Preußisches Regulativ

Vor 175 Jahren wurde das erste deutsche Gesetz zum Arbeitsschutz erlassen. Anders ausgedrückt: vor 1839 gab es überhaupt keine Regeln und Gesetze.

Und dieses Gesetz, das Preußische Regulativ vom 9. März 1839 (eigentlich: Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter) war ein Gesetz, mit dem die Kinderarbeit eingeschränkt wurde.

Mensch lese und schaudere: „Durch das Preußisches Regulativ wurde Kindern bis zum neunten Lebensjahr die regelmäßige Arbeit in der Fabrik, in Berg-, Hütten- und Pochwerken verboten. Die Arbeitszeit der Jugendlichen unter 16 Jahren durfte zehn Stunden nicht überschreiten. Jugendlichen unter 16 Jahren, die keine dreijährige Schulzeit nachweisen konnten, wonach sie die „Muttersprache geläufig lesen“ und „einen Anfang im Schreiben gemacht“ haben, wurde die Fabrikarbeit untersagt. Davon ausgenommen waren Fabriken, denen eigene Schulen angegliedert waren und die einen Bildungsanspruch garantierten. Nachtarbeit von 21 Uhr bis 5 Uhr, Sonn- und Feiertagsarbeit wurde für Jugendliche verboten.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fisches_Regulativ

 

Kinder im Alter von 10 Jahren „durften“ also immer noch 10 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, teilweise schwerer körperlicher Arbeit nachgehen. Aber immerhin: ein zarter Anfang im Arbeits- und Kinderschutz war gemacht.

Mensch braucht nicht zu glauben, dass dieser Anfang irgend etwas mit Mitgefühl zu tun gehabt hätte. Um weiter aus dem „Wikipedia“-Artikel zu zitieren:

„Bereits 1828 hatte der königlich preußische Generalleutnant Heinrich Wilhelm von Horn (1762–1829) in seinem Landwehrgeschäftsbericht den preußischen König darauf aufmerksam gemacht, dass er wegen der in der Industrie verbreiteten Kinderarbeit und der dadurch verursachten „körperlichen Entartung“ der Bevölkerung im Rheinland nicht mehr das erforderliche Truppenkontingent aufbringen könne. Arbeitszeiten von 13 Stunden unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen waren damals für Kinder keine Seltenheit. Die „Fabrikkinder“ litten häufig an körperlichen und geistig-seelischen Schäden, während die Schulpflicht oft völlig vernachlässigt wurde.“

Die „körperliche Entartung“ und die „körperlichen und geistig-seelischen Schäden“ hatten also sehr, sehr wenige interessiert. Von Interesse war die zukünftige Anzahl der tauglichen Soldaten. Dies war der einzige Grund zur Erlassung dieses Gesetzes.

Hier noch ein weiterer Link zur Kinderarbeit: http://de.wikipedia.org/wiki/Kinderarbeit

 

Den Wurm wurmt es schon sehr, unter einem geschichtslosen Volk leben zu müssen. Umso erfreulicher ist es, wenn er auf einen Menschen stößt, der wissen will, wo er herkommt und dieses Wissen seinen Mitmenschen zur Verfügung stellt. Zu diesen Menschen zählt Marina Alice Mutz, die allerhand Interessantes um ihre Heimat Solingen gesammelt hat. Auch sie geht auf Kinderarbeit in Solingen und Umgebung und das Preußische Regulativ ein. Hier ein paar Zitate:

„Ganz anders klingt eine von französischen Beamten verfasste statistische Landesaufnahme des Großherzogtums Berg im Jahr 1809: "Die große Mehrzahl der Einwohner des Arrondissements Elberfeld [zu dem auch Solingen zählte] befindet sich in einer äußerst jämmerlichen Verfassung. Dieser Zustand der Degeneration ist wohl auf die Gewohnheit in dieser Gegend zurückzuführen, daß man zu früh die Kinder in den Fabriken arbeiten läßt. In großer Zahl in den Werkstätten zusammengepfercht, an eine sitzende Beschäftigung gefesselt, die sie zwingt, lange Zeit in gekrümmter Haltung zu verharren, kann sich ihr Körper nicht ausreichend entwickeln."“

„Völlig anders waren die Eindrücke von Adolf Diesterweg, die er bei Besuchen von Textilfabriken ("vom Staate gebilligte Menschenverkrüppelungsanstalten") im Wuppertal von der Belegschaft gewann und 1828 veröffentlichte. Diesterweg war später Abgeordneter im preußischen Landtag und Abgeordneter des Berliner Stadtrats.

"Welch ein Unterschied zwischen ihnen und unseren Bauern jenseits des Rheins in unseren fruchtbaren Ebenen! Wie unglücklich sind diese Menschen, die, um ihr Leben zu fristen, von früh bis spät in diesem glänzenden Elende ihre Tage zubringen und durch wechsellose, durch die Einförmigkeit ermüdende, markverzehrende Arbeit sich und die ihrigen kümmerlich ernähren müssen! [...] Vollends zerrissen hat mir das Herz der Anblick der Kinder, welche in diesen Fabriken um den Frühling ihres Lebens gebracht werden. Oh, rühmet mir nicht einseitig das Glück dieses Tales! Ich sehe hier nur allgemeinen Jammer und schleichendes Elend neben einigen scheinbar Glücklichen, welche sich durch das Blut der Armen, durch die Arbeit der Kinder bereichern. [...]

Anstatt daß unsere Bauernkinder unter Bäumen und Blumen aufleben, durch einfache Kost und frische Luft fröhlich aufwachsen, sich ergötzen an dem Gesange der Nachtigall und dem Getriller der Lerchen - hören diese Sklavenkinder nichts als das Geschnurr der Maschinen, an die sie vom 7. oder 8. Lebensjahre an geschmiedet werden, ihr Leben lang. Wie ist da an eine fröhliche Entfaltung des Leibes und des Geistes zu denken? Nein, diese Kinder verkrüppeln an Seele und Leib; dieses Tal ist nicht eine Stätte des Glücks, sondern eine Wohnung des menschlichen Elends und des irdischen Jammers."“

„Eindrucksvoll geben die Jugenderinnerungen des 1846 in Barmen geborenen, späteren Amerika-Auswanderers Hermann Enters die Situation einer in bitterster Armut lebenden Weber-Familie Mitte des 19. Jh. im Wuppertal wieder. Von klein auf musste er beim Spulen helfen und noch vor seiner Konfirmation eine schlecht bezahlte Arbeit in einer miserabel ausgestatteten Riemendreherei aufnehmen. Das Wort Arbeitssicherheit war noch nicht erfunden.

"Nun mußte ich jeden Tag, ohne Unterbrechung, 15 Stunden in der Fabrik liegen.Ich war doch noch ein Kind, ich ging noch in die Kinderlehre beim Pastor Thümmel. Es war Winter. Jeden Morgen 1/2 6 Uhr mußte ich aus dem Böckmannsbusch nach dem Rübels Bruch, sozusagen in die Hölle, und kam abends um 1/2 10 Uhr heim."“

http://www.zeitspurensuche.de/02/kinder1.htm

 

Wir Bewohner des Erdreichs wundern uns immer wieder darüber, wozu Menschen fähig sind, was sie ihren Mitmenschen antun können.

Besonderes Interesse an Strukturen menschlichen Denkens und an ihrer Geschichte hat „Professor“ Aurelius Auerochs. Er hat uns noch zwei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert gegeben.

Das eine Beispiel ist der Aufstand der schlesischen Weber aus dem Jahre 1844, der ersten Erhebung des deutschen Industrieproletariats.

„Um 1840 war die industrielle Revolution noch in den Anfängen. Lediglich 5% der Bevölkerung arbeiteten in Fabriken, der große Rest verdiente sein Geld in Heimarbeit und es gab dort viele Weberfamilien, die an mehreren Stühlen arbeiteten. Sie kauften ihr Ausgangsmaterial von den Großhändlern, die ihre gewebten Stoffe auch abnahmen, jedoch nur sehr wenig Geld dafür zahlten. In England gab es allerdings schon mechanische Webstühle, die den schlesischen Familien langfristig die Existenzgrundlage raubten. Durch die englische Konkurrenz zahlten die Fabrikanten den Weberfamilien immer weniger und als es Anfang 1844 mehrere Mißernten hintereinander gegeben hatte, wurde die wirtschaftliche Situation in Schlesien so schlecht, daß die Familien nahezu verhungerten, weil das bißchen Geld, das sie verdienten, noch nicht einmal für Brot reichte. Viele Familien verdienten jährlich noch nicht einmal 50 Taler ... Am 3. Juni 1844 kam es zu einem Protestmarsch von 3.000 schlesischen Webern in Peterswalde, die vom Großhändler und Fabrikanten Zwanziger höhere Stücklöhne forderten. Zwanziger verdiente an den Erzeugnissen das hundert- bis tausendfache, weigerte sich jedoch, mehr zu bezahlen. Als er den Webern empfahl, sie "... möchten nur, wenn sie nichts anderes hätten, Gras fressen; das sei heuer reichlich gewachsen"..., eskalierte die Situation, die Weber stürmten sein Haus, zerschlugen die Einrichtung und verwüsteten mehrere Fabrikgebäude. Anschließend marschierte der Zug ins benachbarte Langenbielau und setzte dort sein Zerstörungswerk fort. Am 5. Juni wurden preußische Soldaten zur Wiederherstellung der Ordnung eingesetzt, weil die Demonstrationen andauerten. Die Situation eskalierte, als die Soldaten in die Menge feuerten und elf Weber starben. Einen Tag später wurden vier Kompanien gegen ein paar hundert Weber eingesetzt. Fast 100 Weber wurden verhaftetet und zu jahrelangem Gefängnis verurteilt - dort zumindest hatten sie regelmäßiges Essen.“

Das war eine Passage von Martin Schlu – auch so einem Menschen, der vielseitig interessiert ist und der sein Wissen anderen Menschen zur Verfügung stellt.

http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/neunzehntes/vormaerz/heine/werke/weber.htm

http://www.martinschlu.de/

 

Der Aufstand der schlesischen Weber hat mehrere Künstler inspiriert, unter anderem Käthe Kollwitz und Gerhart Hauptmann:

https://www.google.de/search?q=k%C3%A4the+kollwitz+weberaufstand&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=tNgYU4rlJaKJ4AS36oGoAg&ved=0CC8QsAQ&biw=1280&bih=676

http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Weber

http://www.youtube.com/watch?v=xt9wWi5zvwQ

 

Nicht zu vergessen das eindringliche Gedicht von Heinrich Heine mit dem Titel „Die schlesischen Weber“:

„Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch -
wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!“

 

Für das andere Beispiel gehen wir nach Irland. Um Wikipedia zu zitieren:

„Die als Große Hungersnot (englisch Great Famine oder Irish potato famine; irisch An Gorta Mór) in die Geschichte eingegangene Hungersnot zwischen 1845 und 1852 war die Folge mehrerer durch die damals neuartige Kartoffelfäule ausgelöster Kartoffel-Missernten, durch die das damalige Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung Irlands vernichtet wurde. Die Folgen der Missernten wurden durch die von der Laissez-faire-Ideologie dominierte Politik der Whig-Regierung unter Lord John Russell noch erheblich verschärft. Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, also etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Zwei Millionen Iren gelang die Auswanderung.“

Diese Tragödie hat sich tief ins Bewusstsein der Iren eingeschnitten und immerhin wissen das auch manche Nicht-Iren. Was sie aber meistens nicht wissen:

„Die politischen Reaktionen waren allgemein sehr zurückhaltend. Gemäß der damals herrschenden wirtschaftspolitischen Orthodoxie des laissez-faire sollte sich der Staat möglichst wenig in die Wirtschaft einmischen. Ein Eingriff des Staates in den Handel und die Verteilung von Nahrungsmitteln wurde als Verstoß gegen das Prinzip des laissez-faire betrachtet. Deshalb wurde z. B. ein zeitlich befristetes Verbot des Exports von irischem Getreide und auch ein Verbot der Alkoholdestillation aus Lebensmitteln trotz der Hungersnot nicht in Betracht gezogen, obwohl sich diese Maßnahmen bei früheren Missernten als sehr erfolgreich erwiesen hatten. Die Ablehnung dieser in der Vergangenheit oft praktizierten Staatsinterventionen markierte einen radikalen Politikwechsel. Darüber hinaus führten die europaweiten Missernten in den Jahren 1846 bis 1849 zu einer steigenden Nachfrage nach Weizen, während viele europäische Staaten gleichzeitig den Export von Lebensmitteln unterbanden, um in ihren Ländern eine Hungersnot zu verhindern. Dies bewirkte, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland in den Jahren der Hungersnot mehr Weizen exportierte als in den Jahren zuvor.

Die Iren erlebten zu ihrer großen Verbitterung, dass große Mengen an Nahrungsmitteln von Irland nach England verbracht wurden, während viele Menschen in Irland buchstäblich verhungerten. Die meiste Zeit der fünfjährigen Hungerperiode hindurch war Irland ein Nettoexporteur für Nahrungsmittel.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Hungersnot_in_Irland

 

Richtig gruselig: während auf der einen Seite Millionen Menschen darben, verhungern und zum Auswandern gezwungen sind, machen andere das Geschäft ihres Lebens, indem sie Lebensmittel zu einem teureren Preis aus dem Land schaffen.

Mit „Zudem hatten die radikalen Befürworter des Freihandels viele Sitze gewonnen. Diese befürworteten eine Verkleinerung des Staates und eine Kürzung der Staatsausgaben, ihnen waren insbesondere die Hilfsleistungen für Irland ein Dorn in Auge“ sind wir in der Gegenwart angekommen.

Noch keinem Wurm, der über oder unter der Erde lebt, ist ein vermögender Mensch begegnet, der der Meinung gewesen sei, dass es ihm gut ginge. Auch, wenn sie noch so reich sind, lamentieren sie rum: mal sind die Steuern zu hoch, dann die „Lohnnebenkosten“ und irgend welche Gesetze sind ein Hemmschuh.

In Teilen mag das ja manchmal seine Richtigkeit haben. Aber: genauso wenig wie die Zwanzigers (die Unternehmer vom Weberaufstand) und andere im 19. Jahrhundert bereit waren, auf einen nur geringen Vorteil zu verzichten und bestrebt waren, auf Kosten anderer sich jedweden Vorteil zu verschaffen, würden ihre Nachfolger anders handeln. Es sei denn, sie wären dazu gezwungen. Etwa vom Staat oder von Gewerkschaften.

Hunger, soziales Elend, untragbare Arbeitsverhältnisse sind nicht vom Himmel gefallen, sondern von Menschen gemacht. Missstände werden nicht aus „humanen“ oder „logischen“ Gründen beseitigt, sondern weil es Menschen gibt, die sich für Ihre Anliegen einsetzen.

Und da liegt das Problem: die meisten Menschen kennen ihre Geschichte nicht (und wollen sie auch nicht wissen) und setzen sich nicht für andere ein. Mit der Folge, dass die Interessen der einfacheren Menschen immer weniger vertreten werden.

Wie sehr das seit den letzten 20 Jahren ausgeartet ist, lässt sich exzellent bei Joachim Jahnke nachlesen, dessen Vergleich der Entwicklungen Deutschlands und Skandinaviens der Wurm bereits thematisiert hatte:

http://www.ansichten-eines-regenwurms.de/35-das-wir-entscheidet-vorbild-skandinavien.html

http://www.jjahnke.net/schwerpunkte.html