Ansichten eines Regenwurms

Mit dem Regenwurm ist es so eine Sache. Meist nimmt ihn keiner wahr und ernst nehmen tut ihn kaum jemand. Und doch: meist ist er da und oft auch wichtig. Ein eigenes Leben hat er allemal, wenn auch überwiegend unter der Erde - da wühlt und gräbt er sich durch alles durch und kommt mit allem in Kontakt, was es da so gibt im Wurzelbereich und drunterhinaus. Was dahin gerät - und das meiste kommt früher oder später mal da an - betrifft ihn und seine Freunde. Ab und zu kommt Rupert (so der Name des Regenwurms) an die Erdoberfläche, um zu sehen, was die da oben schon wieder alles treiben. Und gibt Kunde davon seinen staunenden Kumpels im Erdreich und jenen über der Erde, die sich für ihn interessieren.

Massen-Mörder

„Am Mittwoch wurde der Bericht der Chilcot-Untersuchung zur Rolle der britischen Regierung bei der US-Invasion im Irak vorgelegt. Er zeigt klar, dass der Krieg illegal war und fällt ein vernichtendes Urteil über die britischen und amerikanischen Kriegsverbrecher, die ihn organisiert und geführt haben …

Die Invasion begann am 20. März 2003, bevor „alle friedlichen Mittel zur Entwaffnung“ ausgeschöpft waren, stellt Chilcot fest. Sein vernichtendes Verdikt dazu lautet: „Militärisches Vorgehen war damals nicht das letzte Mittel.“

Saddam Husseins Irak stellte damals keine „unmittelbare“ Gefahr dar, und die Behauptungen, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, „trafen nicht zu“. Die Invasion wurde aufgrund „fehlerhafter“ geheimdienstlicher Erkenntnisse begonnen und niemand stellte sie in Frage, obwohl das angebracht gewesen wäre, erklärt Chilcot.

Diese Tatsachen belegen an sich schon, dass die Invasion eine dreiste Verletzung internationalen Rechts war. Aber die Realität ist noch viel belastender.

Auswirkungen der am wenigsten schlechten Regierungsform

Ein einmaliger Vorgang: das österreichische Verfassungsgericht erklärt die Bundespräsidentschaftswahl wg. Formfehlern für ungültig. Die Anhörung der Zeugen offenbart eine Schlamperei ohnegleichen. Nicht erst bei dieser Wahl.

Ermöglicht wurde dieses Urteil durch die Klage der nur sehr knapp unterlegenen FPÖ. Ohne dieses knappe Ergebnis und überhaupt ohne eine starke Opposition wäre dieses Urteil erst gar nicht denkbar gewesen.

Es bestand nicht der Verdacht, dass nach der Abstimmung manipuliert worden sei, aber die Anzahl der Formfehler ließ dem Verfassungsgericht keine andere Wahl. Eine Blamage für Österreich, aber ein Sieg des Rechtsstaats.

Es bleibt die Frage, ob es in Deutschland bei gleichen Vorkommnissen ebenfalls zur Wahlwiederholung gekommen wäre. Der Wurm geht eher davon aus, dass nicht.

Unvorhergesehener Ausgang der Wahl

Großbritannien hat abgestimmt: 52% der Wähler wollen raus aus der EU und stürzen diese damit in noch größere Turbulenzen, als sie vorher schon war.

Was erlauben Briten!

Wie geht es mit Großbritannien weiter, wie mit der EU, wie mit Deutschland in der EU? Möglicherweise geht es in die eine Richtung, möglicherweise in die andere, vielleicht auch in eine ganz andere. Der Wurm traut sich nicht, eine Prognose abzugeben. – Alles ist möglich.

Eines haben die Reaktionen auf den Ausgang der Wahl deutlich gezeigt: die Verachtung der Demokratie seitens der deutschen Eliten.

Dem Wurm stellt sich folgende Frage: Wäre die Entscheidung vor 10 oder vor 2 Jahren genauso gefallen? Definitiv nicht. Die Entwicklungen der letzten Zeit haben den Ausschlag gegeben.

Ob mensch mit allem übereinstimmt, mag dahin gestellt sein. Zumindest hat (als einer von sehr wenigen in den Staatsmedien) Dirk Schümer in der „Welt“ keine Briten-Beschimpfung betrieben, sondern versucht, den Brexit rational zu erklären und die Probleme aufzuzeigen:

„Der Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union bedeutet eine Zeitenwende, vielleicht gar nicht so sehr für Großbritannien, das in der EU nie wirklich heimisch wurde, sondern für das restliche Europa.

Letztlich haben die Bürger zwischen Schottland und den Klippen von Dover nicht nur David Cameron abgewählt, sondern auch die zögerlichen und bornierten Leader der EU, deren Argumente keine Mehrheit hinter sich brachten. Auch ihre Politik des sturen Aussitzens ist jetzt gescheitert.

