Schottland hat abgestimmt: 55% der in Schottland lebenden Wähler wollen bei Großbritannien bleiben, 45% wollten die Unabhängigkeit.
Es stellt sich die Frage, warum das Ergebnis so knapp war: immerhin ist Schottland seit über 300 Jahren mit Großbritannien vereint und das gesamte Establishment inclusive der Arbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer massiv unter Druck setzten, war massiv für einen Verbleib Schottlands.
Für die meisten deutschen Medien war dies alles eine Frage des schottischen Nationalismus. Das war es jedoch definitiv nicht. Aus nationalistischen Gründen hätten nicht wesentlich mehr als 20% für die Abspaltung gestimmt. Sehr wahrscheinlich durfte deshalb überhaupt abgestimmt werden. Große Niederlage der Nationalisten, und dann ist erst mal Ruhe.
Andreas Bodmer fasst die Gründe für den knappen Ausgang folgendermaßen zusammen (der Artikel entstand vor der Abstimmung):
„Und wird es beim Referendum nur um Ja oder Nein gehen – oder kommt auch eine dritte Option infrage, wie die SNP verlangt? Nämlich die einer maximalen Autonomie, die alle inneren Angelegenheiten umfasst, inklusive einer umfassenden Finanzhoheit?
Vor allem dieser Punkt ist vielen SchottInnen wichtig. Denn sie haben bis heute nicht vergessen, wie verheerend die Politik der früheren Premierministerin Margaret Thatcher für die regionale Ökonomie und das schottische Sozialgefüge war. Ihr zentralstaatlicher Dirigismus, ihre marktradikale Deindustrialisierungspolitik (der praktisch die gesamte schottische Industrie zum Opfer fiel), ihre Attacken auf den Sozialstaat und nicht zuletzt ihr Hochmut – all das stösst der egalitär gesinnten und gemeinschaftsorientierten Bevölkerung im Norden Britanniens noch immer sauer auf. Niemand hat den schottischen Nationalismus so sehr gefördert wie die Krämerstochter aus Südengland – und niemand hat ihn so sehr beschleunigt wie Thatchers EnkelInnen, die derzeit den Staat kaputtsparen.
Noch Anfang der siebziger Jahren waren in Schottland die Konservativen und die Labour-Partei gleichauf gelegen, von einer politischen Vertretung des Nationalismus gab es kaum eine Spur. Heute hingegen hat die sozialdemokratische SNP (die in vielen Belangen links von Labour politisiert) eine Mehrheit im 1999 gebildeten schottischen Regionalparlament, während die Tories gerade noch einen (von insgesamt 59) schottischen Abgeordneten im Londoner Unterhaus sitzen haben. In Schottland sind die Konservativen nur mehr eine Splitterpartei. Die SNP hingegen kann sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen: Sie regiert in Schottland seit 2007 und hat es – trotz bescheidener Kompetenzen – verstanden, alle Bildungs- und Gesundheitsreformen abzublocken, die die britischen Labour- und Tory-Regierungen der Bevölkerung seit Jahren zumuten. Altenpflege, Zahnarzttermine, Arzneimittelrezepte und Universitätsstudium sind in Schottland, anders als in England, kostenlos.
Die rabiaten Haushaltskürzungen, die das konservativ-liberale Londoner Kabinett derzeit durchpeitscht, waren denn auch der Hauptgrund für den neuerlichen Anlauf, den Salmond Anfang Januar nahm, als er detaillierte Pläne für ein Unabhängigkeitsreferendum bekannt gab. Vor allem die Einsparungen im öffentlichen Dienst kommen bei den überdurchschnittlich vielen schottischen Staatsangestellten gar nicht gut an. Auch die wachsende Distanz zur EU passt den europafreundlichen SchottInnen nicht: Im Fall einer Unabhängigkeit werde Schottland natürlich in der EU bleiben, sagen sie – und sollte der Rest von Britannien austreten und nach zehn Jahren reumütig zurückkehren wollen, dann könne man ja das Veto einlegen …“
„Bei der britischen Regierung liegen die Nerven blank. Premierminister Cameron hat nichts mehr zu sagen, außer dass er nicht für ewig an der Regierung bleiben werde und die Schotten doch bitte, bitte nicht aus purem Hass gegen die Konservativen für die Unabhängigkeit stimmen sollen.
Weil sich die Konservativen in Schottland nicht blicken lassen können (die Tories haben dort keinen Parlamentsabgeordneten und Camerons einzige Auftritte fanden vor ausgewähltem Publikum hinter verschlossenen Türen statt) wurde der ehemalige Labour-Parteivorsitzende und kurzzeitige britische Premierminister Gordon Brown in Marsch gesetzt.“
http://www.heise.de/tp/artikel/42/42801/1.html
Die Internationalen Sozialisten sehen das nicht viel anders, gehen aber davon aus, dass das „Ausmaß an Unzufriedenheit und Opposition gegenüber den etablierten Verhältnissen“ in Kontinental-Europa nicht viel anders ist:
„Dass es nicht überall ähnliche separatistische Bewegungen gibt wie in Schottland, trägt nur wenig zur Beruhigung der europäischen herrschenden Eliten bei. Die Erfolge der Scottish National Party (SNP) und ihrer diversen Satelliten sind im Wesentlichen dem Umstand zu verdanken, dass sie erfolgreich die enorme Feindschaft gegen die alten Parteien des Establishments, ihre Austeritätspolitik und ihre Kriegstreiberei ausbeuten konnten.
Diese Erscheinung trifft nicht nur auf die regierende konservativ-liberaldemokratische Koalition in Großbritannien zu. Auch die Labour Party konnte nicht als Alternative zu diesen Parteien auftreten, oder gar Schottland einen Anreiz liefern, im Vereinigten Königreich zu verbleiben. Sie ist sowohl wegen ihrer Unterstützung für die illegalen Kriege im Irak und in Afghanistan verhasst, als auch wegen ihrer Verherrlichung der Marktwirtschaft sowie wegen des Bailouts der Banken 2008 und wegen der üblen Kürzungsmaßnahmen, die sie durchzusetzen begonnen hatte, bevor sie 2010 aus dem Amt gejagt wurde.
Andere Parteien in Europa sind in keiner besseren Position. Sie alle starren zitternd auf das Ausmaß an Unzufriedenheit und Opposition gegenüber den etablierten Verhältnissen, auch wenn der Widerstand noch wenig entwickelt ist.
Die enormen Spannungen, die das schottische Referendum bloßgelegt hat, deuten auf eine beispiellose Herrschaftskrise hin, ganz unabhängig davon, wie die Abstimmung am Donnerstag ausgeht.“
Dass die Internationalen Sozialisten die Unabhängigkeits-Befürworter keinesfalls als fortschrittlich ansehen, sei nicht verschwiegen:
„Das alles verleiht der separatistischen Agenda der SNP oder ähnlicher Bewegungen anderswo keinen progressiven Charakter. Sie sind im Gegenteil völlig rückschrittlich.
Der schottische Nationalismus artikuliert die Interessen einer Fraktion der Bourgeoise, die von der SNP und zahlreichen kleinbürgerlichen Trittbrettfahrern repräsentiert werden. Sie sind ganz berauscht von der Aussicht auf einen größeren Anteil am Reichtum Schottlands, z.B. an den vielen Milliarden Pfund Öl- und Steuereinnahmen und von ihren künftigen Beziehungen zu großen Konzernen, denen niedrige Unternehmenssteuern und bessere Ausbeutungsbedingungen für die Arbeiterklasse geboten werden …
Die wirklichen Klasseninteressen hinter den separatistischen Projekten sind unvereinbar mit den zahlreichen Versprechen der SNP, eine progressive Sozialpolitik zu verfolgen. Viele Arbeiter wissen das auch. Unter diesen Umständen spielen die pseudolinken Jubeltruppen für die Unabhängigkeit wie die Scottish Socialist Party (SSP), die Radical Independence Campaign, und der ehemalige SSP Führer Tommy Sheridan Schlüsselrollen für die nationalistische Propaganda …
Aber der Separatismus ist nicht nur deswegen reaktionär, weil die SNP dadurch zur regierenden Partei würde, sondern wegen der Klasse, die herrschen wird. Für die Arbeiterklasse in Schottland und Europa wäre der Separatismus eine Katastrophe. Er würde nur zur Balkanisierung des ganzen Kontinents führen. Arbeiter würden in jedem Land und in den kleinsten Regionen in einem Bruderkampf gegeneinander in Stellung gebracht. Es würden unvermeidlich nationale Gegensätze aufbrechen, die die Beziehungen zwischen der arbeitenden Bevölkerung vergiften und sie für rivalisierende Teile der Kapitalistenklasse einspannen.“
https://www.wsws.org/de/articles/2014/09/17/scot-s17.html
Nach der Abstimmung kommt die Frage, welche Auswirkungen diese auf Europa haben wird. Hierzu ein Kommentar von Ralf Streck:
„Schotten und Briten haben mit dem Referendum ein demokratisches Lehrstück gegeben. Das zeigt nicht nur die enorme Wahlbeteiligung. Das zeigt auch, dass engagiert, friedlich und breit debattiert wurde und alle abstimmen durften, die in Schottland leben und die die Entscheidung direkt betrifft. So breit wie wohl nie zuvor wurde im Land über die wichtigen Fragen debattiert und vor allem die neoliberale Politik angegriffen, die die Londoner Regierung in Westminster macht. Die Schotten haben mit ihrem Votum auch der unsozialen Politik die gelbe Karte gezeigt …
Auf sie hat die Angstkampagne gewirkt, wonach Brüssel mit einem Rauswurf aus der EU drohte, die großen Banken das Land verlassen würden, es unsicher war, mit welcher Währung ein unabhängiges Land weitermachen würde, ob die Renten sicher sind, etc. Sie wollten lieber den Spatz in der Hand behalten, als nach der Taube auf dem Dach zu greifen …
So stellte die stellvertretende Erste Ministerin Schottlands Nicola Sturgeon zwar fest, dass die Mitglieder der Yes-Kampagne enttäuscht seien, aber sie stellte auch fest, dass sich "Schottland für immer verändert hat". Denn allen ist nicht nur dort klar geworden, dass es sich lohnt, für seine Rechte zu streiten und einzustehen. Auch Großbritannien hat sich für immer verändert und Europa muss sich Gedanken machen, damit der Ärmelkanal nicht noch breiter wird.
Denn es war unsäglich, wie sich die EU-Kommission aus Brüssel in einen tief demokratischen Prozess eingemischt hat und Millionen Schotten mit dem Rauswurf drohte, obwohl das in den Verträgen nicht vorgesehen ist. Daran hat sich gezeigt, dass "EU-Brüssel außer Rand und Band ist" und man am demokratischen Grundverständnis in Brüssel zweifeln darf …
Die EU und die Mitgliedsstaaten stehen nun auch vor der Frage, wie sie in Zukunft mit der Vielzahl von Unabhängigkeitsbestrebungen umgehen will. Man kann das Selbstbestimmungsrecht nicht Flamen, Katalanen, Basken… verweigern, wenn Schotten frei darüber entscheiden können und die EU Trennungsprozesse wie im ehemaligen Jugoslawien sogar aktiv gefördert hat.“
http://www.heise.de/tp/artikel/42/42819/1.html
Und noch ein Kommentar von Willy Wimmer:
„Das schottische Votum hat gewaltige Lehren für uns parat. Die Diskussion über ein "ja oder nein" zur schottischen Unabhängigkeit hat deutlich gemacht, wie sehr in Schottland eine Diskussion geführt worden ist, die eigentlich von uns allen bestritten werden müsste. In welchem Maße beugen wir uns dem Modell eines halb-feudalen Regierungssystems, wie es für das politische System in London mit seinen Steuerungselementen aus der Finanzzentrale "City of London" bestimmend ist - oder sind wir weiter der parlamentarischen Demokratie verpflichtet, für die Menschen in Schottland gekämpft haben?
Nichts war für einen Kontinentaleuropäer überraschender als diese Fragestellung. Macht sie doch deutlich, dass wir alle bei London weniger deutlich hinsehen, als wir es eigentlich machen müssten, sollten wir selbst uns nicht auf Dauer in einer von der Bundeskanzlerin propagierten "marktkonformen Demokratie" nach Londoner Muster wiederfinden.
Gleich, wie die Schotten abgestimmt haben. Schottland steht eigentlich wie ein Mann für die soziale Komponente in der europäischen Politik. Nichts hat die Menschen in Schottland mehr umgetrieben, als die immer größer werdende soziale Ungleichheit auf der Insel. Im Vereinigten Königreich werden die sozialen Brüche auf Dauer weitergehen - und das schottische Votum vom Donnerstag wird dazu beitragen, die Auseinandersetzung darüber auf der ganzen Insel zu führen.
Es muss überhaupt nicht betont werden, wie sehr uns das alle betrifft, weil das zu einem Zeitpunkt, an dem die soziale Komponente der europäischen Politik der Philosophie des schrankenlosen Kapitalismus nach dem Modell des "Transatlantischen Freihandelsabkommens" geopfert werden soll, das gesamteuropäische Kernproblem ist. Nach dem Siegeszug des "shareholder value" wäre so ein Freihandelsabkommen der nächste Fischzug gegen ein prosperierendes Europa.“
http://www.heise.de/tp/artikel/42/42825/1.html
Dem ist nicht viel hinzuzufügen.
Wer sich zwar mehr oder weniger mit dem Schottland-Referendum beschäftigt hat, aber von den Gedanken, die etwa Willy Wimmer äußert, noch nichts gehört hat, möge sich fragen, welche Interessen seine Medien haben, was er denken bzw. nicht denken soll.
Passend zu humaner Wirtschafts- und Sozialpolitik auf der einen und Desinteresse der Eliten an der Bevölkerung auf der anderen Seite, empfiehlt der Wurm folgende „Würmer“:
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/35-das-wir-entscheidet-vorbild-skandinavien.html
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/91-nach-rechts-richtung-abgrund.html
http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/97-hassobjekt-schweiz.html