbald vergiftet, und bereist anschließend Italien, wo ihr die verschiedensten verbrecherischen Sensationen aus dem italienischen Gesellschaftsleben vorgeführt werden. Im Apenningebirge macht sie die Bekanntschaft mit dem monströsen Minski, der Juliette das Fleisch ihrer geschlachteten Kammerzofe auf dem Rücken nackter Mädchenleiber serviert und danach eine Hinrichtungsmaschine vorführt, mit der 16 Personen gleichzeitig auf verschiedene Weise zu Tode gebracht werden. In Florenz erlebt sie eine orchestrierte Hinrichtungsaufführung, wo im Takt der Musikbegleitung die Köpfe der Verurteilten rollen. In Rom lernt sie die Prinzessin Borghese als Brandstifterin kennen, die mit polizeilicher Hilfe eine Reihe römischer Krankenhäuser niederbrennt. Der Papst liest für sie eine schwarze Messe, in deren Verlauf er einem Knaben das Herz aus dem Leib reißt und verschlingt. In Neapel trifft sie ihre alte Freundin Clairwil, die dort mit ihrem Bruder Brisa-Testa, einem berüchtigten Räuber, in einem Inzestverhältnis lebt. Der König von Neapel gibt mörderische Theateraufführungen, bei denen pro Vorstellung über tausend Menschen zu Tode gebracht werden. In Venedig eröffnet Juliette mit der Giftmischerin Durand ein Bordell und macht damit ein Vermögen. Nach Streitigkeiten mit dem Dogen von Venedig verliert sie die Hälfte ihres Geldes und begibt sich zurück nach Frankreich, wo ihr alter Freund Noirceuil inzwischen den Minister Saint-Fond beseitigt hat. Nach einer Wiederbegegnung mit ihrer Schwester Justine, die danach vom Blitz erschlagen wird, lebt Juliette noch zehn Jahre in Glück und Reichtum.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Juliette_(de_Sade)
Justine
Justine ist das genaue Gegenteil ihrer Schwester Juliette, ein Muster an Tugend. Ihr wird es von der Welt nicht gedankt, im Gegenteil, sie wird von allen ausgenutzt und von vielen misshandelt. Und muss zusehen, wie all ihre Peiniger in der Welt erfolgreich sind.
„Die wichtigsten Episoden der Urfassung
1.Justine erhält von dem Sadisten Dubourg das Angebot, sich gegen Entgelt regelmäßig peitschen zu lassen, was sie ablehnt.
2.Du Harpin, ein unerträglicher Geizhals, der Justine vergeblich überreden wollte, für ihn zu stehlen, zeigt seinerseits Justine verleumderisch des Diebstahls an, um sie ins Gefängnis zu bringen.
3.Die Freunde der Verbrecherin Dubois, mit der Justine aus dem Gefängnis flieht, beschließen Justine zu vergewaltigen, weil sie nicht ihre Komplizin werden will.
4.Der homosexuelle Marquis Bressac peitscht Justine bis aufs Blut, weil sie sich weigert, seine gehasste Mutter zu vergiften.
5.Justine wird von dem Chirurgen Rodin gebrandmarkt und ihr werden zwei Zehen abgeschnitten, nachdem sie einem Kind die Flucht ermöglicht hat, das zu anatomischen Studien getötet und aufgeschnitten werden sollte.
6.Justine, die in einem Kloster die christlichen Sakramente empfangen wollte, wird von vier Mönchen gefangen, um mit ihr als Sexsklavin perverse und exzentrische Orgien zu feiern.
7.Justine wird von einer Frau bestohlen, der sie ein Almosen geben wollte.
8.Ein Falschmünzer, den Justine vor einer Straftat gegen ihn bewahrt hat, lockt sie auf ein Schloss, um sie dort wie ein Tier schuften zu lassen.
9.Eine Mutter macht Justine den Prozess, nachdem Justine deren Kind während eines Hotelbrandes vergeblich zu retten versucht hat …
Die sinnfällige Moral der Geschichte ist die konsequente Belohnung der Verbrecher für ihre Schandtaten und die Entlarvung der Unnatürlichkeit des Guten. Der homosexuelle Muttermörder Bressac erbt ein Vermögen, der mörderische Chirurg wird Leibarzt des Schwedenkönigs, der Abt wird im Anschluss an sein orgiastisches Klosterleben in Rom zum Ordensgeneral ernannt. Der Falschmünzer wird vermögend, die verdorbene Schwester Juliette wird reich; Justine hingegen wird für ihre Tugendhaftigkeit von der Natur im Blitz ausgelöscht.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Justine
Es gibt an der Geschichte ganz am Ende einen Punkt, der für den Wurm überhaupt am Interessantesten ist, der die meisten Menschen aber überhaupt nicht interessiert:
„Doch läßt die Natur das leidende Geschöpf auf alle möglichen Wege sinnen, die es aus dem Abgrund, in den es sein Unglück geschleudert, vielleicht herausführen können. Ich erinnerte mich plötzlich des Paters Antonin. So gering auch die Hilfe sein mochte, welche ich mir von ihm erwarten konnte, ich verweigerte mir nicht den Wunsch, ihn zu sehen, und ließ ihn rufen.“
Pater Antonin war der Übelste der Üblen, der sie auf allererniedrigendste Weise behandelt hatte und dessen Fängen sie mit letzter Mühe und Not entkommen war. Den lässt sie jetzt rufen. Das war keine gute Idee.
Zuguterletzt ist Justine doch von allem Übel erlöst und hat ein gutes Leben. Dann aber fehlt ihr etwas, das Leben ist nicht mehr spannend:
„Mehrere Tage lang vergoß sie Tränen des Glücks in den Armen ihrer Beschützer, als sich mit einem Schlag ihre Stimmung aus unerfindlichem Grunde veränderte. Sie war auf einmal bedrückt, unruhig und grüblerisch und begann zuweilen im Kreise ihrer Freunde zu weinen, ohne daß sie die Ursachen ihrer Tränen zu nennen gewußt hätte.
‚Ich bin nicht für so viel Glück geboren‘, sprach sie manchmal zu Mme. de Lorsange. ‚Ach, meine teure Schwester, es kann nicht von Dauer sein‘ …
Doch alles Bemühen blieb umsonst. Fast schien es so, als hätte das arme Mädchen, welches für das Mißgeschick bestimmt war und stets die Hand des Unheils über seinem Haupte spürte, den letzten Schlag, der sie zerschmettern sollte, vorausgeahnt.“
Unabhängig von der Ahnung des „letzten Schlages“ ist das genau jenes Verhalten einer bestimmten Sorte von Mensch, die jeder kennt, die aber kaum in der menschlichen Literatur beschrieben wird: des geistigen Masochisten.
Immer ist diese Sorte mit einem zumindest geistig brutalen Menschen zusammen, unter dem sie leidet. Manchmal ist es ein stummes Leiden, manchmal ein ständiges Gejammer, wie schlecht der andere doch sei.
Hat sie es jedoch geschafft, von diesem Unhold loszukommen, ist es auch nicht recht: mensch ist nicht mehr die Hauptperson, mensch ist einer von vielen und hat nicht die Fähigkeit, mit sich selbst zurechtzukommen. Dann schon lieber ins Unheil zurück, auch wenn Gefahr um Leib und Leben besteht.
Fassungslos stehen die Bewohner des Erdreichs vor solchen Menschen. Und bedauern zutiefst jene, die denen zu helfen versuchten, da rauszukommen. Immer wird dieses Drama von vorn anfangen bzw. weiter gehen. Entweder mit der gleichen Person oder dem gleichen Typus. Und diejenigen, die helfen wollten, werden meistens dafür auch noch beschimpft.
Ob Absicht oder nicht: Marquis de Sade hat das sehr schön beschrieben.
Die Moral von der Geschicht
Hierbei möchte der Wurm aus dem Buch „De Sade oder die Vermessung des Bösen“ von Volker Reinhardt zitieren. Original-Zitate des Marquis de Sade sind kursiv geschrieben.
Neben den drei vorher schon besprochenen Büchern kommen folgende Werke zu Ehren:
Aline et Valcour oder das Elend der Tugend
Die Philosophie im Boudoir
Dialog eines Priesters und eines Sterbenden
Ansichtssache
Sodom: „Was gut und böse ist, differiert von Kontinent zu Kontinent, ja oft genug von Land zu Land. Was in einem System höchste Anerkennung genießt, ist jenseits der Grenzen ein todeswürdiges Verbrechen.“
Die Gewalt der Mächtigen
Sodom: „Der mörderische Herzog als zitternder Hasenfuß: eine groteskere Karikatur des Bösen lässt sich schwerlich denken. Mit seiner Hymne an die Feigheit widersprach Blangis allem, was dem echten Marquis heilig war: der Ehre auf dem Schlachtfeld und der Ehre des ganzen Standes. Wenn der Herzog von der Pflicht der Starken schwadroniert, die Schwachen zu unterdrücken oder besser noch: großflächig auszurotten, deckt er unfreiwillig das Wesen des Despotismus auf: Die Gewalt der Mächtigen ist ein Zeichen ihrer Angst und damit ihrer Schwäche.“
Sodom: „Prinzipienfeste Lustmörder – so weiter der verbrecherische Richter Curval – stehen auf einer Stufe mit Eroberern und Feldherren, die für ihre großen Pläne Tausende opfern, ohne mit der Wimper zu zucken. Große Schurken wie wir, so seine Schlussfolgerung, stehen ihnen an Größe also nicht nach.“
Sodom: „In der Ständegesellschaft des Mordschlosses hat jeder und jede einen festen Platz. Die rigorose Disziplinierung, der auch die Herren als Täter unterworfen sind, ist von einem regelrechten Horror vacui diktiert, der keinen Müßiggang und keine Lücken duldet. Jedes Lustobjekt muss jederzeit verfügbar sein und daher stets am vorgesehenen Ort zu finden sein. Nicht weniger minutiös reglementiert ist die Kleidung. Wie in der sozialen Wirklichkeit des Ancien Régime entspricht die Kostümierung dem Stand. Unheil verkündende Abzeichen machen deutlich, wen sein Schicksal als nächstes ereilen wird.“
Sodom: „Diese machen sich ein diabolisches Vergnügen daraus, Verstöße gegen die Regeln zu konstruieren und mangels echter „Delikte“ Übertretungen zu erfinden. Damit provozieren sie bewusst die Proteste der Unschuldigen, die ihre Lüste damit nur noch heftiger anheizen. So herrscht nicht trotz, sondern wegen der ausgefeilten „Hausordnung“ in Silling die absolute Willkür und damit der uneingeschränkte Terror; im Namen einer rigorosen Rechtsordnung regiert die absolute Rechtslosigkeit.“
Justine: „Jammer, Klage und moralische Entrüstung der hilflosen Guten vergewissern die Bösen stets aufs Neue, wie weit sie sich von der offiziellen Moral entfernt haben. Allein diese Ausbrüche hilfloser Empörung verleihen ihnen das Selbstgefühl, machtvolle und privilegierte Abweichler zu sein. Erst dieses Bewusstsein, alle Normen straflos übertreten zu dürfen, erzeugt die grenzenlose Lust daran, andere sexuell zu unterwerfen und zu quälen.“
„In der Philosophie im Boudoir führt de Sade eine Gesellschaft ad absurdum, die ohne Gewalt nicht existieren kann, sich dies aber nicht eingesteht. Das gilt für das Ancien Régime ebenso wie für die revolutionäre Republik. Eine Gesellschaft, die den Massenmord des Krieges legalisiert, hat kein Recht, den Einzelnen für seine „unmoralischen“ Neigungen und Taten zu bestrafen, denn im Gegensatz zu Krieg sind diese natürlich. Wer zum Krieg ja sagt, muss konsequenterweise auch die Anarchie billigen. Wie diese aussähe, zeigt de Sades Entwurf. Diese neue Lebensordnung, die Mord und Totschlag erlaubt, kann aber niemand wollen.“
Tugendkanon
„Frankreich aber ist wie alle christlichen Gesellschaften und Staaten zutiefst schizophren. Offiziell gilt dort ein Tugendkanon, doch nach diesem kann man nicht leben. So handeln die meisten gegen die Gesinnung, die sie offiziell bekennen, und die wenigen, die beides in Übereinstimmung zu bringen versuchen, gehen gesetzmäßig zugrunde. In einer solchen Welt kann nur überleben, wer schlecht ist, aber Tugendhaftigkeit vortäuschen kann.“
Die Opfer: keine Gegenwehr
Sodom: „Vier Herren, einer feiger als der andere, und 42 Nicht-Herren: Wie konnten die mörderischen Vier angesichts dieser ungleichen Machtkonstellation ruhig schlafen? Wer sorgte in dieser Menschenversuchsanstalt für die nötige Ordnung? Formell ist der jeweilige Regisseur des Tages dafür zuständig, doch welche Machtmittel hatte er für dieses Amt? Je länger der Aufenthalt in Silling dauerte, desto deutlicher traten die Risiken für das Personal aller Kategorien hervor. Spätestens zu Beginn des tödlichen Monats Februar musste absehbar sein, dass für die unteren Klassen alles verloren war und die scheinbar privilegierten „Angestellten“ in ein Vabanque-Spiel um Leben und Tod eintraten. Dennoch kommt es nur ein einziges Mal zu schwächlichen Ansätzen einer Verschwörung, die mit Leichtigkeit im Keim erstickt wird.“
Sodom: „Eine weitere Erklärung für die Schwäche der fiktiven Opfer ist die Tugendhaftigkeit, in der sie gefangen sind. In ihrem philosophischen System ist der Mensch gut und Widerstand gegen Tyrannei nicht vorgesehen. Für sie ist Leiden seliger als Handeln; so sehnt sich die zarte Adelaide nach dem himmlischen Lohn für ihr irdisches Martyrium. Andere wie die herkulischen Lustknaben hoffen zweifellos, zu den Überlebenden zu gehören.“
Tugend selbst am Untergang schuld
Aline: „Das Böse ist wie Unkraut: Es vergeht nicht, weil es im Einklang mit der Natur und daher mit dem Wesen des Menschen steht. Die Tugend hingegen scheitert an ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit.“
Aline: „Eine noch viel ausgeprägtere Neigung zur frommen Selbstaufgabe zeigt Aline, die in völliger Passivität verharrt, weil sie an das Gute im Menschen und an einen gütigen Gott glaubt, der ihr zum verdienten Glück verhelfen wird. In den beiden Hauptgestalten verdichtet sich somit die ganze Kläglichkeit des guten Menschen, der zu entschlossenem Handeln unfähig ist und in der Konfrontation mit dem Bösen stets aufs Neue seinen Grundsätzen untreu und dadurch kompromittiert wird. So wissen Aline und ihre Mutter, dass Léonore nicht aus der reichen Herzogsfamilie der Bretagne stammt, deren Erbe sie antritt, doch hüllen sie sich aus Scham und Anstand in Schweigen. Der Untergang der Tugend ist somit durch ihre Bigotterie und Feigheit vorherbestimmt und damit auch verdient.“
Sinn der Sexualität
Sodom: „Mit höchster Erbitterung hingegen wird der biblische Aufruf ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘ bekämpft. Sexualität dient der Lust und der Macht. Fortpflanzung hingegen wird von der Natur nur begrenzt geduldet, im Übermaß ist sie ihr schädlich und daher verhasst – auch das bildet ein Leit- und Lieblingsmotiv in den Diskursen des Herzogs, des Bischofs, des Präsidenten und des Financiers.“
Natur = Egoismus und Bösartigkeit
Sodom: „Am verhasstesten aber ist ihnen das christliche Grundprinzip der Nächstenliebe. Die Natur hat den Menschen zum schrankenlosen Egoisten bestimmt. Wer gute Werke tut, versündigt sich an den Starken und an der Natur …
Sodom: … denn alle Großverbrecher der de Sadeschen Romane machen sich ein Vergnügen daraus, die ohnehin schon Armen vollends zu ruinieren und danach auf ausgesuchte Art und Weise zu töten.“
Philosophie: „Die Natur hat den Menschen zum Krieg aller gegen alle und damit für die permanente Zerstörung geschaffen. Und zu ihrem Vorteil sollen wir in diesem Zustand beharren. Ich führe aufgrund meiner Erfahrung und meiner Untersuchungen hinzu, dass die Grausamkeit kein Laster, sondern die erste Regung ist, die uns die Natur einpflanzt. Das Kleinkind zerbricht seine Spielrassel, beißt in die Brustwarze seiner Amme und erwürgt seinen Vogel, lange bevor es das Alter der Vernunft erreicht hat. Grausamkeit ist auch den Tieren von Natur aus mitgegeben, bei denen sich die Gesetze der Natur viel klarer abzeichnen als bei uns Menschen. Grausamkeit ist den Wilden in der Natur viel näher als den Zivilisationsmenschen. So ist es absurd zu behaupten, dass Grausamkeit eine Folge der Dekadenz ist. Dieses System ist falsch, ich wiederhole es, Grausamkeit liegt in unserer Natur, wir alle werden mit einer Dosis Grausamkeit geboren, die nur durch Erziehung verändert wird.
Das war die endgültige Widerlegung Rousseaus. Wenn der natürliche Mensch in sich hineinhorcht, hört er nicht die Stimme des Mitleids, sondern des Hasses. Die Natur hetzt den Menschen auf den Menschen, weil dieser unaufhörliche Krieg ihren Zwecken dient. Wenn es einen Gott gibt, der diese Natur erschaffen hat, dann ist er entweder böse oder ohnmächtig. Doch diese Spekulation erübrigt sich, weil Gott eine Erfindung der Angst ist, die die Natur dem Menschen gleichfalls eingeflößt hat.“
Dialog: „Die Natur hat mich mit lebhaften Vorlieben erschaffen und dazu mit starken Leidenschaften ausgestattet. Sie hat mich einzig und allein dazu in die Welt gestellt, um mich diesen Vorlieben und Leidenschaften zu widmen und diese zu befriedigen. Dieser Zweck meiner Erschaffung leitet sich also nahtlos aus den Absichten der Natur ab. Oder, wenn du es so lieber magst: Darin bestanden die Pläne, die die Natur mit mir hegte, und zwar in voller Übereinstimmung mit ihren Gesetzen. So bereue ich nur, ihre Allmacht nicht gebührend erkannt zu haben. Und meine einzigen Gewissensbisse entstehen daraus, dass ich von den (in deinen Augen verbrecherischen, für mich bloß natürlichen Fähigkeiten, die sie mir verliehen hat, um ihr zu dienen, nur mittelmäßigen Gebrauch gemacht habe.
An die Stelle Gottes ist die Natur getreten. Sie allein hat den Menschen geschaffen, sie allein verleiht seiner Existenz Auftrag und Sinn. Fromme Christen glauben das Paradies zu gewinnen, wenn sie dem Willen Gottes folgen, so unvollständig sie dies auch aufgrund ihrer Sündhaftigkeit vermögen. Ein überzeugter Atheist wie de Sades Todkranker hat es da um einiges leichter: Er muss nur auf seine innere Stimme hören und den Neigungen folgen, die ihm die Natur eingegeben hat. Das schwerste Vergehen besteht darin, diesen Befehl der Natur zu verweigern, so wie es das Christentum lehrt. Die schlimmste Sünde gegen das Gesetz der Natur ist aus christlicher Sicht die höchste Tugend, die darin besteht, sich selbst Schranken aufzuerlegen. In seiner letzten Stunde wertet der Moribunde zum Nutzen und Frommen der Nachwelt die herrschende Moral radikal um. Gut ist nicht die christliche Triebhemmung, sondern die natürliche Hemmungslosigkeit. An die Stelle des ‚Erkenne dich selbst!‘ der klassischen Philosophie setzt de Sade die Maxime ‚Lebe dich aus!‘, ohne jede Rücksicht auf Normen und Konventionen. So wie Gott für den Christen das absolut Gute verkörpert, ist die Natur für den Sterbenden, der sich im Einklang mit ihren Prinzipien weiß, die absolute Richtschnur seines Handelns und damit Sinnstifterin. Was sie mit den Menschen vorhat, kann nicht schlecht sein und ist daher erlaubt.“
Dialog: „Die materialistischen Lehren, dass die Natur in permanenter Bewegung ist, sich dadurch selbst erzeugt und sich selbst genügt, ohne eines Weltschöpfers zu bedürfen, hatte de Sade aus seiner Lektüre der Philosophen Holbach, Helvetius und La Mettrie bezogen. Auch die Widerlegung des Christentums, zu welcher der Sterbende ausholt, ist alles andere als originell … Wie alle Religionen ist auch das Christentum aus der Angst der Menschen vor dem unbekannten hervorgegangen und dient den Mächtigen dazu, das Volk in Aberglaube und Abhängigkeit zu halten … Der Mensch ist Materie und nichts als Materie. Geist und Bewusstsein bestehen aus Atomen und sind genauso vergänglich wie Blumen und Blätter. Unsterblichkeit, Jenseits und Jüngstes Gericht sind durchsichtige Erfindungen machtsüchtiger Priester. Der Tod des Menschen, auch der massenhafte und gewaltsam herbeigeführte, kommt der Natur gelegen, weil er ihr hilft, neue Formen des Daseins hervorzubringen. Zu diesem Zweck hat sie dem Menschen den Hass auf den Mitmenschen eingepflanzt und, um ganz sicher zu gehen, die Lust zu töten. Die Natur ist also nicht für den Menschen gemacht, sondern der Mensch das willenlose Geschöpf der Natur. Lebensgenuss um jeden Preis – so lautet also die Devise des philosophisch vernünftigen Lebens. Nur so lässt sich das trostlose Dasein zumindest vorübergehend aufhellen. Wie weit der Mensch beim Ausleben dieser Lust gehen darf, ist die Kernfrage aller de Sadeschen Texte. Seine erfundenen Libertins akzeptieren dafür keine Grenzen und zeigen so, wie das menschliche Leben nach den Gesetzen der Natur aussieht: wie eine Hölle auf Erden.“
Wahre Tugend
Dialog: „De Sades minima moralia lauten somit: Folge der Natur, die dich zum Egoismus verdammt hat, doch ohne das legitime Selbsterhaltungs- und Genussstreben der anderen ohne zwingende Not zu durchkreuzen. Das war nicht das, was Theologen und Philosophen als Tugend lehrten, doch im Gegensatz dazu ehrlich und lebbar. Wahre Tugend heißt laut de Sade also, den Mut zu den Lastern zu haben, zu denen die Natur den Menschen zwingt. Diesen Mittelweg zwischen der falschen, da bornierten, selbstgerechten und in einer bösen Welt zum Untergang verurteilten Tugend auf der einen Seite und dem Laster der mörderischen Libertins auf der anderen Seite hat de Sade in seinen literarischen Werken kaum je aufgezeigt. Ihn muss der Leser selbst finden.“
Aufforderung zum Widerstand des Lesers
Justine: „Wie der Leser auf diese Akte der menschenverachtenden Ausschweifung reagiert, bleibt sich selbst überlassen: Ob mit Abscheu, mit Lüsternheit oder mit einer Mischung aus beidem, das hängt ganz von seinen Neigungen ab. Das Publikum wird so zum Teil des Experiments, das Justine am eigenen Leibe erfahren muss. Die Versuchsanordnung besteht wie schon in der Novelle darin, zu testen, wie die Gesellschaft mit einem armen und mittellosen Waisenmädchen umgeht, das nach unschuldig erduldetem Unglück auf seiner Wanderschaft Mildtätigkeit erfleht. Wendet sich der Leser in einer Aufwallung empörten Mitleids von diesem Buch ab, widerlegt er die Kernthese des Autors, dass das Böse regiert. Ergötzt und erregt er sich an den Orgien der Bösen, gibt er ihm voll und ganz Recht. Doch auch wenn er mit Abscheu und Faszination zugleich reagiert, bestätigt er die Diagnose des Autors: Die Lust am Bösen schlummert in jedem Menschen, man muss sie nur wecken. Das Publikum wird auf diese Weise selbst zum Versuchsobjekt des Verfassers. Wie es de Sade schon in den 120 Tagen von Sodom sagte: Niemand ist gezwungen weiterzulesen. Wer das Buch trotz dieser Warnung nicht aus der Hand legt, handelt auf eigenes Risiko. Er läuft Gefahr, sich selbst hellsichtiger zu erkennen, als es ihm lieb sein kann.“
Der Traum der Tugend: Die Südseeinsel Tamoé
Gemessen an seinen bisherigen Schriften fällt „Tamoé“ aus dem Rahmen. Wie viele andere zu dieser Zeit, in der immer noch bisher entlegene Teile der Welt entdeckt werden, entwirft auch der Marquis de Sade ein „Utopia“, ein ideales Land. Hier ist das Ergebnis.
Bevormundung
Zur Einleitung erwähnt Volker Reinhardt Denis Diderot. Diderots „Ansicht nach hat das Christentum den Menschen unheilbar verformt. Es zwingt ihn, gegen seine Natur zu leben, und erlegt ihm unerfüllbare Forderungen auf, die zu einem dauerhaften Zwiespalt zwischen seinen natürlichen Trieben und dem herrschenden Moralkodex führen. Dieses Dilemma spiegelt sich im Bewusstsein der Sündhaftigkeit und damit in einer regelrechten Schizophrenie wider, die nur durch die Zerstörung aller inneren und äußeren Fesseln geheilt werden kann. Die Freiheit des Einzelnen verträgt keine Bevormundung mehr, weder von der Kirche noch vom Staat und am allerwenigsten von selbsternannten Morallehrern im Geiste der Aufklärung.“
„Ein Staat mit zahlreichen Gesetzen macht die Menschen unglücklich, weil sie sich in eine solchen Wust von Vorschriften verfangen. Eine gute Lebensordnung kennt wenige, dafür jedoch unverbrüchliche und vor allem natürliche Regeln.“
Künstlich geschaffene Bedürfnisse
„Die Zivilisation ist weit über ihr Ziel hinausgeschossen, sie hat den Menschen zum Sklaven seiner künstlich geschaffenen Bedürfnisse gemacht. Alle diese eingebildeten Genüsse des Luxus, des parasitischen Wohllebens und des Handels, der diese perversen Gelüste nährt, sind daher von Zamés Insel Tamoé genauso verbannt wie aus dem Idealstaat Korsika, den Rousseau in einer späteren Denkschrift entwarf.“
Partner und Kinder
„Eine Parodie Rousseaus sind die Passagen, in denen Zamé die Schlichtheit und Sittsamkeit, Schamhaftigkeit und Tugendhaftigkeit beider Geschlechter und ihrer Beziehungen zueinander rühmt …“
„Die Grundregel lautet: Toleranz, so weit sie sich mit den Selbsterhaltungsinteressen der anderen vereinbaren lässt. Der dadurch geschaffene Gestaltungsspielraum gilt unterschiedslos für beide Geschlechter. Mann und Frau haben zweimal die Wahl. Entspricht der erste Partner nicht den Vorstellungen, sind Rückgabe und Umtausch möglich. Kommt es jedoch erneut zu einem Missgriff, bleibt nur noch stummes Dulden. Kinder spielen in diesen Beziehungen eigentlich keine Rolle, da für ihre Erziehung der Staat zuständig ist, sobald sie nicht mehr gestillt werden.“
Gleichheit des Besitzes
„Auf Tamoé herrscht eine strikte Gleichheit des Besitzes. Alle erhalten ein gleich großes und gleichwertiges Stück Land zur Bebauung zugewiesen. Das private Eigentum ist als Ursache aller privaten und öffentlichen Übel ausfindig gemacht und ausgeschaltet worden. Konkurrenz und sozialer Aufstieg, die verderblichen Folgen der Ungleichheit, sind damit ebenfalls ausgeschlossen. Das heißt nicht, dass besondere Verdienste unbelohnt bleiben, aber Zamé hat ein System der unschädlichen Auszeichnungen entworfen, das gütlichen Wettbewerb fördert, ohne Eifersucht zu erzeugen: Ein Empfang beim Herrscher, ein ehrenvoller Händedruck, eine lobende Erwähnung und im äußersten Fall ein höherer militärischer Rang reichen aus, um die Insulaner anzuspornen.“
„Da alle gleich viel besitzen, entfällt der Antrieb zum Diebstahl. Da die Kinder weitab von ihren Familien unter der Leitung erprobter Erzieher aufwachsen, gibt es keinen Inzest; die leichte Auflösung der Ehen macht Ehebruch weitgehend überflüssig, die Gleichheit des Ranges verhindert Verbrechen aus Ehrgeiz und ungestillter Ehre. Da es nichts zu erben gibt, leben die Generationen in Frieden miteinander.“
Wohltätigkeit
„Tugend heißt nicht, keine Laster zu begehen, sondern unter den gegebenen Umständen das Bestmögliche zu tun … Wohltätigkeit wird bei uns nicht wie bei euch von frommen Stiftungen ausgeübt, die doch nur Mönche fett machen, geschweige denn durch Almosen, die zum Nichtstun verführen. Wohltätigkeit heißt bei uns, seinem Nachbarn zu helfen, Kranken und Alten beizustehen, gute neue Erziehungsprinzipien zu erfinden, Streit und innere Zwietracht zu unterbinden. Mut zeigt sich darin, die Übel, die uns die Natur schickt, geduldig zu ertragen.“
Meinungsverschiedenheiten und Strafe
„Ideologische Differenzen und daraus entspringende politische Unruhen gibt es auf Tamoé nicht, da alle oder doch fast alle davon überzeugt sind, in der besten aller möglichen Welten zu leben.“
„Bestraft ihn nicht, wenn er Böses tut, denn dann macht ihr es ihm unmöglich, Gutes zu tun. Anstatt solche Menschen zu quälen, solltet ihr lieber euer Regierungssystem auswechseln. Denn solange dieses schlecht ist, kann es nur schlechtes Betragen geben, denn dann ist es nicht der Einzelne, sondern der Gesetzgeber, der sich schuldig macht.“
„Gemäß diesen Prinzipien fallen auf Tamoé die Strafen für diejenigen, die trotz aller pädagogischen Anleitungen und aller Ermunterungen zur Tugend ein abweichendes Verhalten an den Tag legen, viel milder aus als im barbarischen Frankreich:
Unsere Strafen sind, den einzigen Delikten unserer Nation entsprechend, leicht; sie demütigen und entehren nicht.“
„Sobald sich ein Bürger etwas zuschulden kommen ließ, gibt es nur noch ein Ziel: Wenn man gerecht sein will, muss seine Strafe ihm oder den anderen nützlich sein.“
„Man bessert einen Missetäter nicht durch Isolation, sondern dadurch, dass man ihn in die Gesellschaft, die er geschädigt hat, entlässt.“
„Im krassen Gegensatz zum Blutregime der terreur wird auf Tamoé selbst für Mord – das schwerste und seltenste Verbrechen – kein Schafott errichtet; ein Staat, der Menschen zum Tode verurteilt, ist schlimmer als ein Mörder aus Leidenschaft. Aber von allen Gesetzen ist das schrecklichste das Gesetz, das einen Menschen zum Tode verurteilt, der nur den Neigungen nachgibt, die stärker als er selbst sind.“
Lediglich ein Traum
Die Bewohner des Erdreichs fänden es sehr schön, wenn die Menschen sich „gut“ benehmen würden und sich entsprechend organisieren könnten. Wg. Unzulänglichkeiten der Menschen wird dies jedoch nie der Fall sein. Sie könnten es allerdings versuchen, diesem Ideal-Zustand etwas näher zu kommen.
Mensch kann allerdings davon ausgehen, dass es dagegen erheblichen Widerstand geben würde. Alleine so etwas wie „Gleichheit des Besitzes“ käme bei vielen nicht gut an. Wenn es ein Staat doch einmal probieren würde, kann mensch sicher sein, dass von Anfang an versucht werden würde, dieses Land militärisch zu unterwerfen. Falls dies nicht gelingen sollte, würde es gezwungen werden, unverhältnismäßig viel Geld für „äußere und innere Sicherheit“ aufzuwenden, denn der Feind wird nicht locker lassen, bis dieser Staat zerstört ist. Die Propaganda wird dafür sorgen, dass dieser Staat als das Böse schlechthin dargestellt wird, so dass alle Menschen das glauben und diesen Staat und diese Form des Lebens als böse empfinden.
Nein, die Menschen sind, wie sie sind. Große Utopien sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Das Leben des Marquis
Jetzt aber zum Leben des Marquis. Es war ausschweifend und abenteuerlich. Dennoch möchte der Wurm es so knapp wie möglich schildern. Zumindest die Zeit von 1740 bis 1789:
Wg. Verkehr mit Minderjährigen und sexueller Akte, die von den Opfern nicht gewollt sind (unter anderem Auspeitschen und Analverkehr) bringt er 29 Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Irrenhäusern zu plus 5 Jahre Flucht in Italien. Auch nach heutigen Maßstäben nicht ganz zu Unrecht – aber ohne Gerichtsverfahren. Dies alles passiert ihm im anҫien regime, in der Revolutionsregierung und im Kaiserreich unter Napoleon.
Was mensch auch immer von de Sade halten mag – Verbrecher und Mörder ist er nicht; mensch weiss, mit wem er es zu tun hat. Abseits seiner Triebe und Phantasien scheint er recht umgänglich zu sein.
Erstürmung der Bastille
Die letzten Jahrzehnte hatte sich das halbwegs gebildete Frankreich stark politisiert und schließlich hatte sich der 3. Stand (also das Bürgertum gegenüber Adel und Klerus) am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung erklärt.
Am Mittag des 2. Juli 1789 trat der Marquis de Sade an sein Fenster in der Bastille (wo er seit Jahren gefangen war) und rief aus Leibeskräften um Hilfe. Sein Aufseher Lossinotte beschreibt dies folgendermaßen:
„Herr de Launay (der Kommandant) beharrte auf seinem Verbot (auf dem Dach spazieren zu gehen). Daraufhin ergriff Herr de Sade ein langes Blechrohr, an dessen einer Seite ein Trichter angebracht war, mittels dessen er seinen Urin bequem in die Latrinengrube entleeren konnte. Mit diesem selbst gebastelten Sprachrohr rief er von seiner tour de la Liberté auf die Rue Saint-Antoine hinunter, sodass sich viele Leute versammelten. Er erging sich in Beschimpfungen des Kommandanten, forderte die Bürger auf, ihm zur Hilfe zu kommen, und schrie, dass man ihn erwürgen wolle.“
Reinhardt: „Zwölf Tage nach dem Aufruf des Grafen stürmte der aufgebrachte Mob jedenfalls tatsächlich die Bastille und brachte deren Kommandanten auf bestialische Weise ums Leben. Doch von dieser Befreiungsaktion konnte der Gefangene de Sade nicht mehr profitieren. Man hatte ihn aufgrund seiner „Volksverhetzung“ umgehend an einen sichereren Ort verbracht.“
Schließlich wurden alle königlichen Spezial-Häftlinge (also diejenigen, die nicht von einem Gericht verurteilt wurden) freigelassen, darunter auch der Marquis.
Im Sturm der Revolution
Reinhardt: „In Wirklichkeit wusste de Sade sehr genau, wo er politisch stand: Da er religiös und politisch aus vollstem Herzen ungläubig war und nicht an das Gute im Menschen glaubte, konnte er kein Demokrat sein, sondern plädierte für eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild und viel Prestige für die Aristokratie. Der Marquis dachte Politik wie alles andere, nämlich auf die eigenen Erfahrungen gestützt und auf sich bezogen. Verfassungen waren kein Wert an sich und die Menschen nicht erziehungsfähig … Allerdings wurde es für einen Mann mit seiner Vergangenheit immer schwieriger, sich unter den neuen Verhältnissen zu behaupten; je mehr sich die Revolution radikalisierte, desto gefährlicher lebten Aristokraten wie er; waren sie zudem als Libertins verrufen, schwebte das Fallbeil der Guillotine bereits über ihnen. So hatte der Marquis schon bald nur noch die Wahl, unterzutauchen oder sich als Jakobiner zu betätigen. Seiner lebenslangen Neigung zur Tollkühnheit entsprechend entschied er sich für das größtmögliche Risiko und trug den Kampf ums Überleben mit der Maske des Revolutionärs aus …
So diente der ehemalige Kavallerie-Oberst in der Nationalgarde und bewachte wichtige Gebäude wie die Tuilerien. Die Kompetenz, die er bei diesen Operationen an den Tag legte, brachte ihm das Vertrauen seiner Mitbürger ein. Diese wählten ihn im September 1792 turnusgemäß zum Präsidenten seines Stadtteils, der jetzt „Piken-Sektion“ hieß. Der neue Name sollte Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit signalisieren, gewann aber schon im selben Monat eine makabre Bedeutung. ‚Enthüllungs-Journalisten‘ wie Marat und andere Jakobiner hatten systematisch die Angst vor einer Gegenrevolution durch konservative, vom Ausland bezahlte Verschwörer geschürt und zur Gegenwehr gegen diese volksfeindlichen Machenschaften aufgerufen. Tötet die Gegner der Revolution, am besten gleich zu Tausenden! Diesem Appell Marats folgte der fanatisierte Mob nur allzu willig, stürmte die Gefängnisse und richtete dort ein Blutbad an.“
Mit ca. 10.000 Toten. Frankreich war im Blutrausch.
1793 wurde der Bürger Louis Sade zum Richter gewählt. Er, der lange Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte und „in Abwesenheit“ zum Tode verurteilt war und getötet wurde. Und hatte jetzt selbst als entschiedener Gegner der Todesstrafe über Leben und Tod zu entscheiden.
Das zeigt sich bei seiner Schwiegermutter, die von seinem Lebenswandel verständlicherweise nicht gerade begeistert war und überhaupt dafür sorgte, dass er Langzeit-Gefangener war. Jetzt kam die Gelegenheit zur Rache.
Reinhardt: „Der Abscheu vor der Tötungsmaschinerie des jakobinischen Tugendstaats trieb den Marquis zu todesmutigen Widerstandsaktionen an. Als das Ehepaar Montreuil wegen republikfeindlicher Haltung angezeigt wurde, verschleppte der zuständige Richter de Sade diesen Vorgang und setzte seine Schwiegereltern auf eine Liste von Personen, deren ideologische „Besserung“ zu erwarten war. Damit riskierte er seine Stellung, ja sein Leben, wie sich schon bald zeigen sollte. Liebe deine Feinde! Mehr christliche Barmherzigkeit als der bekennende Atheist und Verächter des Christentums de Sade konnte man kaum an den Tag legen.“
Es kam, wie es kommen musste: im Dezember 1793 wurde er verhaftet und später zum Tode verurteilt. Im letzten Moment konnte er dem Robespierre von der Schippe springen: am 27. Juli 1794, dem geplanten Hinrichtungstag, wurde Maximilien de Robespierre gestürzt und die Todesurteile wurden aufgeboben. Nichtsdestotrotz wurden noch 23 Mitgefangene geköpft. Der Marquis wurde bei der Abholung „nicht gefunden“.
Theater im Narrenhaus
Die Zeiten wurden ruhiger und 1799 putschte sich (und mit ihm das Besitz-Bürgertum) der General Napoleon Bonaparte an die Macht.
Reinhardt: „Um diesen neuen Machtverhältnissen die nötige Weihe zu verleihen, war eine Aussöhnung mit dem Papsttum ebenso erforderlich wie eine neue Moral, die Familie, Patriotismus und Eigentum als höchste Werte heiligte. Zur Einschärfung dieser Tugenden war das Regime auf Feindbilder angewiesen … Diese Abgrenzung zu einer definitiv verdammten Vergangenheit wurde wie immer an solchen Zeitenwenden am Sexualverhalten festgemacht. Im Zeichen einer neuen Ehrbarkeit, die die bürgerliche Kleinfamilie als Hort der Tugenden pries, rechneten die Chefideologen der ‚moralischen Wende‘ unbarmherzig mit der Sittenlosigkeit der Aristokraten ab, hinter der sich ein Abgrund von Lastern wie Volksverachtung, Käuflichkeit und Verrat an der Nation verbarg …
Ein Prozess gegen den skandalösen Marquis würde viel Staub aufwirbeln. Zum einen kannte er viele einflussreiche Persönlichkeiten und ihre Vorlieben allzu gut, und zum anderen würde ein Verfahren gegen ihn die Elite als ganze kompromittieren und so die mühsam gefestigte Ordnung gefährden.“
Lösung: er wird ohne Prozess ins Narrenhaus gesteckt. Dort allerdings hat er das Glück, auf einen Direktor zu treffen, der seinen geistigen Rang erkennt und Verständnis für ihn hat. Und ihm entgegen gegensätzlicher Anordnungen zahlreiche Privilegien zuerkennt. Unter anderem darf der bekennende Atheist und Verächter des Christentums zu Ostern in der Anstaltskirche das geweihte Brot austeilen und den Klingelbeutel herumreichen.
Und: der Theater-begeisterte de Sade darf mit den Narren als therapeutische Maßnahme Theater-Aufführungen inszenieren.
Reinhardt: „Für den Marquis war die Welt, die der Kaiser der Franzosen mit Kriegen überzog, ein Irrenhaus und das Irrenhaus daher das letzte Refugium der Menschlichkeit …
Dreißig Jahre nach seinen Theaterexperimenten in Lacoste wurde der Marquis wieder zum Regisseur, und das mit ungeahntem Erfolg. So viel Aufmerksamkeit und Beifall wie im Anstalts-Theater hatte er auf seinem Schloss nie erfahren. Zu seinen Aufführungen im Irrenhaus strömte tout Paris. Den berüchtigten Herrn de Sade als Regisseur und Schauspieler, wenn möglich in einem selbst verfassten Stück, zu erleben, war der „letzte Schrei“ der Hauptstadt-Schickeria. Wie es dabei zuging, beschreibt ein Augenzeuge, der junge Medizinstudent Ramon, der später ein berühmter Arzt wurde, so:
‚Die Sitten waren äußerst locker und ungezwungen. Bälle, Feste, Konzerte und Theateraufführungen reihten sich in bunter Abfolge aneinander. Dazu wurden viele Auswärtige geladen, darunter Literaten und Bühnenstars.‘
Was wollte de Sade mehr? Spektakel wie in Charenton hätte er sich aus eigener Tasche nie und nimmer leisten können. Zudem war er behaglich untergebracht und wurde von seiner Gefährtin aufopferungsvoll versorgt. So spricht alles dafür, dass der rebellische Marquis am Ende seines Lebens glücklich war.
Dieser ‚Triumph des Lasters‘ ließ die Wohlgesinnten naturgemäß nicht ruhen. Am interessantesten sind die Einwände, die der Medizinprofessor Esquirol vier Jahre nach de Sades Tod gegen die Aufführungen von Charenton erhob:
‚Dieses Spektakel war eine einzige Lüge, denn die Irren spielten nicht die Komödie, die auf dem Spielplan stand, sondern der Regisseur spielte mit dem Publikum, und alle Welt ließ sich täuschen. Groß und klein, unwissend und gebildet, alle wollten dem ‚Irren-Schauspiel‘ von Charenton beiwohnen, ganz Paris strömte mehrere Jahre lang dahin, die einen aus Neugier, die anderen, weil sie die Wirkungen des Wundermittels, das die Irren heilte, kennenlernen wollten. Doch die Wahrheit ist, dass es nicht heilte.‘“
Schließlich stirbt Marquis de Sade 1814 in der Irrenanstalt.
Worte und Taten
Reinhardt: „Anders als die vier Herren auf Silling es getan hätten, rechnete es sich der berüchtigte Marquis de Sade zur Ehre an, fünf Familien mit Almosen unterstützt und todesmutig Mitmenschen aus höchster Lebensgefahr gerettet zu haben.“
„Die entfesselten Kleinbürger von Paris durften knapp zwei Jahre lang die Rolle des Tyrannen spielen, den sie soeben geköpft hatten. Ganz oben und ganz unten in der Gesellschaft hegen die Menschen also dieselben blutrünstigen Neigungen, und auch in der Mitte sah es nicht besser aus.“
Marquis de Sade war nun wirklich nicht der edelste Mensch. Aber er war sehr viel humaner als die Gestalten in seinen Romanen (die dort nicht kritisiert werden). Vor allem: in der Stunde der Bewährung lässt er sich nicht vom Blutrausch fortreißen, den die vormals kreuzbraven Kleingeister ergriffen hat.
Dafür gebührt ihm Respekt.
Der Sadist im Menschen
De Sade selbst schreibt extrem – und extrem war die Welt um ihn herum und ist sie auch heute. Dass die Rücksichtslosen gewinnen und die Tugendhaften verlieren – das dürften alle Menschen selbst schon erlebt haben. Der eigene Nutzen steht im Mittelpunkt, Liebe und Empathie sind Zeichen von Schwäche und die Beziehungen zwischen Menschen bauen nur auf gegenseitigem Nutzen auf. Verliert eine Person ihren Nutzen, wird sie „weggeworfen“.
Er ist aktueller denn je. Die „Eliten“ können in aller Rücksichtslosigkeit schalten und walten, wie sie wollen und der brave moralische Bürger schaut zu.
Sie können auch Kinder vergewaltigen, wie sie wollen. Wenn mal etwas ans Licht kommt, dann meist viele Jahre später. Am Bekanntesten sind die Fälle in Belgien, Großbritannien und im Bereich der katholischen Kirche:
http://de.wikipedia.org/wiki/Marc_Dutroux
http://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Michel_Nihoul
http://de.wikipedia.org/wiki/Jimmy_Savile
http://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche
De Sade ist kein Erfinder der Hölle, er beschreibt sie. Mensch sollte wissen, dass es solche Menschen gibt, welchen Einfluss sie haben und wie ihnen Einhalt geboten werden kann.
Einzelpersonen, die die Neigung zur Pädophilie haben, sie aber beherrschen, werden dafür nicht bewundert, sondern nieder gemacht (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/58-respekt-vor-edathy.html ), aber „Respektspersonen“, die vergewaltigen und im Extremfall auch morden, können machen, was sie wollen.
Nur der, der weiss, dass er die entsprechenden Neigungen hat, kann versuchen, sie zu beherrschen und in ungefährliche Bahnen zu lenken. Diese Leute sind nicht das Problem.
Das Problem sind neben den Kriminellen die „Anständigen“ und diejenigen, die wissen, „was sich gehört“. In dem Moment, in dem es sich „ergibt“ (wie während der Französischen Revolution oder im Krieg), gehen diese über Leichen.
Massaker im Krieg und sonstige Ausschweifungen bestialischster Art werden normalerweise nicht von bekennenden Sadisten begangen, sondern von diesen „Anständigen“.
Wenn diese Sorte einem anderen Menschen in irgend einer Art und Weise überlegen ist, wird sie diesen piesacken. Diesem muss dann „gezeigt“ werden, wer der Stärkere ist. Das ist Alltag. In der Familie, bei der Arbeit, oft auch im Privatleben. Glücklich derjenige, der diesem Schicksal entrinnen kann.
Alleine in Deutschland gibt es offiziell über eine Millionen Mobbing-Opfer im Berufsleben, 54% aller Schüler und 32% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind von Cyber-Mobbing betroffen (siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/105-weltmeister.html )
Jeder „brave Bürger“ ist in der einen oder anderen Art und Weise von Sadismus betroffen: er will seine Mitmenschen leiden sehen. Auch dann, wenn er eigentlich nicht hinsehen kann.
Da, wo sie noch öffentlich vollzogen werden, sind Hinrichtungen von Menschen sehr beliebt. „Nervenkitzel“ hat immer Konjunktur. Krimis, Gewalt- und Horrorfilme sowie Pornographie sind bei Menschen sehr populär.
Auch sportliche Aktivitäten, bei denen anderen Menschen Schmerzen zugefügt werden wie beim Boxen oder Wrestling. Es gibt Menschen, die das Schöne im Sport sehen (bzw. das so sagen), aber die meisten wollen, dass es dem Gegner so richtig weh tut und rufen zu größerer Gewalt auf („haut se auf die Schnauze“), siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/102-kampf-um-jeden-ball.html .
Selbst eher harmlose Sportarten wie Tennis bedienen den Sadismus – dort ist Sinn und Zweck des Spiels, den Gegner in eine ausweglose Lage zu bringen und das Publikum hat seine Freude daran.
Damit das Publikum seinen Spaß hat, werden Sportarten immer gefährlicher, etwa mit den entsprechenden Skipisten oder Bob-Bahnen.
Dazu gehört auch der Zirkus: die Menschen wollen eben nicht (nur) das Schöne, Wahre, Edle sehen, sondern die Todesgefahr. Die Sensationen und Gefahren müssen immer größer werden.
Es gibt Firmen, deren Werbekonzept darauf basiert und die damit bewusst das Risiko eingehen, Menschen in den Tod zu treiben. „Red Bull“ gehört dazu. Dazu gibt es einen schönen Film:
https://www.youtube.com/watch?v=fTBMCg8y5hg
Es gibt Menschen, die mögen Talent-Shows. Ganz beliebt sind diejenigen, bei denen die Darstellenden von einem der Juroren nieder gemacht werden. Mensch hat also offensichtlich Vergnügen daran, wenn seine Mitmenschen erniedrigt werden.
Eine der erfolgreichsten Fernsehsendungen ist das „Dschungelcamp“:
„An jedem Tag muss ein Kandidat, teils auch zwei oder selten auch mehrere Kandidaten, eine Aufgabe bestehen. Diese Prüfung besteht darin, angsteinflößende oder abstoßende Situationen zu überwinden, beispielsweise indem kleinere Tiere oder Teile von Tieren (zum Beispiel Hoden) zubereitet, tot oder lebend verspeist werden müssen oder der Kandidat in eine Menge von Maden, Käfern und Spinnen oder in stinkende Flüssigkeiten getaucht wird. Andere Prüfungen sind Geschicklichkeitsübungen, die gesichert in großer Höhe, über oder unter Wasser ausgeführt werden müssen.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Ich_bin_ein_Star_%E2%80%93_Holt_mich_hier_raus!
Und die Zuschauer dürfen ihrem Sadismus nicht nur beim Zuschauen frönen, sondern auch dadurch, dass sie bestimmen können, wer sich die jeweiligen Ekligkeiten antun muss.
Wg. Forschung am Menschen sehen die Bewohner des Erdreichs alles, was die Menschen auch sehen – aber solche Sendungen sind uns zutiefst zuwider.
Wie der Praxistest gezeigt hat, ist der Charakter des Marquis de Sade weitaus höher einzustufen als die der „normalen“ Menschen. Auch der des Sebastian Edathy, der sich nichts zuschulden hat kommen lassen im Gegensatz zu denjenigen, die Unrecht geschehen lassen.
Der Marquis de Sade hat gezeigt, worauf mensch achten sollte. Haben die Menschen ihre Lehren daraus gezogen? Nein. Selbst die eigentliche Praxis des Sadismus wird heutzutage verfälscht und verharmlosend dargestellt, siehe http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/147-die-schoene-und-das-tier.html . Das Problem liegt auf jeden Fall nicht bei den Sadisten, sondern bei den „Anständigen“.
Normalerweise würden die Bewohner des Erdreichs sich vor solchen Wesen, die vorgeben, besonders anständig zu sein, tatsächlich aber das Gegenteil davon sind, voller Ekel abwenden. Aber sie sind da. Es führt kein Weg an ihnen vorbei.