Denn der bislang größte demokratische Freilandversuch über die Mitgliedschaft im einstmals exklusiven Klub der EU hat dreierlei gezeigt: Erstens ist die EU trotz aller unleugbarer Meriten in ihrem gegenwärtigen Zustand einfach nicht mehr mehrheitsfähig. Darum können die Institutionen nun zweitens nicht so realitätsblind weitermachen wie bisher.

Und drittens hat sich das gegenwärtige Führungspersonal als unfähig erwiesen, der offenkundigen Erosion des größten politischen Projekts der Gegenwart Einhalt zu gebieten. Ihre Strukturprobleme und Krisen sind den professionellen Problemlösern in der Kompromissfabrik EU schlicht über den Kopf gewachsen.

Das Monster im Menschen

Vor 200 Jahren wurde das berühmteste Monster der Literatur gezeugt. Wohl jedem fällt etwas ein, wenn er den Namen „Frankenstein“ hört. Wahrscheinlich dies: 

- Mensch (bzw. Wissenschaftler) schafft aus eigener Kraft ein neues Lebewesen

- dieses neue Lebewesen gerät außer Kontrolle und richtet großen Schaden an

- die Moral von der Geschicht‘: es gibt Dinge, aus denen mensch sich raus halten sollte, vor allem aus jenen, die er potentiell nicht kontrollieren kann

So oder so ähnlich wird diese Geschichte vor allem in Filmen erzählt; so oder so ähnlich wird diese Geschichte von den Menschen wiedergegeben.

Allerdings – in der Original-Version wird eine ganz andere Geschichte erzählt. Mit einem Inhalt, der in der Literatur kaum erzählt wird, der allerdings zeitlos und doch immer aktuell ist. Und sehr unangenehm für das menschliche Selbstverständnis: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ schildert wie kaum ein anderer Roman das Monster im Menschen.

Menschen-Fischer

„Tausende Menschen verdanken Rupert Neudeck ihr Leben – und haben es ihm in einem bewegenden Gottesdienst gedankt. Es war ein Abschied, bei dem viel gelächelt wurde.

Es war, als hätten sich in St. Aposteln zu Köln alle 10.375 boat people versammelt, die Rupert Neudeck mit seiner Hilfsorganisation Cap Anamur aus dem Südchinesischen Meer gerettet hat, samt ihrer Kinder und Kindeskinder. Die Trauerfeier für den vor zwei Wochen im Alter von 77 Jahren gestorbenen Neudeck am Dienstag dieser Woche wurde ein großer vietnamesischer Dankgottesdienst …

Rainer Maria Kardinal Woelki, der die Messe zelebrierte, würdigte das Wirken dieses Menschenretters: "Rupert Neudeck hat das Leben verteidigt, konsequent und kompromisslos. Viele von Ihnen, die heute hier sind, verdanken ihm ihr Leben" …

"Er schien noch so viel, so unendlich viel vorzuhaben", sagte der Kardinal und fragte: "Woher nahm der Mann diese Kraft?"

Nicht zuletzt wohl aus seinem Glauben. Denn Neudeck hat selbst einmal katholische Theologie studiert, schloss sich den Jesuiten an, unterwarf sich ihren strengen Exerzitien. Warum er Theologie studierte? "Weil es das Radikalste ist, was man machen kann", lautete Neudecks Antwort. Er hat sich dann der Philosophie zugewandt, promovierte über die politische Ethik bei Sartre und Camus. Jesus und Camus blieben seine Leitfiguren, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und der Mythos des Sisyphos seine ethischen Leitplanken …

Anders gesagt: Er hat ein vorbildliches Leben gelebt. Sein Einsatz kontrastierte mit dem Kleinmut von uns "gewöhnlichen Menschen". So sagte es der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, auch er ein Schriftgelehrter – oder besser: ein Schriftengelehrter, denn er kennt sich im Koran genauso gut aus wie in der Bibel. Kermani schilderte in seiner Ansprache das "mulmige Gefühl", mit dem wir nach den Abendnachrichten manchmal ins Bett gehen: Wieder sind Menschen im Mittelmeer ertrunken, aber wir tun nichts. Wir haben gelernt, die Bilder "auszuhalten".

Neudeck aber wollte diese Bilder nicht aushalten. Er wollte nicht zu den Vernünftigen zählen, zu den Pragmatikern, die wissen, dass wir zusammenbrechen, wenn wir uns das ganze Elend dieser Welt auflasten, und damit unser Nichtstun entschuldigen – wenn auch "mit mulmigem Gefühl". Navid Kermani sagte: "Wir Vernünftigen legen uns ins Bett und löschen das Licht." Neudeck konnte das nicht. Er blieb ein unbequemer, ja unerbittlicher Radikaler im humanitären Dienst.“

http://www.zeit.de/politik/2016-06/rupert-neudeck-trauerfeier-koeln

Rupert Neudeck hat es wahrlich verdient, dass ihn der Wurm würdigt. Als Einstieg bietet sich der Film „Mission: Menschen retten - Rupert Neudeck und die Cap Anamur“ an: